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Fünfzehnter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Wäre der Eindruck, den ich von Vivian's Charakter empfangen hatte, ein anderer gewesen, so würde ich in dem Vorgefallenen nichts gefunden haben, was den Argwohn, der mich quälte, hätte rechtfertigen können.

Leser, hast Du nie in der leichten, sorglosen Geselligkeit der Jugend die Bekanntschaft von irgend Jemand gemacht, in dessen gewinnenderen oder glänzenderen Eigenschaften Du – nicht jenen Widerwillen gegen Mängel oder Laster vergaßest, welcher einem Alter natürlich ist, in dem wir, selbst wenn wir irren, das Gute verehren und mit Begeisterung für edle Gesinnung und tugendhaftes Handeln erglühen – aber hast Du nicht, unbeschadet dieses Widerwillens gegen das Schlechte und Deines feinen Gefühles dafür, ein lebhaftes Interesse empfunden für den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, das Dich in der Person Deines Gefährten bald anzog und bald abstieß? Du hast ihn vielleicht für geraume Zeit aus dem Gesichte verloren, und plötzlich hörst Du von irgend etwas ungewöhnlich Gutem oder Schlimmem, das er gethan. In beiden Fällen – mag es gut oder schlimm sein – kehrt Dein Geist schnell zu alten Erinnerungen zurück, und Du sagst: »Natürlich! – so konnte nur Der und Der handeln!«

In dieser Weise erging es mir mit Vivian. Die hervorragendste, Eigenschaften seines Charakters waren scharfe Berechnungsgabe und vor nichts zurückschreckende Kühnheit – Eigenschaften, die zu Ruhm oder Schande führen, je nachdem das sittliche Gefühl ausgebildet ist, und die Leidenschaften eine gute oder schlimme Richtung eingeschlagen haben. Hätte ich jene Eigenschaften in einer Wirksamkeit erkannt, die augenscheinlich ein gutes Ziel verfolgte – und es wäre noch zweifelhaft gewesen, ob Vivian wirklich der Handelnde sei – so würde ich gerufen haben: »Er ist es! der gute Engel hat in ihm gesiegt!« Mit derselben (ja, leider mit noch größerer) instinctartigen Schnelligkeit fühlte ich jetzt, da die Wirksamkeit eine schlimme war – und bei derselben Ungewißheit über die Person des Handelnden – daß die Eigenschaften ihren Mann verriethen, und der böse Dämon triumphirt habe.

Meile um Meile, Station um Station legten wir auf der traurigen, endlosen Nordstraße zurück. Ich theilte meinem Begleiter in verständlicherer Weise, als bisher geschehen, die Gründe für meine Besorgniß mit. Der Capitän hörte mir zuerst eifrig zu, dann aber unterbrach er mich plötzlich. »Vielleicht ist an der ganzen Sache nichts,« rief er. »Wir müssen Männer sein und uns den Kopf ruhig, den Verstand klar erhalten. Sei deshalb jetzt stille.« Und Roland lehnte sich im Wagen zurück, sprach nicht mehr und schien, als die Nacht vorrückte, zu schlafen. Ich hatte Mitleid mit seiner Ermüdung und kämpfte schweigend mit der Angst meines Herzens. Auf jeder Station hörten wir von Denjenigen, welche wir verfolgten. Auf der ersten und zweiten hatten sie kaum einen Vorsprung von einer Stunde; allmälig aber blieben wir zurück, trotz der verschwenderischen Freigebigkeit gegen die Postillone. Ich vermuthete endlich, der Grund unserer verhältnißmäßigen Langsamkeit liege in dem Umstande, daß wir auf jeder Station sowohl Wagen, als Pferde wechseln mußten, und als ich diese meine Ansicht Roland mittheilte, während wir eben frische Pferde erhielten (es mochte etwa um Mitternacht sein), ließ er sogleich den Wirth vor sich kommen und bezahlte ihm, was er verlangte, für die Erlaubniß, den Wagen bis zum Ende der Reise behalten zu dürfen. Dies stimmte so gar nicht mit Roland's gewöhnlicher Sparsamkeit überein – mochte er mit seinem eigenen, oder mit meinem Gelde zu thun haben – und schien auch durch die uns zu Gebote stehenden Mittel so wenig gerechtfertigt, daß ich mich nicht enthalten konnte, einige Worte der Entschuldigung zu murmeln.

»Kannst Du Dir wohl denken, warum ich ein Geizhals war?« sagte Roland ruhig.

»Ein Geizhals? – nichts weniger, als das! Nur klug und sparsam, wie Soldaten dies oft sind.«

»Ich war ein Geizhals,« wiederholte der Capitän mit Nachdruck. »Ich begann zuerst, es zu werden, als mein Sohn noch ein Kind war. Ich glaubte, Kühnheit und eine Neigung zu Unbesonnenheit und Verschwendung an ihm zu entdecken. ›Gut,‹ sagte ich zu mir selbst, ›ich will für ihn sparen; Knaben wollen Knaben sein.‹ Später, als er kein Kind mehr war (wenigstens fing er an, die Laster des Mannes sich zuzueignen!), sprach ich bei mir: ›Geduld, er kann sich noch bessern; wo nicht, so will ich sparen, um Gewalt über seinen Eigennutz zu haben, da ich keine über sein Herz besitze. Ich will ihn für die Ehre bestechen!‹ Und dann – und dann – Gott sah meinen Stolz und strafte mich. Laß schneller fahren – schneller – dies ist ein wahrer Schneckengang!«

Die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag bis gegen Abend setzten wir unsere Reise fort, ohne anzuhalten und ohne etwas Anderes zu uns zu nehmen, als ein wenig Brod und ein Glas Wein. Nun aber hatten wir den verlorenen Grund wieder gewonnen und den Wagen beinahe eingeholt. Die Nacht war bereits hereingebrochen, als wir die Station erreichten, wo der Weg zu Lord N–'s Landsitz von der direkten Nordstraße abbog. Wir stellten unsere gewöhnlichen Nachforschungen an, und hier nun bestätigten sich meine schlimmsten Befürchtungen. Der Wagen, dessen Spur wir nachsetzten, hatte vor einer Stunde die Pferde gewechselt, aber nicht die Richtung zu Lord N– eingeschlagen, sondern die unmittelbare Straße nach Schottland verfolgt. Die Leute in dem Wirthshaus hatten, da es schon dunkel gewesen, die Dame im Wagen nicht gesehen, wohl aber den Bedienten, der die Pferde bestellte, und dessen Livree sie beschrieben.

Die letzte Hoffnung, daß allem Anschein zum Trotz dennoch kein Verrath beabsichtigt worden sei, war nun geschwunden. Der Capitän schien anfangs noch mehr betroffen, als ich selbst, faßte sich jedoch schneller wieder. »Wir wollen die Reise zu Pferd fortsetzen,« sagte er und eilte nach dem Stalle. Bei dem Anblick seines Goldes verstummten alle Einwendungen, und fünf Minuten später saßen wir im Sattel; ein gleichfalls berittener Postillon begleitete uns. Wir erreichten die nächste Station in wenig mehr, als zwei Dritteln der Zeit, die wir zum Fahren gebraucht haben würden – ich fand es in der That schwer, mit Roland gleichen Schritt zu halten. Wir bestiegen frische Pferde; der Wagen war uns nur fünfundzwanzig Minuten voraus – wir mußten ihn einholen, ehe er die nächste Stadt erreichen konnte. Der Mond stand am Himmel – bei seinem Lichte vermochten wir die Straße weithin zu übersehen. Wir ritten in Sturmeseile – Meilenstein um Meilenstein glitt an uns vorüber – kein Wagen ließ sich blicken! Wir erreichten die nächste Poststadt; es war eher ein Dorf und enthielt nur ein einziges Posthaus. Wir brauchten lange, bis wir die Stallknechte herausgeklopft hatten. Es war kein Wagen kurz vor uns angelangt – seit Mittag keiner mehr durch den Ort gekommen.

Was war dies für ein Geheimniß?

»Zurück, zurück, Junge!« rief Roland mit dem scharfen Blick eines Soldaten, indem er mit seinem ermatteten Thiere wieder aus dem Hofe jagte. »Sie werden einen Nebenweg eingeschlagen haben. Die Huftritte der Pferde oder die Eindrücke der Räder sollen uns helfen, ihre Spur zu verfolgen.«

Der Postillon brummte und deutete auf die keuchenden Rosse.

Statt jeder Antwort öffnete Roland seine Hand – sie war mit Gold gefüllt. So ritten wir denn zurück durch das stille, schlafende Dorf, zurück auf die breite, mondhelle Landstraße. Wir kamen zu einem Seitenweg nach rechts, allein die Spur, welcher wir folgten, führte noch immer gerade aus. Wir hatten nahezu die Hälfte des Weges nach der Station, auf welcher wir zuletzt die Pferde gewechselt, zurückgelegt, als aus einer Nebenstraße zwei Postillone mit ihren Rossen auftauchten.

Kaum hatte unser Begleiter dieselben bemerkt, als er mit einem lauten Zuruf voranritt und seine Kameraden begrüßte. Einige wenige Worte gaben uns die gewünschte Auskunft. Der Wagen hatte gerade an der Biegung der Straße ein Rad verloren und die junge Dame mit ihrer Dienerschaft ein Obdach in einem kleinen Wirthshaus gefunden, welches in geringer Entfernung am Wege stand. Die Postillone waren, nachdem sie ihre Pferde gefüttert, von dem Bedienten mit der Weisung entlassen worden, am andern Morgen wiederzukommen und einen Schmied zur Ausbesserung des Rades mitzubringen.

»Wie ging das Rad los?« frug Roland streng.

»Nun, ich glaube, der Achsnagel war verrostet, und so flog das Rad ab.«

»Verließ der Diener unterwegs, und ehe der Unfall stattfand, seinen Sitz?«

»Ja. Er sagte, die Räder könnten Feuer fangen: denn sie hätten keine Patentachsen, und er habe vergessen, sie schmieren zu lassen.«

»Und er sah nach den Rädern, und bald darauf ging der Achsnagel heraus – eh?«

»Ja, ja, Herr!« versetzte der Postillon, Roland mit großen Augen anstarrend; »so war es in der That!«

»Komm, Pisistratus – es ist noch Zeit; aber bitte Gott – bitte Gott – daß –«

Der Capitän drückte seinem Pferde die Sporen in die Seite, und der Rest seiner Worte ging für mich verloren.

Einige Schritte von der Straße ab und durch ein breites Stück Rasen von ihr getrennt, stand das Wirthshaus – ein düsteres, altmodisches Gebäude aus grauem Sandstein; auf der einen Seite war es vom Mondlichte geisterhaft beleuchtet, während auf der andern schwarze Forchen ihren unheimlichen Schatten darüber warfen. So einsam! kein Haus, keine Hütte in der Nähe. Wenn die Wirthsleute von der Art waren, daß die Schlechtigkeit auf ihren Vorschub rechnen konnte, und die Unschuld an ihrem Beistande verzweifeln mußte, so war nirgends eine Zuflucht, nirgends ein Nachbar, der Hülfe leisten konnte. Ein gut gewählter Platz.

Die Thüren des Wirthshauses waren verschlossen; in dem untern Zimmer brannte ein Licht, vor den Fenstern des ersten Stockes jedoch waren die äußeren Läden eingezogen. Mein Onkel besann sich einen Augenblick und sagte dann zu dem Postknecht:

»Kennt Ihr den hintern Zugang zu dem Hause?«

»Nein, Herr; ich komme nicht oft dieses Weges. Die Wirthsleute sind neu und haben nicht viel Einkehr, wie ich höre.«

»Klopft an die Thüre – wir wollen während dem ein wenig bei Seite treten. Wenn Euch Jemand frägt, was Ihr wollt, so sagt nur, Ihr möchtet mit dem Bedienten sprechen – Ihr hättet einen Beutel mit Geld gefunden – hier, zeigt den meinigen vor.«

Roland und ich waren abgestiegen, und mein Onkel zog mich dicht an die Mauer neben der Thüre. Da er bemerkte, daß sich meine Ungeduld diesen, wie es mir schien, unnöthigen Vorbereitungen nicht gerne fügte, so flüsterte er mir zu:

»Bst! wenn sie im Hause etwas zu verbergen haben, so werden sie die Thüre nicht öffnen, ehe Jemand recognoscirt hat, und würden sie uns erblicken, so bliebe sicherlich das Klopfen unbeantwortet. Sehen sie aber nur den Postillon, den sie anfangs für einen von denen halten werden, welche den Wagen hergebracht haben, so schöpfen sie keinen Verdacht. Halte Dich bereit, einzudringen, sobald der Riegel der Thüre zurückweicht.«

Meines Onkels alte Kriegserfahrung täuschte ihn nicht. Es folgte eine lange Stille, ehe auf das Klopfen des Postknechtes geantwortet wurde. Das Licht bewegte sich rasch vor dem Fenster auf und nieder, als ob drinnen Personen hin und her gingen. Roland gab dem Postillon ein Zeihen, daß er wieder klopfen solle – er that es zwei- – dreimal – bis endlich aus einem Dachfenster ein Kopf zum Vorschein kam, und eine Stimme rief:

»Wer seid Ihr? – was wollt Ihr?«

»Ich bin der Postknecht aus dem rothen Löwen und möchte mit dem Bedienten des braunen Wagens sprechen. Ich habe diesen Geldbeutel gefunden.«

»O, ist das alles? – Wartet einen Augenblick.«

Der Kopf verschwand. Wir schlichen unter der vorspringenden Dachrinne des Hauses näher; wir hörten den Riegel der Thüre zurückweichen – die Thüre selbst wurde vorsichtig geöffnet – ein Sprung, und ich stand innen und stemmte meinen Rücken gegen die Thüre, um Roland einzulassen.

»Ha, Diebe! – Hülfe! – Hülfe!« rief eine laute Stimme, und ich fühlte eine Hand nach meiner Kehle greifen. Auf gut Glück führte ich in der Dunkelheit einen Streich, der seine Wirkung nicht verfehlte, denn meinem Schlage folgte ein Stöhnen und ein Fluch.

Roland hatte inzwischen durch die Spalten einer Thüre in der Halle Licht entdeckt und, von demselben geleitet, seinen Weg in die Stube gefunden, deren Fenster wir von außen erleuchtet gesehen hatten. Als er die Thüre aufriß, eilte ich ihm nach und erblickte in einer Art Sprechzimmer zwei Personen, deren eine, ohne Zweifel die Wirthin, mir fremd war; in der andern aber erkannte ich die verrätherische Zofe. Die Züge beider drückten großen Schrecken aus.

»Wo ist Miß Trevanion?« rief ich, die Letztere beim Arme fassend.

Statt einer Antwort stieß die Person einen lauten Schrei aus. Ein anderes Licht blinkte nun von der Treppe her, die gerade auf die Thüre zuging, und eine Stimme, welche ich sogleich als diejenige Mr. Peacock's erkannte, rief:

»Wer ist da? – was gibt es?«

Ich stürzte auf die Treppe zu. Eine stämmige Gestalt, die des Wirths, der sich von meinem Schlage wieder erholt hatte, versperrte mir für einen Augenblick den Weg, um im nächsten ihre Länge auf dem Boden zu messen. Schnell war ich oben auf der Treppe. Peacock erkannte mich, fuhr zurück und löschte das Licht aus. Schreien und Fluchen erschallte jetzt durch die Dunkelheit. Plötzlich hörte ich aus dem Getümmel heraus den Ruf: »Hier, hier! – Hülfe!« Es war Fanny's Stimme. Ich wandte mich nach rechts, von woher der Ruf ergangen, und erhielt einen heftigen Schlag. Zum Glück traf er den Arm, den ich ausgestreckt hatte, wie man zu thun pflegt, wenn man seinen Weg im Dunkeln sucht. Es war jedoch nicht der rechte Arm, und so faßte ich meinen Angreifer und rang mit ihm. Roland kam jetzt mit einem Lichte in der Hand, und bei diesem Anblick entschlüpfte mir mein Gegner, welcher niemand Anderes war, als Peacock, und eilte der Treppe zu. Aber der Capitän hielt ihn fest mit seiner eisernen Faust. Da ich von einem Kampfe mit einem einzelnen Feind nichts für Roland fürchtete, und alle meine Gedanken auf die Rettung Derjenigen gerichtet waren, deren Stimme abermals an mein Ohr schlug, so stürzte ich auf eine Thüre am Ende des Ganges zu, die ich bemerkt hatte, ehe das Licht, welches der Capitän in der Hand hielt, in dem Kampfe zwischen ihm und Peacock ausgegangen war. Die Thüre war verschlossen, krachte und ächzte aber unter meinem Drucke.

»Zurück, wer Ihr auch seid!« rief eine Stimme von innen, sehr verschieden von dem Klageruf, der meine Schritte geleitet hatte. »Zurück, bei Gefahr Eures Lebens!«

Die Stimme, die Drohung verdoppelte meine Kraft. Die Thüre flog aus ihren Banden, und ich stand im Zimmer. Ich sah Fanny zu meinen Füßen – sie hatte meine Hände gefaßt; dann erhob sie sich, lehnte ihren Kopf an meine Schulter und murmelte: »Gerettet!« Mir gegenüber, das Gesicht von Leidenschaft verzerrt, die Augen buchstäblich in wildem Feuer lodernd, die Nasenlöcher ausgedehnt und die Lippen halb geöffnet, stand der Mann, den ich Francis Vivian genannt habe.

»Fanny – Miß Trevanion – welch' eine Beschimpfung – welch' eine Schändlichkeit ist dies? Sie haben diesen Mann nicht aus freiem Willen hier getroffen? – O, sprechen Sie!«

Vivian sprang vor.

»Fragt Niemand, als mich. Laßt diese Dame los – sie ist meine Verlobte – wird meine Gattin werden.«

»Nein, nein, nein – glauben Sie ihm nicht,« rief Fanny. »Meine eigenen Dienstboten haben mich verrathen und hierher gebracht – ich weiß nicht, wie! Ich hörte von dem Erkranken meines Vaters – ich war auf dem Wege zu ihm. Da traf mich hier dieser Mensch und wagte es –«

»Miß Trevanion – ja, ich wagte zu sagen, daß ich Sie liebe.«

»Schützen Sie mich vor ihm! – O, nicht wahr. Sie schützen mich vor ihm?«

»Nein, Fräulein!« sagte hinter mir eine Stimme in tiefem Tone, »ich bin es, der das Recht in Anspruch nimmt, Sie gegen diesen Mann zu schützen; ich bin es, der jetzt, einen Arm um Sie schlingt, welcher ihm selbst heilig ist; ich bin es, der von dieser Stelle aus auf sein Haupt den – Fluch eines Vaters schleudert! Schänder des Herdes! entwaffneter Betrüger! – gehe Deines Weges dem Verderben entgegen, das Du Dir selbst gewählt hast. Gott wird barmherzig sein und mir ein Grab schenken, ehe Deine Laufbahn auf der Galeere oder am Galgen sich endigt!«

Es wurde mir dunkel vor den Augen – das Entsetzen machte das Blut in meinen Adern erstarren – ich taumelte zurück und suchte mich an der Wand zu halten. Roland hatte seinen Arm um Fanny geschlungen; matt und zitternd schmiegte sie sich an seine breite Brust, indem sie furchtsam zu ihm aufblickte. Und niemals hatte ich in diesen, von tiefen Gemüthsbewegungen durchfurchten und von unaussprechlichem Kummer umdüsterten Antlitz einen Ausdruck gesehen, so großartig in seinem Zürnen, so erhaben in seiner Verzweiflung. Der Richtung seines Auges folgend, das, starr und streng, an den Blick eines Propheten oder eines Urtheil sprechenden Richters gemahnte, schauderte ich, als ich des Sohnes ansichtig wurde. Seine ganze Gestalt schien zusammen zu brechen, als habe der Fluch bereits seine vernichtende Wirkung geübt. Leichenblässe bedeckte die Wangen, welche sonst von dem dunkeln Roth der orientalischen Jugend glühten; seine Kniee schlugen zusammen, und endlich, mit einem matten Schmerzensrufe, ähnlich dem eines Menschen, welcher einen Todesstoß erhält, begrub er das Gesicht in seine Hände. So blieb er stehen – stumm und zusammengekauert.

Instinctartig trat ich vor, stellte mich zwischen Vater und Sohn und murmelte: »Schone ihn; Du siehst, sein Herz ist zerrissen.« Dann näherte ich mich dem Sohne und flüsterte ihm zu: »Gehe; das Verbrechen war nicht vollendet – der Fluch kann zurückgenommen werden.«

Allein meine Worte berührten eine falsche Saite in dieser finstern, rebellischen Natur. Der junge Mann entfernte rasch die Hände, von seinem Gesichte und richtete sich auf in leidenschaftlichem Trotze.

»Hinweg!« rief er; »ich erkenne Niemand das Recht zu, über meine Handlungen und mein Schicksal zu entscheiden; ich dulde keinen Vermittler zwischen dieser Dame und mir. Du vergissest unsern Vertrag,« fuhr er mit einem düstern Blick auf seinen Vater fort; »das Band zwischen uns war gelöst. Deine Gewalt über mich vernichtet; ich verzichtete auf den Namen, den Du trägst; für Dich war und bin ich noch immer ein Todter. Du hast kein Recht, zwischen mich und den Gegenstand zu treten, der mir theurer ist, als, das Leben.

O!« (und hier streckte er seine Hände gegen Fanny aus) – »o, Miß Trevanion, wie sehr Sie mich auch verdammen mögen, gewähren Sie mir eine Bitte. Gestatten Sie mir, nur einen einzigen Augenblick allein mit Ihnen zu sprechen; gestatten Sie mir, Ihnen zu beweisen, daß ich bei all' meiner Schuld nicht von den niedrigen Beweggründen geleitet wurde, die man mir zur Last legen wird – daß ich nicht die Erbin zu verlocken, sondern daß ich Sie um Ihrer selbst willen zu gewinnen suchte. O, hören Sie mich –«

»Nein, nein,« murmelte Fanny, sich fester an Roland anklammernd, »verlassen Sie mich nicht. Wenn er, wie es scheint, Ihr Sohn ist, so vergebe ich ihm; aber heißen Sie ihn gehen – mich schaudert bei dem bloßen Ton seiner Stimme!«

»Willst Du in der That, daß ich die Erinnerung selbst an das Band zwischen uns vernichte?« sagte Roland mit dumpfer Stimme. »Willst Du, daß ich nur den schnöden Räuber, den dem Gesetz verfallenen Verbrecher in Dir sehe – daß ich Dich der Gerechtigkeit ausliefere oder Dich zu meinen Füßen niederstrecke? Laß die Erinnerung Deine Retterin sein, und entferne Dich!«

Wieder suchte ich den schuldbeladenen Sohn festzuhalten, und wieder riß er sich von mir los.

»Mir steht es zu,« sagte er, entschlossen seine Arme über der Brust kreuzend – »mir steht es zu, in diesem Hause zu befehlen. Alle, die sich innerhalb desselben befinden, haben sich meinen Weisungen zu unterwerfen. Wie ist es möglich, daß Du, der Du Ruf, Namen und Ehre so hoch schätzest, nicht einsiehst, daß Du dies alles der Dame raubst, welche Du gegen den Schimpf meiner Liebe beschützen willst? Wie wird die Welt die Geschichte von Deiner Rettung Miß Trevanion's aufnehmen? wie glauben, daß – o, verzeihen Sie mir, Miß Trevanion – Fanny – verzeihen Sie mir – ich bin von Sinnen; nur hören Sie mich an – allein ohne Zeugen – und alsdann, wenn auch Sie mich gehen heißen, so will ich ohne Murren gehorchen; ich erkenne keinen andern Schiedsrichter, als Sie selbst.«

Fanny aber schmiegte sich immer fester und fester an Roland an. In diesem Augenblick hörte ich unten Stimmen und Fußtritte; ich vermuthete, die Mitschuldigen an diesem Bubenstreich rafften vielleicht ihren Muth zusammen, um Demjenigen, welchem sie ihre Dienste verkauft hatten, zu Hülfe zukommen, und verlor nun alles Mitleid, das bisher mein Entsetzen vor dem Verbrechen des jungen Mannes gemildert, und all' die Scheu, welche sein Bekenntniß hervorgerufen hatte. Ich faßte daher diesmal den falschen Vivian mit einer Faust, die er nicht wieder abschütteln konnte, und sagte in strengem Tone:

»Hüte Dich, Dein Vergehen noch zu erschweren. Wenn es zum Kampfe kommen soll, so wird er nicht zwischen Vater und Sohn stattfinden, sondern –«

Fanny sprang vor.

»Reizen Sie nicht diesen bösen, gefährlichen Menschen. Ich fürchte ihn nicht. Ja, ich will ihn anhören, und zwar allein.«

»Nimmermehr!« riefen Roland und ich gleichzeitig.

Vivian warf mir einen wilden Blick zu und schaute dann mit düsterer Bitterkeit auf seinen Vater. Er schien auf seine frühere Bitte verzichten zu wollen, denn er sagte:

»Wohlan denn, es sei. Selbst in Gegenwart Derjenigen, welche so strenge über mich urtheilen, will ich wenigstens sprechen.« Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann in einem Tone, dessen Leidenschaft eines gewissen Eindrucks nicht hätte verfehlen können, wenn seine Schuld weniger empörend gewesen wäre, gegen Fanny gewendet fort: »Als ich Sie zum ersten Mal sah, dachte ich vielleicht an Liebe, wie der Arme und Ehrgeizige an den Weg zu Macht und Reichthum denkt. Allein diese Gedanken verschwanden, und in meinem Herzen blieben nur Liebe und Wahnsinn zurück. Ja, ich war von Sinnen, als ich diesen Plan ersann. Nur ein Ziel schwebte mir vor Augen – ich sah nur ein einziges himmlisches Traumbild vor mir. O, mein – mein wenigstens in diesem Traumbild! – und nun – ist's möglich – für immer verloren?«

In der Stimme und in dem Wesen des Sprechenden lag etwas, das meiner Ansicht nach, mochte es nun aus vollendeter Heuchelei oder aus einem wahren, wenn auch verkehrten Gefühle entspringen, den Weg zu dem Herzen eines Weibes finden mußte, das, wenn auch jetzt schwer gekränkt, einst ihn geliebt hatte, und mit einem kalten Mißtrauen heftete ich meine Augen auf Miß Trevanion. Sie wandte sich mit sichtlichem Beben von Vivian ab, wobei ihr Blick plötzlich dem meinigen begegnete! und es schien, als errathe sie meinen Zweifel, denn nachdem sie ihr Auge mit einer Art wehmüthigen Vorwurfs auf dem meinigen hatte ruhen lassen, verzogen sich ihre Lippen zu einem Ausdruck, in welchem sich der Stolz ihrer Mutter kund gab, und zum ersten Mal in meinem Leben bemerkte ich eine zürnende Glut auf ihrer Stirne.

»Es ist gut, daß Sie vor Dritten so zu mir gesprochen haben, denn in Gegenwart dieser Zeugen fordere ich Sie auf bei jener Ehre, welche der Sohn dieses Gentleman für eine Zeitlang vergessen mag, aber nie ganz verscherzen kann – ich fordere Sie auf, zu erklären, ob ich, Frances Trevanion, je durch Wort, That oder Zeichen zu dem Glauben Anlaß gab, daß ich das Gefühl, welches Sie gegen mich zu hegen vorgeben, erwiederte oder Sie zu diesem verwegenen Versuche, mich in Ihre Gewalt zu bringen, ermuthigte.«

»Nein!« rief Vivian schnell, aber mit bebender Lippe – »nein; doch, wo ich so innig liebte und meine ganze Zukunft auf's Spiel setzte für eine einzige freie Gelegenheit, es Ihnen allein und ohne Zeugen sagen zu können, wollte ich nicht glauben, daß solche Liebe nur Haß und Verachtung finden wurde. Wie! – hat die Natur mich so stiefmütterlich behandelt, daß ich, wo ich liebe, nicht wieder geliebt werden kann? Wie! – hat die Zufälligkeit der Geburt mich ausgeschlossen von dem Rechte, zu werben und zu wählen unter den Vornehmen? Was wenigstens das Letztere betrifft, so sollte dieser Gentleman gerechter Weise Ihnen sagen, daß meine Abkunft der Art ist, daß sie zu den kühnsten Hoffnungen und zu einem furchtlosen Ehrgeiz mich berechtigt – denn seine Sorge war es, dieses stolze Bewußtsein in mich zu pflanzen. Meine Hoffnungen, mein Ehrgeiz – sie trafen zusammen in Ihrem Besitz! O, Miß Trevanion, es ist wahr, daß ich, um Sie zu gewinnen, den Gesetzen der ganzen Welt und jedem Feinde Trotz geboten haben würde, denjenigen ausgenommen, welcher sich mir jetzt entgegenstellt. Allein glauben Sie mir – hätte ich errungen, was ich anzustreben wagte, so würden Sie durch Ihre Wahl keine Schande auf Ihr Haupt geladen haben, und der Name, für welchen ich meinem Vater nicht danke, hätte nicht verachtet werden sollen von der Frau, die meine Kühnheit verzieh – noch von dem Manne, welcher nun meine Qual mit Füßen tritt und mir in meinem Elende flucht.«

Roland hatte mit keinem Worte versucht, seinen Sohn zu unterbrechen – ja, mit einer fieberhaften Aufregung, die mein Herz in seiner geheimen Sympathie gar wohl begriff, schien er jede Sylbe zu verschlingen, welche die Schwärze des Vergehens mildere oder auch nur die schnöden Mittel in einem weniger schmutzigen Lichte erscheinen lassen konnte. Als nun aber der Sohn mit jenen Worten eines ungerechten Vorwurfs und im Tone wilder Verzweiflung eine Vertheidigung schloß, welche in ihrem falschen Stolze und ihrer verkehrten Beredtsamkeit eine so gänzliche Blindheit gegen alle Grundsätze jener Ehre an den Tag legte, die des Vaters Idol gewesen war, bedeckte Roland mit seiner Hand die Augen, die vorher wie festgebannt auf dem verhärteten Verbrecher gehaftet hatten, und sagte, indem er Fanny wieder an sich zog –

»Sein Hauch verpestet die Luft, in welcher Unschuld und Ehrenhaftigkeit athmen. Er sagt, ›die Bewohner dieses Hauses stehen unter seinem Befehle‹ – weßhalb verweilen wir? – lassen Sie uns gehen.«

Er wandte sich der Thüre zu, und Fanny folgte ihm.

Inzwischen waren die lauteren Töne unten im Hause verstummt; dagegen hörte ich einen Tritt in der Halle. Vivian verließ mit einer raschen Bewegung seinen Platz und trat vor uns hin.

»Nein, nein, Sie können mich so nicht verlassen, Miß Trevanion. Ich entsage Ihnen – ich suche nicht einmal Ihre Verzeihung. Allein dieses Haus so zu verlassen, ohne Wagen, ohne Dienerschaft, ohne Erklärung! – die Schuld fällt auf mich – mag es so sein! Wenigstens aber gestatten Sie mir das Recht, wieder gut zu machen, was ich an dem geschehenen Unrecht gut machen kann, und das Einzige zu beschützen,was mir geblieben – Ihren Namen!«

Während er so sprach bemerkte Vivian, dessen Rücken der Thüre zugekehrt war, nicht, daß ein neuer Schauspieler geräuschlos die Bühne betreten und, an der Schwelle stehen bleibend, seine letzten Worte gehört hatte.

»Miß Trevanion's Name, Herr – und wovor?« frug der neue Ankömmling, als er näher trat und Vivian mit einem Blicke musterte, der, wenn er nicht so ruhig gewesen wäre, Verachtung ausgedrückt haben würde.

»Lord Castleton!« rief Fanny und erhob ihr Antlitz, das sie mit den Händen verhüllt gehabt hatte.

Vivian fuhr zurück und knirschte mit den Zähnen.

»Herr,« sagte der Marquis, »ich erwarte Ihre Antwort, denn nicht einmal Sie sollen in meiner Gegenwart die Möglichkeit andeuten dürfen, als könne ein Vorwurf auf dem Namen dieser Dame haften.«

»O, mäßigen Sie Ihren Ton gegen mich, Mylord Castleton!« rief Vivian. »Ihnen wenigstens Trotz zu bieten, ist mir nicht verboten. Um diese Dame vor dem kaltblütigen Ehrgeiz ihrer Eltern zu retten – um zu verhindern, daß ihre Jugend und Schönheit einem Manne geopfert würden, dessen einziges Verdienst in seinem Reichthum und seinen Titeln besteht, ließ ich mich zu dem Verbrechen verleiten, das ich beging; dies war es, was mich bewog, alles an eine einzige Stunde zu wagen, in welcher wenigstens Jugend gegen Jugend sich vertheidigen könnte, und dies gibt mir nun die Macht, zu erklären, daß es in meiner Hand steht, den Namen der Dame zu schützen, welche Sie in Ihrer Unterwürfigkeit gegen die Welt, die Sie zu Ihrem Götzen gemacht haben, jetzt nicht mehr dem herzlosen Ehrgeize abverlangen können, der die Tochter der Eitelkeit der Eltern opfern möchte. Ha! die künftige Marquise von Castleton auf ihrem Weg nach Schottland mit einem Abenteurer, der keinen Penny besitzt! Ha! wenn auch meine Lippen schwiegen, wer, als ich, kann die Lippen Derer versiegeln, die in mein Geheimniß eingeweiht sind? Das Geheimniß soll bewahrt bleiben – doch nur unter der Bedingung, daß Sie nicht triumphiren, wo ich unterlag! Wenn ich den Gegenstand meiner Anbetung verlieren muß, so trete ich ihn wenigstens nicht an einen Andern ab. Ha! ist dieß ein Strich durch Ihre Rechnung, Mylord Castleton? – ha, ha!«

»Nein, Herr, und ich möchte fast die Schurkerei verzeihen, die Sie nicht ausgeführt haben, weil Sie mich zum ersten Mal davon in Kenntniß setzen, daß, wenn ich kühn genug gewesen wäre, um Miß Trevanion zu werben, ihre Eltern wenigstens die Vermessenheit vergeben haben würden. Bekümmern Sie sich nicht darum, was Ihre Mitschuldigen sagen mögen; sie haben bereits ein Geständniß des ganzen schändlichen Planes abgelegt. Aus dem Wege, Herr!«

Lord Castleton näherte sich nun Fanny mit dem wohlwollenden Blick eines Vaters und der stolzen Würde eines Fürsten. Sie sah sich mit einem Schauder um, legte hastig ihre Hand in die seinige und verhinderte vielleicht dadurch einen gewaltsamen Ausbruch von Seite Vivian's, dessen wogende Brust und blutunterlaufenes, glühendes Auge zeigte, wie wenig selbst die Scham seine wilden Leidenschaften zu zügeln vermochte. Er versuchte jedoch nicht, sie zurückzuhalten, und die Zunge schien ihm am Gaumen zu kleben.

Als Fanny sich der Thüre näherte und an Roland vorüberkam, welcher regungslos und mit starren Blicken gleich einem Marmorbilde dastand, legte sie mit einer schönen Zartheit, für die ich selbst jetzt, nach so langer Zeit, noch immer sage: »Gott lohne es Dir, Fanny!« ihre andere Hand auf Rolands Arm und flüsterte:

»Sie müssen auch mitkommen; ich will nicht auf Ihren Arm verzichten!«

Allein Roland's Glieder zitterten, und er vermochte sich nicht von der Stelle zu bewegen; sein Haupt sank auf die Brust nieder, seine Augen schlossen sich. Selbst Lord Castleton, obwohl er den wahren, erschütternden Grund dieser tiefen Niedergeschlagenheit nicht errathen konnte, war von dem Anblick so betroffen, daß er seinen Wunsch, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen, vergaß, und in seiner vollen Herzensgüte rief :

»Sie fühlen sich unwohl – Sie sind einer Ohnmacht nahe; geben Sie ihm Ihren Arm, Pisistratus.«

»Es ist nichts,« sagte Roland mit schwacher Stimme und lehnte sich schwer auf meinen Arm, während ich den Kopf umwandte und die ganze Bitterkeit des Vorwurfes, der mein Herz erfüllte, aus meinen Augen sprach, welche ihn suchten, dessen Platz da hätte sein sollen, wo der meinige jetzt war. Und, o! – dem Himmel sei Dank, dem Himmel sei Dank! – der Blick war nicht vergeblich. In demselben Moment lag der Sohn vor dem Vater auf den Knieen.

»O Verzeihung – Verzeihung! Elender, verlorener Elender, der ich bin, ich beuge mein Haupt unter dem Fluche. Laß ihn niederfallen – aber nur auf mich, auf mich allein – nicht auch auf Dein eigenes Herz!«

Fanny brach in Thränen aus und bat schluchzend –

»Vergeben Sie ihm, wie ich es thue.«

Roland beachtete ihr Worte nicht.

»Er meinte das Herz sei nicht schon gebrochen gewesen, ehe der Fluch ausgesprochen werden konnte,« sagte er mit kaum hörbarer Stimme. Dann erhob er die Augen gen Himmel, und seine Lippen bewegten sich wie zu einem innerlichen Gebet. Endlich streckte er seine Hände über das Haupt seines Sohnes aus und sprach mit abgewandtem Antlitz: »Ich widerrufe den Fluch. Flehe zu Deinem Gott um Vergebung.«

Vielleicht traute er sich selbst nicht weiter, denn er verließ hierauf mit einer gewaltsamen Anstrengung das Zimmer.

Wir folgten ihm schweigend. Als wir das Ende des Ganges erreichten, flog die Thüre des Zimmers, welches wir eben verlassen hatten, mit einem dumpfen Schlage zu.

Bei diesem Tone drang das Gefühl der trostlosen Verlassenheit Desjenigen, hinter welchem diese Thüre sich geschlossen hatte, so erschütternd auf mich ein – und zugleich stieg plötzlich eine so lebhafte Besorgniß in mir auf, diese wilden Leidenschaften möchten in einer so verlornen Lage zu irgend einem schrecklichen Entschlusse führen – daß ich unwillkürlich stehen blieb und alsdann nach dem Gemache zurückeilte. Da das Schloß der Thüre schon vorher gesprengt worden war, so stellte sich meinem Eintreten kein Hinderniß entgegen. Ich trat näher, und nun bot sich meinen Augen ein so jammervoller Anblick dar, wie ihn nur Diejenigen sich vorstellen können, welche schon Zeugen eines Schmerzes gewesen, der keine Stärkung aus der Vernunft, keinen Trost aus dem Gewissen zu schöpfen weiß – eines Schmerzes, welcher uns lehrt, was die Erde sein würde, wenn der Mensch seinen Leidenschaften überlassen wäre, und der Zufall des Gottesleugners allein die Herrschaft führte in einem erbarmenlosen Himmel. Der Stolz in den Staub gedemüthigt, der Ehrgeiz in Trümmer zerschellt, die Liebe (oder die irrthümlich dafür gehaltene Leidenschaft) in Asche verglimmend, das Leben in seinem ersten Anfang der heiligsten Bande beraubt und von seinem treuesten Führer verlassen, die Schande, die nach Rache lechzt, und die Gewissensfolter, welche kein Gebet kennt – dies alles, in buntem Gewirre und doch so deutlich, sprach sich aus in dem Anblick des schuldbeladenen Sohnes.

Und ich zählte erst zwanzig Jahre, und mein Herz war weich geworden in dem milden Sonnenschein einer glücklichen Heimath; ich hatte diesen Knaben geliebt als einen Fremden – und siehe, er war Roland's Sohn! Alles Andere vergessen, Angesichts dieser Seelenpein, warf ich mich neben der an der Erde sich windenden Gestalt nieder, schlang meine Arme um die Brust, die mich vergebens zurückstieß, und flüsterte: »Getrost – getrost – das Leben ist lang. Du wirst die Vergangenheit wieder gut machen, den Flecken austilgen, und Dein Vater wird Dich noch segnen!«


Zweites Kapitel.

Ich blieb nicht lange bei meinem unglücklichen Vetter, doch lange genug, um annehmen zu können, Lord Castleton's Wagen werde das Wirthshaus bereits verlassen haben; als ich daher durch die Halle ging und denselben noch immer vor der offenen Thüre stehen sah, bemächtigte sich meiner eine ängstliche Befürchtung. Roland's Gemüthsbewegungen möchten einen ernstlichen Krankheitsanfall zur Folge gehabt haben. Diese Besorgniß war nicht ohne Grund. In dem Zimmer, in welchem wir die beiden Frauen gefunden hatten, kniete Fanny neben dem alten Soldaten, auf dessen Schläfe sie Umschläge machte, während Lord Castleton seinen Arm verband, und der Lieblings-Kammerdiener des Marquis, der unter andern Eigenschaften auch einige wundärztliche Kenntnisse besaß, die Klinge eines Federmessers abwischte, welches als Lanzette gedient hatte. Lord Castleton nickte mir zu und sagte: »Beunruhigen Sie sich nicht – nur eine kleine Anwandlung von Schwäche. Wir haben ihm zur Ader gelassen, und er ist jetzt außer aller Gefahr. Sehen Sie, er erholt sich schon wieder.«

Roland schlug die Augen auf und richtete einen ängstlichen, fragenden Blick auf mich. Ich lächelte ihm zu, küßte ihn auf die Stirne und flüsterte ihm einige Trostworte in's Ohr, die er sowohl als Vater, wie als Christ willkommen heißen mußte.

Einige Minuten später verließen wir das Haus. Da Lord Castleton's Wagen innen nur zwei Personen faßte, so bestieg der Marquis, nachdem er Miß Trevanion und Roland beim Einsteigen behülflich gewesen war, ruhig den Hintersitz und machte mir ein Zeichen, an seiner Seite Platz zu nehmen, an welcher noch Raum für mich war. (Sein Bedienter hatte eines der Pferde, auf welchen Roland und ich hergekommen waren, benützt, um uns vorauszureiten.) Unsere Fahrt ging sehr schweigsam von statten. Lord Castleton schien tief ergriffen zu sein, und mir selbst standen keine Worte zu Gebote.

Als wir das ungefähr sechs Meilen entfernte Wirthshaus erreichten, wo Lord Castleton die Pferde gewechselt hatte, bestand der Marquis darauf, daß Fanny einige Stunden ruhen solle, da sie in der That vollständig erschöpft war.

Ich begleitete meinen Onkel auf sein Zimmer; er erwiederte jedoch meine Versicherung von der Reue seines Sohnes nur mit einem Händedruck und verließ mich hierauf, um in dem fernsten Winkel des Gemaches niederzuknieen. Nachdem er sich wieder erhoben hatte, war er so geduldig und lenksam, wie ein Kind. Er gestattete mir, ihm beim Auskleiden zu helfen, legte sich zu Bette und wandte sein Gesicht ruhig vom Lichte ab. Nach einigen schweren Seufzern schien ein barmherziger Schlaf sich auf seine Augenlieder zu senken. Ich lauschte auf seine Athemzüge, bis sie leiser und regelmäßiger wurden, und begab mich sodann in das Gastzimmer hinunter, wo ich Lord Castleton verlassen hatte, nachdem er mich gebeten, ihn, so bald ich könne, daselbst wieder aufzusuchen.

Der Marquis saß in nachdenklicher, niedergeschlagener Haltung vor dem Feuer.

»Ich bin froh, daß Sie kommen,« sagte er, indem er mir an dem Herde Maß machte, »denn ich versichere Sie, es war mir in vielen Jahren nicht so traurig zu Muthe. Wir haben uns gegenseitig viel zu erklären. Wollen Sie den Anfang machen? man sagt, der Klang der Glocke verscheuche den Gewittersturm. Und nichts ist geeigneter, als die Stimme eines offenen, redlichen Gemüthes, um die Wolken zu zerstreuen, die uns einhüllen, wenn wir an unsere eigenen Fehler und an die Schurkerei Anderer denken. Doch, ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung – dieser junge Mann, Ihr Verwandter! – Ihres vortrefflichen Onkels Sohn! Ist es möglich?«

Die Erklärungen, welche ich Lord Castleton geben konnte, waren nothwendiger Weise nur kurz und unvollkommen. Die Entfernung zwischen Roland und seinem Sohne, meine Unbekanntschaft mit der Ursache derselben, mein Glauben an den Tod meines Vetters, mein zufälliges Zusammentreffen mit dem vorgeblichen Vivian, das Interesse, welches dieser mir eingeflößt und die Erleichterung, die mir bei meinen Befürchtungen für sein Schicksal der Gedanke gewährt hatte, daß er in seine vermeintliche Heimath zurückgekehrt sei, die Umstände endlich, durch welche mein in der Folge gerechtfertigter Argwohn geweckt worden war – über dieses alles ging ich schnell hinweg.

»Aber, verzeihen Sie mir,« unterbrach mich der Marquis, »kam Ihnen bei Ihrer Freundschaft für einen jungen Mann, der selbst nach Ihrem eigenen parteiischen Bericht so wenig mit Ihnen übereinstimmte, niemals der Gedanke, daß derselbe Ihr verlorener Vetter sein könnte?«

»Niemals! Wie wäre dies auch möglich gewesen?«

Und hier muß ich bemerken, daß, obgleich der Leser schon bei der ersten Einführung Vivian's das Geheimniß errathen haben mag, der Scharfblick eines Lesers sehr verschieden ist von demjenigen eines an den Begebenheiten Betheiligten. Daß es sich hier um einen jener merkwürdigen Fälle handelte, wo mit dem wirklichen Leben das Romanhafte zusammentrifft, welches der Leser im Laufe einer Erzählung sucht und erwartet – dies war eine Annahme, die mir aus mehrfachen Gründen untersagt war. Einmal besaß Vivian nicht die mindeste Familienähnlichkeit mit irgend einem seiner Verwandten, und außerdem hatte ich mir Rolands Sohn von ganz anderer Gestalt und anderem Charakter gedacht. Nach meiner Ansicht wäre es ganz unmöglich gewesen, daß mein Vetter so gleichgültig gegen unsere gemeinsamen Familienangelegenheiten, so unachtsam und sogar verdrossen hätte sein können, wenn ich von Roland sprach – daß er niemals in Wort oder Ton auch nur die geringste Theilnahme für die Seinigen verrathen hätte. Auf der andern Seite schien meine Vermuthung so wahrscheinlich, daß er der Sohn des Obristen Vivian sei, dessen Namen er trug. Und jener Brief mit dem Postzeichen »Godalming«! und meine Ueberzeugung von dem Tode meines Vetters – selbst jetzt nimmt es mich nicht Wunder, daß ich die Wahrheit nicht errieth.

Aergerlich über mich selbst hielt ich in Aufzählung dieser Entschuldigungen für meinen Mangel an Scharfsinn inne, denn ich bemerkte, daß sich Lord Castleton's schöne Stirne in düstere Falten legte.

»Welche Schule des Betrugs muß er durchgemacht haben,« rief er, »ehe er ein so vollendeter Meister in dieser Kunst werden konnte!«

»Allerdings – ich kann dies nicht in Abrede ziehen,« entgegnete ich. »Allein er ist jetzt schrecklich bestraft; wir wollen hoffen, daß auf die Züchtigung die Reue folge. Und obgleich es sicherlich nur seine eigene Schuld war, welche ihn der väterlichen Heimath und Leitung entriß, so müssen wir doch, nachdem er dieselbe einmal verloren hatte, dem Einfluß schlechter Gesellschaft auf ein so junges Gemüth, sowie dem Argwohn einigermaßen Rechnung tragen, welchen die Kenntniß des Bösen hervorruft und in eine Art falscher Kenntniß der Welt umwandelt. In dieser letzten und schlimmsten aller seiner Handlungen –«

»Ah, wie wollen Sie diese rechtfertigen?«

»Sie rechtfertigen! – Gütiger Himmel! wie könnte es mir einfallen, sie rechtfertigen zu wollen? Nur so viel möchte ich sagen, wie seltsam es auch scheinen mag, daß ich glaube, er habe Miß Trevanion nur um ihrer selbst willen geliebt. Er versichert es wenigstens aus der Tiefe eines Schmerzes, in welchem auch der unaufrichtigste Mensch zu heucheln aufhört. Doch nichts mehr davon – sie ist gerettet, dem Himmel sei Dank dafür!«

»Und Sie glauben,« sagte Lord Castleton nachdenklich, »er habe die Wahrheit gesprochen, als er andeutete, daß ich –«

Der Marquis hielt inne, erröthete leicht und fuhr dann fort: »Doch nein; was immer die Gedanken Lady Ellinors und Trevanions beschäftigt haben mag, niemals konnten sie ihre Würde so weit vergessen, um ihn, einen Jüngling – eigentlich einen Fremden – ja, um irgend Jemand in einer solchen Sache in ihr Vertrauen zu ziehen.«

»Vivian – vielmehr mein Vetter – gab mir nur in abgebrochenen Sätzen und unzusammenhängenden Worten einige Aufklärung hierüber. Doch scheint Lady N– in deren Hause er sich aufhielt, in dieser Weise sich ausgesprochen oder wenigstens meinem Vetter Anlaß zu einer derartigen Vermuthung gegeben zu haben.«

»Ah! das ist möglich,« sagte Lord Castleton in erleichtertem Tone. »Lady N– und ich sind zusammen aufgewachsen; wir correspondiren mit einander, und sie schrieb mir in einem ihrer Briefe, daß – ah! ich sehe – eine unbesonnene Frau! Hm! das kömmt daher, wenn man mit Damen correspondirt!«

Lord Castleton nahm seine Zuflucht zu der Beaudesertmischung und begann hierauf, als liege ihm daran, den Gegenstand zu wechseln, seine eigene Erklärung. Bei Empfang meines Briefes hatte er sogar noch mehr Grund gehabt, eine Schlinge zu vermuthen, als ich, da er am Morgen ein Schreiben von Trevanion erhalten, in welchem mit keiner Sylbe seiner Krankheit erwähnt war; und als er hierauf in der Zeitung einen Artikel mit der Aufschrift las: »Plötzliche und beunruhigende Erkrankung Mr. Trevanions«, sah der Marquis in demselben nichts Anderes, als ein Parteimanöver oder einen herzlosen Possenstreich, da die Post, welche ihm Trevanions Brief gebracht, jedenfalls eben so schnell gereist war, als irgend ein Bote mit der betreffenden Mittheilung an die Zeitungs-Redaktion hätte reisen können. Doch hatte er augenblicklich in der Druckerei des Journals nachfragen lassen, auf welche Autorität hin der Artikel eingerückt worden war, und zugleich einen Diener nach St. James Square entsendet. Die Antwort in Betreff des Zeitungsartikels lautete dahin, daß die Nachricht von einem Diener in Mr. Trevanions Livree überbracht, aber erst unter die Neuigkeiten aufgenommen wurde, nachdem man in dem Hause des Ministers Erkundigungen eingezogen und in Erfahrung gebracht hatte, daß Lady Ellinor dieselbe Mittheilung erhalten und sich bereits auf dem Weg zu ihrem Gemahl befinde.

»Ich hatte großes Mitleid mit der Unruhe der armen Lady Ellinor,« fuhr Lord Castleton fort, »und vermochte mir die Sache durchaus nicht zurechtzulegen; doch dachte ich noch immer, es könne kein Grund zu wirklicher Besorgniß vorhanden sein. Als nun Ihr Brief eintraf, in welchem Sie die Ueberzeugung aussprachen, daß Mr. Gower bei dem Mährchen betheiligt sei, und Fanny in eine Falle gelockt werden solle, wurde mir plötzlich Alles klar. Der Weg zu Lord N– war, bis auf die letzten zwei Stationen, auch der Weg nach Schottland, und einem kühnen, gewissenlosen Abenteurer konnte es mit Hülfe von Miß Trevanions Dienerschaft nicht schwer werden, sie nach Schottland selbst zu entführen, um dort auf ihre Furcht zu wirken oder, wenn er auf Erwiederung seiner Neigung hoffen durfte, sie zu einer schottischen Heirath zu bewegen; Sie können sich daher denken, daß ich mich so bald als möglich reisefertig machte. Da jedoch Ihr Bote den ganzen Weg von der City aus zurücklegen mußte und sich dabei vielleicht auch nicht so sehr beeilte, und da außerdem die Besorgung des Wagens und der Pferde einige Zeit in Anspruch nahm, so mochten Sie mir wohl etwa um anderthalb Stunden voraus sein. Dennoch würde ich Sie wahrscheinlich auf halbem Wege eingeholt haben, wenn wir nicht bei der Durchfahrt zwischen einem Graben und einem Frachtwagen umgeworfen hätten, wodurch eine Verzögerung entstand. Auf der Poststation angelangt, wo der Weg zu Lord N–'s Landsitz und die Straße nach Schottland auseinandergehen, hörte ich mit Freuden, daß Sie die letztere eingeschlagen, welche nach meiner Ueberzeugung die einzig richtige war, und schließlich verhalf mir der Bericht der Postknechte, welche Miß Trevanions Wagen nach jenem elenden Wirthshaus gebracht hatten und Ihnen nachher begegnet waren, vollends auf die rechte Spur. Bei unserer Ankunft vor dem Wirthshause sahen wir zwei Männer vor der Thüre stehen, welche sich mit einander zu berathen schienen; als wir anfuhren, flüchteten sie sich jedoch in das Innere; mein Diener Summers aber – ein flinker Bursche, wie Sie wissen, der mit mir von Norwegen bis Nubien gereist ist – sprang rasch von seinem Sitze herunter und hinter ihnen in das Haus, in welches ich ihm mit einem Schritte folgte, so behend, wie Ihr eigener, Sie junger Schelm! Wahrhaftig, ich zählte wieder einundzwanzig Jahre! Die zwei Männer hatten meinen armen Summers bereits zu Boden geworfen und zeigten sich völlig kampffertig. Werden Sie es wohl glauben,« fuhr der Marquis fort, indem er sich mit einer Miene komisch-ernster Beschämung unterbrach – »werden Sie es wohl glauben, daß ich wirklich – nein, Sie können es nicht glauben – aber wohlgemerkt, es ist ein Geheimniß – daß ich wirklich meinen Stock auf der Schulter eines dieser Burschen abschlug? Sehen Sie! (Und der Marquis hielt das Bruchstück der beklagten Waffe in die Höhe.) Und ich vermuthe halb, obwohl ich es nicht mit Bestimmtheit sagen kann, daß ich sogar genöthigt war, mich bis zu einem Schlag mit dieser bloßen Hand herabzuwürdigen – sie war noch dazu geballt – wieder ganz, wie in Eton – auf Ehre, so war es. Ha, ha!«

Und der Marquis, dessen athletische Gestalt ihn in der vollen Blüthe des kräftigsten, wenn auch nicht kampflustigsten Mannesalters selbst für ein Paar Preisfechter zu einem gefährlichen Gegner gemacht haben würde, vorausgesetzt, daß ihm etwas von seiner Etoner Gewandtheit bei solchen Begegnungen geblieben wäre – lachte mit der Heiterkeit eines Schulknaben, sei es bei dem Gedanken an seine Tapferkeit, oder in dem Bewußtsein des Gegensatzes zwischen einer so rohen, urvorzeitlichen Kriegführung und seiner eigenen gewohnten Trägheit und fast weiblichen Sanftmuth. Er erinnerte sich jedoch schnell wieder, wie wenig ich seine Fröhlichkeit theilen konnte, und nahm den Faden seiner Erzählung ernst wieder auf.

»Wir brauchten ziemlich lange – nicht sowohl, um unsere Feinde zu schlagen, sondern um sie zu binden, was ich für eine nöthige Vorsichtsmaßregel hielt; einer der Beiden, Trevanions Bedienter, betäubte mich während der ganzen Zeit mit Citationen aus Shakespeare. Nachdem wir die zwei Männer unschädlich gemacht, griff ich sachte nach einem Gewand, dessen Trägerin schon geraume Zeit versucht hatte, mir mit den Nägeln nach dem Gesichte zu fahren, obwohl es ihr, da sie zum Glück eine kleine Person war, nicht gelang, meine Augen zu erreichen. Das Kleid entwischte mir jedoch und flatterte nach der Kühe hin. Ich folgte und fand daselbst Miß Trevanions Jesabel von Kammermädchen. Sie war sehr erschrocken und heuchelte große Reue. Ich gestehe Ihnen, daß ich mich wenig um die Lästerungen eines Mannes kümmere; wenn sich aber die Zunge eines Weibes gegen ein anderes weibliches Wesen in Bewegung setzt – und namentlich, wenn diese Zunge in dem Munde einer Kammerjungfer steckt – so halte ich es immer für der Mühe werth, sie zum Schweigen zu bringen. Ich ließ mich daher bewegen, der Person unter der Bedingung zu verzeihen, daß sie noch vor Anbruch des Morgens hier sich einfinden würde. Von ihr aus haben wir keinen Skandal zu besorgen. Dies alles nahm, wie Sie sehen, einige Zeit in Anspruch, woraus ich mir jedoch weniger machte, da ich Sie und den Capitän bereits in Miß Trevanions Zimmer wußte; von Ihrer nahen Verwandtschaft mit dem Schuldigen hatte ich natürlich keine Ahnung und wunderte mich daher über Ihr langes Ausbleiben; auch muß ich gestehen, daß ich einige Besorgniß hegte, Miß Trevanions Herz möchte verführt worden sein von diesem hm – hm – hübschen – jungen – hm! Ist das nicht zu befürchten?« Bei diesen letzten Worten heftete Lord Castleton seine klaren Augen ängstlich auf die meinigen.

Ich fühlte eine dunkle Röthe in meine Wangen steigen, als ich mit Festigkeit erwiederte:

»Die Gerechtigkeit gegen Miß Trevanion fordert mich zu der Erklärung auf, daß der unglückliche junge Mann in ihrer und meiner Gegenwart gestand, er habe nicht die leiseste Ermuthigung zu einem derartigen Versuch – ja, nicht entfernt einen Anlaß zu der Vermuthung erhalten, daß Miß Trevanion die Neigung billige, welche ihn so vollständig blendete und von Sinnen brachte.«

»Ich glaube Ihnen, denn ich denke –«

Lord Castleton hielt unruhig inne, heftete abermals seinen Blick auf mich, erhob sich und ging in sichtlicher Aufregung im Zimmer auf und nieder; dann kehrte er, als sei er endlich zu einem Entschlusse gekommen, zu dem Herde zurück und trat mir gegenüber.

»Mein lieber junger Freund,« begann er mit seiner unwiderstehlichen freundlichen Offenheit, »dieser Anlaß entschuldigt alles zwischen uns – sogar meine Unbescheidenheit. Ihr Benehmen von Anfang bis zu Ende ist der Art gewesen, daß ich aus dem Grunde meines Herzens wünschte, eine Tochter zu besitzen, die ich Ihnen anbieten könnte, und für welche Sie die Gefühle hegten, die Sie, wie ich glaube, für Miß Trevanion in Ihrem Innern bergen. Dies sind nicht bloße Worte, und Sie dürfen nicht beschämt zu Boden blicken. Alle Marquisate in der Welt könnten mich nicht mit dem Stolze erfüllen, den ich empfinden würde, wenn ich in meinem Leben nur eine einzige ähnliche Selbstaufopferung für Pflicht und Ehre aufzuzählen hätte, wie ich sie an Ihnen gesehen habe.«

»O, Mylord! Mylord!«

»Lassen Sie mich ausreden. Daß Sie Fanny Trevanion lieben, weiß ich; daß diese, vielleicht unschuldig, schüchtern und halb unbewußt. Ihre Liebe erwiedert, halte ich für wahrscheinlich. Aber –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen; schonen Sie mich – ich weiß alles.«

»Nein, es ist eine Unmöglichkeit; und wenn auch Lady Ellinor sich entschließen könnte, ihre Zustimmung zu geben, so würde auf ihrer Seele ein lebenslängliches Bedauern, auf der Ihrigen aber eine solche Last von Verpflichtung haften, daß – nein, ich wiederhole, es ist unmöglich! Doch, lassen Sie uns beide jetzt an das arme Mädchen denken. Ich kenne Fanny besser, als Sie – habe sie von Kindheit auf gekannt; ich kenne alle ihre Tugenden – sie sind bezaubernd, alle ihre Fehler – sie setzen sie manchen Gefahren aus. Ihre Eltern mit ihrem Geist und ihrem Ehrgeiz mögen zwar geeignet sein, das Scepter über England zu schwingen und ihren Einfluß auf die ganze Welt zu üben; aber das Geschick dieses Kindes zu leiten – nein!«

Lord Castleton hielt einen Augenblick inne, denn er war sehr ergriffen. Ich fühlte meine alte Eifersucht wieder erwachen, allein sie war nicht mehr bitter.

»Ich will nicht von der Lage sprechen,« fuhr der Marquis fort, »in welche Miß Trevanion ohne ihre Schuld versetzt wurde; Lady Ellinors Weltkenntniß und Frauenwitz wird Mittel finden, dies alles wieder zurecht zu bringen. Immerhin aber ist die Sache unangenehm genug und muß reiflich erwogen werden. Doch, lassen wir dies jetzt ganz bei Seite. Wenn Sie die feste Ueberzeugung haben, daß Miß Trevanion für Sie verloren ist, können Sie den Gedanken ertragen, daß sie als bloße Null in der Wagschale weltlicher Größe weggeschlendert werde an einen hochstrebenden Politiker, an einen Minister – verheirathet, der zu sehr beschäftigt ist, um über sie zu wachen, oder an einen Herzog, der mit ihrem Vermögen seine verpfändeten Güter einzulösen gedenkt – Minister oder Herzog nur dazu bestimmt, als Stütze für Trevanions Macht zu dienen, um ihm den Sieg im Kampfe gegen die Umtriebe seiner Feinde zu sichern oder seiner Seite im Kabinet das Uebergewicht zu geben? Seien Sie versichert, dies ist höchst wahrscheinlich ihre Bestimmung oder vielmehr der Anfang eines noch traurigeren Geschickes. Nun sage ich Ihnen aber, daß Fanny Trevanions Gatte während der ersten Jahre seiner Ehe fast kein anderes Ziel haben sollte, als ihre Fehler zu verbessern und ihre Tugenden zur Entwicklung zu bringen. Glauben Sie einem Manne, welcher seine Kenntniß des weiblichen Geschlechts nur zu theuer erkauft hat – ihr Charakter muß erst gebildet werden. Wohlan denn, wenn dieser Preis für Sie verloren ist, würden Sie sich in unheilbarer Weise in Ihrer edlen Liebe gekränkt fühlen bei dem Gedanken, daß er einem Manne zugefallen, der wenigstens seine Verantwortlichkeit kennt und sein eigenes, bisher vergeudetes Leben durch das eifrige Bemühen sühnen will, derselben nachzukommen? Können Sie diese Hand ergreifen und sie drücken, selbst wenn sie die eines Nebenbuhlers wäre –?«

»Mylord! Dies mir – von Ihnen – ist eine Ehre, welche –«

»Sie wollen meine Hand nicht nehmen? Dann glauben Sie mir, nicht ich werde es sein, der Ihrem Herzen diesen Schmerz bereitet.«

Gerührt und tief durchdrungen von dem Edelmuth eines zu so hohen Ansprüchen berechtigten Mannes, einem Jüngling in meinen Verhältnissen gegenüber, preßte ich die edle Hand und wollte sie an meine Lippen führen – ein Zeichen der Achtung, das weder ihm, noch mir Unehre gemacht haben würde; er zog sie jedoch in seiner natürlichen Bescheidenheit instinktmäßig zurück. Ich hatte nicht den Muth, den Gegenstand unseres Gespräches weiter fortzusetzen, sondern stammelte einige Worte, daß ich nach meinem Onkel sehen wolle, nahm ein Licht und stieg die Treppe hinan. Lautlos schlich ich in Rolands Zimmer und beobachtete, das Licht beschattend, seine Züge; sie trugen, obwohl er schlief, einen unverkennbar trüben und unruhigen Ausdruck. »Was ist mein junger Schmerz gegen den seinigen?« Mit diesem Gedanken setzte ich mich an sein Bette, besprach mich mit meinem Herzen und ward stille!


Drittes Kapitel.

Nach Sonnenaufgang begab ich mich wieder in das Gastzimmer hinunter, um an meinen Vater zu schreiben; denn ich fühlte, wie sehr Roland seines Trostes und Rathes bedurfte, und da die Entfernung von dem alten Thurme keine große war, so hatte ich beschlossen, ihn zu bitten, zu uns zu kommen. Ich war erstaunt, Lord Castleton noch immer vor dem Feuer sitzend zu finden; er war augenscheinlich nicht zu Bette gegangen.

»Das ist recht,« sagte er, »wir müssen uns gegenseitig aufmuntern, unserer Natur zu frischen Kräften zu verhelfen.« Und dabei deutete er nach dem auf dem Tische stehenden Frühstück.

Ich hatte im Laufe vieler Stunden kaum irgend eine Nahrung zu mir genommen; mein Hunger gab sich mir aber nur in einem Gefühl von Schwäche kund. Gedankenlos aß ich und schämte mich beinahe, als ich bemerkte, wie sehr die Speise mich stärkte.

»Sie werden wohl bald zu Lord N– sich begeben?« frug ich.

»Nein. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich Summers als Expressen mit einem Billet an Lady Ellinor absandte und sie bat, hierher zu kommen? Nach reiflicher Ueberlegung sah ich die Unmöglichkeit ein, Miß Trevanion anständiger Weise allein, und, nicht einmal von meiner Dienerin begleitet, in ein Haus voll plaudersüchtiger Gäste zu bringen. Selbst, wenn Ihr Onkel wohl genug gewesen wäre, mit uns zu gehen, so würde seine Anwesenheit nur weitern Stoff zur Neugierde geboten haben. Ich schrieb daher gleich nach unserer Ankunft, während Sie mit dem Capitän auf sein Zimmer gingen, und fertigte den Bedienten mit dem Briefe ab. Lady Ellinor wird ohne Zweifel vor neun Uhr hier sein. Inzwischen habe ich mit der schändlichen Kammerjungfer gesprochen und dafür gesorgt, daß wir von ihrer Schwatzhaftigkeit keine Gefahr zu befürchten haben. Und nun hören Sie, auf welche Weise ich die Neugierde unserer Freundin Mrs. Naseweis – d. h. ›der Welt‹ – zufrieden zu stellen gedenke, ohne irgend Jemand in Schaden zu bringen. Wir müssen annehmen, daß Trevanions Bedienter verrückt war – es ist dies nur eine barmherzige und, wie Ihr guter Vater sagen würde, eine philosophische Annahme. Jede große Schlechtigkeit ist Wahnsinn! Die Welt könnte nicht ihren Gang fortgehen, wenn Wahrheit und Tugend nicht die natürlichen Eigenschaften gesunder Geister wären. Verstehen Sie mich?«

»Nicht ganz.«

»Nun, der verrückte Bediente erfand die tolle Geschichte von Trevanions Krankheit und erschreckte Lady Ellinor und Miß Trevanion mit seinem Hirngespinnst so sehr, daß sie alle Besonnenheit verloren und eine nach der andern über Hals und Kopf abreisten. Ich hatte von Trevanion gehört und wußte, daß er nicht krank gewesen sein konnte, als der Bediente ihn verließ, und es war daher natürlich, daß ich, als ein so alter Freund der Familie, sogleich aufbrach, Miß Trevanion nachreiste, sie von den Einfällen eines Wahnsinnigen rettete – der, mehr und mehr von Sinnen kommend, sie, der Himmel weiß wohin, durch das Land führte – und daß ich schließlich an Lady Ellinor schrieb, sie möchte zu ihrer Tochter kommen. So geht die ganze Sache mit einem herzlichen Gelächter auf unsere Kosten vorüber, und Mrs. Naseweis ist zufrieden. Wenn wir nicht wollen, daß sie uns bemitleidet oder verleumdet, so müssen wir ihr etwas zu lachen geben. Sie ist ein weiblicher Cerberus Höllenhund in der griechischen Mythologie., der uns verschlingen möchte. Gut – so stopfen wir ihr den Mund mit einem Kuchen.

Ja,« fuhr Lord Castleton fort, dem es bei all' seiner scheinbaren Leichtfertigkeit so wenig an Weisheit fehlte; »ist in solcher Weise das Schlagwort gegeben, so begünstigt alles Uebrige diese Darstellung der Sache. Wenn jener Spitzbube von Lakai im Bedientenzimmer so viel von Shakespeare citirte, als er that, während ich ihn in der Küche knebelte, so ist das hinreichend für alle Hausbewohner, um ihn für mondsüchtig zu erklären; und im schlimmsten Falle müßten wir ihn dazu bewegen, auf einen oder zwei Monate nach Bedlam Volkstümlich für die Londoner psychiatrische Klinik Bethlem Royal Hospital. zu gehen. Das Verschwinden des Kammermädchens ist natürlich; sie wurde entweder von mir oder von Lady Ellinor sogleich aus dem Dienste geschickt, weil sie so thöricht gewesen, sich von dem tollen Menschen berücken zu lassen. Wenn dies ungerecht erscheint – je nun, so ist Ungerechtigkeit gegen Dienstboten im öffentlichen und im Privatleben häufig genug. Weder dem Minister, noch dem Lakaien kann vergeben werden, wenn er uns in eine Klemme bringt. Man muß seiner Leidenschaft an irgend etwas Luft machen. Davon ist mein armer Stock Zeuge, obwohl derjenige in der That ein noch besseres Beispiel wäre, welchen Ludwig XIV. an einem Kammerdiener abschlug, weil Seine Majestät ärgerlich über einen Prinzen war, an dessen geheiligten Schultern der königliche Unwille sich nicht wohl auslassen konnte.

Sie sehen also,« fuhr Lord Castleton fort, indem er seine Stimme sinken ließ, »daß Ihr Onkel bei all' seinem übrigen Anlaß zu Kummer und Sorge wenigstens nicht zu fürchten braucht, sein Name möchte in demjenigen seines Sohnes gebrandmarkt werden. Und der junge Mann selbst mag vielleicht die Umkehr auf andere Wege leichter finden, wenn er von jenem trostlosen Gedanken, an der Möglichkeit seiner eigenen Besserung verzweifeln zu müssen, verschont bleibt, mit dem Mrs. Naseweis Diejenigen bestraft, welche – Muth also; das Leben ist lang!«

»Meine eigenen Worte!« rief ich, »und so von Ihnen wiederholt, Lord Castleton, scheinen sie prophetisch zu sein.«

»Wenn ich Ihnen rathen darf, so verlieren Sie Ihren Vetter nicht aus dem Gesichte, so lange sein Stolz noch gedemüthigt und sein Herz vielleicht erweicht ist. Ich sage dies nicht blos um seinetwillen. Nein, ich denke dabei an Ihren armen Onkel – den edlem alten Mann! Und nun möchte es wohl an der Zeit sein, aus Rücksicht auf Lady Ellinor die Verheerungen so viel als möglich wieder gut zu machen, welche drei schlaflose Nächte in dem Aeußern eines Gentleman hervorgebracht haben, der sich jenseits der erbarmungslosen Vierzig befindet.«

Lord Castleton verließ mich, und ich schrieb nun an meinen Vater, er möchte auf der nächsten Station mit uns zusammentreffen, da dies der nächste Punkt von der Landstraße aus nach dem Thurme war. Nachdem ich den Brief durch einen reitenden Boten abgesandt hatte, stützte ich den Kopf auf die Hand, und eine tiefe Trauer bemächtigte sich meiner, obwohl ich mich aufrichtig bemühte, der Zukunft muthig in's Auge zu blicken und nur an die Pflichten, nicht aber an die Leiden des Lebens zu denken.


Viertes Kapitel.

Lady Ellinor traf vor neun Uhr ein und begab sich sogleich auf Miß Trevanions Zimmer. Ich flüchtete mich in dasjenige meines Onkels. Roland war wach und ruhig, aber so schwach, daß er keinen Versuch machte, aufzustehen; seine Ruhe war es in der That, welche mich am meisten ängstigte – sie erschien mir wie die Ruhe einer vollständig erschöpften Natur. Wie ein Kranker beinahe unbewußt die Arznei aus unserer Hand annimmt, so gehorchte er mechanisch meiner Aufforderung, Nahrung zu sich zu nehmen. Als ich ihn anredete, erwiederte er mir durch ein mattes Lächeln und gab mir zugleich ein Zeichen, welches mich um Stillschweigen zu bitten schien. Hierauf wandte er sein Gesicht von mir ab und begrub es in dem Kissen. Ich glaubte ihn wieder eingeschlafen, als er sich plötzlich halb erhob, meine Hand suchte und mit kaum hörbarer Stimme sagte:

»Wo ist er?«

»Möchtest Du ihn sehen, Onkel?«

»Nein, nein, es würde mich tödten – und was sollte dann aus ihm werden?«

»Er hat mir eine Zusammenkunft versprochen, und ich bin überzeugt, er wird in derselben Deinen Wünschen gehorchen, welcher Art sie auch sein mögen.«

Roland erwiederte nichts.

»Lord Castleton hat alles so eingeleitet, daß sein Name und sein Wahnsinn (anders wollen wir es nicht nennen) niemals bekannt werde.«

»Stolz, Stolz – noch immer Stolz!« murmelte der alte Soldat. »Der Name, der Name – wohl, das ist viel; aber die lebendige Seele! – Ich wolltet Austin wäre hier.«

»Ich habe nach ihm geschickt, Onkel.«

Roland drückte mir die Hand und versank wieder in Stillschweigen. Nach einiger Zeit begann er – wie es mir schien – ohne Zusammenhang – über den spanischen Krieg und den ›Gehorsam gegen die Befehle‹ zu reden; ›wie ein Offizier Lord Wellesley bei Nacht geweckt habe, um zu sagen, daß irgend etwas (ich konnte das Wort nicht verstehen, es war ein militärisch-technischer Ausdruck) unmöglich sei, worauf sich Lord Wellesley das Befehlbuch geben ließ und, nachdem er hineingeblickt, mit den Worten: »Durchaus nicht unmöglich, denn es steht in dem Befehlbuch,« sich wieder auf die Seite gewendet und fortgeschlafen habe.‹ Hierauf richtete sich Roland plötzlich in die Höhe und sagte mit fester, klarer Stimme: »Aber Lord Wellesley, obgleich ein großer Feldherr, war ein irrender Mensch und das Befehlbuch sein eigenes sterbliches Machwerk. – Hole mir die Bibel!«

O Roland, Roland! Und ich hatte geglaubt, Du redest irre!

Ich ging hinunter und borgte eine Bibel mit großer Schrift, legte sie auf das Bett vor ihn hin, öffnete die Läden und ließ Gottes Licht hereinscheinen auf Gottes Wort.

Ich war eben fertig damit geworden, als leise an die Thüre geklopft wurde. Ich öffnete, und Lord Castleton stand außen. Er frug mich flüsternd, ob er meinen Onkel sehen könne, worauf ich ihn sachte hereinzog und auf den Kämpfer des Lebens deutete, welcher aus dem untrüglichen Befehlbuch ›lernte, was nicht unmöglich war‹.

Lord Castleton blickte mit verändertem Gesichtsausdruck auf meinen Onkel und schlich dann, ohne ihn zu stören, wieder hinaus, Ich folgte ihm und schloß leise die Thüre.

»Sie müssen seinen Sohn retten,« sagte er mit unsicherer Stimme; »Sie müssen ihn retten und mir sagen, wie ich Ihnen helfen kann. Dieser Anblick! – keine Predigt hat mich jemals so sehr gerührt. Doch, nun kommen Sie herunter, und empfangen Sie Lady Ellinors Dank. Wir sind im Begriffe, abzureisen. Sie wünscht, daß ich mein Mährchen meiner alten Freundin Mrs. Naseweis selbst erzähle, deßhalb gehe ich mit. Kommen Sie.«

Als wir in das Gastzimmer traten, kam Lady Ellinor auf mich zu und schloß mich in ihre Arme. Ich brauche ihre Dankergüsse nicht zu wiederholen, noch weniger das Lob, das kalt und hohl an mein Ohr schlug. Mein Blick hastete auf Fanny, welche etwas zur Seite stand, die thränenfeuchten Augen zu Boden gesenkt. Und das Gefühl aller ihrer Reize – die Erinnerung an die liebevolle Zartheit, die sie gegen den schwerbetroffenen Vater bewiesen, und an die edelmüthige Verzeihung, die sie dem verbrecherischen Sohne zugesichert hatte; die Blicke, welche sie in jener denkwürdigen Nacht auf mich gerichtet – Blicke so voll unbedingten Vertrauens – der Augenblick, da sie sich Schutz suchend an mich anklammerte, und ihr warmer Athem meine Wange berührte – dies alles stürmte auf mich ein, und ich fühlte, daß all' mein Kämpfen und Ringen vergeblich gewesen – daß ich sie nie geliebt hatte, wie ich sie jetzt liebte – jetzt, da ich sie nur sah, um sie auf immer zu verlieren! Und nun stieg zum ersten, und ich freue mich, sagen zu können, zum einzigsten Male eine bittere, undankbare Anklage gegen die Grausamkeit des Geschickes und die Ungleichheiten des Lebens in mir auf. Was war es, was unsere Herzen auf ewig trennte und jede Hoffnung unmöglich machte? Nicht die Natur; sondern äußere Verhältnisse, welche sich der Welt als zweite Natur aufdrängen. Ah, wie konnte ich damals glauben, daß die Seele bestimmt ist, in dieser zweiten Natur ihre Prüfungen zu suchen, und daß dort die Elemente menschlicher Tugend ihren harmonischen Platz finden! Was ich antwortete, weiß ich nicht; eben so wenig, wie lange ich dort stand und auf die Worte hörte, die für mich keinen Sinn hatten, bis andere Töne mich wieder zum Bewußtsein brachten und das Blut kalt durch meine Adern rieseln machten – der Huftritt der Pferde, das Knarren der Räder und die Stimme des Dieners an der Thüre, welcher den Wagen meldete.

Jetzt erhob Fanny ihre Augen, und sie begegneten den meinigen. Hastig und unwillkürlich trat sie einige Schritte auf mich zu; ich drückte die rechte Hand auf mein Herz, um sein Klopfen zum Schweigen zu bringen, und blieb stehen. Lord Castleton hatte uns beide beobachtet. Ich fühlte, daß seine Blicke auf uns ruhten, obwohl ich ihnen bisher ausgewichen war; nun aber, als ich meine Augen von Fanny abwandte, traf dieser Blick voll auf mich – sanft, theilnehmend und wohlwollend. Plötzlich trat der Marquis mit einem Ausdruck unaussprechlichen Seelenadels zu Lady Ellinor und sagte:

»Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen eine alte Geschichte erzähle. Ein Freund von mir – ein Mann von meinen Jahren hatte die Kühnheit, zu hoffen, er könnte eines Tages die Neigung einer jungen Dame gewinnen, die ihren Jahren nach seine Tochter hätte sein können, und welche er sowohl der Verhältnisse wegen als dem Drange seines Herzens zu Folge allen Andern ihres Geschlechtes vorzog. Mein Freund hatte viele Nebenbuhler; und Sie werden sich darüber nicht wundern – denn Sie kennen die Dame. Unter ihnen befand sich ein junger Gentleman, welcher Monate lang ein Bewohner desselben Hauses war – (stille, Lady Ellinor! Sie müssen mich zu Ende hören; das Interesse meiner Erzählung kommt erst) – welcher die Heiligkeit des Herdes, an dem er Aufnahme gefunden, zu achten wußte und ihn verließ, sobald er fühlte, daß er liebte – denn er war arm und die Dame reich. Einige Zeit nachher rettete der Gentleman die junge Dame aus einer großen Gefahr, und zwar, als er eben im Begriff stand, England zu verlassen – (stille, abermals – stille!) Mein Freund war zugegen, als die beiden jungen Leute vor einer wahrscheinlich jahrelangen Trennung zusammentrafen, ebenso die Mutter der Dame, deren Hand er eines Tages zu erringen hoffte. Er sah, daß sein junger Nebenbuhler ohne Zeugen Abschied zu nehmen wünschte, denn ein Lebewohl war alles, was ihm seine Ehre und seine Vernunft zu sagen gestattete. Mein Freund sah ferner, daß die Dame die natürliche Dankbarkeit für einen großen Dienst und die natürliche Theilnahme für eine edelmüthige und unglückliche Neigung empfand; denn so nur, Lady Ellinor, deutete er sich das Schluchzen, welches sein Ohr erreichte! Was glauben Sie, daß mein Freund that? Ihr hoher Geist erräth es ohne Mühe. Er sagte zu sich selbst – ›wenn ich je durch den Besitz des Herzens beglückt werden soll, welches ich trotz der Verschiedenheit der Jahre noch immer zu gewinnen hoffe, so will ich zeigen, wie vollständig ich der Unschuld und Lauterkeit desselben vertraue; möge der Roman der ersten Jugend zum Schlusse kommen, und das Lebewohl zwei reiner Herzen gesprochen werden, unverbittert durch die eitle Eifersucht eines niedrigen Argwohns. Mit diesem Gedanken, den Sie, Lady Ellinor, sicherlich nicht tadeln werden, legte er seine Hand auf diejenige der edlen Mutter und zog sie sachte nach der Thüre, der jungfräulichen Ehre und dem männlichen Pflichtgefühl der beiden jungen Wesen ruhig vertrauend.«

Dieses alles ward mit unnachahmlicher Anmuth und ergreifendem Ernste gesagt und gethan; Wort und Handlung paßten so harmonisch zusammen, daß der Zauber nicht früher gebrochen wurde, bis die Stimme verhallte, und die Thüre sich schloß.

Das schmerzliche Glück, nach dem ich mich so sehr gesehnt – ich hatte es erreicht; ich war allein mit ihr, welcher mehr, als ein letztes Lebewohl zu sagen, die Ehre und die Vernunft mir in der That verboten.

Es währte einige Zeit, ehe wir völlig wieder zum Bewußtsein kamen – ehe wir fühlten, daß wir allein waren.

O ihr Augenblicke, die ich mir nun in der milden und süßen Erinnerung mit so wenig Wehmuth zurückrufen kann – ruht für immer heilig und unenthüllt in den geheimsten Tiefen des Herzens. Ja – wenn wir uns auch gegenseitig das Geständniß unserer Schwäche ablegten – dennoch waren wir des Vertrauens nicht unwürdig, welches uns den traurigen Trost des Abschieds gestattete. Keine abgenützte Liebesgeschichte mit Gelübden, die nicht erfüllt werden konnten, und Hoffnungen, welche die Zukunft Lügen strafen mußte, höhnte die Wirklichkeiten des Lebens, das vor uns lag. Zwar sahen wir an den Grenzen des Traumbildes den Tag kalt aufgehen über der Welt; aber wenn wir auch gleich Kindern – was wir in der That noch beinahe waren – etwas vor dem Lichte zurückschreckten, so lästerten wir doch die Sonne nicht durch den Ruf: »Es ist Nacht in dieser Dämmerung!«

Alles, was wir versuchten, war, uns gegenseitig zu trösten und zu stärken für das, was sein mußte; wir verbargen uns nicht den Schmerz, den wir fühlten, aber wir versprachen uns, gegen denselben zu kämpfen. Wenn wir uns etwas gelobten, so bestand das Gelübde darin, daß Jedes um des Andern willen bestrebt sein wolle, sich der Segnungen zu erfreuen, die uns der Himmel noch gelassen hatte. Wohl darf ich sagen, daß wir Kinder waren! Ich weiß nicht, ob sich in den abgebrochenen Worten, die wir wechselten, und in den bekümmerten Herzen, welche diese Worte entschleierten, das aussprach, was Diejenigen, welche in der menschlichen Leidenschaft nur den Sturm und die Windsbraut sehen, die Liebe reiferer Jahre nennen würden – jene Liebe, welche dem Liede feurige Glut verleiht und der Bühne die Tragödie liefert; das aber weiß ich, daß weder ein Wort gesprochen wurde, noch ein Gedanke aufstieg, wodurch der Kummer der Kinder zu einer Empörung gegen den himmlischen Vater geworden wäre.

Und wieder ging die Thüre auf, und Fanny trat festen Schrittes an die Seite ihrer Mutter; dort blieb sie stehen, hielt mir ihre Hand entgegen und sagte, während ich mich über dieselbe niederbeugte: »Der Himmel wird mit Ihnen sein!«

Ein Wort von Lady Ellinor, ein offenes Lächeln von ihm – dem Nebenbuhler, ein letzter, letzter Blick aus Fanny's sanften Augen – und dann brach die Einsamkeit auf mich herein, stürmisch wie etwas Sichtbares, Greifbares, Ueberwältigendes. Ich fühlte sie in dem blendenden Lichte der Sonnenstrahlen – ich hörte sie in dem Hauche der Luft, gleich einem Gespenste erhob sie sich an der Stelle, wo sie einen Augenblick vorher noch gestanden! Ein Etwas schien für immer aus dem Weltall geschieden zu sein; eine Veränderung wie der Wechsel vom Leben zum Tode, drang durch mein Wesen, und als ich wieder zu dem Gefühle des Daseins erwachte, geschah es mit dem Bewußtsein, daß meine Jugend mit ihrer Poesie dahin war – daß ich unbewußt die Grenze überschritten, welche keinen Rückweg mehr gestattet, und in die rauhe Welt des thätigen Mannes eingetreten war!



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