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Dreizehnter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Der heilige Chrysostomus Johannes Chrysostomos (um 349-407), Patriarch von Konstantinopel, einer der vier Kirchenlehrer des Ostens. vertheidigt in seinem Werke über das »Priesterthum« den Betrug, wenn er zu einem guten Zwecke geübt wird, mit vielen Beispielen aus der Schrift; er schließt sein erstes Buch mit der Behauptung derselbe sei oft nothwendig und wohlthätig, und beginnt das zweite mit der Bemerkung, er sollte nicht Betrug, sondern »wohlangebrachte Klugheit« genannt werden.

Wohlangebrachte Klugheit will ich denn auch die unschuldigen Künste nennen, mit welchen ich jetzt meine nichtsahnende Familie günstig für meinen Plan zu stimmen suchte. Den Anfang machte ich bei Roland. Es wurde mir leicht, ihn zu veranlassen, einige der mir von Trevanion zugesandten Bücher zu lesen, welche den Reiz des australischen Lebens schilderten; und so sehr entsprachen diese Bilder seinem eigenen Geschmack für das Abenteuerliche und der freien, halbwilden Natur, welche in dem hochherzigen Soldaten lag, daß er selbst gleichsam meinem brennenden Verlangen Ausdruck zu geben schien, indem er gleich Trevanion seufzte, »daß er nicht ein junger Mann von meinen Jahren sei,« und so die Flamme, welche mich verzehrte, mit seinem eigenen Hauche mehr und mehr anfachte. Eines Tages, als wir zusammen über die wilden Moore wanderten, begann ich denn, seinen Widerwillen gegen Juristerei und Advokaten wohl kennend –

»Es ist traurig, Onkel, daß mir nichts übrig bleiben soll, als die Advokatenbank!«

Capitän Roland schlug mit seinem Stock auf den Boden und rief:

»Alle Wetter, Junge, Advokatur und Lüge gehen Hand in Hand, während die Wahrheit und eine Welt, von Gott geschaffen, vor Dir liegt!«

»Deine Hand, Onkel, wir verstehen uns. Aber Du mußt mir bei den beiden stillen Herzen zu Hause behülflich sein.«

»Die Pest auf meine Zunge – was habe ich gethan?« erwiederte der Capitän erschrocken. Hierauf sann er eine Weile nach, richtete sein dunkles Auge auf mich und brummte: »Ich vermuthe, junger Herr, Du hast mir eine Falle gelegt, und ich alter Thor habe mich in derselben fangen lassen.«

»O, Onkel, wenn Du die Advokatenbank vorziehst –«

»Spitzbube!«

»Oder könnte ich vielleicht als Schreiber in einem Kaufmannshaus ein Unterkommen finden?«

»Wenn Du dies thust, so streiche ich Dich aus dem Stammbaum aus!«

»Also – fort nach Australien!«

»Nun, nun, nun,« sagte mein Onkel mit ›einem Lächeln auf der Lippe und einer Thräne im Auge‹ Walter Scott, Lochinvar, Str. 5, V. 4. – »das Blut des alten Königs der Meere verleugnet sich nicht; Soldat oder Abenteurer – es gibt keine andere Wahl für Dich. Wir werden Dich vermissen und um Dich trauern; aber wer kann die jungen Adler an den Horst fesseln?«

Eine schwerere Aufgabe hatte ich bei meinem Vater, der mir anfangs zuzuhören schien, als spräche ich von einem Ausflug in den Mond. Ich warf jedoch geschickt eine Dosis von den alten griechischen cleruchiae hinein, die Trevanion citirt hatte, und dies setzte ihn auf sein Steckenpferd, auf welchem er lustig forttrabt, bis er sich nach einem kurzen Abstecher nach Euböa und dem Chersones inmitten der jonischen Colonien Kleinasiens verlor. Hierauf verlockte ich ihn allmälig in seine Lieblingswissenschaft, die Völkerkunde, und während er sich in Vermuthungen über die Herkunft der amerikanischen Wilden erging und dabei die wetteifernden Ansprüche der Kimmerier,Israeliten und Skandinavier verglich, sagte ich ruhig:

»Und Du, Vater, nach dessen Ansicht alle menschliche Veredlung von der Vermischung der Racen abhängt, und dessen ganze Theorie eine Predigt über die Auswanderung, die Verpflanzung und Vermengung unserer Species ist – Du, Vater, solltest der Letzte sein, der seinen Sohn, den älteren Sohn, an die Scholle fesselt, während der jüngere der wahre Missionär der Abenteurer ist.«

»Pisistratus,« entgegnete mein Vater, »Du räsonnirst durch Synecdoche Rhetorische Figur: Ersetzung eines Wortes durch einen Begriff aus demselben Begriffsfeld, also durch einen Begriff mit engerer oder weiterer Bedeutung oder einen Ober- oder Unterbegriff. – zierlich, aber unlogisch.«

Und damit stand er auf, entschlossen, nichts weiter hören zu wollen, und zog sich in sein Studierzimmer zurück.

Von diesem Tage an beobachtete er jedoch mit geschärftem Auge alle meine Stimmungen und Launen; allmälig wurde er selbst still und nachdenklich, und zuletzt fanden lange und immer längere Unterredungen mit Roland statt. Das Resultat derselben war, daß ich an einem Frühlingsabend, als ich achtlos auf den Farnkräutern ausgestreckt lag, die um die trübselige Ruine aufschossen, eine Hand auf meiner Schulter fühlte und beim Aufblicken meinen Vater gewahrte, welcher sich neben mich auf einen Stein setzte und mit ernster Stimme sagte:

»Pisistratus, laß' uns mit einander sprechen. Ich hatte mir Besseres erwartet von Deinem Studium des Robert Hall.«

»O, lieber Vater, die Arznei hat mir sehr gut gethan; ich habe dem Unmuth seitdem nicht mehr Raum gegeben und blicke fest und heiter auf das Leben. Aber Robert Hall hat seine Aufgabe erfüllt – und ebenso möchte auch ich die meinige erfüllen.«

»Gibt es keine Aufgabe für Dich in deinem Vaterlande, Du planetarischer und exallotrischer Mein Vater leitete diese Worte ab von πλανητικός, unstät, und εξαλλοτριόω, ausführen, entfremden. [ Anm.d.Verf.] Geist?« frug mein Vater mit mitleidigem Vorwurf.

»O ja! allein was der Trieb des Genius für den Großen, ist der Berufsinstinct für den Mittelmäßigen, und dasjenige, was der Mensch am besten auszuführen vermag, ist der Magnet, der ihn anzieht.«

» Papae« entgegnete mein Vater, seine Augen auf mich heftend; »und gibt es für Dich keinen Magnet, der näher läge, als der große Meerbusen von Australien?«

»Ach, Vater, wenn Du die Ironie zu Hülfe nimmst, so kann ich nichts mehr sagen!«

Mein Vater blickte zärtlich auf mich nieder, als ich mißmuthig und beschämt den Kopf hängen ließ.

»Mein Sohn,« sagte er, »glaubst Du wirklich ich, könne scherzen, wenn es sich um die Frage handelt, ob wir durch weite Meere und lange Jahre getrennt werden sollen?«

Ich rückte näher an seine Seite, antwortete aber nicht.

»Ich habe Dich in der letzten Zeit beobachtet,« fuhr mein Vater fort, »und die Bemerkung gemacht, daß Dir Deine alten Studien zuwider geworden sind. Nachdem ich mit Roland darüber gesprochen und gesehen, daß Dein Wunsch mehr ist, als die bloße Grille eines Knaben, fragte ich mich selbst, welche Aussichten ich Dir in der Heimath bieten könne, um Dich zum Hierbleiben zu veranlassen. Ich finde jedoch keine, und so würde ich auf der Stelle zu Dir sagen: ›Gehe Deinen Weg, und Gott schirme Dich‹ – aber, Pisistratus, Deine Mutter

»Ah. – dies ist in der That der Punkt, vor dem ich zurückschrecke! Im Grunde aber, welchen Beruf ich auch ergreifen mag – ob ich in der Gerichtsstube oder auf einer Kanzlei arbeite – immerhin müßte ich die meiste Zeit von ihr und von der Heimath ferne sein. Und dann ist ihre Liebe zu Dir so groß, daß –«

»Nein,« unterbrach mich mein Vater, »mit solchen Gründen kannst Du ein Mutterherz nicht bewegen; einen nur wird es gelten lassen – ist es zu Deinem Besten, daß Du sie verlässest? In diesem Fall wird es keiner weiteren Worte bedürfen. Laß' uns aber die Frage nicht voreilig entscheiden – laß' uns die nächsten zwei Monate fleißig beisammen sein. Bringe Deine Bücher hierher, studire bei mir, und wenn Du ausgehen willst, klopfe mir auf die Schulter und sage: ›Komm!‹ Nach Ablauf dieser zwei Monate will ich Dir sagen, ob Du gehen oder bleiben sollst. Und wirst Du mir vertrauen und Dich unterwerfen, wenn ich das Letztere sage?«

»Ja, Vater – ganz gewiß.«


Zweites Kapitel.

Nachdem dieser Vertrag geschlossen war, riß sich mein Vater von allen seinen Studien los, widmete mir ausschließlich seine Gedanken, suchte mich mit all' seiner milden Weisheit unmerklich von der in mir fest gewurzelten tyrannischen Idee abzubringen und durchstörte Durchsuchte, durchstöberte. seine große Bücher-Apotheke nach Arzneien, welche die gewünschte Veränderung in dem System meiner Gedanken hervorzubringen vermöchten. Wie wenig ahnte er, daß eben diese Zärtlichkeit und Weichheit ihm entgegen arbeitete, denn bei jedem neuen Beweis derselben rief eine Stimme in meinem Innern: »O, mein Vater, will ich denn nicht gerade deßhalb Dich verlassen und in ein fremdes Land ziehen, damit Deine Zärtlichkeit belohnt und Deine Weisheit von der Welt erkannt werde?«

Die zwei Monate waren abgelaufen, und als mein Vater sah, daß der Magnet, der mich anzog, noch immer in dem großen australischen Meerbusen lag, sagte er zu mir: »Gehe zu Deiner Mutter und tröste sie. Ich habe ihr Deinen Wunsch mitgetheilt und ihm durch meine Zustimmung Kraft gegeben, denn ich bin nun überzeugt, daß es zu Deinem Besten ist.«

Ich fand meine Mutter in dem kleinen Gemach, welches sie sich neben dem Studirzimmer meines Vaters eingerichtet hatte. In diesem Stübchen waltete ein rührender Charakter, für welchen ich keine Worte finde; es trug das Gepräge der sanften, edlen, echt weiblichen Seele meiner Mutter – ich möchte es das Herz der Heimath nennen. Mit welcher Sorgfalt hatte sie alle jene bescheidenen Erinnerungszeichen alter Zeiten, die ihrem Herzen so theuer waren, aus dem Backsteinhause hierher verpflanzt und mit liebender Hand geordnet – die in schwarzem Papier ausgeschnittene Silhouette meines Vaters in vollem akademische Pomp mit Mütze und Mantel (wie war er je dazu gekommen, für diesen Schattenriß zu sitzen!) unter Glas und Rahmen an dem Ehrenplatze über dem kleinen Kamine – knabenhafte Skizzen von meiner Hand aus dem hellenischen Institut, Erstlingsversuche in Sepia und Tusch, um die Wände zu beleben und ihr, wenn sie in der Dämmerung allein hier saß und ihren Träumen nachhing, jene wonnigen Stunden zurückzurufen, da Sisty und die junge Mutter sich mit Gänseblümchen warfen – und, mit einer großen Glasglocke bedeckt und jeden Tag von ihrer eigenen Hand abgestäubt, der Blumentopf, den Sisty von dem Erlös der Dominoschachtel bei jener denkwürdigen Gelegenheit gekauft hatte, als er lernte, »wie schlimme Handlungen wieder gut gemacht werden können.« Dort stand in einer Ecke das kleine Piano, dessen ich mich von frühester Jugend an erinnerte – altmodisch und mit dem klappernden Tone des nahenden Alters, allein noch immer an Melodien erinnernd, wie wir sie nach den Tagen der Kindheit nie mehr hören! Und auf dem bescheidenen Bücherbrettchen, das so freundlich mit seinen Bändern, Quasten und seidenen Schnüren aussah, meiner Mutter eigene Bibliothek, die mehr zum Herzen sprach, als alle die kalten, weisen Dichter, deren Seelen mein Vater in seinem großartigen Heraclea »Heraclea war die Stadt der Zauberer, in welcher man die Todten heraufbeschwor,« sagt Mr. Caxton zu Anfang von V, 2. heraufbeschwor – die Bibel, auf welche meine Augen, noch ehe sie einen Buchstaben zu unterscheiden vermochten, in unbestimmter Ehrfurcht und Liebe hinblickten, wenn sie aufgeschlagen im Schooße meiner Mutter lag, deren süße, bei solcher Gelegenheit aber ernste Stimme zum Orakel ihrer Wahrheiten wurde – meine ersten Lesebücher, gleich Schätzen werth gehalten und aufbewahrt – endlich aber, in Blau und Gold gebunden, jedoch vorsichtig mit einem Papierumschlag versehen, Cowper's Gedichte, ein Geschenk meines Vaters aus den Tagen, da er um sie warb, und ein so geheiligtes Kleinod, daß nicht einmal ich es berühren durfte, und meine Mutter es nur in den großen Prüfungen des ehelichen Lebens herunternahm, wenn etwa unvermuthet ein weniger freundliches Wort als gewöhnlich den Lippen des zerstreuten Gelehrten entfiel. Ah, alle diese armen Hausgötter schienen mit sanften, Vorwurf auf mich niederzublicken und mir zuzurufen: »Grausamer, Du willst uns verlassen!« Und unter ihnen, trostlos wie Rahel, saß still weinend meine Mutter.

»Mutter! Mutter!« rief ich, ihr um den Hals fallend, »vergib mir! Es ist vorbei – ich kann Dich nicht verlassen!«


Drittes Kapitel.

Nein – nein! es ist zu Deinem Besten – Austin hat es gesagt. Du mußt fort – es ist nur die erste Erschütterung.«

Und vor meiner Mutter öffnete ich nun die Schleusen jener Tiefe, die ich vor dem Gelehrten und dem Kriegsmanne verborgen hatte. Vor ihr enthüllte ich die wilden, rastlosen Gedanken, welche durch die Ruine einer zerstörten Liebe wanderten – ihr bekannte ich, was ich mir selbst kaum gestanden hatte. Und nachdem ich ihr diese dunklere Seite meines Geistes gezeigt, konnte ich mit stolzerem Blick und festerer Stimme von dem edleren Ziele und den männlicheren Hoffnungen sprechen, welche mir aus Wildniß und Trümmern einen Ausweg öffneten.

»Sagtest Du mir nicht einst, Mutter, Du fühltest es gleich einem Vorwurf, daß meines Vaters Genius so geräuschlos und unbeachtet dahingehe – dabei gewissermaßen das Glück anklagend, welches Du ihm gabst, als trage dieses die Schuld an dem Ersterben seines Ehrgeizes in der Zufriedenheit seines Gemüthes? Lerntest Du nicht ein neues Lebensziel kennen, als der Ehrgeiz endlich wieder erwachte, und Du bereits den Beifall der Welt um die Zelle Deines Gelehrten zu hören wähntest? Theiltest Du nicht die Träume, welche Dein Bruder heraufbeschwor, und riefst: ›Wenn mein Bruder das Mittel werden könnte, in der Welt ihn zu heben!‹ und als Du glaubtest, wir hätten den Weg zu Ruhm und Reichthum gefunden, schluchztest Du nicht aus der Fülle Deines Herzens: ›Und es ist mein Bruder, der seinem Sohne alles ersetzen wird – alles, was er um meinetwillen aufgab?«

»O, Sisty, höre auf – ich kann dies nicht ertragen – höre auf!«

»Nein – Du verstehst mich nicht. Wird es denn nicht noch besser sein, wenn Dein Sohn – Dein eigener Sohn – Deinem Austin alles wieder zurückgibt, was er verloren hat? Wenn durch Deinen Sohn, Mutter, die Welt etwas hört von dem Genius Deines Gatten und sein Streben mit dem verdienten Ruhme belohnt? – wenn Dein Sohn jenen gepriesenen Familiennamen wiederherstellt, welcher der Stolz unseres armen, seines Sohnes beraubten Roland ist? und wenn es ihm gelingt, aus dem Staub von Generationen das Haus wieder aufzubauen, in welches Du als ein sanfter, schützender Engel eintratest? Oh meine Mutter, wenn dies geschehen kann, so wird es Dein Werk sein, denn wenn Du meinen Ehrgeiz nicht zu theilen vermagst, wenn Du nicht diese Augen trocknen, mir in's Angesicht lächeln und mit heiterer Stimme mich gehen heißen kannst, so entfällt meinem Herzen aller Muth, und ich sage noch einmal – ich kann Dich nicht verlassen!«

Meine Mutter schlang ihre Arme um mich – wir konnten beide vor Weinen nicht sprechen, allein wir waren beide glücklich.


Viertes Kapitel.

Das Schlimmste war nun vorüber, und meine Mutter zeigte den meisten Muth unter uns Allen. Ich begann mich nun ernstlich vorzubereiten und befolgte Trevanion's Rathschläge mit einer Beharrlichkeit, welche ich in jenen Tagen nimmermehr auf das todte Bücherleben hätte verwenden können. Die Cumberlander Schafweiden dienten mir als gute Schule in den einfachen, auf das Hirtenleben bezüglichen Elementen der ländlichen Kunst. Mr. Sidney empfiehlt in seinem ausgezeichneten Handbuch für Australien Sidney's Australian Handbook. How to settle and succed in Australia. By A. Bushman. London 1848. Das Handbuch erfuhr zahlreiche Auflagen. allen jungen Gentlemen, welche sich in dem Busch ansiedeln wollen, ein dreimonatliches Bivouac auf der Salisbury-Ebene. Das Buch war damals noch nicht geschrieben, sonst hätte ich mir vielleicht diesen Rath zu Nutze gemacht; indeß glaube ich mit aller Achtung vor einer solchen Autorität, daß die Vorbereitungschule, durch welche ich ging, dem künftigen Auswanderer eben so gute Dienste leistete. Ich trat in einen lebhaften Verkehr mit den freundlichen Bauern und Handwerksleuten, welche meine Lehrmeister wurden. Mit welchem Stolz beschenkte ich meinen Vater mit einem eigenhändig verfertigten Schreibpult und meine Mutter mit einem eben solchen Arbeitskästchen! Bolt lieferte ich ein Schloß an seine Silberkiste, mein Meisterstück aber (mein magnum opus in der That) war eine alte Thurmuhr, welche seit Menschengedenken die Stunde Zwei anzeigte, und die ich nun gründlich ausgebessert und vollständig wieder in Gang gebracht hatte. Bei jedem Glockenschlag freute ich mich des Gedankens, daß ihre tiefen Klänge Diejenigen, welche sie vernahmen, an mich erinnern würden. Meine Hauptsorgfalt widmete ich jedoch den Herden. Die Schafe, die ich hüten und scheren half, das Lamm, das ich aus dem großen Sumpf herauszog, und die drei ehrwürdigen Mutterschafe, die ich während einer geheimnißvollen Seuche, durch welche die ganze Nachbarschaft in Aufregung gerieth, verpflegte – sind sie nicht eingetragen in Deine liebevolle Chronik, o Haus Caxton?

Da der Erfolg meines Unternehmens großentheils von einem möglichst freundschaftlichen Verhältniß zwischen mir und meinem Gefährten abhängen mußte, so schrieb ich an Trevanion und bat ihn, den jungen Gentleman, der mich begleiten und dessen Kapital ich verwalten sollte, zu einem Besuche bei uns zu veranlassen. Trevanion willfahrte meiner Bitte, und so erschien denn eines Tages ein mehr als sechs Fuß hoher Bursche in einem kurzen Jagdrock, an dessen Knopfloch eine Diebspfeife hing, kurzen Beinkleidern von grobem, wollenem Tuche, Gamaschen und einer Weste, welche mit seltsamen, verborgenen Taschen aller Art ausgestattet war. Guy Bolding hatte anderthalb Jahre als »flotter Student« in Oxford gelebt, und zwar so »flott«, daß es wohl kaum einen Gewerbsmann dort geben mochte, in dessen Kreditregister sein Name nicht zu finden gewesen wäre. Sein Vater sah sich genöthigt, ihn von der Universität zurückzuberufen, wo der junge Mann bereits die Ehre gehabt hatte, tüchtig gerupft zu werden; und als man ihn befragte, für welchen Beruf er sich am besten eigne, erwiederte er mit selbstbewußtem Stolze: »Er verstehe einen Wagen zu lenken!« In Verzweiflung wandte sich der alte Herr, welcher Trevanion seine Pfründe verdankte, an diesen, und so kam es, daß der junge Gentleman mir als Expatriationsgenosse zugewiesen wurde.

Mein erstes Gefühl, als ich den flotten Burschen begrüßte, war allerdings dasjenige großer Enttäuschung und tiefen Widerwillens. Ich war jedoch entschlossen, nicht all zu wählerisch zu sein, und da ich mich glücklicher Weise ziemlich gut in alle Charaktere finden kann (eine Eigenschaft, ohne welche Niemand an den großen australischen Meerbusen denken sollte), so gelang es mir noch vor Ablauf der ersten Woche, so viele Berührungspunkte zwischen uns aufzufinden, daß wir die besten Freunde von der Welt wurden. In der That hätte die Schuld auch nur auf meiner Seite liegen können, wenn es nicht so gewesen wäre, denn Guy Bolding gehörte trotz aller seiner Fehler zu jenen vortrefflichen Geschöpfen, welche Niemandes Feinde sind, als ihre eigenen. Seine gute Laune war unerschöpflich, keine Beschwerde, keine Entbehrung kam ihm ungelegen. »Das ist lustig!« lauteten die Worte, die stets lachend seinen Lippen entfielen, wenn jeder Andere geflucht oder gestöhnt hätte. Verirrten wir uns in den weiten, pfadlosen Mooren und kamen halb ausgehungert zu Hause an, nachdem längst das Mittagessen vorüber war, so rieb Guy seine Hände, mit denen er einen Ochsen hätte niederschlagen können, und kicherte: »Das ist lustig!« Blieben wir in einem Sumpfe stecken, wurden wir von einem Gewittersturm überfallen, oder warfen uns die wilden Fohlen, welche wir zu bändigen versuchten. Hals über Kopf zu Boden, so war Guy Bolding's einziges Klagelied: »Das ist lustig!« Dieses großartige Schiboleth Nach Buch der Richter 12, 6; Kennzeichen, besonders aber eine Art des Ausdrucks, wodurch sich Jemand verräth, zu von Philosophie verließ ihn nur bei dem Anblick eines offenen Buches, und ich glaube, daß er damals nicht einmal im Don Quixote etwas »Lustiges« gefunden haben würde. Mit diesem fröhlichen Temperament verband Guy ein wirklich gutes Herz, obwohl es allerdings in einem seltsamen, unruhigen, tarantelartigen Takte schlug, durch welchen es in einem fortwährenden Tanze erhalten wurde. Dies machte ihn denn auch zu einem jener Menschen, welche selbst nie zu Ruhe kommen und, wenn es von ihnen abhängt, ebensowenig Andere zu Ruhe kommen lassen. Guy's Hauptfehler in dieser klugen Welt bestand jedoch darin, daß er das Geld nicht festhalten konnte. Hätte man ihm des Morgens einen Euphrat von Gold in die Taschen geschüttet, so wären sie Mittags um zwölf Uhr schon wieder so trocken gewesen, wie die große Sahara. Was er mit dem Gelde anfing, war ein eben so großes Geheimniß für ihn selbst, wie für Andere. Sein Vater sagte in einem Briefe an mich, ›er habe ihn mit halben Kronen nach den Sperlingen werfen sehen, um sie zu verscheuchen!‹

Daß es ein solcher junger Mann in England zu nichts Gutem bringen würde, schien vollkommen klar zu sein. Gleichwohl wissen wir von vielen großen Männern, welche ihre Tage nicht in einem Arbeitshaus beschlossen, daß sie nicht besser mit dem Gelde umzugehen verstanden. Schiller gab, wenn er sonst nichts mehr zu geben hatte, die Kleider von seinem Leibe weg, und Goldsmith Siehe Anm. 110. seine Bettdecke. Zarte Hände fanden es nöthig. Beethoven's Taschen zu Hause zu leeren, ehe er ausging. Große Helden, die keinen Anstoß nahmen, die ganze Welt zu plündern, sind eben so verschwenderisch gewesen, wie arme Dichter und Musiker. Alexander behielt bei Vertheilung der Beute die »Hoffnung« für sich, und Julius Cäsar hatte zwei Millionen Schulden, als er mit seiner letzten halben Krone nach den Sperlingen in Gallien warf. Durch solche erlauchten Beispiele ermuthigt, faßte ich auch Hoffnung für Guy Bolding, um so mehr, als er sich seiner eigenen Schwäche so vollkommen bewußt war, daß er sich nicht nur bereitwillig in die Anordnung fügte, welche mich zum Schatzmeister seines Geldes machte, sondern mich auch dringend ersuchte, ihm unter keinen Umständen, möge er mich mich so sehr mit Bitten bestürmen, etwas davon unter die Hände kommen zu lassen. Ich gewann in der That einen großen Einfluß auf seine sorglose, einfache und großmüthige Natur, und nachdem ich ihm zu wiederholten Malen vorgestellt, wie vielen Dank er seinem Vater für so manche zwecklose Opfer schulde, und wie es seine Pflicht sei, seiner kleinen Schwester, deren Erbtheil durch seine Universitätsschulden um die Hälfte geschmälert worden, für eine kleine Mitgift besorgt zu sein, gelang es mir endlich, den Vorsatz »zu sparen« in ihm zu befestigen.

Von den drei weiteren Gefährten, die ich mir für unsere cleruchia auswählte, war der erste der Sohn unseres alten Schäfers, der sich erst kürzlich verheirathet hatte und daher noch nicht durch ein Häuflein Kinder belästigt war – ein guter Schäfer und ein verständiger, zuverlässiger Bursche. Der zweite, ein von diesem sehr verschiedener Charakter, war der Schrecken der ganzen Gegend gewesen, denn einen kühneren und gewandteren Wilddieb hatte es weit und breit nicht gegeben. Meine Bekanntschaft mit Will Peterson Im Original: Will-o'-the-Wisp, was »Irrwisch« bedeutet. – so hieß der Gefürchtete – hatte in folgender Weise begonnen. – Etwa eine Meile von dem Thurme entfernt befand sich ein kleines Gehölz, das einzige Stück Boden auf meines Onkels Besitzthum, welches man Höflichkeits halber »einen Wald« nennen konnte, und daselbst hatte Bolt eine junge Colonie von Fasanen angelegt, die er mit dem würdevollen Titel »Wildgehege« bezeichnete. Diese Colonie wurde nun in frecher Weise überfallen und entvölkert, trotzdem, daß Bolt mit zwei Wächtern sieben Nähte hinter einander den Schlummer der jungen Ansiedelung hütete. So keck und übermüthig geschahen die Angriffe, daß die Schüsse der verbrecherischen Büchse hinten – vorne – in nächster Nähe der Hüter krachten – der Schütze aber seine Beute ergriffen und sich aus dem Staube gemacht hatte, noch ehe jene die Stelle erreichen konnten. Die Kühnheit und Geschicklichkeit des Feindes ließ bald die erfahrenen Wächter Will Peterson in demselben erkennen; allein so groß war ihre Furcht vor der Kraft und dem Muth dieses Burschen, und so vollständig verzweifelten sie daran, seiner Schlauheit und Gewandtheit gewachsen zu sein, daß sie nach der siebenten Nacht jeden weiteren Auszug verweigerten, während der arme Bolt an einem Anfall erkrankte (und in der That das Bett hüten mußte), welchen ein Doctor Rheumatismus, ein Moralist aber Wuth genannt haben wurde. Dieses Mißlingen erregte meinen Unwillen und meine Theilnahme in hohem Grade, und ebenso wurde mein Interesse durch die Anekdoten, welche ich von Will Peterson hörte, in romantischer Weise gesteigert; mit einem dicken Knüttel bewaffnet stahl ich mich daher in der nächsten Nacht aus dem Hause und schlug den Weg nach dem Gehölze ein. Die Bäume waren dicht belaubt, und wie der Wilddieb seine Opfer nur entdecken konnte, begriff ich nicht; gleichwohl feuerte er fünf gute Schüsse ab, ohne daß es mir gelang, seiner ansichtig zu werden. Ich zog mich nun an den Saum des Wäldchens zurück und wartete geduldig an einer Ecke, von welcher aus ich die Grenze desselben nach zwei Seiten hin überschauen konnte. Mit Anbruch der Morgendämmerung sah ich meinen Mann in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten aus dem Gehölz auftauchen. Ich hielt den Athem an, ließ ihn eine kleine Strecke weit gehen, schlich hierauf vorwärts, um ihm den Rückzug abzuschneiden – dann ein Sprung – und was für einer! – und meine Hand lag auf seiner Schulter. Er war jedoch so schlüpfrig, wie ein Aal, entglitt mir gleich einem wesenlosen Schatten und sprang mit einer Schnelligkeit über die Moore hin, welche der Anstrengungen der tölpischen Bauern in ihren schweren, mit Nägeln beschlagenen Schuhen wohl spotten mochte; das hellenische Institut aber hatte mit seiner classischen Gymnastik seine Zöglinge in allen körperlichen Uebungen ausgebildet, und wenn auch Will Peterson zu rasch für einen Bauernlümmel war, so konnte er sich doch nicht an Geschwindigkeit mit einem Jüngling messen, der während seiner Knabenzeit im Kolbenspiel Winterfelds Übersetzung für »Cricket«. und andern Turnerspielen sich geübt hatte. Ich erreichte ihn endlich und brachte ihn zum Stehen.

»Zurück!«, rief keuchend, indem er mit seiner Büchse zielte; »sie ist geladen!«

»Ja,« erwiederte ich; »aber obgleich Ihr ein kühner Wilddieb seid, so wagt Ihr es doch nicht, auf Euren Nebenmenschen, zu schießen. Gebt augenblicklich die Büchse her.«

Meine Worte überraschten ihn, und er feuerte nicht. Ich schlug den Flintenlauf in die Höhe, und während wir nun handgemein wurden und heftig mit einander taugen, ging der Schuß los. Der Mann ließ sogleich von mir ab und sagte stotternd:

»Gott steh' mir bei – ich habe Euch doch nicht getroffen?«

»Nein, mein guter Bursche,« versetzte ich; »und nun laßt uns Büchse und Knüttel bei Seite legen und die Sache als Engländer ausfechten, oder aber laßt uns hier niedersitzen und sie als Freunde besprechen.«

Will Peterson kratzte sich hinter dem Ohr und lachte.

»Nun – Ihr seid ein wunderlicher Herr,« sagte er, ließ sein Gewehr fallen und setzte sich.

Wir besprachen die Sache, und Peterson gab mir das Versprechen, fortan das Wildgehege unangefochten zu lassen, worauf wir als die besten Freunde aufbrachen, Peterson mich nach Hause begleitete und mir sogar – schüchtern und mit vielen Entschuldigungen – die fünf Fasanen, die er geschossen hatte, zum Geschenke machte. Von diesem Tage an suchte ich ihn fleißig auf. Er war ein junger Mann von noch nicht vierundzwanzig Jahren und betrieb die Wilddieberei aus reinem Vergnügen an der Sache selbst und unter einer unklaren Vorstellung, daß er von der Natur mit einem Freibrief ausgestattet worden, das Wild des Waldes schießen zu dürfen. Ich fand bald, daß er zu etwas Besserem bestimmt sei, als sechs Monate im Jahr im Gefängniß zu sitzen, und zuletzt wegen Tödtung eines Wildhüters sein Leben am Galgen zu endigen. Dies erschien mir als sein wahrscheinlichstes Schicksal in der alten Welt, und so suchte ich ihm ein lebhaftes Verlangen nach der neuen beizubringen; es gelang mir auch wirklich, und Will Peterson erwies sich in der Folge als eine sehr schätzbare Hülfe in dem Busch.

Meine dritte Wahl fiel auf eine Persönlichkeit, welche zwar wenig physische Kraft mitbrachte, dafür aber mehr Geist besaß, als alle Uebrigen zusammengenommen, obwohl derselbe nicht frei von mancherlei seltsamen Auswüchsen war.

Ein ehrbares Ehepaar im Dorfe hatte einen Sohn, der wegen seines im Vergleich mit dem Cumberlander Schlage kleinen und schwächlichen Körpers vom Ackerbau ausgeschlossen und noch als Knabe nach einer Fabrikstadt geschickt worden war. Er mochte jetzt etwa dreißig Jahre zählen und befand sich eben, durch eine lange Krankheit arbeitsuntüchtig gemacht, zu seiner Erholung zu Hause. Bald hörten wir von nichts, als von den verpestenden Lehren, mit welchen er unsere Dorfbewohner entweder ansteckte oder ihnen Aergerniß gab; nach den Gerüchten zu urtheilen, hatte Corcyra Korkyra oder Kerkyra, das heutige Korfu; Anspielung auf die Lage Kerkyras zur Zeit des Peleponnesischen Krieges im Jahre 427 v.u.Z., als die Demokraten sich von der Abhängigkeit der Stadt von Korinth befreien wollten, während die Aristokraten an der Allianz festhielten; die Demokraten gewannen mit der Hilfe athenischer Marine und schlachteten danach jeden ab, den sie für einen Feind hielten. selbst niemals einen schlimmeren Demokraten hervorgebracht. Der arme Mann war in der That sehr krank, und seine Eltern gehörten zu den ärmsten Leuten der Gegend; allein seine unglücklichen Lehren brachten alle Ströme der Mildthätigkeit, welche sonst durch unser wohlwollendes Dörfchen rieselten, zum Versiegen. Der Geistliche (ein vortrefflicher Mann, aber von der alten Schule) ging an dem Hause vorüber, als ob es vervehmt wäre. Der Apotheker meinte, Miles Square sollte Wein haben, schickte ihm jedoch keinen. Den Pächtern war sein bloßer Name schon ein Greuel, denn er hatte alle Taglöhner angestiftet, wöchentlich einen Schilling mehr Lohn zu verlangen; und ohne den alten Thurm würde Miles Square wohl bald seinen Weg nach der einzigen Republik angetreten haben, in welcher er jene demokratische Verbrüderung gefunden hätte, nach der er seufzte – denn ich vermuthe, daß das Grab der einzige Freistaat ist, der jene todte Fläche gesellschaftlicher Gleichheit verwirklicht, welche das Leben in allen seinen Principien so gründlich verwirft.

Mein Onkel ging zu Miles Square, um ihn zu besuchen, kam aber mit purpurrothem Antlitz wieder zurück. Miles Square hatte ihm eine lange Predigt über die Unheiligkeit des Krieges gehalten. »Sogar in Vertheidigung von König und Vaterland?« war des Capitäns entrüstete Frage gewesen, worauf Miles Square mit einer Bemerkung über die Könige im Allgemeinen erwiederte, welche Roland nicht zu wiederholen gewagt hätte, ohne zu besorgen, daß ihm der alte Thurm über dem Kopfe zusammenfalle, und mit einer Hindeutung auf das Vaterland im Besondern, des Inhalts, »das Vaterland würde viel besser daran sein, wenn es besiegt wäre!« Diese loyalen und patriotischen Aeußerungen, welche uns Roland hinterbrachte, entlockten meinem Vater ein » Papae« und entrissen ihn seiner gewohnten, philosophischen Gleichgültigkeit; er begab sich selbst zu Miles Square, kehrte jedoch eben so blaß wieder zurück, als mein Onkel roth gewesen war. »Und denken zu müssen,« sagte er traurig, »daß in der Stadt, aus welcher dieser Mann kömmt, nach seiner Versicherung zehntausend andere Gottesgeschöpfe sich befinden, welche das Werk der Civilisation fördern, während sie die Gesetze derselben verwünschen!«

Aber weder Vater noch Onkel erhoben die geringste Einsprache, als meine Mutter mit einem Körbchen, in welches sie Wein, Arrow-root Ein aus Maranta arundinacea gewonnenes Stärkeprodukt, leichter verdaulich als Weizenmehl, bzw. dessen Stärke; häufig für delikate Soßen, Puddinge und Glasuren verwendet, die nicht kochen dürfen. und eine hübsche, in braunes Leder gebundene kleine Bibel gepackt hatte, ihren Weg nach der excommunicirten Hütte antrat. Ihr Besuch war jedoch so wenig von Erfolg begleitet, wie die vorhergehenden. Miles Square wies das Körbchen zurück; ›er werde weder Almosen annehmen, noch das Brod der Barmherzigkeit essen;‹ und als meine Mutter demüthig andeutete, ›wenn Mr. Miles Square sich entschließen wollte, in die Bibel hinein zu sehen, so würde er finden, daß die Mildthätigkeit keine Sünde sei, weder für den Geber, noch für den Empfänger,‹ übernahm es Mr. Miles Square, den Beweis zu führen, ›daß er nach der Bibel eben so viel Recht auf das Eigenthum meiner Mutter habe, als diese selbst – daß alle Dinge Gemeingut sein sollten – und wenn es einmal so weit wäre, was würde alsdann aus der Mildthätigkeit werden? Nein, er könne nicht meines Onkels Arrow-root essen und seinen Wein trinken, so lange derselbe unrechtmäßiger Weise ihm und seinen Nebenmenschen so viele ertraglose Grundstücke vorenthalte, denn das Land gehöre dem Volk.‹ Nun kam die Reihe an Pisistratus. Er ging einmal – und er ging oft hin. Miles Square und Pisistratus kämpften und stritten – und stritten und kämpften – und endigten damit, daß sie gegenseitiges Wohlgefallen an einander fanden, denn der arme Miles Square war nicht halb so schlimm, als seine Lehren. Seine Irrthümer entsprangen aus der innigen Theilnahme an dem Elend und den Leiden, welche die Herrschaft des Millokratismus Engl. Mill hier in der Bedeutung »Fabrik«; Millokratismus also: Herrschaft der Fabrikbesitzer. begleiten, und deren Zeuge er gewesen, sowie aus dem unbestimmten Sehnen eines halb gebildeten, ernsten und leidenschaftlichen Geistes. Allmälig überredete ich ihn, einstweilen meines Onkels Arrow-root zu essen und seinen Wein zu trinken, bis das tausendjährige Reich kommen und das Land dem Volke zurückgeben würde. Hierauf wiederholte auch meine Mutter ihren Besuch und es gelang ihr in der That, sein Herz zu erweichen; zum ersten Mal in seinem Leben trat ein warmes Gefühl menschlicher Dankbarkeit an die Stelle seiner kalten, verschrobenen Ansichten. Ich borgte ihm nun einige Bücher, darunter mehrere Werke über Australien; in einem der letzteren machte eine Stelle, in welcher gesagt ward, ›daß sich ein verständiger Handwerker, selbst, wenn er sich nur mit der Schafzucht abgebe, in der Regel weit besser in der Colonie fortbringe, als der bloße Bauer,‹ einen tiefen Eindruck auf seine Phantasie und gab seinen Bestrebungen eine gesunde Richtung. Nachdem er wieder hergestellt war, sprach er den dringenden Wunsch aus, mich begleiten zu dürfen, und da ich vielleicht nicht wieder Gelegenheit haben werde, auf Miles Square zurückzukommen, so möchte es hier am Platze sein, zu berichten, daß er wirklich mit mir nach Australien ging, dort zuerst als Schäfer, dann als Oberaufseher und zuletzt, nachdem er sich das nöthige Geld erspart, als Landeigenthümer sein Glück machte. Ungeachtet seiner Ansichten über die Unheiligkeit des Krieges sah er sich kaum im Besitze eines behaglichen Blockhauses, als er dasselbe auch mit ungewöhnlicher Tapferkeit gegen einen Angriff der Eingebornen vertheidigte, deren Rechte an den Boden mindestens eben so gut waren, als seine Ansprüche an meines Onkels Grundstücke. Die spätere Erwerbung eines neuen Stück Landes mit dem dazu gehörigen Viehstand feierte er durch eine kleine, in Sidney gedruckte Flugschrift über die Heiligkeit der Eigenthumsrechte, und als ich die Colonie verließ, war er durch zwei »Helfer«, welche er seinem Hauswesen beigesellt hatte, so sehr gequält worden, daß er sich zu einer höchste anti-gleichmachenden Vorlesung über die Pflichten der Dienstboten gegen ihre Brodherrn veranlaßt sah. Was würde die alte Welt für diesen Mann gethan haben?


Fünftes Kapitel.

Ich hatte mich nicht beeilt, meine Vorbereitungen zu Ende zu bringen, denn abgesehen von dem Wunsche, mir die kleinen, nützlichen Fertigkeiten anzueignen, welche mir in einem Leben nothwendig werden konnten, in dem jeder Einzelne gewissermaßen einen Staat für sich bildet, lag mir natürlicher Weise daran, die Meinigen an den Gedanken der Trennung zu gewöhnen, und meine fruchtbare Einbildungskraft beschäftigte sich mit allen nur erdenklichen Planen, um ihnen durch Zerstreuung oder andere Hülfsmittel einen Ersatz für meine Abwesenheit zu geben. Zuvörderst bewog ich um seiner selbst, um Blanche's und meiner Mutter willen den lange widerstrebenden Capitän, dem Vorschlag seiner Schwägerin beizutreten und das Einkommen beider Theile zusammenzuwerfen ohne Rücksicht darauf, welche Partei die größere Summe beitragen würde. Ich stellte ihm vor, daß ohne dieses Opfer seines Stolzes meine Mutter alle jene häuslichen Freuden entbehren müßte, die einer Frau so theuer sind; daß jeder gesellige Umgang mit der Nachbarschaft unmöglich sein, und meiner Mutter, nichts anderes übrig bleiben würde, als fortwährend an den Abwesenden zu denken und sich um ihn zu grämen. Ja, ich verhehlte ihm nicht, daß, wenn er auf seinem falschen Stolze beharre, ich in meinen Vater dringen würde, den Thurm zu verlassen. Diese Vorstellungen hatten den gewünschten Erfolg, und bereits wurde in der alten Halle die Gastfreundschaft geübt; plaudernde Nachbarinnen sammelten sich um meine Mutter, Gruppen lachender Kinder umgaben Blanche, deren ernste Stirne sich aufzuheitern begann, und der Capitän selbst schien zufrieden und aufgeräumt.

Meine nächste Aufgabe war nun, die Vollendung des großen Buches zu bewirken. »Vater« sagte ich, »gib mir einen Anlaß zu Arbeit und Anstrengung, eine Belohnung für meinen Fleiß. Laß mich bei jedem lockenden Vergnügen, bei jeder kostspieligen Versuchung denken – nein, nein, ich will für das große Buch sparen! und so wird die Erinnerung an den Vater den Sohn vor Irrwegen bewahren. Mr. Trevanion's Anerbieten, mir die zum Anfang nöthigen 1500 Pfund zu leihen, wiesest Du großmüthig zurück, indem Du erklärtest, ich dürfe das Leben nicht mit einer Schuldenlast beginnen; und ich wußte, daß Du Recht hattest, und gab nach – ja, ich war Dir um so dankbarer, als ich mir nun von dem gerechten Stolze des Mannes nichts zu vergeben brauchte, indem ich eine solche Verpflichtung gegen Miß Trevanion's Vater einging. Jene Summe aber, eine Summe, welche beinahe hingereicht haben würde, Dein jüngeres und würdigeres Kind für immer in der Welt zu versorgen, habe ich nun von dir angenommen – doch nur unter der Bedingung, daß Du mir erlaubst, sie diesem Kinde zurück zu erstatten. Laß sie mich als ein Pfand des großen Buches betrachten und versprich mir, daß dieses fertig sein soll, wenn Dein Wanderer zurückkehrt und Rechenschaft ablegt von dem ihm anvertrauten Pfunde.«

Mein Vater schüttelte den Kopf und rieb den Thau ab, der sich auf seiner Brille gesammelt hatte. Ich ließ ihm jedoch keine Ruhe, bis er mir sein Wort gegeben, daß das große Buch »mit Riesenschritten« fortschreiten solle – ja, bis ich selbst gesehen hatte, daß er sich wohlgemuth zur Arbeit niedersetzte, und der ruhige Mechanismus dieses edlen Lebens wieder im alten Gange war.

Schließlich und als Höhepunkt meiner Diplomatik gelang es mir, den Ankauf der benachbarten Apotheke sammt der ärztlichen Kundschaft für Squills unter Bedingungen zu bewerkstelligen, auf welche dieser bereitwillig einging, denn der arme Mann hatte den Verlust seiner Lieblingspatienten schmerzlich empfunden, wiewohl diese – weiß der Himmel! – wenig genug zu seinem Einkommen beitrugen. Und was meinen Vater betraf, so gab es Niemand, der mehr zu seiner Zerstreuung beitrug, als Squills, obgleich er ihn beschuldigte, ein Materialist zu sein, und eine ganze Meute von Weisen auf ihn hetzte, von Plato und Zeno Siehe Anm. 8. bis auf Reid Thomas Reid (1710-1796), schottischer Aufklärungsphilosoph; Begründer der schottischen Schule der Common-Sense-Philosophie. – Zu Tucker: siehe Anm. 206. und Abraham Tucker.

So war denn, obwohl ich den Flug der Zeit nur sehr flüchtig angedeutet habe, mehr als ein Jahr dahingegangen seit dem Tage unserer Niederlassung in dem Thurme bis zu demjenigen, welcher für meine Abreise festgesetzt worden.

Inzwischen waren wir, trotzdem, daß Zeitungen bei uns noch immer zu den großen Seltenheiten gehörten, doch nicht so ganz von den Klängen der fern hin brausenden Welt abgeschnitten, daß uns die Kunde von einer Veränderung im Ministerium und von der Ernennung Mr. Trevanion's zu einem der höchsten Staatsämter nicht erreicht hätte. Meine Correspondenz mit Trevanion war seit jenem Briefe, welcher Guy Bolding's Besuch zur Folge hatte, zu Ende gewesen; nun aber schrieb ich ihm, um ihm unsere Glückwünsche zu senden, worauf er kurz und in Eile antwortete.

Eine Nachricht, welche mich mehr ergriff und einen tieferen Eindruck auf mein Herz machte, wurde mir etwa drei Monate vor meiner Abreise durch Trevanion's Verwalter mitgetheilt. Die leidende Gesundheit Lord Castleton's hatte einen Aufschub seiner Vermählung, welche ursprünglich gleich nach dem Antritt seiner Volljährigkeit gefeiert werden sollte, nothwendig gemacht. Der junge Lord verließ die Universität mit den Ehren einer »doppelten ersten Klasse« und schien sich von den Anstrengungen eines Studiums, das auf ihn nachtheiliger wirken mußte, als auf einen Jüngling von glänzenderen Fähigkeiten und schnellerer Auffassungsgabe, eben zu erholen, als er sich auf einem Grafschafts-Meeting, woselbst sein erstes öffentliches Auftreten von so gutem Erfolg begleitet war, daß die wärmsten Hoffnungen seiner Partei gerechtfertigt erschienen, eine Erkältung zuzog, welche in eine Lungenentzündung überging und einen tödtlichen Ausgang nahm. Der erschütternde Gegensatz welcher sich meinem Geist aufdrängte – hier plötzlicher Tod und eine kalte Leiche – dort die Jugend in ihrer ersten Blüthe, fürstlicher Rang, unerschöpflicher Reichthum, die hoffnungsfrohe Erwartung einer glänzenden Laufbahn und die Aussicht auf jenes Glück, welches aus Fanny's Augen lächelte – dieser Gegensatz erfüllte mich mit hehrer Scheu. Der Tod scheint uns so nahe gerückt, wenn er Diejenigen trifft, welche das Leben am meisten mit seinen Liebkosungen und Schmeicheleien überhäuft hat. Woher jene seltsame Theilnahme, die wir für die Großen der Welt empfinden, wenn ihr Stundenglas zerbricht und die Sense niederfällt? Hätte das berühmte Zusammentreffen zwischen Diogenes und Alexander Der Philosoph Diogenes, zur Strömung des Kynismus zählend, praktizierte selbst die geforderte Bedürfnislosigkeit des Lebens; der Sage nach lebte er in einer Tonne. Als Alexander in Korinth weilte, soll er ihn dort aufgesucht und gefragt haben, wie er ihm dienen könne, worauf Diogenes antwortete: »Geh mir nur ein wenig aus der Sonne!« Alexander habe dies so imponiert, dass er später gesagt habe: »Wahrlich, wäre ich nicht Alexander, ich möchte wohl Diogenes sein.« nicht vor, sondern nach den Heldenthaten stattgefunden, welche Alexander den Zunamen des Großen erwarben, so würde zwar der Cyniker Nicht in der heutigen Bedeutung des Begriffs; der Kynismus (wörtlich »Hundigkeit«) war eine Strömung der antiken Philosophie mit den Schwerpunkten auf ethischem Skeptizismus und Bedürfnislosigkeit. wohl schwerlich den Helden weder um seinen Glanz, noch um seine Freuden, nicht um die Zauber von Statira Ob hier mit Stateira die Mutter oder die Tochter gemeint ist, muss offen bleiben. Letztere jedenfalls war die Tochter des von Alexanders d. Gr. besiegten Perserkönigs Dareios III. Alexander soll allerdings auch mit der Mutter ein Verhältnis gehabt haben; sie galt als eine der schönsten Frauen des Ostens. Die Tochter hat er dann später (324 v.u.Z.) trotzdem geheiratet. Sie wurde übrigens von Alexanders erster Frau Roxane nach dessen Ableben ermordet., noch um die Tiara des Meders Die Herrschaft der Meder war 550 v.u.Z. auf die Perser übergegangen, welche das Herrschaftszeichen der Tiara, eine spitze Mütze, übernommen hatten. – beneidet haben, wenn aber am andern Tage der Ruf sich verbreitet hätte: »Alexander der Große ist todt!« so würde vielleicht auch Diogenes in seinem Faß sich verkrochen haben in dem Gefühle, daß mit dem Tode des stattlichen Helden die Sonne, welche sein Schatten nicht mehr verfinstern konnte, einen Theil ihrer Herrlichkeit und Wärme verloren habe! In der Natur auch des geringsten oder verhärtetsten Menschen liegt etwas, das in dem Schönen oder Glücklichen auflebt, welches die Hoffnung und der Wunsch sich zu eigen gemacht haben – wäre es auch nur in den Eitelkeiten eines kindischen Traumes.


Sechstes Kapitel.

Warum bist Du hier so allein, Vetter? Wie kalt und still ist es unter den Gräbern!«

»Setze Dich zu mir, Blanche; es ist auf dem Kirchhof nicht kälter, als auf Wiesen und Feldern.«

Und Blanche setzte sich neben mich, schmiegte sich dicht an meine Seite und lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter. So saßen wir lange schweigend. Es war ein ruhiger, klarer Lenzabend, und die rosenrothen Streifen verschwanden allmälig von dem dunkeln Grau der langem schmalen, phantastischen Wolken. Die Wipfel der hohen, blätterlosen Pappeln, welche in regelmäßiger Linie auf dem Tieflande zwischen dem Kirchhof und dem Schloßberge standen, prägten sich scharf am Horizonte ab. In wirren und unbestimmten Umrissen schlangen sich dagegen schwerfällige Schatten um das Immergrün, welches den Kirchhof einfaßte, und die Tiefe des düstern Schweigens wurde nur unterbrochen, wenn eine Drossel aus dem niedrigen Gebüsch aufflog, und die dicken Lorbeerblätter zögernd sich zertheilten, um alsbald wieder in ihre starre Ruhe zurückzukehren. Es liegt eine gewisse Wehmuth in den Abenden eines frühen Lenzes, die sich unter jenen Einflüssen der Natur, welche am allgemeinsten anerkannt werden, am schwersten erklären läßt. Die stumme Thätigkeit des wieder erwachenden Lebens, die noch nicht durch Knospen und Blüthen sich verräth, sondern nur in einer weicheren Klarheit der Luft sich zu erkennen gibt, in den längeren Pausen des langsam zunehmenden Tages, in einer milderen, balsamischeren Frische der Dämmerungs-Atmosphäre und in dem lebhafteren, aber noch unsichern Zwitschern der Vögel, die im Gebüsche nisten; – das unbestimmte Gefühl – trotzdem, daß die Natur das Gewand kalter, winterlicher Unfruchtbarkeit noch nicht abgestreift hat – des rührigen Wechsels, welcher jede Stunde, ja jeden Augenblick thätig ist, die Jugend der Welt zu erneuern und die Gerippe der Gegenstände wieder mit kräftigen Blüthen zu bekleiden – diese Boten des Herzens der Natur an das Herz des Menschen sind wohl geeignet, uns zu ergreifen und zu bewegen. Warum aber erfüllen sie uns mit Wehmuth? Kein Gedanke von unserer Seite verbindet und deutet die leisen, sanften Stimmen. Es ist nicht der Gedanke, welcher antwortet und Schlüsse zieht – es ist das Gefühl, welches hört und träumt. Suche nicht, o Menschenkind! suche nicht jene geheimnißvolle Wehmuth mit dem kalten Auge Deines Verstandes zu zergliedern; Du kannst sie nicht einengen in das Gehäge Deiner dornigen Logik, noch ihren Zauberkreis mit den auswendig gelernten Problemen der Schule bemessen. Du stehst an der Grenze zweier Welten –, der todten und der lebendigen – leihe Dein Ohr den Tönen und beuge Deine Seele vor den Schatten, welche sich in der Zeit eines solchen Wechsels von dem Grenzlande herüberstehlen!

Blanche (mit flüsternder Stimme). – »An was denkst Du? – Ich bitte Dich, sprich!«

Pisistratus. – »Ich dachte nichts, Blanche; oder wenn ich es gethan, so ist der Gedanke entschwunden bei dem bloßen Versuch, ihn zu fassen oder festzuhalten.«

Blanche (nach einer Pause). – »Ich weiß, was Du meinst. Es geht mir oft, sehr oft eben so, wenn ich allein und ganz still dasitze. Es ist gerade, wie in der Geschichte, welche uns Primmins neulich erzählte, ›von der Frau in ihrem Dorfe, die Leute und Dinge in einem Stück Krystall sah, das nicht größer war, als meine Hand Im Westen von England herrscht – oder herrschte wenigstens vor noch nicht vielen Jahren – in manchen alten Dörfern noch immer der Aberglaube, man könne Abwesende in einem Stück Krystall sehen. Ich selbst habe mehr als einen dieser magischen Spiegel, welche Spenser, beiläufig bemerkt, so schön beschreibt, in Händen gehabt. Sie sind etwa von der Größe und Form eines Schwaneneis; allein nicht Jedermann kann in dem Krystall Gestalten erblicken, es gehört ein besonderen Vermögen dazu, ähnlich der Sehergabe. [ Anm.d.Verf. – Zu Spenser: Edmund Spenser (1552-1599), englischer Dichter der Renaissance; sein wichtigster Beitrag zur englischen Dichtung ist The Faerie Queene (»die Feenkönigin«).]. Sie bewegten sich vorbei, wie in Lebensgröße, und waren doch nur Bilder in dem Krystall.‹ Seitdem ich die Geschichte gehört habe, möchte ich, wenn mich die Tante frägt, was ich denke, oft antworten: ›Ich denke nicht – ich sehe Bilder in dem Krystall!‹«

Pisistratus. – »Sage dies meinem Vater; es wird ihm gefallen, denn es liegt mehr Philosophie darin, als Du weißt, Blanche. Manche weise Männer haben schon die ganze Welt, ›ihren Stolz, ihre Pracht und ihre Zufälle,‹ Shakespeare, Othello III, 3. für nichts anderes erklärt, als für ein Phantom ein Bild in dem Krystall.«

Blanche. – »Und ich werde Dich sehen – ich werde uns beide sehen, wie wir hier sitzen – und jenen Stern, der eben dort aufgegangen ist – alles werde ich in meinem Krystall sehen, wenn Du fort bist! – weit fort, Vetter!« Und Blanche ließ ihr Köpfchen sinken.

Die ruhige, tiefe Innigkeit dieses armen, mutterlosen Kindes war so ganz verschieden von der lauten, augenblicklichen Zärtlichkeit anderer Kinder, welche über dem nächsten Spielzeug schon wieder vergessen ist! Ich küßte die Kleine auf die bleiche Stirne und sagte:

»Auch ich habe meinen Krystall, Blanche, und wenn ich hineinschaue und sehe, daß Du traurig bist und Dich einsam grämst, so werde ich sehr böse sein. Denn Du mußt wissen, Blanche, daß dies lauter Selbstsucht ist. Gott hat uns nicht dazu geschaffen, nur nach Krystallbildern zu sehen, eiteln Träumen nachzuhängen und über das zu trauern, was wir nicht ändern können – sondern munter und lebhaft zu sein und Andere glücklich zu machen. Siehe nun, Blanche, was für ein Vermächtniß ich Dir hinterlassen will. Du sollst meine Stelle ersetzen bei Allen, von denen ich scheide, und überall Sonnenschein mitbringen, wo immer Dein leichter, schüchterner Tritt hingleitet – sei es bei Deinem Vater, wenn Du siehst, daß seine Stirne sich furcht und seine Arme sich kreuzen (doch, da fehlst Du in der That nie an seiner Seite!) – oder bei dem meinigen, wenn das Buch seiner Hand entfällt, wenn er unruhig und vor sich hin murmelnd im Zimmer auf- und abgeht – dann sollst Du leise zu ihm schleichen, Deine Hand in die seinige legen, ihn zu seinen Büchern zurückführen und ihm zuflüstern: ›Was wird Sisty sagen, wenn er zurückkömmt und sein jüngerer Bruder, das große Buch, nicht gewachsen ist?‹ – Und meine arme Mutter, Blanche! ach, wie kann ich Dir hier einen Rath ertheilen – wie Dir sagen, wo Du Trost finden wirst für sie? Nur dies Eine, Blanche – stiehl Dich in ihr Herz hinein und sei ihre Tochter! Um aber dieses dreifache Vermächtniß zu erfüllen, darfst Du Dich nicht damit begnügen, Bilder indem Krystall zu sehen – verstehst Du mich?«

»O ja,« versetzte Blanche, indem sie ihre Augen aufschlug, aus welchen die Thränen niederrollten, und entschlossen ihre Arme auf der Brust kreuzte.

»Und siehst Du, Blanche,« fuhr ich fort, »während wir beide hier auf dem stillen Kirchhof sitzen und ein neues Herz und neuen Muth fassen für die Pflichten und Sorgen des Lebens – siehst Du, wie die Sterne einer nach dem Andern hervorkommen und uns zulächeln? Denn auch sie, die glorreichen Himmelskörper, erfüllen die ihnen angewiesenen Aufgaben. Alles scheint im Verhältniß zu seiner Bewegung und Lebensfülle Gott näher zu rücken, und von allen Dingen sollte die Seele des Menschen am wenigsten träge und unthätig sein. – Wie das Gras aufschießt über den Gräbern – schnell wächst es heran in seinem frischen Grün – aber doch nicht so schnell und so grünend, meine Blanche, wie Trost und Hoffnung über menschlichem Leiden!«



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