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Zwölfter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Die Hegira Hegira oder Hedschra: Aufbruch Mohammeds von Mekka nach Medina (622). ist vollendet – wir haben uns Alle in dem alten Thurme häuslich niedergelassen. Meines Vaters Bücher sind auf einem großen Wagen angelangt und in ihrer neuen Heimath untergebracht worden, wo sie das Zimmer ihres Eigenthümers, das Schlafzimmer und zwei Vorzimmer ausfüllen. Die Ente ist unter Mrs. Primmins' Fittigen ebenfalls angekommen und hat sich bereits mit dem alten Fischweiher befreundet, neben welchem mein Vater einen Weg gefunden, der ihn für die Pfirsichmauer entschädigt – um so mehr, als er die Bekanntschaft einiger ehrbaren Karpfen gemacht hat, welche sich, nachdem die Ente gefüttert worden, ebenfalls von ihm füttern lassen – ein Vorrecht, auf welches mein Vater nicht wenig stolz ist, da die Karpfen, sobald jemand Anderes sich nähert, augenblicklich verschwinden. Der Werth eines Vorrechtes berechnet sich ja doch nur nach der Ausschließlichkeit seines Besitzes.

Von dem Augenblick, als der erste Karpfen das von meinem Vater ihm zugeworfene Brod verzehrt hatte, beschloß Mr. Caxton, daß ein so vertrauensvolles Geschlecht niemals der Ceres Also der Küche. ( Ceres: altrömische Göttin des Ackerbaus, der Fruchtbarkeit und der Ehe.) und Primmins geopfert werden solle. Alle Fische auf meines Onkels Besitzthum standen jedoch unter der besondern Obhut jenes Proteus Bolt – und Bolt war nicht der Mann, von welchem zu erwarten stand, er werde die Karpfen ihr Brod verzehren lassen, ohne daß sie ihren vollen Antheil zu den Bedürfnissen des Gemeinwesens beitrügen. Aber – wie der Herr, so,der Diener!

Bolt war ein so eingefleischter Aristokrat, wie nur jemals einer an den Laternenpfahl geknüpft wurde Anspielung auf das frz. Revolutionslied » Ah! Ça ira« und dessen Zeile » Les aristocrates à la lanterne!« (Die Adeligen an die Laterne!).. Er übertraf sogar Roland in seiner Verehrung klangvoller Namen und alter Familien, und durch diesen Köder fing ihn denn mein Vater mit so großer Geschicklichkeit, daß man annehmen durfte, Austin Caxton, wäre er ein Fischer gewesen, hätte jeden Tag – bei Regen oder Sonnenschein – seinen Korb mit Fischen füllen können.

»Ihr bemerkt, Bolt,« begann mein Vater listig, »daß jene Fische, so dumm sie Euch auch scheinen mögen, fähig sind, Schlüsse zu ziehen; und wenn sie sehen, daß Ihr, je höflicher sie gegen mich sind, desto mehr ihnen nach dem Leben trachtet, so werden sie eines gegen das andere setzen und nichts mehr von meiner Bekanntschaft wissen wollen.«

»Das wäre nicht so dumm von ihnen,« erwiederte Bolt. »Meiner Treu', es gibt manchen guten Christen, der nicht halb so klug ist!«

»Der Mensch,« fuhr mein Vater nachdenklich fort, »ist ein weniger syllogistisches Zu logischen Schlussfolgerungen befähigt. Thier, denn viele Geschöpfe, welche gemeiniglich als unter ihm stehend betrachtet werden. Ja, laßt nur einen dieser Cypriniden Cyprinidae: Karpfenfische. mit seinem seinen Sinn für Logik die Wahrnehmung machen, daß seine Brüder, wenn sie Brod essen, aus ihrem Element gerissen werden und für immer verschwinden, so mögt Ihr einen ganzen Laib in Krumen bröckeln, und das Thier wird in weiser Verachtung mit dem Schwanze nach Euch schlagen. Wäre ich ebenso syllogistisch gewesen,« – setzte mein Vater, mit sich selbst redend, hinzu, »wie diese geschuppten Logiker, so hätte ich jenes Häkchen nicht verschluckt, welches – hm! je weniger man darüber spricht, um so besser ist es. Doch Mr. Bolt, um auf die Cypriniden zurückzukommen –«

»Wie ist der harte Name, den Euer Gnaden den Karpfen da geben?« frug Bolt.

n.

»Cypriniden, eine Familie aus der Abtheilung Malacoptergii Abdominales,« erwiederte Mr. Caxton. »Ihren Zähnen nach nähern sie sich den Pharyngäern Von Pharynx, Rachen. Karpfenfische haben keine Kieferzähne., und sie haben nur wenige Branchiostegenstrahlen Branchiostegidae: kleine Familie von Seefischen mit verdeckten Kiemen. – Mit dem »Strahl« ist ihr Flossenstrahl gemeint. – Merkmale der Unterscheidung von gemeinen Raubfischen.«

»Wenn ich gewußt hätte, daß sie eine Familie von solcher Auszeichnung sind,« sagte Bolt, indem er nach dem Weiher hinblickte, »so würde ich sie ganz gewiß mit mehr Achtung behandelt haben.«

»Sie sind eine sehr alte Familie, Bolt, und seit dem vierzehnten Jahrhundert in England ansässig. Ein jüngerer Zweig hat sich in einem Teich der Gärten von Peterhoff niedergelassen – der berühmte Palast Peters des Großen, Bolt, eines Kaisers, den mein Bruder sehr verehrt, denn er tödtete eine Menge Menschen sehr glorreich in der Schlacht, derer nicht zu gedenken, welche er zu seinem Privatvergnügen niedersäbelte, In dem kaiserlichen Hofhalt befindet sich ein Beamter oder Diener, dessen Aufgabe es ist, diese russischen Cypriniden durch das Läuten einer Glocke zum Essen zu rufen, worauf man den Kaiser und die Kaiserin mit ihrem ganzen Gefolge in ihren Equipagen anfahren sehen kann, um Zeugen zu sein, wie die Cypriniden ihr Mahl verzehren. Ihr seht also, Bolt, daß es ein republikanisches, jacobinisches Verfahren wäre, die Mitglieder einer Familie, welche sich so hoher kaiserlicher Gunst erfreut, in der Bratpfanne zu schmoren.«

»Wahrhaftig, Herr,« erwiederte Bolt, »ich bin sehr froh, daß Sie mir dieß sagten. Ich hätte freilich wissen sollen, daß es vornehme Leute sein müssen, weil sie so gewaltig zurückhaltend sind – wie alle wirklich vornehmen Leute.«

Mein Vater lächelte und rieb sich sanft die Hände. Er hatte seinen Zweck erreicht, und fortan waren die Cypriniden von der Abtheilung Malacoptergii Abdominales in Bolt's Augen so heilig, wie die Katzen und Ichneumone Große, langhaarige, grünlich graue Schleichkatzen mit langem Schwanz und sehr kurzen Beinen. in denen eines Priesters von Theben.

Mein armer Vater! mit welch' wahrer und anspruchsloser Philosophie fügtest Du Dich in den größten Wechsel, den Dein ruhiges, harmloses Leben erfahren hatte, seit die kurze Periode der feurigen Leidenschaften vorbei war. Du mußtest eine Heimath verlassen, die Dir durch so manche geräuschlose Siege des Geistes und stumme Erlebnisse des Herzens theuer geworden – denn nur der Gelehrte kennt den tiefen Zauber, der in der Eintönigkeit, in den alten Gewohnheiten und dem gleichförmigen Uhrwerk einer friedlichen Zeit liegt. Zwar, die Heimath kann wieder ersetzt werden – das Herz schafft sie sich überall neu – und Du magst in dem alten Thurme Ersatz für den Verlust des Backsteinhauses finden und den Spazierweg an dem Fischweiher so lieb gewinnen, wie den Gang an der sonnigen Pfirsichmauer. Was aber kann Dich für den glänzenden Traum Deines unschuldigen Ehrgeizes entschädigen, welcher Dein Mannesalter zwischen dem Mittag und Abend mit seinen Engelsschwingen berührte? Was wird Dir das magnum opus – das große Buch ersetzen? – diesen schönen, seine Zweige weit ausbreitenden Baum, der einsam inmitten der einförmigen Landschaft gestanden und nun mit den Wurzeln ausgerissen war! Der Sauerstoff ward Deiner Lebensluft entzogen. Denn wisse, o theilnehmender Leser, daß mit dem Tode der Anti-Buchhändler-Gesellschaft die Blutströme des großen Buches stille standen; sein Puls versiegte, sein volles Herz schlug nicht mehr! Dreitausend Abdrücke der ersten sieben Bogen in Quart waren vollendet nebst unterschiedlichen anatomischen, architektonischen und graphischen Platten, welche alle nur erdenklichen Dinge zu veranschaulichen bestimmt gewesen waren – die Entwicklungen des menschlichen Gehirns (dieses Tempels »Menschlichen Irrthums«) von dem des Hottentoten bis zu dem des Griechen; Skizzen alter Gebäude, cyklopisch und pelasgisch Das Zyklopenmauerwerk (auch als pelasgisches Mauerwerk bezeichnet) ist eine Sonderform des Bruchsteinmauerwerks aus sehr großen, unregelmäßigen Steinen, welche sorgfältig aufeinander geschichtet sind., Pyramiden und Purtore Pur-tor: Feuerturm. – lauter Abzeichen jener Racen, deren Handschriften auf ihren Mauern sich befanden; Landschaften, um den Einfluß der Natur auf die Sitten, den Glauben und die Philosophie der Menschen zu zeigen (wie zum Beispiel die weiten chaldäischen Wüsten zu der Betrachtung der Sterne führten), und Illustrationen des Zodiacus Der Tierkreis mit seinen Sternbildern., um die Geheimnisse der Symbolenverehrung zu erläutern; phantastische Erdabrisse, frisch von der Sündfluth, dazu dienend, einem frühen Aberglauben Ehrfurcht vor den rohen Gewalten der Natur einzuflößen; Ansichten der Felsenpässe von Laconien Griechische Landschaft im Süden der Region Peloponnes.; Sparta und in dessen Nähe das »stille Amyclä« Antike griechische Stadt auf der Halbinsel Peloponnes. Der Sage nach war es den Einwohnern von Amyklai bei Todesstrafe verboten, von der permanenten Bedrohung durch das benachbarte Sparta zu sprechen. Daher rührt das heute geflügelte Wort vom »amykläischen Schweigen«, wenn eine konkrete Gefahr kollektiv verdrängt wird., so zu sagen, geographisch die ehernen Sitten der Kriegerkolonie erklärend (ein Erz-Torystaat inmitten hellenischer Democratie) und als Gegensatz die Meere, Küsten und Buchten Athens und Jonien's, welche zu Abenteuern, Handel und Tausch verlockten. Ja, mein Vater hatte in seinen Andeutungen gegen den Verfertiger dieser wenigen, unvollkommenen Platten eben so viel Licht auf die Kindheit der Erde und ihrer Geschlechter geworfen, als durch die »leuchtenden Worte«, welche dem ruhigen Sternenhimmel seines Wissens entströmten! Platten und Abdrücke ruhten nun in Frieden und Staub – »von Tod und Dunkel umhüllt« – auf den grabartigen Bücherbrettern des Vorzimmers, wohin sie verbannt worden – gebrochene Strahlen – unvollendete Welten. Der Prometheus war gebunden, und das vom Himmel gestohlene Feuer lag eingesenkt in dem Gestein seines Felsens Bei einem Tieropfer täuscht Prometheus aus dem Geschlecht der Titanen Zeus, überlässt ihm nur die wertlosen Teile des Opfertiers und behält das genießbare Fleisch für seine Schützlinge, die Menschen. Zur Strafe dafür verweigert Zeus ihnen das Feuer. Darauf entwendet es Prometheus den Göttern und bringt es den Menschen. Deswegen wird er auf Befehl des Göttervaters gefesselt und im Kaukasusgebirge festgeschmiedet, wo ihn regelmäßig ein Adler aufsucht und von seiner Leber frisst, die sich danach stets erneuert.. Denn so kostbar war die Form, in welche Onkel Jack und die Anti-Buchhändler-Gesellschaft diese Darlegung des menschlichen Irrthums zu gießen gewußt hatten, daß jeder Buchhändler schon beim bloßen Anblick scheu zurückwich, wie die Eule vor dem Tageslicht, oder der menschliche Irrthum vor der Wahrheit. Vergebens hatten Squills und ich vor unserer Abreise von London ein riesiges Exemplar des magnum opus den reichsten und unternehmendsten Firmen angeboten; die Inhaber derselben fuhren, einer nach dem andern, zurück, als hätten wir ihnen eine Pistole auf die Brust gesetzt. Ganz Paternoster Row Die Buchhändler-Straße bei der St. Paul's Cathedral. stieß ein »Gott behüte uns!« aus. Der menschliche Irrthum fand Niemand, der in so erstaunlichem Grade sein Opfer gewesen wäre, um den Druck dieser beiden Quartbände – mit zwei weiteren in Aussicht – auf eigene Kosten zu vollenden. Nun hatte ich ernstlich gehofft, mein Vater werde sich um der Menschheit willen bewegen lassen, einen Theil – und zwar vielleicht einen nicht geringen – des ihm übrig gebliebenen Kapitals auf die Beendigung eines mit so großer Sorgfalt und Mühe begonnenen Unternehmens zu verwenden. In diesem Punkte aber blieb er unerbittlich. Keine noch so schön klingenden Worte vom Wohle der Menschheit und von den Vortheilen für die noch ungeborenen Geschlechter vermochten ihn auch nur einen Zoll breit von seinem Entschlusse abzubringen. »Albernes Zeug!« pflegte Mr. Caxton mürrisch zu sagen. »Die Pflicht eines Mannes gegen die Menschheit und die Nachwelt beginnt bei seinem eigenen Sohne; und, nachdem ich die Hälfte Deines Erbtheils unnütz vergeudet habe, will ich den armseligen Rest nicht noch einmal verkleinern, um meine Eitelkeit zu befriedigen; denn das ist die einfache Wahrheit der Sache, der Mensch muß für seine Sünden durch Buße Genugthuung leisten; durch das Buch habe ich gesündigt – daher soll das Buch auch das Sühnopfer werden. Beuge im Vorzimmer die Bogen auf einander, damit wenigstens Ein Mann weiser und demüthiger werde durch die Anschauung des menschlichen Irrthums, so oft er an einem so unzweideutigen Denkmale desselben vorübergeht.«

Ich weiß in der That nicht, wie mein Vater den Anblick dieser stummen Trümmer seiner selbst zu ertragen vermochte – dieser Schichten der Caxton'schen Formation, eine auf die andere gelegt, als wären sie gepackt und aufbewahrt für den forschenden Genius eines moralischen Murchison Roderick Murchison (1792-1871), schottischer Geologe und Entdecker des silurischen Systems. oder Mantell Gideon Mantell (1790-1852), englischer Arzt, Geologe und Paläontologe.. Was mich betrifft, so fiel mein Blick niemals auf ihre dunkle Ruhestätte, ohne daß ich mir dabei sagte: »Muth, Pisistratus. Muth! Du hast ein Ziel vor Dir im Leben; arbeite tüchtig, werde reich – und die Welt soll das große Buch zuletzt doch noch kennen lernen.«

Mittlerweile durchwanderte ich die Gegend, lernte die Pächter und Trevanion's Verwalter – einen sehr tüchtigen Mann und trefflichen Landwirth – kennen und gewann dadurch eine bessere Ansicht von der Beschaffenheit der Domänen meines Onkels. Sie erstreckten sich über einen weiten Flächenraum, waren aber, mit Ausnahme eines kleinen Meierhofes, in ihrem jetzigen Zustande ohne Werth. Ein ganz ähnlicher Boden war jedoch kürzlich durch einen einfachen Entwässerungsprozeß, der jetzt in Cumberland wohl bekannt ist, nutzbar gemacht worden, und mit Kapital ließen sich Rolands unfruchtbare Moorgründe zu einem schönen und edlen Besitzthum umwandeln. Woher aber sollte das Kapital kommen? Die Natur gibt uns alles, nur nicht die Mittel, Gewinn aus ihr zu ziehen – wie der alte Plautus Römischer Komödiendichter (um 254-184 v.u.Z.); Zitat aus » Asinaria« (Eseleien), I, 2. so witzig sagt: »Tag, Nacht, Wasser, Sonne und Mond sind umsonst zu haben; für alles Uebrige aber – her mit Eurem Gelde!«


Zweites Kapitel.

Onkel Jack ließ nichts von sich hören. Ehe wir das Backsteinhaus verließen, forderte ihn der Capitän auf, uns in dem Thurme zu besuchen – wie ich vermuthe, mehr aus Artigkeit gegen meine Mutter, als aus freiwilligem Antrieb. Mr. Tibbets lehnte jedoch die Einladung höflich ab. Während seines Aufenthaltes bei uns hatte er eine große Menge Briefe geschrieben und erhalten – einige der letzteren waren in der That unter den alphabetischen Adressen A B oder X Y auf dem Postbüreau des Dorfes abgegeben worden; denn kein Mißgeschick vermochte je Onkel Jacks Thatkraft zu lähmen. In dem Winter der Trübsale verschwand er allerdings, allein selbst im Verschwinden fuhr er zu vegetiren fort, Er glich jenen Algen, Protococci nivales Bulwers falsche Schreibung » Proloccocus« ist allenthalben übernommen worden. genannt, welche dem sie verbergenden Polarschnee eine rosenrothe Farbe verleihen und unvermuthet erblühen inmitten der allgemeinen Auflösung der Natur. So war denn Onkel Jack so lebhaft und hoffnungsvoll, als je, obgleich er anfing, unbestimmte Winke fallen zu lassen, welche auf seine Absicht hindeuteten, fortan die allgemeine Sache seiner Nebenmenschen zu verlassen und rein für seine eigene Rechnung zu handeln, womit sich mein Vater sehr einverstanden erklärte und dadurch meinem Glauben an seine Menschenfreundlichkeit einen großen Stoß versetzte. Auch vermuthe ich sehr, daß Onkel Jack, als er sich in seinen neuen Doppelsachsen hüllte und endlich von dannen ging, etwas mehr, als meines Vaters gute Wünsche mit sich nahm, um seiner Bekehrung zu der egoistischen Philosophie zu Hülfe zu kommen.

»Dieser Mensch wird es doch noch zu etwas bringen,« sagte mein Vater, als wir Onkel Jack nachblickten, der seinen Platz auf dem Bock der Postkutsche neben dem Postknecht eingenommen hatte und eben noch einmal aufstand, theilweise, um uns, die wir noch an dem Gartenthore standen, mit der Hand zuzuwinken, theilweise aber, um sich bequemer in den sechskragigen Mantel zu wickeln, den ihm der Kutscher geborgt hatte.

»Glaubst Du wirklich, Vater?« erwiederte ich in zweifelndem Tone. »Darf ich fragen, weßhalb?«

Mr. Caxton. – »Wegen seiner Katzennatur – er steht eben so schnell wieder auf, als er fällt. Wenn Du ihn heute von dem Thurme der St. Paulskirche herunterwirfst, so wirst Du ihn morgen auf die Spitze des Monumentes klettern sehen.«

Pisistratus. – »Aber auch die zäheste Katze ist auf neun Leben beschränkt – und Onkel Jack muß jetzt in seinem achten weit vorangeschritten sein.«

Mr. Caxton (die Hand in die Weste steckend und meine Antwort nicht beachtend). – »Nach Apulejus Apuleius (um 123-170), Schriftsteller, Redner und Philosoph (Mittelplatoniker); sein Hauptwerk, der Roman »Metamorphosen«, auch bekannt als »Der goldene Esel«, zählt zur Weltliteratur. (in seiner Abhandlung über die Philosophie des Plato) besteht die Erde aus rechtwinkligen, Feuer und Luft aber aus schiefwinkligen Dreiecken, deren Winkel, wie ich kaum zu sagen brauche, sehr verschieden sind. Nun glaube ich, daß es Menschen in der Welt gibt, die man nur nach diesem mathematischen Grundsatz – indem man ihn auf ihre ursprüngliche Bildung anwendet – richtig beurtheilen kann; sofern also Luft oder Feuer in unserer Natur vorherrscht, sind wir schiefwinklige Dreiecke; hat aber die Erde das Uebergewicht, so sind wir nach dem rechten Winkel gebildet. Da sich nun in Jack's Formation die Luft so merkwürdig kundgibt, so muß er nolens volens Ob er will oder nicht. im Einklang mit dem bei ihm vorherrschenden Elemente geschaffen sein. Er ist ein schiefwinkliges Dreieck und muß daher auch nach unregelmäßigen, schiefen Grundsätzen beurtheilt werden, während Du und ich, als gewöhnliche Sterbliche, gleich der Erde, welche das in uns vorwaltende Element ist, aus vollständigen, rechtwinkligen Dreiecken bestehen. Und für diesen Segen laß' uns der Vorsehung danken und nachsichtig gegen Diejenigen sein, welche nothwendig etwas Windiges und Gasartiges an sich haben müssen von wegen des unglücklichen schiefwinkligen Dreiecks ihrer Bildung, das, wie Du siehst, ganz im Widerspruch steht mit der mathematischen Beschaffenheit der Erde.«

Pisistratus. – »Es freut mich sehr, Onkel Jack's Eigenthümlichkeiten in einer so einfachen, leichten und verständlichen Weise erklären zu hören, und ich hoffe nur, daß in Zukunft die Seiten seines schiefen Dreiecks niemals wieder mit unsern rechten Winkeln zusammentreffen.«

Mr. Caxton (von seinen Stelzen heruntersteigend mit einer Miene so voll milden Vorwurfs, als hätte ich die Tugenden des Socrates bezweifeln wollen). – »Du bist nicht gerecht gegen Deinen Onkel, Pisistratus. Er ist sehr gescheut, und ich bin überzeugt, daß er trotz seines schiefwinkligen Unglücks auch ein ehrenhafter Mann sein würde – das heißt (fuhr Mr. Caxton sich verbessernd fort), nicht romantisch oder heroisch ehrenhaft, sondern ehrenhaft im gewöhnlichen Sinne des Wortes – wenn er nur seinen Kopf lange genug über dem Wasser erhalten könnte. Allein Du mußt einsehen, daß auch der beste Mann von der Welt '-«'wenn er im 'Prozesse des .Untersinkens begriffen ist – die Hand nach allem ausstreckt, was ihm in den Weg kömmt, und selbst den Freund, der zu seiner Rettung herbeischwimmt, mit sich in die Tiefe zieht.«

Pisistratus. – »Vollkommen wahr, Vater; aber Onkel Jack macht es sich zum Geschäfte, immer zu sinken.«

Mr. Caxton (mit Naivität). – »Und wie konnte es anders sein, so lange er alle seine Nebenmenschen in den Hosentaschen mit sich herumschleppte? Nun er aber diesen Ballast los geworden ist, sollte es mich gar nicht wundern, wenn er schwämme, wie ein Kork.«

Pisistratus (der seit dem Anti-Kapitalisten ein strenger Anti-Jackianer geworden ist). – »Wenn Du aber wirklich Onkel Jack's Nächstenliebe für aufrichtig hältst, Vater, so ist das gewiß nicht seine schlimmste Seite.«

Mr. Caxton. – »O, wie klebst Du am Buchstaben, und wie wenig verstehst Du die wahre Logik der attischen Ironie! Kannst Du nicht begreifen, daß ein Gefühl ächt sein kann, sofern es Denjenigen betrifft, der es empfindet, und doch seiner Natur nach unächt in Bezug auf Andere? Ein Mann mag aufrichtig glauben, er liebe seine Nebenmenschen, indem er sie verbrennen läßt, wie Torquemada Tomás de Torquemada (1420-1498), spanischer Dominikaner, der erste Großinquisitor Spaniens., oder zur Guillotine führt, wie St. Just Louis Antoine de Saint-Just (1767-1794), franz. Schriftsteller, führender Revolutionär und Politiker.! Glücklicher Weise gibt Jack's schiefwinkliges Dreieck, da es mehr der Luft, als dem Feuer entstammt, seiner Philanthropie nicht jenen entzündlichen Charakter, welcher das Wohlwollen von Inquisitoren und Revolutionsmännern auszeichnen Seine Menschenliebe nimmt daher eine lustigere, unschuldigere Form an und erschöpft ihre Kraft im Besteigen papierner Ballone, in denen sich Jack nebst allen jenen Mitgeschöpfen niederläßt, welche er bereden kann, mit ihm zu segeln. Ohne Zweifel ist Onkel Jack's Philanthropie aufrichtig, wenn er die Schnur abschneidet, und der Ballon in unabsehbare Höhen sich verliert; allein diese Aufrichtigkeit heilt keine der Beulen und Quetschungen, wenn er und seine Mitgeschöpfe sammt und sonders herunterstürzen. Ein Herz muß, um die ganze Menschheit in sich aufzunehmen, in der That sehr weit sein und sehr starke Fibern haben, sonst könnte es eine so große Ausdehnung nicht ertragen. Es gibt solche Herzen, dem Himmel sei Dank! – und sie verdienen alle Anerkennung. Onkel Jack's Herz aber ist nicht von dieser Art. Er ist ein schiefwinkliges Dreieck – kein Kreis! Und doch, wenn er es nur in Ruhe lassen wollte, so wäre es ein gutes Herz – ein recht gutes Herz,« fuhr mein Vater mit einer in Anbetracht aller Umstände wahrhaft kindlichen Wärme und Innigkeit fort. »Der arme Jack! Wie hübsch war es von ihm, zu sagen ›wenn er ein Hund wäre ohne eine andere Heimath, als eine Hundehütte, so würde er herausgehen, um mir das Stroh allein zu überlassen.‹ Armer Bruder Jack!«

Hiemit endete die Unterredung; und in der Zwischenzeit »zeichnete sich Onkel Jack durch ein tiefes Schweigen aus« gleich dem kurzsichtigen Gentleman in dem » Spectator« Im » Spectator. No. 1« (vom 1. März 1711) schrieb Joseph Addison (1672-1719), einer der beiden Gründer dieser Zeitung (nach Jürgen Habermas ein wichtiges Mittel der »strukturellen Transformation der öffentlichen Sphäre«, die sich im England des 18. Jh. vollzog): » I had not been long at the university, before I distinguished myself by a most profound silence; for during the space of eight years, excepting in the public exercises of the college, I scarce uttered the quantity of an hundred words; and indeed do not remember that I ever spoke three sentences together in my whole life.«.


Drittes Kapitel.

Blanche hat längst begonnen, mir, wenn auch nicht bei meinen Streifzügen durch die Gegend, so doch bei meinem häuslichen Treiben Gesellschaft zu leisten. Es weht ein stiller Zauber um sie, der schwer zu beschreiben ist – der aber aus einer Art angeborner Sympathie mit den Launen und Stimmungen Derjenigen hervorzugehen scheint, welche sie liebt. Ist man heiter, so klingt ihr silbernes Lachen, wie die Fröhlichkeit selbst; ist man aber traurig und sucht den dunkelsten Winkel auf, um den Kopf in die Hände zu vergraben und seinen Gedanken nachzuhängen, so wird es nicht allzu lange währen, bis man – gerade im rechten Augenblick – wenn man jenen quälenden Gedanken zur Genüge nachgegeben hat, und das Herz etwas Erquickendes und Erfrischendes bedarf – zwei unschuldige Arme um seinen Nacken fühlt und beim Aufblicken Blanche's sanften Augen voll sinniger, theilnehmender Freundlichkeit begegnet. Sie besitzt zu viel Takt, um eine Frage zu stellen – es genügt ihr, das Leid zu theilen – sie verlangt nicht mehr zu wissen. Ein seltsames Kind! – furchtlos und doch nie müde, von Dingen zu hören, welche Kindern in der Regel Furcht einflößen – Erzählungen von Feen, Gespenstern und Geistern, die Mrs. Primmins frisch und neu ihrem Gedächtniß entlockt, wie ein Taschenspieler immer wieder auf's Neue heiße Pfannkuchen aus seinem Hute hervorholt. Und doch ist Blanche so sicher in ihrer Unschuld, daß ihre Träume in dem einsamen Stübchen voll finsterer Ecken und Winkel niemals von jenen Erzählungen beunruhigt werden, mögen die Winde noch so schaurig um die alte Ruine heulen und die Fensterrahmen heiser in der kerkerartigen Mauer rasseln. Sie würde sich nicht gescheut haben, im Dunkeln die gespenstische Veste zu durchwandern oder den Kirchhof um die Zeit zu betreten, da

»Bei des Mondes boshaft trügerischem Lichte«

die Grabsteine so geisterhaft aussehen, und der Schatten der Eibenbäume so ruhig auf dem Rasen liegt. Wenn Roland's Stirne am düstersten ist, und aus den zusammengepreßten Lippen hart und streng sein Kummer spricht, so sitzt Blanche sicherlich zu seinen Füßen und wartet des Augenblicks, da mit einem schweren Seufzer die Muskeln erschlaffen und sie feines Lächelns gewiß ist, wenn sie an seinem Knie hinanklettert. Es ist eine Freude, sie unerwartet über die verfallenen Treppen irgend eines Thürmchens hinweggleiten oder schweigsam in der Nische eines zerbrochenen, scheibenlosen Fensters stehen zu sehen – welche Gedanken unbestimmter Scheu und feierlicher Luft mögen unter dieser kleinen Stirne thätig sein?

Blanche besitzt eine schnelle Auffassungsgabe für alles, was man sie lehrt, und nimmt bereits die Erziehungskunst meiner Mutter vollständig in Anspruch. Mein Vater mußte seine ganze Bibliothek durchsuchen, um ihr Verlangen nach »weiterer Belehrung« zu nähren (oder auszulöschen); auch hat er ihr französische und italienische Stunden versprochen – allerdings die lernbegierige Schülerin auf die goldene Zeit eines schattenhaften »Gelegentlich« vertröstend – auf welche Blanche sich so sehr freut, daß man sich versucht fühlt, zu glauben, sie halte den Telemach Siehe Anm. 184. und die Novelle morali »Moralische Novellen« (1790) von Francesco Soave (1743-1806); sie sind für Kinder zwischen 8 und 14 Jahren bestimmt und sollten die Hauptsätze der Moral in einer für die Jugend anziehenden Weise behandeln; zugleich wurden sie im Ausland auch gern beim Erlernen der italienischen Sprache verwendet. für Puppen und Puppenstuben. Der Himmel gebe, daß der französische und italienische Unterricht bessern Erfolg habe, als die griechischen Stunden, welche Mr. Caxton seinem Sohne Pisistratus ertheilte!

Nach der Behauptung meiner Mutter, welcher hierin ein Urtheil zusteht, hat Blanche ein vorzügliches musikalisches Gehör, und glücklicher Weise wohnt in einer zehn Meilen entfernten Stadt ein alter Italiener, der ein vortrefflicher Musiklehrer sein soll und zweimal wöchentlich die Runde in unserer Nachbarschaft macht, um in den verschiedenen Familien Unterricht zu geben. Ich selbst habe Blanche Anleitung im Zeichnen gegeben – eine Kunst, in welcher ich nicht ohne einiges Geschick bin – und sie hat bereits eine Skizze nach der Natur gemacht, die, von der Perspective abgesehen, gar nicht übel ist; – das »Idealisiren« (was künftige Originalität verspricht) hat sie in der That ihr eigener natürlicher Instinct gelehrt – sonst hätte sie nicht der alten Ulme, welche über den Strom hereinhängt, gerade den Zweig noch gegeben, der ihr fehlte, um in's Wasser zu tauchen und die harten Umrisse zu mildern. Meine einzige Angst ist, Blanche möchte zu träumerisch und nachdenklich werden. Das arme Kind hat Niemand, um mit ihr zu spielen, weßhalb ich ihr einen munteren kleinen Hund geschenkt habe, der einen Abscheu vor allen sitzenden Beschäftigungen hat – ein kohlschwarzes, kleines Wachtelhündchen, dessen Ohren bis auf den Boden nieder: hängen. Addison's Cato Cato, a Tragedy (1713) von dem in Anm. 314 erwähnten Joseph Addison. zu Ehren und in Berücksichtigung seiner schwarzen Locken und mauritanischen Farbe gab ich ihm den Namen »Juba« Juba ist in dem genannten Werk der Prinz von Numidia., und Blanche scheint wirklich weniger elfenartig, wenn sie durch die Ruine gleitet, und Juba an ihrer Seite bellt und die Vögel aus dem Epheu scheucht.

Eines Tages schritt ich in der verödeten Halle auf und nieder, und der Anblick der Rüstungen und Bilder – stumme Beweise des thätigen und abenteuerlustigen Lebens der früheren Bewohner, welche mir meine eigene thatenlose Dunkelheit zum Vorwurf zu machen schienen – hatte mich auf eines jener pegasianischen Pegasos, in der antiken Mythologie das geflügelte Pferd, ist ein Sinnbild der Dichtkunst. Steckenpferde erhoben, auf welchen die Jugend so gerne zum Himmel sich emporschwingt, Jungfrauen auf gefährlichen Felsenklippen befreit und Gorgonen und Ungeheuer erlegt – als Juba hereinsprang, und Blanche, ihren Strohhut in der Hand, ihm folgte.

Blanche. – »Ich dachte, Du werdest hier sein, Sisty. Darf ich bleiben?«

Pisistratus. – »Ei, mein liebes Kind, der Tag ist so schön, daß Du, statt ihn im Hause zu verlieren, mit Juba auf den Feldern herumspringen solltest.«

Juba. – »Wau – wau!«

Blanche. – »Gehst Du auch mit? Wenn Sisty zu Hause bleibt, kümmert sich Blanche nicht um die Schmetterlinge.«

Pisistratus sieht, daß der Faden seiner Tagesträume zerrissen ist, und willigt ergeben ein. An der Thüre angelangt, bleibt Blanche jedoch stehen – sie scheint etwas auf dem Herzen zu haben.

Pisistratus. – »Was nun, Blanche? Warum machst Du Knoten in Dein Band und zeichnest mit der Spitze Deines geschäftigen Füßchens unsichtbare Schriftzüge auf den Boden?«

Blanche (geheimnißvoll). – »Ich habe ein neues Zimmer gefunden, Sisty. Meinst Du, wir dürften es ansehen?«

Pisistratus. – »Gewiß, wenn es Dir nicht irgend ein Blaubart Deiner Bekanntschaft verboten hat. Wo ist es?«

Blanche. – »Oben – links.«

Pisistratus. – »Die kleine alte Thüre, zu welcher zwei steinerne Stufen hinabführen und die immer geschlossen ist?«

Blanche. – »Ja; heute aber ist sie nicht geschlossen. Die Thüre war angelehnt, und ich guckte hinein; mehr aber wagte ich nicht, ehe ich Dich gefragt hatte, ob Du es nicht für Unrecht hältst.«

Pisistratus. – »Sehr schön von Dir, mein kluges Bäschen. Ich zweifle nicht, daß es eine Geisterfalle ist; unter Juba's Schutz jedoch können wir es wohl zusammen wagen.«

Pisistratus, Blanche und Juba steigen die Treppe hinauf und schlagen einen dunkeln Gang ein, der links von den bewohnten Zimmern abführt. Wir erreichen die Spitzbogenthüre, die taub aus eichenen Planken zusammengenagelt ist, stoßen sie auf und bemerken eine kleine Treppe, welche von dem Gemach abwärts führt – es befindet sich unmittelbar über Roland's Zimmer.

Das Gemach hat einen dumpfen Geruch und wurde wahrscheinlich aufgeschlossen, um gelüftet zu werden, denn der Wind bläst durch das offene Fenster herein, und auf dem Herde brennt ein Holzscheit. Der Ort besitzt den anziehenden Zauber einer Gerümpelkammer – denn ich wüßte nichts, was das Interesse und die Phantasie junger Leute in gleichem Grade zu fesseln vermöchte. Welche Schätze für sie liegen nicht oft unter all' dem Kram verborgen, den ältere Geschlechter als unnütz bei Seite geschafft haben! Alle Kinder sind von Natur Alterthumsforscher und Reliquienjäger. Uebrigens sind die Gegenstände in diesem Gemach mit einer Ordnung und Genauigkeit aufbewahrt, welche den wahren Begriff von Gerümpel Lügen straft, und von dem Staub und Moder ist nirgends etwas zu finden, der den Dingen, die dem Verfall anheimgegeben sind, ein so wehmüthiges Interesse verleiht.

In der einen Ecke sind Kisten und militärische Koffer von fremdartigem Aussehen aufgestapelt, an deren Seiten, aus eingeschlagenen Messingnägeln gebildet, die Buchstaben R. D. C. sich befinden. Mit unwillkürlicher Achtung wenden wir uns von diesen ab und rufen Juba zurück, der sich in Verfolgung einer eingebildeten Maus hinter denselben eingekeilt hat. In der andern Ecke aber steht etwas, das mir eine Kinderwiege zu sein scheint – augenscheinlich jedoch keine englische; sie ist von spanischem Rosenholz und an der Rückseite mit einem aus gewundenen Säulen gebildeten Geländer versehen. Ich würde die Wiege kaum für eine solche gehalten haben, wenn nicht das leichte Deckchen und die kleinen Kissen ihre Bestimmung angedeutet hätten.

An der Wand über der Wiege waren verschiedene kleine Gegenstände angebracht, welche vielleicht einst das Herz eines Kindes erfreut hatten – zerbrochenes Spielzeug mit abgeriebener Farbe, ein Säbel und eine Trompete von Blech und einige zerrissene, meist spanische Bücher, ihrer Form und ihrem Aussehen nach ohne Zweifel Kinderbücher. Unfern davon stand auf dem Boden ein Bild, dessen Vorderseite der Wand zugekehrt war. Juba hatte die Maus, an deren Dasein er noch immer eigensinnig glaubte, hinter dieses Gemälde verfolgt, und ich konnte nur eben noch die Hand ausstrecken, um es zu erfassen und so vor dem Umstürzen zu bewahren. Als ich die Vorderseite gegen das Licht kehrte, war ich überrascht, bloß ein altes Familienporträt zu erblicken; es stellte einen Gentleman in dem geblümten Leibrock und der steifen Hals-Krause aus den Zeiten der Königin Elisabeth dar – einen Mann mit kühnen und edlen Zügen. In der Ecke war ein verblichenes Wappen angebracht und unter demselben die Inschrift – » Herbert de Caxton, Esq. Aur.: Aetat: 35

Indem ich das Bild wieder an seinen Platz stellte, bemerkte ich auf der Rückseite der Leinwand einen Papierstreifen mit Roland's Schriftzügen, obgleich von einer jüngeren und geläufigeren Hand, geschrieben. Die Worte lauteten: – »Der Beste und Tapferste unseres Geschlechts. Er focht an Sidney's Seite in der Schlacht bei Zutphen und kämpfte in Drake's Schiff gegen die spanische Armada. Am 22. September 1586 kämpften in der Schlacht bei Zutphen die mit den Niederländern verbündeten Engländer gegen die Spanier unter Herzog Alba. – Im August 1588 trug Sir Francis Drake als Vizeadmiral maßgeblich zum siegreichen Kampf gegen die Spanische Armada bei; mit dieser hatte der gegenreformatorische König Philipp II. von Spanien versucht, das protestantische England in die Knie zu zwingen. Dabei ging die Armada fast vollständig unter, was für die Machtstellung Spaniens in Europa und in der Welt eine entscheidende Wende bedeutete. Wenn ich je einen –« Der Rest des Papierstreifens schien weggerissen worden zu sein.

Ich wandte mich ab mit einem Gefühl der Beschämung und Reue, meiner Neugierde so weit nachgegeben zu haben – wenn wirklich das tiefe Interesse, welches mich erfüllte, einen so harten Namen verdiente. Blanche, nach welcher ich mich jetzt umsah, hatte sich an die Thüre zurückgezogen, hielt die Hände vor die Augen und weinte. Als ich mich ihr näherte, fiel mein Blick auf ein Buch das neben diesen Reliquien einer einst reinen und heitern Kindheit auf einem Stuhle in der Nähe des Fensters lag. An dem altmodischen silbernen Schloß erkannte ich Roland's Bibel, und es war mir beinahe, als hätte ich mich durch mein gedankenloses Eindrängen einer Entweihung schuldig gemacht. Ich zog Blanche mit mir fort, und wir stiegen geräuschlos die Treppe hinab. Erst, als wir an unserm Lieblingsplätzchen – unter den Trümmern auf dem Schloßdamm – angelangt waren, suchte ich ihre Thränen wegzuküssen und frug sie nach der Ursache derselben.

»Mein armer Bruder,« schluchzte Blanche. »Es müssen seine Sachen gewesen sein – und wir werden ihn nie nie wieder sehen! – Und Papa's Bibel, in welcher er liest, wenn er sehr, sehr traurig ist! Ich habe nicht genug geweint, als mein Bruder starb. Jetzt weiß ich besser, was der Tod ist! Armer Papa, armer Papa! Du darfst nicht auch sterben, Sisty!«

Von Schmetterlingfangen war an diesem Morgen keine Rede mehr, und es währte lange, ehe ich Blanche beruhigen konnte. Die Spuren der Niedergeschlagenheit ließen sich in der That noch viele, viele Tage in ihren sanften Blicken bemerken, und sie konnte mich oft seufzend fragen: »War es nicht sehr Unrecht von mir, Dich dorthin zu führen?« Arme kleine Blanche, echte Tochter Eva's! sie wollte mich nicht den mir gebührenden Theil der Schuld tragen lassen – Adam's ursprüngliche Rechtfertigung genügte ihr: »Das Weib versuchte mich und ich aß.«

Von dieser Zeit an schien Blanche ihren Vater mehr, als je zu lieben. Sie wird mir in der That mit jedem Tage ungetreuer, um sich immer inniger und inniger an Roland anzuschmiegen; wenn er dann aufblickt und spricht: »Mein Kind, Du bist blaß; gehe auf die Wiesen und jage den Schmetterlingen nach!« so sagt sie zu ihm, nicht zu mir: »Du mußt auch mitgehen!« und läßt seine Hand nicht los, bis sie ihn hinaus in den Sonnenschein gezogen hat.

Von Roland's ganzem Geschlechte war dieser Herbert de Caxton »der Beste und Tapferste« gewesen, und doch hatte er desselben niemals gegen mich erwähnt – nie irgend einen Vorfahren mit jenem zweifelhaften und mythischen Sir William in Vergleichung gestellt. Ich erinnerte mich jetzt, daß mir einst bei Durchgehung des Stammbaums der Name Herbert – der einzige Herbert in der Liste – aufgefallen war, und ich eine auf ihn bezügliche Frage an Roland gerichtet hatte, worauf dieser sich jedoch abwandte und einige unverständliche Worte murmelte. Eben so erinnerte ich mich, in meines Onkels Zimmer eine Stelle an der Wand bemerkt zu haben, an welcher augenscheinlich früher ein Bild von gleicher Größe gehängt hatte. Es war schon vor unserm ersten Besuche entfernt worden, mußte aber Jahre lange dort gehängt haben, um ein solches Merkmal zurückzulassen. Vielleicht hatte ihm Bolt während Roland's langem Aufenthalte auf dem Festlande diese Stelle angewiesen. »Wenn ich je einen –« wie mochten die fehlenden Worte gelautet haben? Ach, hatten sie sich wohl nicht auf den für immer verlorenen, aber nimmer vergessenen Sohn bezogen?


Viertes Kapitel.

Mein Onkel saß auf der einen, meine Mutter auf der andern Seite des Kamins, ich aber zwischen beiden an einem kleinen Tische, um das Ergebniß ihrer Besprechung aufzuzeichnen. Es wurde nämlich hoher Rath gehalten, den Stand des beiderseitigen Vermögens und die Größe der verschiedenen Summen betreffend, welche theils den gemeinschaftlichen Grundstock bilden, theils für die Civilliste ausgeworfen und theils als Tilgungsfond bei Seite gelegt werden sollten. Nun hatte meine Mutter in ihrer eigenthümlich ruhigen, anspruchslosen Weise doch eine ächt weibliche Vorliebe dafür, in den Augen der Nachbarschaft »etwas vorzustellen«; sechs Pence sollten nicht nur so weit gehen, als es sechs Pencen möglich war, sondern dabei auch einen milden, eindrucksvollen Glanz verbreiten – nicht einen strahlenden Schimmer, gleich dem leuchtenden Nordlicht – was kaum in den sanften und bescheidenen Idiosyncrasien Hier: Eigentümlichkeiten. von sechs Pencen liegt – sondern einen ruhigen, wohlwollenden Schein, nur um zu zeigen, wo ein Sixpencestück gewesen war, damit man sagen konnte: »Siehe,« bevor es »der Schlund der Finsterniß verschlang« Shakespeare, Ein Sommernachtstraum, I, 1..

So hatten wir denn, wie ich schon früher dem Leser mitzutheilen Gelegenheit fand, in der Umgebung unseres viereckigen Backsteinhauses stets eine sehr achtbare Stellung behauptet, so gesellig gelebt, als es die Gewohnheiten meines Vaters zuließen, und unsere kleinen Abendgesellschaften und Diners gegeben. Ohne dabei mit unsern reicheren Nachbarn wetteifern zu wollen, hatte meine Mutter mittelst ihrer wohl angewandten Sixpencestücke eine so ausgesuchte Zierlichkeit in ihre sinnreichen Anordnungen zu legen gewußt, daß im Umkreis von sieben Meilen keine alte Jungfer lebte, die nicht unsere Theegesellschaften für vollkommen erklärte. Und selbst Mrs. Rollick, welche ihrer ausgezeichneten Köchin und Haushälterin jährlich vierzig Guineen bezahlte, pflegte regelmäßig, so oft wir in Rollick-Hall speisten, über den Tisch herüber sich wegen des Erdbeergeleé gegen meine Mutter zu entschuldigen, die darüber bis an die Stirne erröthete. Als aber meine Mutter zu Hause auf dieses zarte und schmeichelhafte Compliment in einem Tone anspielte, welcher den Dünkel des menschlichen Herzens verrieth, erwiederte mein Vater – sei es, um die Eitelkeit seiner Kitty in christliche Demuth zu verwandeln, oder aber in Folge der ihm eigenen seltsamen Schlauheit – Mrs. Rollick sei eine unzufriedene Natur, und das Kompliment habe keine Artigkeit gegen meine Mutter sein sollen, sondern nur den Zweck gehabt, die ausgezeichnete Köchin und Haushälterin zu erzürnen, welcher der Bediente die boshafte Entschuldigung ohne Zweifel sogleich hinterbracht haben werde.

Bei der Uebersiedelung nach dem Thurme und der Uebernahme des Hauswesens war meine Mutter natürlich sehr darauf bedacht, daß besagter Thurm, obgleich er nur ein verwitterter Invalide war, dennoch sein bestes Bein voranstellen sollte. Verschiedene Karten waren trotz der dünn bevölkerten Nachbarschaft an der Thüre abgegeben worden, und die Einladungen, welche meines Onkels Besitznahme der alten Ruine begrüßt, die er jedoch bisher abgelehnt hatte, wiederholten sich um so zahlreicher, seitdem die Nachricht von unserer Ankunft bekannt geworden war, so daß meine Mutter ein sehr geeignetes Feld für die Entfaltung ihrer gastfreundlichen Talente vor sich erblickte – ein hinreichender Grund für ihren Ehrgeiz, daß der Thurm seinen Kopf aufrecht halten sollte, wie es einem Thurme ziemte, welcher das Haupt der Familie barg.

Bitteres Unrecht aber würde ich Dir thun, meine theure Mutter, die Du so hübsch und nett dem grimmigen Capitän gegenüber sitzest – Deine Schürze so weiß, Deine Haare so glatt und glänzend und die blauen Bänder auf Deinem Morgenhäubchen so zierlich geordnet, als fürchtetest Du, durch die geringste Nachlässigkeit von Deiner Seite das Herz Deines Austin zu verlieren – bitteres Unrecht würde ich Dir thun, wollte ich Deinen frauenhaften Träumen von den geselligen Annehmlichkeiten des Lebens nur oberflächliche Beweggründe unterstellen; vielmehr weiß ich, daß Dein Herz in seiner vorsorglichen Zärtlichkeit bei den gastfreien Gedanken, die Dich beschäftigten, eben so sehr betheiligt war, als nur je Deine Eitelkeit es sein konnte. Zuerst und vor allen Dingen war es der Wunsch Deiner Seele, Dein Austin möchte so wenig als möglich an den Wechsel in seinen Vermögensverhältnissen erinnert werden und jene Unterbrechungen seiner gelehrten Studien nicht vermissen, über welche er allerdings jedes Mal einigen Unmuth an den Tag zu legen und sein Papae! auszurufen pflegte, die aber dennoch wohlthätig auf ihn wirkten und den Strom seiner Gedanken erfrischten. Ferner gab Dir Dein Verstand die Ueberzeugung, daß ein wenig heitere Gesellschaft und das stolze Vergnügen, seine Ruine zu zeigen und in der Halle seiner Väter den Vorsitz zu führen, Roland den düsteren Träumereien entreißen würde, in welche er zeitweise verfiel. Und was endlich das junge Volk betraf – war nicht für Blanche der Umgang mit Kindern ihres Alters und Geschlechtes nöthig? Lag doch bereits in jenen großen schwarzen Augen etwas Melancholisches und Brütendes, wie es bei Kindern der Fall zu sein pflegt, welche immer nur mit älteren Personen in Berührung kommen. Und für Pisistratus – mit seinen veränderten Aussichten und der einen nagenden Erinnerung im Herzen, die er vor sich selbst zu verbergen suchte, vor einer Mutter aber (und einer Mutter, welche selbst geliebt hatte) nicht zu verheimlichen vermochte – war es für ihn nicht eben so nothwendig, in Verkehr mit der umgebenden Welt, mochte diese auch klein und beschränkt sein, zu treten? Und diesen Verkehr in der geeigneten Weise herbeizuführen, mußte selbstverständlich Sache der Frau sein, deren holde Aufgabe es von jeher gewesen, die geselligen Bande zu knüpfen. – So gingst Du denn nicht, wie der erhabene Florentiner,

» Sopra lor vanità che par personaDante, Göttliche Komödie, Inferno VI, 34f.; der folgende Satz gibt die Bedeutung wieder.

›über leichte Schatten, welche die Wesenheit wirklicher Gestalten nachäfften,‹ sondern es waren vielmehr die wirklichen Gestalten, welche als Schatten oder vanità erschienen,

Welch' eine Abschweifung! Kann ich denn niemals meine Geschichte in einfacher, gerader Weise erzählen? Sicherlich ward ich unter dem Zeichen des Krebses geboren, denn alle meine Bewegungen sind seitwärts gehend und krabbenartig.


Fünftes Kapitel.

Ich denke, Roland,« sagte meine Mutter, »das Hauswesen ist jetzt in Ordnung. Bolt ersetzt wenigstens drei Bedienten. Primmins besorgt die Küche und die Haushaltung, und Molly ist ein gutes, rühriges Mädchen – auch nicht ohne guten Willen, obgleich sich das arme Ding nur mit Mühe darein fügte, nicht Anna Maria genannt zu werden! Der Lohn für diese drei macht nur eine kleine Summe aus, mein lieber Roland.«

»Hm!« erwiederte Roland, »da wir nicht mit weniger Dienstboten ausreichen und ihnen nicht geringeren Lohn geben können, so werden wir, denke ich, die Summe wohl klein nennen müssen.«

»Sie ist es auch,« sagte meine Mutter mit milder Entschiedenheit. »Und wenn wir noch das Wildpret, die Fische, den Ertrag des Gartens und Hühnerhofs, sowie Deine eigenen Hämmel in Anschlag bringen, so werden die Ausgaben für die Haushaltung nächst an nichts zu stehen kommen.«

»Hm!« versetzte abermals der sparsame Roland, indem sich seine Augenbrauen leicht zusammenzogen. »Sie mögen so nächst an nichts stehen, Madame – Schwester, wie ein Metzgerladen an Northumberland-House Herrenhaus am westlichen Ende des Strand in der Innenstadt von London; Stadtpalais der Familie Percy, den Earls und späteren Dukes of Northumberland und einer der reichsten Familien in England, etwa 1605 im jakobinischen Stil errichtet.; allein es liegt sehr viel zwischen nichts und dem nächsten Nachbar, den Du ihm gegeben hast.«

Diese Rede erinnerte so sehr an meinen Vater – sie war eine so naive Nachahmung der von ihm, oft gebrauchten rhetorischen Figur, Antanaclasis genannt (oder Wiederholung derselben Worte in einem andern Sinne), daß ich lachte, und meine Mutter lächelte. Ihr Lächeln war jedoch ehrfurchtsvoll, und sie dachte nicht an die Antanaclasis, als sie ihre Hand auf Roland's Arm legte und in der noch bedeutungsvolleren Redefigur, welche Epiphonema (oder Ausruf) heißt, erwiederte:

»Und doch wolltest Du bei all' Deiner Sparsamkeit, daß wir –«

»Bst!« rief mein Onkel, das Epiphonema mit einer meisterhaften Aposiopesis (oder Abbrechen der Rede) abwehrend. »Bst! Hättet Ihr gethan, wie ich gewünscht, so würde ich mehr Freude haben für mein Geld!«

Die rhetorische Rüstkammer meiner armen Mutter lieferte keine Waffe, um dieser listigen Aposiopesis zu begegnen; sie ließ daher die Rhetorik ganz fallen und fuhr mit jener »schmucklosen Beredtsamkeit«, welche ihr, wie andern großen Finanzreformern natürlich war, fort –

»Nun, Roland. Du darfst versichert sein, daß ich eine gute Hausfrau bin und – Du mußt nicht schelten; doch, das thust Du nie – ich meine, Du sollst nicht aussehen, als ob Du schelten möchtest. Wenn wir nämlich jährlich 100 Pfund für unsere kleinen Gesellschaften bei Seite legen –«

»Kleine Gesellschaften! – jährlich 100 Pfund!« rief der Capitän entsetzt.

Meine Mutter fuhr unbarmherzig fort – »Dies können wir uns wohl gewähren, und, ohne Deine Pension in Anschlag zu bringen, welche Du als Taschengeld und um Deine und Blanche's Garderobe zu bestreiten, behalten mußt, können wir nach meiner Berechnung Pisistratus jährlich 150 Pfund auswerfen, womit er nebst dem Stipendium, das er sich erwerben wird, in Cambridge ausreichen kann.« Ich konnte mich nicht enthalten, meinen Kopf hierüber zweifelhaft zu schütteln, indem das Stipendium bis jetzt nur in den »Freuden der Hoffnung« lag. Meine Mutter jedoch beachtete dieses Zeichen der Verwahrung nicht, sondern schloß ihre Rede mit den Worten: »Und dabei werden wir noch immer etwas zurücklegen können.«

Das Gesicht des Capitäns nahm einen komischen Ausdruck von Mitleid und Entsetzen an; er schien offenbar zu glauben, das uns betroffene Mißgeschick habe die Sinne meiner Mutter verwirrt.

Seine Peinigerin aber fuhr fort.

»Denn,« sagte meine Mutter mit einem hübschen, berechnenden Neigen ihres Kopfes und einer Bewegung des rechten Zeigefingers gegen die fünf Finger der linken Hand – »370 Pfund – die Interessen aus Austin's Vermögen – und 50 Pfund, die wir für Vermiethung unseres Hauses rechnen können, machen jährlich 420 Pfund. Dazu Deine jährlichen 330 Pfund von der Meierei, der Schafweide und den Hütten, welche Du verpachtet und vermiethet hast – so beläuft sich die Gesammtsumme auf 750 Pfund. Nebst dem, was wir, wie ich schon bemerkte, umsonst für die Haushaltung haben, können wir mit 500 Pfund jährlich recht gut auskommen – in der That ganz angenehm und anständig leben. Wenn wir also 150 Pfund für Sisty bestimmen, so können wir immer noch 100 Pfund für Blanche zurücklegen.«

»Halt, halt, halt!« rief der Capitän in großer Aufregung; »wer hat Dir gesagt, daß ich jährlich 330 Pfund einnehme?«

»Nun, Bolt hat es gesagt – Du bist ihm doch nicht böse darüber?«

»Bolt ist ein Dummkopf! Von 330 Pfund ziehe 200 ab, und der Rest bildet, außer meiner Pension, meine ganze jährliche Einnahme.«

Meine Mutter und ich blickten verwundert auf.

»Diese 130 Pfund magst Du meinethalben aus Eurem eigenen Vermögen verdoppeln. Was Ihr mehr habt, meine liebe Schwester, gehört Dir oder Austin, oder Eurem Sohne,aber kein Schilling soll für die Annehmlichkeiten eines armseligen und zerschlagenen alten Invaliden ausgegeben werden. Verstehst Du mich?«

»Nein, Roland,« erwiederte meine Mutter, »ich verstehe Dich ganz und gar nicht. Bringen denn Deine Güter nicht 330 Pfund jährlich ein?«

»Ja, allein es ruht eine Schuld darauf, die jährlich 200 Pfund wegnimmt,« sagte der Capitän zögernd und mit düsterm Blick.

»Oh Roland!« rief meine Mutter und näherte sich ihm so liebevoll, daß ich überzeugt bin, wäre mein Vater zugegen gewesen, sie hätte die Kühnheit gehabt, den finstern Capitän zu küssen, obwohl er mir nie ernster und weniger küssenswürdig erschienen war. »O, Roland!« rief sie, jenes Epiphonema, welches meines Onkels Aposiopesis in der Knospe geknickt hatte, zum Schlusse bringend – »und doch wolltest Du, wir, die wir zweimal so reich sind, sollten Dich dieses Wenigen berauben!«

»Ah,« entgegnete Roland, indem er sich bemühte, zu lächeln; »dann wäre aber alles nach meinem Sinn gegangen, und ich hätte Euch jämmerlich verhungern lassen. Von ›kleinen Gesellschaften‹ und dergleichen wäre da keine Rede gewesen. Ihr dürft mir nun aber nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, noch Eure 420 Pfund als Folie für meine 130 gebrauchen.«

»Du vergissest,« bemerkte meine Mutter großmüthig, »was Du an Geldeswerth beiträgst – alles, was Deine Güter liefern, und was wir dadurch ersparen. Dies macht gewiß jährlich wenigstens 300 Pfund aus.«

»Madame – Schwester,« sagte der Capitän, »ich bin überzeugt, es ist nicht Deine Absicht, mich zu kränken. Ich wiederhole es daher – wenn Ihr zu dem, was ich beisteure, eine gleiche Summe hinzufügt, um die alte Ruine im Stande zu erhalten, so ist dies das Aeußerste, was ich zugeben werde, und der Rest ist nicht mehr, als Pisistratus brauchen kann.«

Mit diesen Worten stand der Capitän auf, verbeugte sich und verließ, ehe wir ihn zurückhalten konnten, das Zimmer.

»Ach Gott, Sisty!« rief meine Mutter, die Hände ringend, »ich habe ihn gewiß beleidigt. Wie konnte ich aber glauben, daß eine so große Schuld auf den Gütern laste?«

»Hat nicht Roland die Schulden seines Sohnes bezahlt? und ist nicht vielleicht dies der Grund weßhalb –«

»Ach,« unterbrach mich meine Mutter, beinahe weinend, »dies war es, was ihn so aufregte – und ich hatte keine Ahnung davon! Was soll ich nun thun?«

»Eine neue Berechnung machen, meine liebe Mutter, und ihm seinen Willen lassen.«

»Aber dann!« sagte meine Mutter, »wird sich Dein Onkel in seinen düstern Träumereien zu Tode grämen und Dein Vater keine Erholung haben, während er doch, wie Du siehst, bei seinen Büchern den früheren Zweck aus dem Auge verloren hat. Und Blanche – und Du! Wenn wir nur so viel beisteuern würden, wie der gute Roland, so sehe ich nicht ein, wie wir mit 260 Pfund im Jahre jemals unsere Nachbarn um uns versammeln könnten! Was wohl Austin sagen würde! Ich habe halb im Sinn – nein, ich will gehen und die Wochen-Bücher mit Primmins durchsehen.«

Meine Mutter entfernte sich kummervoll, und ich blieb allein.

Ich betrachtete die stattliche alte Halle – erhaben in ihrem traurigen Verfall. Und die Träume, die ich in meinem Herzen zu hegen begonnen hatte, schwebten an mir vorüber und rissen mich fort – weit weg in das goldene Land, wohin die Hoffnung der Jugend winkt. Meines Vaters Vermögen wieder herzustellen – die zerbrochene Kette seines Ehrgeizes, welche seinen Genius mit der Welt verknüpft hatte, wieder zusammenzufügen – diese verfallenen Mauern wieder aufzubauen – die öden Moorgründe urbar zu machen – dem alten Namen neuen Glanz zu geben – des tapfern Kriegers Alter zu erheitern – und beiden Brüdern das zu sein, was Roland verloren hatte – ein Sohn! – dies waren meine Träume; und als ich erwachte, hatten sie einen festen Vorsatz, ein bestimmtes Ziel zurückgelassen. Träume, o Jüngling – träume mannhaft und edel, und Deine Träume werden prophetisch sein!


Sechstes Kapitel.

Pisistratus Caxton an Albert Trevanion, Esq., M. P.

(Bekenntniß eines Jünglings, welcher sich in der alten Welt für überflüssig hält.)

»Mein theurer Mr. Trevanion,

ich danke Ihnen herzlich und in unser Aller Namen für Ihre Beantwortung meines Briefes, in welchem ich Sie von den bübischen Fallen benachrichtigte, welchen wir zwar nicht mit heiler Haut, doch aber mit dem Leben und mit ganzen Gliedern entronnen sind – mehr, als wir vernünftiger Weise erwarten konnten, da es nicht weniger, als drei Fallen und dieselben mit scharfen Zähnen versehen waren. Wir haben uns, gleich verständigen Füchsen, in die Wüste zurückgezogen, und ich glaube nicht, daß ein Köder aufzufinden wäre, welcher den väterlichen Fuchs wieder verlocken könnte. Was den Fuchs Sohn betrifft, so ist die Sache eine andere, und ich bin im Begriffe, Ihnen zu beweisen, daß er vor Begierde brennt, die Ehre der Familie zu retten. Sollten Sie, mein bester Mr. Trevanion, bei Empfang dieses Briefes mit den »Blaubüchern« beschäftigt sein, so halten Sie hier inne, und legen Sie mein Schreiben für eine gelegenere Zeit bei Seite. Ich stehe nämlich auf dem Punkte, Ihnen mein Herz aufzuschließen und Sie, der Sie die Welt so gut kennen, um Ihre Hülfe bei meiner Flucht aus jenen flammantia moenia Lucrez, De Rerum Natura, I, 73: die »brennenden Mauern« (der Welt). In der Kosmologie des Epikur, auf den Lukrez sich hier bezieht, umgibt die Welt eine flammende Hülle, die eine Emanation ihres Kernes darstellt. zu bitten, mit welchen ich eben diese Welt von allen Seiten umgürtet und eingeschlossen finde. Wohl war Ihre und meines Vaters Ansicht die richtige, daß ich nicht für das bloße Bücherleben geschaffen sei. Und doch, wie kann ohne Bücher ein junger Mann auf den gewöhnlichen, vom Leben gebotenen Wegen sein Glück machen? Alle Berufsarten sind so von Büchern eingefaßt und eingeengt und vollgepfropft, daß diese meine kräftigen Hände, wohin sie auch immer zum Handeln sich ausstrecken, auf Wälle von Oktavbänden und Bollwerke von Quartbänden stoßen. Zuerst also das Universitätsleben, mit Stipendien beginnend und vielleicht mit jenen Prämien auf den Cölibat, den Malthusianischen Bulwer nimmt hier Bezug auf die Populationstheorie des britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834). Collegienpfründen endigend! Drei Jahre Bücher auf Bücher – drei Jahre lang ein großes, todtes Meer vor sich, und alle Aepfel, die an dem Ufer wachsen, angefüllt mit der Asche der Cicero- und Garmondschriften Cicero und Garamond sind Schrifttypen; im engl. Original steht hier » pica and primer«.! Nach Verfluß dieser drei Jahre ist die Pfründe vielleicht gewonnen, dennoch aber immer wieder Bücher und Bücher, wenn nicht die ganze Welt an den Thoren des Collegiums sich schließt. Will der Student zu einem Literaten – zu einem Schriftsteller von Beruf aufblühen? – Bücher – Bücher! Will ich in die praktische Laufbahn des Rechts übergehen? Bücher – Bücher. Ars longa, vita brevis Die Kunst währt lang, das Leben ist kurz – Aphorismus des griechischen Arztes Hippokrates., was in einer Umschreibung besagt, man müsse sich lange abmühen, bis man es zu einer Stellung bringe. Werde ich Arzt? Nun, womit sonst, als mit Büchern kann ich die Zeit tödten, bis mir etwa im vierzigsten Jahre ein glücklicher Zufall gestattet, etwas Anderes zu tödten? Die Kirche (für welche ich mich in der That nicht gut genug erklären will)? Hier ist Bücherleben par exellance, mag ich arm, und ruhmlos durch lange Reihen von Theologen und Kirchenvätern wandern, oder, ein Bisthum anstrebend, die Verderbtheit, nicht des menschlichen Herzens, sondern eines griechischen Textes verbessern und durch die Engpässe zahlloser Scholiasten Solche, die Scholien, d. h. kürzere oder längere Erklärungen über einen andern Schriftsteller, schreiben. und Commentatoren zu dem bischöflichen Stuhl mir Bahn brechen. Kurz, abgesehen von dem edlen Gewerbe der Waffen, welches, wie Sie wissen, nicht eben der Weg zu Vermögen ist – können Sie mir irgend ein Mittel angeben, um diesen ewigen Büchern, diesem geistigen Räderwerk und körperlichen Erschlaffen zu entgehen? Wo kann sich diese Lebenslust, die in meinen Adern stürmt, Luft machen? Wo können diese kräftigen Glieder und diese breite Brust Werth und Bedeutung gewinnen in diesem Treibhaus für Gehirnentzündung und Verdauungsschwäche? Ich weiß, was in mir liegt – ich weiß, daß mir die Eigenschaften inne wohnen, welche zu kräftigen Gliedern und einer breiten Brust gehören. Ich besitze einigen gesunden Menschenverstand, einige Gewandtheit, eine gewisse Freude, Gefahren zu trotzen, und einige Standhaftigkeit im Ertragen von Schmerz – Eigenschaften, für welche ich dem Himmel dankbar bin, denn sie erweisen sich im Privatleben als gut und nützliche. Vor dem Forum der Menschen aber und auf dem Markte des Glückes – sind sie da nicht flocci, nauci, nihili Eine Zeile in der Eton Latin Grammar, die eine Regel für gewisse Verben formulierte, welche ein Genitivobjekt erfordern, lautete: » Flocci, nauci, nihili, pili, assis, hujus, teruncii, his verbis, aestimo, pendo, facio, peculiariter adduntur.« Da die betreffenden ersten Wörter alle etwas Wertloses bedeuten, erfanden Eton-Schüler das Wort » floccinaucinihilipilification«, das so viel wie Geringschätzung bedeutet. Literarisch wird es zum ersten Mal 1741 von dem englischen Schriftsteller William Shenstone verwendet.?

Mit Einem Worte, mein theurer Herr und Freund, diese überfüllte alte Welt bietet keinen Raum mehr dar, umherzustreifen und mit seinem Nachbar sich zu tummeln, wie unsere kühnen Vorväter gethan. Nein – man muß sitzen bleiben, wie der Knabe auf der Schulbank und mit gekrümmten Schultern und schmerzenden Händen seine Aufgabe ausarbeiten. Es hat ein Zeitalter des Hirtenlebens, eines der Jagd und eines des Krieges gegeben – nun sind wir bei dem Zeitalter des Sitzens angelangt. Wer am längsten sitzen bleibt, trägt zuletzt den Sieg davon – kleine, schwächliche Bürschlein mit Händen, die gerade nur stark genug sind, eine Feder zu lenken – mit Augen, so getrübt vom Lichte der mitternächtlichen Lampe, daß die herrliche Sonne (die mich unwiderstehlich in's Freie hinauszieht, wie das Leben magnetisch vom Leben sich angezogen fühlt) sie nicht mehr erfreut – und mit Verdauungsorganen, geschwächt und abgenützt durch das schonungslose Geißeln des Gehirns. Ist dies die Herrschaft des Geistes – nun, dann freilich wäre es umsonst, dem Aerger Raum zu geben und wider den Stachel zu löcken; sollen denn aber wirklich alle jene thätigeren Eigenschaften, die ich besitze, so ganz ohne Werth sein? Wäre ich reich und glücklich – im Herzen sowohl, als in den äußern Verhältnissen – wohl und gut; alsdann würde ich jagen, Landwirthschaft treiben, reisen, das Leben genießen und die Finger schnippen nach dem Ehrgeiz. Wäre ich so arm oder so gering erzogen, daß ich Wildhüter oder Hundeführer werden könnte – was in der That mittellose Gentlemen in früheren Zeiten wurden – abermals wohl und gut; ich würde dann diese überquellende Lebenskraft in nächtlichen Kämpfen mit Wilddieben und kühnen Sprüngen über weite Gräben und steinerne Mauern erschöpfen. Wäre mein Geist so niedergedrückt, daß ich, ohne mir Vorwürfe zu machen, von meines Vaters geringen Mitteln leben und mit Claudian Siehe Anm. 2. ausrufen könnte: ›Die Erde gibt mir Festmahle, welche nichts kosten‹ – nochmals wohl und gut; es wäre ein Leben, welches einer Pflanze oder einem sehr kleinen Dichter zusagen möchte. Allein wie die Sachen stehen! – hier schlage ich ein neues Blatt meines Herzens vor Ihnen auf! Wenn ich Ihnen sage, daß ich, weil ich arm bin, mir ein Vermögen erringen will, so sage ich weiter nichts, als daß ich ein Engländer bin. Sich an etwas Positives zu halten ist eine Eigenthümlichkeit unserer praktischen Race. Selbst die Luftschlösser, die wir etwa in unsern Trämen bauen, sind keine ›Schlösser der Unthätigkeit‹ Siehe Anm. 276. – sie tragen in der That wenig Schloßartiges an sich, sondern haben viel mehr Aehnlichkeit mit Hoare's Bank C. Hoare & Co., noch bestehende engl. Privatbank; die älteste Bank in Großbritannien und die viertälteste der Welt; sie wurde 1672 gegründet. auf der Ostseite von Temple Bar Temple Bar bezeichnet einen Grenzpunkt, der die westlichste Ausdehnung der City of London an der Straße nach Westminster markiert, wo die Fleet Street zum Strand wird. Bis 1878 wurde diese Grenze von einem steinernen Tor markiert.! Mein Wunsch geht also dahin, ein Vermögen zu erwerben. Dabei unterscheide ich mich jedoch von meinen Landsleuten in zweierlei Weisen; erstens trachte ich nur nach einem verhältnißmäßig kleinen Vermögen, und zweitens wünsche ich nicht, mein ganzes Leben mit Erringung desselben zuzubringen. Meine Lage ist nun folgende.

Unter gewöhnlichen Umständen muß ich damit beginnen, meinem Vater einen Theil seines Einkommens, welches eine solche Schmälerung nicht gut ertragen kann, zu entziehen. Nach meiner Berechnung brauchen meine Eltern und mein Onkel alles, was sie haben – und der Abzug der jährlichen Summe, von welcher Pisistratus leben soll, bis er sich durch eigene Anstrengung ernähren kann, würde seinen Verwandten eine Beschränkung aller gewohnten Bequemlichkeiten des Lebens auferlegen. Kehre ich nach Cambridge zurück, so muß ich bei aller Sparsamkeit die res angusta domi Der begrenzte Wohnstand zu Hause (nach Juvenal, Satiren III, 165)., noch mehr schmälern; und ist endlich die Universitätslaufbahn geschlossen, und ich habe, was wahrscheinlich genug ist, die Collegienpfründe nicht errungen – wie viele Jahre muß ich dann noch als Advokat (welchen Beruf ich doch am Ende für den geeignetsten halte) arbeiten, oder vielmehr nicht arbeiten, ehe ich meinerseits für Diejenigen sorgen kann, welche sich bis dorthin für mich berauben? – werde ich nicht alsdann die schönste Hälfte meines Lebens bereits hinter mir haben? – werden nicht sie alt und hinfällig geworden sein? Dem gold'nen Becher, dessen Inhalt auf die Neige geht, wird nur ein hohler Ton noch zu entlocken sein! Wenn es mir gelingen soll, Geld zu erwerben, so wünsche ich, daß Diejenigen, welche ich liebe, sich dessen erfreuen möchten, so lange sie der Freude fähig sind – daß mein Vater die Geschichte des menschlichen Irrthums vollendet und in Juchten gebunden auf seinem Bücherständer sähe – daß meiner Mutter die unschuldigen Genüsse zu Theil werden, welche ihrem bescheidenen Herzen genügen, ehe das Alter ihr glückliches Lächeln seines Lichtes beraube – daß Roland, ehe seine Haare schneeweiß sind (ach, der Schnee auf denselben nimmt rasch und immer rascher zu!), auf meinen Arm sich lehnen möge, während wir zusammen berathen, wo die Ruinen wieder hergestellt, wo sie den Eulen überlassen werden, und wo statt der traurigen, unfruchtbaren Einöde rings umher lachende Kornfelder erblühen sollen. Denn Sie kennen die Natur dieses Cumberlander Bodens und haben selbst so manchen schönen Acker der Wildniß abgerungen; Sie wissen, daß meines Onkels Ländereien, von denen, mit Ausnahme einer einzigen Meierei, der Morgen jetzt kaum einen Schilling werth ist, nur des Kapitals bedürfen, um ein einträglicheres Besitzthum zu werden, als jemals seine Vorfahren besaßen. Sie wissen es, denn Sie haben Ihr Kapital auf einen Boden von derselben Beschaffenheit verwendet; und welchen Segen haben Sie dadurch gestiftet (woran Sie in Ihrem Londoner Studirzimmer kaum denken werden) – wie viele Hände beschäftigt – wie vielen Menschen Nahrung gegeben! Ich habe berechnet, daß meines Onkels Moore, welche jetzt kaum zwei oder drei Schäfer ernähren, bei richtiger Behandlung und mit Hülfe der nöthigen Mittel zweihundert Familien Arbeit und Brod gewähren könnten. Dies alles ist wohl eines Versuches werth, und deßhalb möchte Pisistratus Geld erwerben! Nicht so sehr viel – er bedarf keiner Millionen; einige tausend Pfund würden weit reichen, und mit einem bescheidenen Kapital zum Anfang könnte Roland, statt Eigenthümer einer Wüste, ein echter Squire, ein wirklicher Grundbesitzer werden. Nun denn, verehrter Freund, rathen Sie mir, wie ich mittelst der Eigenschaften, die ich besitze, zu diesem Kapital gelangen kann – und zwar ehe es zu spät ist – daß ich nicht bis zum Grabe mit Gelderwerben mich abgeben müsse!

Von unserer civilisirten Welt in Verzweiflung mich abwendend, habe ich meine Blicke theils auf eine weit ältere geworfen, theils aber, und noch mehr, auf eine Welt, welche noch in einer riesigen Kindheit liegt, Indien hier – Australien dort! – Was werden Sie sagen – Sie, der Sie leidenschaftslos die Dinge betrachten, welche meinen Augen, durch einen goldenen Nebel gesehen, so großartig in der Entfernung erscheinen? Ich setze ein so unbedingtes Vertrauen in Ihr Urtheil, daß ich ohne Murren gehorchen werde, wenn Sie mir sagen: ›Thor, gib Dein El Dorado auf und bleibe zu Hause – halte fest an den Büchern und dem Schreibpult – vernichte die Ueberfülle von Lebenskraft, die in Dir ist – werde eine geistige Maschine. Deine physischen Gaben nützen Dir nichts; nimm Deinen Platz ein unter den Sclaven der Lampe .‹ Wenn es aber keine Täuschung ist, in der ich mich befinde wenn ich wirklich Eigenschaften besitze, die ich hier nicht verwerthen kann – wenn mein Sehnen nur ein Instinct der Natur ist, der dieser abgelebten Civilisation zu entfliehen sucht, um in dem jungen, frischen Streben eines rauheren, kräftigeren gesellschaftlichen Systems Wachsthum zu gewinnen – dann bitte ich Sie, ertheilen Sie mir jenen Rath, welcher meiner Idee einen praktischen, greifbaren Körper zu verleihen vermag. Habe ich mich wohl verständlich gemacht?

Selten bekommen wir hier eine Zeitung zu Gesicht; zuweilen jedoch findet eine solche ihren Weg aus dem Pfarrhause zu uns, und so las ich kürzlich mit großer Freude einen Artikel, welcher mit Bestimmtheit von Ihrem baldigen Eintritt in das Kabinet spricht. Ich schreibe Ihnen, ehe derselbe erfolgt ist, und Sie sehen, daß es nicht die Gönnerschaft des Ministers ist, welche ich suche. Eine Ecke in einer Kanzlei – o, das wäre für mich schlimmer, als alles! Und doch habe ich tüchtig bei Ihnen gearbeitet, aber – damals war es etwas Anderes!

Ich schreibe Ihnen so offen, als wären Sie mein Vater, denn ich kenne Ihr warmes edles Herz. Gestatten Sie mir, meine ehrerbietigsten und angelegentlichsten Glückwünsche beizufügen zu Miß Trevanion's bevorstehender Vermählung mit einem Manne, der, wenn auch nicht ihrer selbst. so doch ihrer Stellung würdig ist. Ich thue dies mit denjenigen Gefühlen, welche einem Manne ziemen, dem Sie das Recht zugestanden, des Himmels Segen über Sie und die Ihrigen herabzuflehen.

Mein theurer Mr. Trevanion, dies ist ein langer Brief, und ich wage es nicht, ihn noch einmal durchzulesen, da ich alsdann wohl nicht den Muth haben würde, ihn abzusenden. Nehmen Sie ihn denn hin mit allen seinen Mängeln, und beurtheilen Sie ihn mit jener Freundlichkeit, welche Sie stets zu Theil werden ließen

Ihrem

dankbaren und ergebenen Diener

Pisistratus Caxton

Albert Trevanion, Esq., M. P., an Pisistratus Caxton.

»Bibliothek des Unterhauses, Dienstag Abends.

Mein lieber Pisistratus,

*** steht auf der Rednerbühne, und zwei Stunden wenigstens sind nun ausgefüllt. Ich flüchte mich in die Bibliothek, um Ihnen diese Stunden zu widmen. Werden Sie nicht eitel, allein das Bild, das Sie von sich selbst vor mir entrollten, hat mich mit der ganzen Gewalt eines Originals ergriffen. Der Gemüthszustand, den Sie so lebhaft schildern, muß in unserer Zeit der Civilisation sehr allgemein sein, nie aber trat er mir in so deutlichen, lebensvollen Farben vor Augen. Meine Gedanken waren heute den ganzen Tag bei Ihnen. Ja, wie viele junge Männer muß es nicht in dieser alten Welt geben, gleich Ihnen fähig, einsichtsvoll, thätig und beharrlich genug, dennoch aber ohne Aussicht auf Erfolg in unsern herkömmlichen Berufszweigen – ›stumme Raleighs.‹ In Abwandlung von V. 59 der Elegy written in a Country Churchyard von Thomas Gray (1716–1771): » mute inglorious Milton«. Winterfeld hat das » inglorious« nicht mit übersetzt. – Der Name Raleigh bezieht sich auf den englischen Seefahrer, Entdecker und Soldaten Sir Walter Raleigh (ca. 1552-1618). Ihr Brief, junger Künstler, ist eine bildliche Darstellung der Philosophie des Colonisirens. Seitdem ich ihn gelesen, verstehe ich das Coloniesystem der alten Griechen besser; nicht nur die Armen, die Hefe eines übervölkerten Staates, sondern einen großen Theil der besseren Klasse, Männer von Kraft und Saft, voll üppigen Lebens, wie Sie, sandten sie aus, auf diese Art in jenen cleruchiae Kleruchie: Sonderform der griechischen Kolonie, athenische Militärkolonie. Nachweislich einen gewissen Theil des aristokratischen Elements mit dem demokratischen vermengend; sie versetzten nicht einen wilden Pöbel in schrankenloser Freiheit auf einen neuen Boden, vielmehr verpflanzten sie in die fremden Gebiete alle Grundlagen eines harmonischen Zustandes, ähnlich dem in dem Mutterlande, denn der Zweck war ja nicht nur gewesen, hungrige Mäuler fortzuschaffen, sondern Raum zu gewinnen für einen großen Ueberschuß von Intelligenz und Muth, dessen es in der Heimath wirklich nicht bedarf, und der oft mehr zum Schlimmen, als zum Guten führt, indem er hier die künstlichen Uferbauten bedroht, während er dort, in einen Aquaduct gefaßt, einer Wüste Leben zu verleihen vermag.

In meinem Ideal von Colonisation müßte jede Exportation menschlicher Wesen wie vor Alters ihre Führer und Häuptlinge haben, welche nicht nach dem Range, sondern oft in der That aus den niedrigeren Klassen gewählt würden, immerhin aber einen gewissen Grad von Erziehung, Gewandtheit und Schmiegsamkeit besitzen – mit Einem Worte Männer sein müßten, in welche ihre Begleiter Vertrauen setzen könnten. Die Griechen verstanden dies. Ja, wenn die Colonie fortschreitet, wenn die bedeutendste Stadt sich zu der Würde einer Metropole erhebt – einer polis Stadtstaat., welche der Politik bedarf – so denke ich bisweilen, es dürfte weise sein, noch weiter zu gehen und nicht nur ein hohes Maß von Civilisation dahin zu verpflanzen, sondern das neue Gebiet in noch engere Verbindung mit dem Mutterstaat zu bringen und den Austausch von Verstand, Erziehung und Bildung zu erleichtern, indem man die überflüssigen Zweige selbst des königlichen Hauses dorthin versetzt. Ich weiß, daß viele meiner ›liberaleren‹ Freunde diese Ansicht sehr mißliebig aufnehmen würden; allein ich bin überzeugt, die Colonie müßte, wenn sie sich erst so weit befestigt hätte, diese Importation ertragen zu können, nur um so schöner blühen, und wenn alsdann der Tag anbricht (wie er für alle gesunden Colonien früher oder später anbrechen muß), da die Ansiedelung zu einem unabhängigen Staate herangewachsen ist, so haben wir dadurch vielleicht den Keim zu einer Constitution und Civilisation gelegt – der unsrigen ähnlich, nur mit selbstentwickelten, einfacheren Formen von Monarchie und Aristokratie – statt daß sie die Beute eines wirren Chaos kämpfender Demokratie geworden wäre – ein ungeschlachter, bleifarbener Riese, vor welchem ein Frankenstein wohl zittern dürfte – nicht, weil er ein Riese, sondern weil er ein halb vollendeter Riese ist Diese Blätter wurden dem Druck übergeben, ehe der Verfasser Mr. Wakefield's neuestes Werk über die Colonisation zu Gesicht bekam, in welchem die hier ausgesprochenen Ansichten, mit großem Ernst und ausgezeichnetem Scharfsinn geltend gemacht werden. Der Verfasser freut sich nicht weniger dieser Uebereinstimmung, als er sich nicht in allen Theilen mit Mr. Wakefield's Theorie einverstanden erklären kann. [ Anm.d.Verf. – Mit Mr. Wakefield ist Edward Gibbon Wakefield (1796-1862), gemeint, ein britischer Politiker, der sich für die Kolonisierung Südafrikas, später Neuseelands, einsetzte, u.a. durch » A View of the Art of Colonization« (1849), auf welches Werk sich Bulwer oben bezieht. Dieser selbst war, wenn auch nur kurze Zeit, 1858 Kolonialminister.]. Verlassen Sie sich darauf, die neue Welt wird der alten feindlich oder freundlich gegenüberstehen, nicht im Verhältniß der Stammesverwandtschaft, sondern im Verhältniß der Aehnlichkeit der Sitten und Institutionen – eine gewaltige Wahrheit, für welche wir Colonisatoren blind gewesen sind.

Um jedoch von diesen ferner stehenden Betrachtungen auf den vorliegenden Fall überzugehen, so haben Sie aus dem, was ich gesagt, bereits ersehen, daß ich mit Ihren Plänen übereinstimme – daß ich dieselben so deute, wie es in Ihren Wünschen liegt. In Anbetracht Ihrer Natur und Ihres Zweckes gebe ich Ihnen meinen Rath in drei Worten – wandern Sie aus!

Mein Rath gründet sich jedoch auf die Voraussetzung, daß es Ihnen vollkommen ernst ist, sich einem rauhen Leben unterwerfen und am Ende Ihrer Prüfungszeit mit einem mäßigen Vermögen begnügen zu wollen. Geben Sie alle Auswanderungsträume auf, wenn Sie eine Million oder den zehnten Theil einer Million erringen wollen. Denken Sie nicht mehr daran, wenn Sie der damit verbundenen Mühseligkeiten sich nicht erfreuen können – sie ertragen zu können ist nicht genug!

Australien ist das Land für Sie, wie Sie ganz richtig vorauszusehen scheinen. Es ist das Land für zwei Klassen von Auswanderern: erstens für solche, welche nichts haben, als ihren Verstand, und zwar diesen in reichem Maß, und zweitens für solche, welche ein kleines Kapital besitzen und damit zufrieden sind, dasselbe im Laufe von zehn Jahren zu verdreifachen. Ich denke, Sie gehören zu der letzteren Klasse. Nehmen Sie 3000 Pfund mit, und ehe Sie dreißig Jahre alt sind, können Sie mit 10 000 oder 12 000 zurückkehren. Wenn Ihre Ansprüche damit befriedigt sind, so denken Sie ernstlich an Australien. Ich will Ihnen morgen die besten Bücher und Berichte über den Gegenstand zusenden und mir eine möglichst genaue Auskunft von dem Colonialministerium für Sie erbitten. Haben Sie dies alles gelesen und leidenschaftslos darüber nachgedacht so treiben Sie sich noch einige Monate auf den Schafwaiden Cumberland's herum, und lassen Sie sich von allen Schäfern belehren, die Sie auffinden können – von Thyrsis an bis zu Menalcas Thyrsis: von Theokrit (3. Jh. v.u.Z.), dem Schöpfer und Hauptvertreter der bukolischen Poesie, eingeführte Schäferfigur. – Menalcas: Figur aus den bukolischen Eklogen Virgils.. Ja, thun Sie noch mehr; bereiten Sie sich in jeder Weise vor für das Leben in dem Busch, wo die Theorie von der Theilung der Arbeit noch unbekannt ist. Lernen Sie überall Hand anlegen. Machen Sie sich hier etwas vom Schmied und dort etwas vom Zimmermann zu eigen – thun Sie Ihr Bestes mit dem wenigsten Werkzeug. Ueben Sie sich tapfer im Schießen, und bändigen Sie alle wilden Pferde und Fohlen die Sie nur immer auftreiben können. Selbst wenn Sie alle diese Dinge in Ihrer Ansiedelung nicht brauchen, so werden Sie durch das Lernen derselben tüchtig für manches Andere, was sich jetzt noch nicht vorhersehen läßt. Streifen Sie den feinen Gentleman ab vom Scheitel bis zur Sohle, und werden Sie dadurch ein um so größerer Aristokrat; denn mehr, als ein Aristokrat, ja, ein König ist Derjenige, welcher sich in allen Dingen selbst genug ist – der sein eigener Herr ist, weil er keiner valetaille Dienstboten. bedarf. Ich glaube, Seneca Lucius Annaeus Seneca (1. Jh. n.u.Z.), römischer Politiker, Schriftsteller und Philosoph des Stoizismus. hat diesen Gedanken schon vor mir ausgesprochen, und ich würde die Stelle citiren, allein ich fürchte, das Buch ist in der Bibliothek des Unterhauses nicht zu finden. Aber jetzt – (Beifallrufen, beim Jupiter! Ich vermuthe, *** hat die Rednerbühne verlassen! Ja, ganz richtig, und C– hat sie betreten; der Beifallsturm galt einem scharfen Hieb auf mich. Ich wollte, ich wäre ein junger Mann, wie Sie, und ginge mit Ihnen nach Australien!) Aber jetzt – um meinen unterbrochenen Satz wieder aufzunehmen – zu dem wichtigen Punkt, dem Kapital. Dies müssen Sie haben, wenn Sie nicht als Schäfer ausziehen wollen, und dann mögen Sie Abschied nehmen von jeglichem Gedanken an 10 000 Pfund in zehn Jahren. Auf den ersten Anblick scheint es nun allerdings, daß Sie sich doch an Ihren Vater wenden müssen; aber, werden Sie sagen, mit dem Unterschied, daß Sie das Kapital borgen und die sichere Aussicht haben, es zurückzubezahlen, anstatt bis zu Ihrem achtunddreißigsten oder vierzigsten Jahre von dem väterlichen Einkommen zehren zu müssen. Allein, Pisistratus, Sie werden auch hiebei Ihr Ziel nicht mit einem Sprung erreichen, und mein lieber alter Freund sollte nicht seinen Sohn und sein Geld zugleich verlieren. Sie sagen, Sie schreiben an mich, wie an einen Vater. Sie wissen, ich hasse leere Betheuerungen, und wenn es Ihnen mit jenen Worten nicht ernst war, so haben Sie mich tödtlich beleidigt. Als Vater nun nehme ich die Rechte eines Vaters für mich in Anspruch und rede ganz offen. Ein Freund von mir, ein Geistlicher, Namens Bolding, hat einen Sohn – ein wilder Mensch, der in England ohne Zweifel in alle Arten von Klemmen gerathen würde, gleichwohl aber viel Gutes in sich hat; er ist offen, kühn, nicht ohne Talente, wohl aber ohne Klugheit und Vorsicht, der Verführung leicht zugänglich und alsdann jeder Unbesonnenheit fähig. In Verbindung aber mit einem jungen Manne, wie Sie, würde er gewiß ein trefflicher Colonist werden, da in dem Busch die ihm gefährlichen Versuchungen ohnehin wegfallen. Nun geht mein Vorschlag mit Ihrer Erlaubniß dahin, daß ihm sein Vater 1500 Pfund mitgibt, die jedoch nicht in seine Hände kommen, sondern Ihnen, als dem Haupttheilhaber in der Firma, anvertraut werden sollen. Sie Ihrerseits bringen ebenfalls die Summe von 1500 Pfund bei, und zwar borgen Sie dieselbe von mir – auf drei Jahre ohne Interessen. Nach Ablauf dieser Zeit beginnt die Verzinsung, und das Kapital nebst den rückständigen Zinsen jener drei Jahre soll nach Ihrer Rückkehr an mich oder meine Erben zurückerstattet werden. Nach ein oder zwei Jahren, wenn Sie Ihren Weg vor sich sehen und wissen, was Sie zu thun haben, mögen Sie ohne Gefahr weitere 1500 Pfund von Ihrem Vater borgen, und in der Zwischenzeit haben Sie und Ihr Theilhaber zusammen die volle Summe von 3000 Pfund zum Anfang. Sie sehen, daß ich Ihnen bei diesem Vorschlag kein Geschenk mache und mich in keine Gefahr begebe, selbst nicht für den Fall Ihres Todes. Sollten Sie zahlungsunfähig sterben, so verspreche ich Ihnen, mich an Ihren Vater zu halten – der arme Mann wird alsdann wenig Freude mehr an dem haben, was er noch besitzt! So – nun habe ich alles gesagt, und nie werde ich Ihnen verzeihen, wenn Sie eine Hülfe zurückweisen, die Ihnen so wesentliche Dienste leisten kann und mich so wenig kostet.

Ich nehme Ihre Glückwünsche zu Fanny's Verlobung mit Lord Castleton an. Wenn Sie von Australien zurückkommen, werden Sie noch ein junger Mann, Fanny dagegen (obgleich ziemlich Ihres Alters) wird beinahe eine Frau in den mittleren Jahren sein und den Kopf voll Pomp und Eitelkeiten haben. Alle Mädchen haben eine kurze Periode des Mädchenhaften mit einander gemein; werden sie aber Frauen, so nimmt jede den ihr durch Rang und Stellung bestimmten Plan in der Gesellschaft ein. Was mich und das mir vom Gerücht beigelegte Amt betrifft, so wissen Sie, was ich Ihnen beim Abschied sagte, und – doch, hier kömmt J– und theilt mir mit, daß ich erwartet werde, um das Wort zu ergreifen gegen N–, der voll Gift und Galle auf der Rednerbühne steht und vor einem überfüllten, nach Persönlichkeiten dürstenden Hause spricht. So muß ich denn, der Mann der alten Welt, meine Lenden gürten und Sie mit einem Seufzer der frischen Jugend der neuen überlassen –

Ne tibi sit duros acuisse in proelia dentes.‹ Tibull, IV, 3, 3: »Heute vergiß es, zum Kampf die entsetzlichen Hauer zu wetzen!« (Übersetzung nach Emanuel Geibel, Classisches Liederbuch. Berlin 1875. S. 82.).

Von Herzen der Ihrige,

Albert Trevanion


Siebentes Kapitel.

Mein lieber Leser, Du bist nun in das Geheimniß meines Herzens eingeweiht.

Wundere Dich nicht, daß ich, der Sohn eines Büchermannes und zu gewissen Zeiten meines Lebens selbst ein Büchermann. wie niedrig auch die Stufe sein mochte, welche ich in dieser verehrlichen Klasse einnahm – wundre Dich nicht, daß ich in jener Uebergangsperiode vom Jüngling zum Manne ungeduldig von den Büchern mich abwandte. – Die meisten Studirenden haben in der einen oder der andern Zeit ihres Daseins das gebieterische Verlangen jenes rastlosen Princips in der menschlichen Natur empfunden, welches jeden Sohn Adam's auffordert, seinen Antheil zu dem weitumfassenden Schatz menschlicher Thaten beizutragen. Und obgleich große Gelehrte nicht nothwendig, ja sogar selten Männer der That sind, so haben doch die Helden, welche die Geschichte unsern Blicken vorführt, in der Regel einen gewissen Grad von gelehrter Bildung genossen. Die Gedanken, welche durch Bücher angeregt werden, sind nicht immer durch Bücher zu befriedigen. Und wenn der königliche Zögling des Aristoteles Alexander der Große. mit dem Homer unter seinem Kopfkissen einschlief, so geschah es nicht, um von Verfassung epischer Gedichte, sondern von Eroberung neuer Ilione Ilion: alternativer altgriechischer Name für die Stadt Troja. im Osten zu träumen. Wie Mancher, der noch so geringe Aehnlichkeit mit Alexander hat, mag doch, wie dieser, einen Zweck verfolgen, der nur durch Thätigkeit erreicht werden kann, und das Buch unter seinem Kissen wird vielleicht der ärgste Feind seiner Ruhe. Und spinnen nicht die ernsten Parzen Siehe Anm. 170., deren Hände das Geschick des Mannes halten, ihre ersten zarten Fäden schon in die frühesten Erinnerungen des Kindes? – Jene Mährchen, mit welchen die leichtgläubige alte Amme meine Kindheit täuschte – Erzählungen von fahrenden Rittern, Abenteuern und Wundern – hatten Keime zurückgelassen, die lange verborgen lagen, die sich vielleicht niemals über den Boden erhoben haben würden, wäre nicht meine Jugend so frühe schon in das heiße Treibhaus der Londoner Welt versetzt worden. Dort brach selbst unter Büchern und Studien ein lebhafter Beobachtungsgeist und kecker Ehrgeiz hervor aus dem üppigen Blätterwerk der Romantik, dieser unfruchtbaren Vollsaftigkeit einer poetischen Jugend! Und dort rief die Leidenschaft, welche das ganze Wesen des Menschen in Aufruhr versetzt, einen neuen Zustand des Daseins hervor – heftig und ungestüm – die alten Gewohnheiten und conventionellen Formen zu Grabe tragend, so daß nur die Asche noch andeutet, wo einst das Feuer gelodert hat. Ferne sei es von mir, wie von jedem nur halbwegs männlichen Geiste, Interesse erregen zu wollen durch ein langes Verweilen bei dem Kampfe gegen eine rasche und unpassende Neigung, welche zu überwinden mir die Pflicht gebot; allein, wie ich schon vorhin angedeutet, eine solche Liebe ist eine entsetzliche Zerstörerin, und –

»Wo einst solche Feen tanzten, wächst nimmermehr das Gras.« Abraham Cowley (1618-1667), The Complaint, 6. In die Knabenzeit zurückzukehren und mit demüthiger Fügsamkeit in ihrem geregelten Gang fortzumachen – wie schwer hatte ich diese Aufgabe in der klösterlichen Eintönigkeit eines Colleges gefunden! Die Liebe zu meinem Vater und der feste Vorsatz, seinen Wünschen mich zu unterwerfen, hatte allerdings einer Beschäftigung einiges Interesse verliehen, welche mir sonst durchaus zuwider gewesen wäre; nun aber, da meine Rückkehr auf die Universität meinen Angehörigen wirkliche Entbehrungen auferlegen mußte, war mir der bloße Gedanke daran verhaßt und unerträglich. Unter dem Vorwand, daß ich mich noch nicht für hinreichend vorbereitet halte, um dem Namen meines Vaters Ehre zu machen, wirkte ich mir leicht die Erlaubniß aus, den nächsten Cursus zu umgehen und – meine Studien zu Hause fortzusetzen. Dadurch gewann ich nicht nur Zeit, mich selbst mit meinen Planen genauer bekannt zu machen, sondern auch – doch, wie werden jemals meine abenteuerlichen Absichten die Zustimmung Derer erhalten, welche ich zu verlassen gedenke? Es ist schwer, sehr schwer, sich in der Welt fortzubringen; der schmerzlichste Schritt aber ist derjenige, welcher uns von der Schwelle einer geliebten Heimath wegführt.

Wie – ach ja, wie! »Nein, Blanche, Du kannst heute nicht mit mir gehen; ich bleibe mehrere Stunden aus, und es wird spät werden, ehe ich wieder nach Hause komme.«

Nach Hause! – das Wort preßt mir das Herz zusammen! Juba schleicht traurig zu seiner jungen Gebieterin zurück, und Blanche blickt mir betrübt von unserm Lieblingshügel nach, während die Blumen, die sie gesammelt hat, unbeachtet ihrem Korbe entfallen.

Ich höre die Stimme meiner Mutter – sie sitzt bei dem offenen Fenster an ihrer Arbeit und singt leise vor sich hin. Wie ach ja, wie!



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