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Drittes Buch.

1.

Sieben Stunden war Hilma im Schnellzug gefahren. Die ganze Zeit hatte sie aufrecht auf der Holzbank der dritten Wagenklasse gesessen und das einzige, was sie an Nahrung zu sich genommen hatte, war ein Glas Bier gewesen.

Nun stand sie ganz betäubt in der riesigen Einfahrtshalle des großstädtischen Bahnhofs. Solch ein Gedränge gut gekleideter Menschen, die alle eilfertig und sehr mit sich selbst beschäftigt waren, ohne daß sie sich im geringsten um die anderen kümmerten, so viel elegante Erscheinungen, die sich ihren Weg durch die Menge bahnten, ohne die mindeste Aufmerksamkeit zu erregen, war ihr, seit Paris, nie vorgekommen.

Verwirrt und hilflos schaute sie sich um. Sie hatte an Horst telegraphiert. Wenn er nicht da war, um sie abzuholen, was dann? Sie wußte seine Adresse, – er wohnte für sich allein, – die des Vaters war ihr unbekannt.

Ängstlich spähte sie nach jeder Uniform. Da stand er auf einmal neben ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Nun sag' mal, Hilma! Es geschehen doch noch Wunder! Ich dachte, mich rührte der Schlag, wie ich Deine Depesche las. Aber wo hast Du Dein Handgepäck?«

»Ich habe keins.«

»Famos. Das find' ich schneidig. Dienstmann, he! – Sie da! Gib dem Mann Deinen Gepäckschein, er bringt den Koffer nach dem Wagen. Ist es ein großer?«

»Ich habe keinen Koffer.«

»Keinen ... Koffer?! Ist er liegen geblieben?«

Sie legte beschwichtigend die Hand auf seinen Arm.

»Nein, – ich hab' gar nichts mit; – nachher sollst Du alles hören.«

Seine heitere Miene hatte sich verfinstert. Er sah ihr ins Gesicht.

Sie war überhungert und übermüdet, der Kopf schmerzte, alle Glieder taten ihr weh.

»Du siehst miserabel aus,« sagte er kopfschüttelnd. »Komm.«

Ihren Arm durch den seinen legend, geleitete er sie schweigend dem Ausgange zu.

Draußen, über dem großen Bahnhofsplatz, lag ein warmes, mildes Abendleuchten, das ihr wohltat.

Horst rief einen Mietswagen und setzte sie und sich hinein. Dann rollten sie fort.

Erst wand sich der Wagen durch viele andere Fahrzeuge, die den Platz füllten, dann bog er in eine lange breite Straße ein, deren hohe Häuser in der Ferne zusammenzustoßen schienen. Es waren lauter Paläste mit Balkonen und Türmchen und vielen Fensterreihen übereinander. In dumpfem Staunen schaute sie empor; die einzige Großstadt, die sie schon kannte, Paris, hatte sie nur bei Nacht und im geschlossenen Wagen durchfahren. Sie hatte damals nur die beiden Nonnen gesehen, die ihr gegenüber gesessen hatten.

Horst riß sie aus ihrer Betäubung, indem er fragte: »Was ist also passiert?«

Da erzählte sie ihm, was ihrer überstürzten Flucht vorausgegangen war, und daß sie sich nicht mehr anders zu helfen gewußt habe.

Er war aufs peinlichste betroffen.

»Höre Du, das ist aber eine höchst unglückliche Geschichte! Onkel Gustavs Vorschlag anzunehmen, wäre ohne Zweifel das beste gewesen. Es hätte Dir doch eine angesehene gesellschaftliche Position verschafft. Gräfin Utendorf auf Zollbrück sein, ist wahrhaftig nicht übel! Viele würden Dich beneiden! – Kannst Du denn wirklich nicht?!«

»Lieber sterben,« sagte sie kurz.

»Warum hast Du mich nicht wenigstens erst um Rat gefragt? Wir hätten gewiß noch einen anderen Ausweg gefunden.«

»Meinst Du, daß der Papa mich nicht haben will?« fragte sie in heißer Angst. »Ich habe noch zwei Mark im Portemonnaie, sonst keinen Pfennig.«

»Ich habe leider auch nichts, als das bißchen Gage und die Zulage, die der Papa mir gibt. Damit lassen sich keine Ersparnisse machen.«

Der schöne Frühlingsabend hatte eine Menge Menschen aus den Häusern gelockt: Damen in entzückenden hellen Kleidern, feine Herren mit Rassehunden, Mütter und Mädchen, die Kinderwagen schoben, Verkäufer und Verkäuferinnen, die vor den offenen Ladentüren standen, und Arbeitervolk.

Hilma starrte in Verzweiflung über das bunte Bild fort. Allerlei schreckliche Möglichkeiten tauchten vor ihr auf.

»Der Papa kann doch nicht arm sein?« fragte sie. »Wenn er so ein schönes Haus hat, wie Du immer sagtest ...«

»Die Villa gehört seiner Frau. Agnes ist reich. Sie hat furchtbar viel Geld verdient auf ihren amerikanischen Gastspielreisen. Und kriegt riesige Gagen. Der Papa hat nicht viel. Mit Schriftstellerei verdient man kein Vermögen.«

An die Geldfrage hatte sie in ihrem Leben noch nie gedacht, da es ihr nie an dem, was sie brauchte, gefehlt hatte.

»O Gott, ich Unglückliche!« stöhnte sie. »Was soll ich tun?!«

»Das beste ist: wir versuchen, Dich mit den Zollbrückern auszusöhnen. Was schaden denn schließlich ein paar Jahre Stift? Du führst dort ein standesgemäßes, verhältnismäßig freies Dasein, hast es riesig bequem, eine reizende Wohnung, und beziehst eine schöne Rente. Ein Stift ist ja kein Kloster. Die Mama ist vor ihrer Verheiratung ein Jahr lang in Altenhagen gewesen und schwärmt dafür.«

Hilma schwieg und dachte: ›Ja, dann muß es wohl sein.‹ Denn keinesfalls wollte sie dem Vater und seiner Frau zur Last fallen.

Die großen, öden Stadthäuser sahen sie mit einem Mal feindselig an. Die Menschen auf den Straßen schienen so gleichgültig. Niemand kümmerte sich hier um die Existenz der Hilma Viernau. Niemand würde danach fragen, ob sie lebte oder starb. Und wie schlecht einem vor Hunger werden konnte, davon hatte ihr dieser Tag einen Vorschmack gegeben.

Sie kam sich so von aller Welt verlassen, so verschmäht und überzählig vor, daß sie sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte, um zu weinen. Aber hier im offenen Wagen an der Seite des glänzenden jungen Offiziers mußte Haltung bewahrt werden.

»Da sind wir,« sagte Horst.

Der Wagen hielt vor einem seltsam verschnörkelten Gittertor aus Gußeisen, welches nebst einem ebenso verschnörkelten Gitter einen kleinen Vorgarten von der Straße abgrenzte. Dort flammten geschlitzte kanarienvogelgelbe und leuchtend rote Tulpen auf einem wie Samt geschorenen, smaragdgrünen runden Rasenplatz.

Ein Gärtner stand auf dem mit rötlichem Sand bestreuten Gartenweg und sprengte aus einer Schlauchspritze einen Wasserstrahl über Blumen und Gras.

Mitten auf dem Rasenplatz erhob sich eine schlanke Zypresse und dahinter leuchtete ein schöner weißer Palast mit Säulen und Loggien.

An dem Schnörkeltor befand sich ein metallener Knopf. Den berührte Horst mit einem Finger und wie auf einen Zauberspruch sprang nicht allein das Tor auf, sondern auch die Tür des schönen, hellen Hauses.

Horst schob die zitternde Hilma vor sich her in einen kleinen, aber eleganten Hausflur.

»Da bring ich sie!« rief er. Seine Stimme klang mit einem Mal wieder hell und heiter.

Hilma sah sich einem etwas beleibten älteren Herrn gegenüber, dessen kahle Stirn bis zur Höhe des Scheitels reichte. Eine Brille deckte die Augen, Mund und Kinn verbarg ein kurzer, dunkler Bart. Das Gesicht sah gelblich bleich und etwas gedunsen aus.

Diese Erscheinung glich ebenso wenig dem alten Idealbild, das sie sich gemacht, wie ihrer späteren Vorstellung eines etwas düsteren, dämonisch anziehenden Lebemannes und Frauenverführers.

Ihre erste Empfindung war heftig ablehnend: »Nein! Dieser ist es nicht! Der darf es nicht sein!« und die zweite: »Er ist es aber!«

Der dicke Herr mit Brille und Glatze ergriff ihre beiden Hände, behielt sie in den seinen und drückte sie. Er sagte zuerst gar nichts. Dann, etwas unsicher: »Ist das wirklich meine kleine Hilma?«

»Komme ich auch nicht ungelegen?« fragte sie, die direkte Anrede vermeidend, denn es schien ihr unmöglich, den fremden Mann »Du« zu nennen.

Er sagte: »Ich bin ja glücklich, daß Du den Weg zu Deinem Vater gefunden hast.«

Sie hörte die verhaltene Gemütsbewegung in seiner Stimme, und es ging ihr nah, aber sie konnte dennoch das Gefühl der Fremdheit nicht loswerden.

Er erkundigte sich nach ihrer Reise und bekam heraus, daß sie nichts gegessen hatte.

Sofort brachte er ihr ein Brötchen und ein Glas Wein.

»Für den Moment. Wir werden gleich essen.«

Ja, er war gütig. Man sah und hörte es ihm an.

Als sie eine seiner sorgenden Fragen beantwortete, nannte sie ihn unwillkürlich »Sie«.

»Nein, aber das geht doch nicht!« rief lachend Horst. »Du willst doch Deinen Vater nicht mit Sie anreden?«

Hilma entschuldigte sich befangen.

Der Vater wandte sich ab.

Ein nettes Mädchen mit weißer Schürze und winzigem weißen Häubchen führte sie in das Gastzimmer, von dem der Vater sagte: »Es hat lange auf Dich gewartet.«

Sie begann sich zu säubern.

Da kam das Zöfchen wieder und brachte einen großen Arm voll Sachen: frische Wäsche, wie Spinnweben fein und mit lauter Spitzen, Hausschühchen, allen möglichen nützlichen und unnützen Tand.

»Es ist von der Frau Baronin,« sagte das Mädchen. »Der Herr Baron läßt bitten, davon Gebrauch zu machen, weil die Koffer noch nicht angekommen sind.«

»Danke,« sagte Hilma.

Zitternd vor Schwäche und schwindlig starrte sie auf den zierlichen Tand, desgleichen sie noch nicht gesehen hatte. Es schien ihr Verrat an der Mama, es sich mit dem Toilettenluxus dieser schlimmen Frau behaglich zu machen; ja, es widerstrebte ihr heftig; aber die Begier, aus dem eingestaubten, kohlengeschwärzten Zeug heraus in diese blütenweiße, duftige Nettigkeit zu gelangen, überwog den moralischen Widerwillen.

Man hatte sie ersucht, auf den Knopf der elektrischen Klingel zu drücken, sobald sie zum Speisen bereit sei.

Horst holte sie in das Eßzimmer.

»Jetzt siehst Du schon etwas menschlicher aus,« sagte er.

»Wie eigentümlich ... wie schön das alles ist!« sagte Hilma staunend, als sie die Schwelle des Eßzimmers überschritt.

»Dies Zimmer hat Ogilog geschaffen,« erklärte Horst.

»Wer?«

»Ogilog, ein moderner englischer Künstler. Agnes hat es vor zwei Jahren aus London mitgebracht.«

»Ein Zimmer mitgebracht?!«

Sie verstand nicht.

Er lachte. »Na, die Mauern natürlich nicht, aber die Einrichtung; auch die grüne Boiserie und die Fenster. Nicht wahr, von so was hat man in unserem guten Ländchen keine Ahnung.«

Durch eine andere Tür trat der Vater ein.

Man setzte sich um den Tisch.

Für Hilma waren warme Speisen aufgetragen und Suppe. Der Vater legte ihr auf. Er und Horst tranken nur Tee und aßen Sandwiches dazu. Kein Diener wartete auf.

»Wir haben um fünf diniert,« erklärte Horst, »und soupieren erst um elf, wenn Agnes kommt. Sie muß heute Abend die Nora spielen.«

Hilma wagte nicht, den Vater anzusehen. Sie fühlte, daß sie rot geworden war.

»Du darfst sie heute nicht erwarten,« sagte dieser. »Morgen sollst Du sie kennen lernen; aber heute muß mein müdes kleines Mädchen früh schlafen gehen.«

Mehr noch als bei der ersten Begrüßung fiel ihr der Ton seiner Stimme auf. Verhaltene Schwermut schien daraus zu klingen und unendliche Milde. Weich legte sie sich ums Herz, wie zarte, liebe Hände.

Und das sollte die Sprache eines herzensrohen, lasterhaften Genußmenschen sein?!

Wenn er gerade dem lebhaft plaudernden Horst zuhörte oder antwortete, betrachtete ihn Hilma mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit. Aber gewöhnlich, ehe sie sich dessen versah, fühlte sie seinen Blick auf sich ruhen und schlug die Augen nieder.

Der gute Wein, den er ihr einschenkte, erhitzte ihr den Kopf. Der schwere Druck, der bis jetzt auf ihr gelastet hatte, wich. Sie konnte freier zu dem Vater aufsehen, freier sprechen.

»Hast Du ihm gesagt?« wandte sie sich an Horst.

Der nickte.

»Er hat Dir erzählt, daß ich denen zu Hause fortgelaufen bin?« fragte sie den Vater.

»Ja. Denk jetzt nicht daran! Morgen wird dazu Zeit sein.«

»Nein, wenn ich schlafen soll, muß ich erst wissen, ob Du sehr böse darüber bist.«

»Ich bin nicht böse, mein armes Kind.«

»Aber sie hätten mir nie erlaubt, zu Dir zu kommen, und sie werden es mir nie verzeihen. Ich kann nicht nach Hause zurück und weiß auch sonst nicht wohin, denn ich habe gar kein Geld mehr, außer zwei Mark.«

Er streckte ihr seine Hand über den Tisch entgegen und sagte: »Mein Heim ist natürlich das Deine. Jetzt und immer.«

»Aber ...« sie errötete und stockte, weil sie sich nicht entschließen konnte, seine Frau zu erwähnen ... »ich möchte so ungern lästig sein.«

Er sah sie mit einem Blick liebevollen Vorwurfs an: »Glaubst du wirklich, daß eine Tochter ihrem Vater lästig fallen könnte?«

»Aber ... Deine ... Frau?! ...«

Sie bemerkte ein leises Zucken auf seiner Stirn, so als belästige ihn nervöser Kopfschmerz. Aber er sagte ruhig: »Du wirst sie morgen sehen. Sie freut sich schon darauf.«

Horst hatte unruhig auf seinem Stuhl gesessen. Jetzt sagte er: »Wir müssen trotzdem versuchen, die Zollbrücker zu versöhnen. Vor allem der armen Mama wegen. Das sind wir ihr meiner Empfindung nach schuldig. Findest Du nicht auch, lieber Papa?«

Dieser antwortete: »Ja; bitte tue, was Du kannst. Aber vergiß auch nicht, an Deine Schwester zu denken.«

»Ich gewiß nicht,« sagte Horst mit Betonung des ›ich‹.

Hilma war erstaunt über Horsts Ton dem Vater gegenüber. Er sprach mit einer gewissen überlegenen Nachsicht, wenn auch korrekt in der Form. Aber dieser Ton mußte den Vater verletzen, mußte ihm weh tun! Es war gerade, als habe Horst gesagt: »Ich weiß, was ein Edelmann seinen Angehörigen schuldig ist. Du freilich hast es nicht gewußt, kannst mir hier also durchaus keine Lehre erteilen.«

Und das noch dazu in ihrem Beisein!

Wie wäre einer solchen Tonart gegenüber der Großpapa aufgefahren! Das Haus hätte gezittert! Aber der Vater schwieg.

Konnte er sich nicht wehren oder wollte er nicht?

Sie sagte gute Nacht, und in einer Wallung mitleidvoller Zärtlichkeit zog sie des Vaters Hand an die Lippen. Der nahm sie in seine Arme und küßte sie.

Horst geleitete sie bis an die Tür ihres hübschen, hellen Gastzimmers.

Auf der Treppe sagte er mit halber Stimme: »Wie wir drei, Vater und Kinder, eben um den Eßtisch saßen, hab ich doch immer denken müssen: ›An der vierten leeren Seite sollte die Mama sitzen!‹ Sie fehlte. Ewas fehlt uns eben leider immer.«

»Und ich hab denken müssen,« sagte Hilma traurig: »›Wenn ich diesen Vater in meiner unglückseligen Kindheit gehabt hätte!‹ Was für ein glücklicher Mensch hätte ich werden können! Nun bin ich ein verbogenes, verkümmertes Bäumchen, das nie mehr gerade werden kann.«

Obwohl er ihr in seinem Herzen unrecht gab und sie ihm, trennten sie sich mit einem geschwisterlichen Kuß.

2.

Hilma schlief lange. Als sie erwachte, zeigte die kleine goldene Uhr, die sie vom Großvater zur Einsegnung erhalten hatte, auf acht.

Sie schaute verwirrt um sich, horchte auf den Lärm der über das Pflaster rollenden Wagen, auf das dumpfe Brausen von Millionen ineinander schallender Geräusche und besann sich, wo sie war.

Da dachte sie mit stillem Glück an den Vater, den sie gestern schon fast liebgewonnen hatte – und mit angstvoller Scheu an seine Frau, die berühmt und schön und reich war, und die sie jetzt kennen lernen sollte!

Als sie sich, vom Stubenmädchen geleitet, glücklich ins Eßzimmer fand, wo der Kaffeetisch bereit stand, traf sie dort den Vater allein.

Sie begrüßten sich mit einer scheuen Umarmung.

Der Vater trug einen gesteppten Schlafrock von dunkelblauer japanischer Seide. Dazu rote Pantoffeln.

Das befremdete und störte sie anfangs. Weder den Großvater noch den Onkel Gustav, noch irgend einen der Herren am fürstlichen Hof hatte sie je im Schlafrock gesehen.

Sie frühstückten. Wie gestern legte er ihr sogleich die besten Bissen auf den Teller und nötigte sie zum Essen. Aber die Vertrautheit vom Abend wollte sich nicht wieder einfinden. Das sonderbare Gemisch von Fremdheit und Intimität, in dem sie zueinander standen, machte sie beide befangen.

»Nachher wird eine gute Freundin meiner Frau kommen,« sagte er, »und Dich zu einem Gang in unsere schönen Magazine abholen, damit Du Dir aussuchen kannst, was Du für die nächsten Wochen brauchst.«

»Wie aus dem Armenhaus bin ich zu Dir gekommen,« sagte sie beschämt.

Er entgegnete: »Du weißt, daß ich Dir mehr schuldig bleiben mußte, als ich Dir je zurückerstatten kann.«

»Was sich mit Geld bezahlen ließ, hat mir nie gefehlt,« sagte sie leise.

Er sah sie aus tiefernsten Augen fragend an, fragte aber nicht.

Nach einem längeren Schweigen holte er aus einer Innentasche seines Schlafrocks eine juchtenlederne Brieftasche und schob sie ihr hin.

»Ein paar Scheine für Deine Einkäufe heute.«

Verwirrt nahm sie das Dargereichte, ohne ein Wort des Dankes finden zu können. Alles dies widerstrebte ihr heftig: sich von dem Vater mit Geld beschenken zu lassen, und die Gastlichkeit der Frau annehmen zu müssen, die die Mama von ihrem Platz verdrängt hatte! Ihr kam darüber ein Schimmer des Verständnisses für die leidenschaftliche Auflehnung der Mama. –

Dann brach mit viel Geräusch und heiterer Lebendigkeit die gute Freundin herein, die den Vater »einzigster Viernau« nannte, während er sie »liebe Sabine« anredete. Er stellte sie als »Königliche Hofschauspielerin Fräulein Sabine Edelberg« vor, und setzte warm hinzu: »unsere liebe gute Freundin.«

Die Edelberg, eine magere brünette ältere Dame mit ungemein beweglichen Gesichtszügen, wickelte die scheue Hilma sofort ganz ein in mütterliche Liebkosungen und Herzlichkeit.

»Sie goldenes Kleinod! Dem Vater wie aus den Augen geschnitten! Sie sind natürlich ein ebenso entzückendes Menschenkind wie unser angebeteter Viernau! Bei ihm hält uns der Respekt immer noch in einer gewissen Distance, aber Sie süßer Käfer müssen Sich schon ernstlich vorsehen, daß wir Sie nicht mal vor Liebe aufessen!«

So schwatzte diese und gab zwischendurch zahlreiche Küsse.

»Einen muß auch der Papa kriegen, sonst bekommt's dem Töchterchen nicht,« rief sie lustig.

Sie packte mit beiden Händen den blauen japanischen Schlafrock an den Schultern, streckte den Hals vor und küßte den Vater mit Geräusch auf den Mund.

Er nahm es mit gelassenem Lächeln hin wie etwas Gewohntes, dem keinerlei Bedeutung beizulegen war.

»Das Götterweib ruht wohl noch?« fragte Sabine.

»Sie hat eben das Bad bestellt.«

»Der arme Schneck! Bad, Massage, Balsamierung, Turnen usw. usw. Damit hat sie doch volle drei Stunden zu tun! Herrgott, bin ich schon froh, daß ich niemals schön war, nun brauch ich nicht all die Strapazen durchzumachen, es zu bleiben! Der Kampf gegen die Natur ist eben immer eine Riesenanstrengung, bei der wir am letzten Ende doch den kürzeren ziehn. Einstweilen freilich hat die Agnes ja großartigen Erfolg. – Aber kommen Sie, machen Sie sich fertig, süße kleine Hilma! Sie wollen wir jetzt so reizend ausstatten, wie es für Ihr beneidenswertes Alter paßt. Sie sind doch höchstens neunzehn?«

»Ich werde fünfundzwanzig.«

»Fünfundzwanzig? Nein. Sie sehen wie neunzehn aus, lassen wir es dabei. Das kleidet viel besser.«

War das aufregend in den belebten Geschäftsstraßen! Einmal kam Hilma fast unter die Räder eines der vorübersausenden Fahrzeuge. Die Edelberg mußte sie schließlich in einen Mietswagen setzen, weil ihr ganz schwindlig geworden war.

Mit Paketen beladen und mit desto leererem Kopf langte sie endlich wieder vor dem gußeisernen Schnörkeltor an.

Als sie mit ihren Paketen das marmorausgelegte kleine Treppenhaus betrat, blieb sie starr stehen vor einer Erscheinung, die etwas Unwirkliches, – ein Phantasie-Erzeugnis schien.

Langsam kam eine hohe schlanke und doch üppige Frauengestalt die Stufen der Treppe herab. Ein Gewand von leuchtend rotem Seidenstoff umfloß sie, fiel lang über die Füße. Aschblondes feines welliges Haar lag lose über den Schultern. Das von dieser Mähne eingefaßte Gesicht war weiß und schmal, wirkte beinahe kindlich. Die stark modellierten Lippen waren voll und fast unnatürlich rot und die Augen, – das waren Nixenaugen! Lange, schmalgeschnittene Augenrandungen dicht umwimpert, und daraus vorlugend große blaugraue Pupillen, deren oberer und unterer Rand verdeckt blieb.

Unter den weiten roten Seidenärmeln sahen weiße, leuchtend weiße Hände vor, die in ihrer Zartheit und Feinheit etwas Ergreifendes hatten.

Hilma umfaßte dies mit einem großen, erschrockenen Blick.

Sie fühlte: »das ist sie, – die Nixe, die Hexe, die ihn bezaubert und uns alle ins Unglück gebracht hat!« Ihr war, als könne sie in diesem Augenblick alles nachfühlen, was vor nun zweiundzwanzig Jahren der Vater angesichts dieses berückend schönen Wesens empfunden haben mochte!

Die Schöne wurde von einem Treppenfenster seitlich beleuchtet, während Hilma, da sich die märchenhafte Haustür hinter ihr von selbst geschlossen hatte, im Schatten stand.

»Von wem?« fragte die rote Dame mit einem gelangweilten Blick auf die Pakete. Sie hielt das einfach gekleidete beladene junge Frauenzimmer offenbar für die Botin eines Geschäftshauses.

»Ich bin die Hilma Viernau.«

Da kam plötzlich Leben in die majestätische Gestalt!

Mit dem Ruf: »Was?! Hilma? Meines Mannes Tochter?! Das sind Sie?!« stürzte die Dame so rasch und heftig auf Hilma zu, daß diese nicht begriff, wie die schleppende rote Seide des Gewandes sich nicht um die Füße wickelte.

Die kleinen weißen Hände griffen nach den Päckchen und schleuderten sie achtlos irgendwohin. Hilma wurde gepackt und in ein anstoßendes Zimmer gerissen.

Hier verbreiteten lange, bis zum Fußboden reichende Fenster ziemlich viel Licht.

»Nun lassen Sie sich zu allererst einmal ansehen! – Gott sei Dank, – Sie sehen sympathisch aus! – Wissen Sie, es kommt furchtbar viel darauf an, daß wir uns gefallen, denn wir müssen ja nun zusammen bleiben. Hilmar will, daß Sie ganz bei uns bleiben. Wir müssen uns also vertragen. Gott, hab ich mich gefürchtet!«

»Vor mir?« stammelte die verwirrte Hilma.

»Gewiß! Wissen Sie denn, was für mich auf dem Spiel stand? Mein häusliches Glück ganz einfach. Wenn Sie mir nun gräßlich gewesen wären? Und er hätte natürlich ...«

Sie brach ab und sagte dann, wie mit erleichtertem Aufatmen: »Aber wir werden gut miteinander auskommen, denn Sie gleichen ihm, – d. h. dem, was er vor zwanzig Jahren war, ehe er bequem und fett wurde. Vielleicht werden wir beide uns sogar besser miteinander stehen, als Sie und er. Denn man liebt eigentlich nicht seine Wiederholung, sondern seinen Gegensatz. Liebe ist der Drang nach Ergänzung. Nicht wahr?«

»Ich liebe meinen Vater sehr,« sagte Hilma mit vor Gemütsbewegung zitternden Lippen.

Die Nixenaugen weiteten sich in kühlem Erstaunen.

»Wie kommen Sie dazu?«

»Ich habe mich nach ihm gesehnt, solang ich denken kann.«

»Natürlich sind Sie eine Träumerin und Phantastin, – als Hilmars Tochter! – Ihr Bruder gleicht ihm gar nicht. Mit ihm würde ich nicht auskommen, wenn er eine Frau wäre. Aber ein junger Mann läßt sich immer fassen, so oder so. Sie verlieben sich in uns und dann sind wir für sie fehlerlos. Aber nun müssen wir Du zueinander sagen! Du nennst mich Agnes und nimmst mich als ältere Schwester. Komm, wir wollen ein bißchen was essen.«

Sie ging voraus, und Hilma folgte ihr in das Eßzimmer, wo ein Gabelfrühstück stand.

»O wär' ich zu Haus!« dachte Hilma kummervoll. Sie sehnte sich nach ihrer stillen Bücherei, nach der Mama und ihrem von blühenden Blumen durchdufteten Erkerzimmer, nach dem Großpapa sogar!

Denn sie hatte begriffen, daß die Herrin dieses luxuriösen Hauses ihre Gegenwart wirklich nur um des Vaters willen ertrug!

Agnes ging im Zimmer auf und ab und griff von Zeit mit den fünf Fingern beider Hände in ihre Mähne.

»Ich habe eben mein Haar waschen lassen,« sagte sie erklärend, »bis es ganz trocken ist, laß ich es lose hängen. Ist es nicht schön? So fein und leicht! Wenn Du nur darauf bläst, flattern alle Härchen. Dunkles Haar ist nie so weich und fein.«

Plötzlich blieb sie aufhorchend stehen.

»Da ist er. Komm rasch, Kleine! Ich lege den Arm um Deine Schultern. So wollen wir stehn. Das sieht ganz schwesterlich aus und wird ihm gefallen.«

Hilma folgte mit innerem Widerstreben. Sie dachte: »Wie kann sie nur meinen, er werde glauben, wir seien schon in der ersten Viertelstunde intim geworden!«

Der Vater trat ein.

»Sieh Deine beiden Kinder!« rief ihm Agnes triumphierend entgegen. »Stehn wir einander nicht gut?«

Er lächelte erfreut, blieb aber die Antwort schuldig.

Während sie ihr kaltes Frühstück verzehrten, – es war ein Uhr, – kam auch Horst.

Er hatte eine Depesche von Zollbrück erhalten.

»Sie wollen wissen, ob Du hier bist,« sagte er. »Ich habe sofort zurückdepeschiert und sie beruhigt. Ein Brief ist auch unterwegs.«

Schon an diesem Tage merkte Hilma, daß in ihres Vaters Hause, solange Agnes darin waltete, keine Ruhe war. Agnes nahm alle in Anspruch und wurde selbst beständig in Anspruch genommen. Die Dienerschaft lief hin und her, um den vielen Wünschen der Frau Baronin nachzukommen oder eilige Wege für sie zu machen. Der Postbote kam fast zu jeder Stunde mit Stadtbriefen; eine mächtige Blumenspende wurde gebracht: Veilchen und weißer Flieder; dann kam der Theaterbote mit irgend einer erregenden Nachricht. Und so ununterbrochen, bis sich um fünf Uhr ein paar Hausfreunde zum Diner einfanden.

Agnes trug jetzt eine silbergraue Toilette und hatte das Blondhaar, auf welches sie so stolz war, zum griechischen Knoten geschürzt.

Die Tischgäste waren Sabine Edelberg, ein Theaterkritiker Dr. Rode und ein junger Tragödiendichter namens Ottomar Altenstein.

Der Dichter war fast kahlköpfig und ganz bartlos. Er hatte große Augen und eine besonders ausdrucksvolle Art, sie aufzuschlagen. Sein blasses Gesicht sah müde und unzufrieden aus.

Er saß neben Hilma und machte von Zeit zu Zeit in ernstem Tone Bemerkungen, die fast wie Monologe wirkten.

»Heiraten Sie alles, nur nie einen Dichter,« sagte er einmal. »Dichter sind nämlich weniger Menschen, als Vampire. Sie saugen ihrer Umgebung das Lebensblut aus, um sich damit zu füllen. Und das verspritzen sie dann mitsamt dem eigenen Lebensblut in ihre Werke.«

»Agnes scheint trotzdem glücklich,« wandte Hilma ein.

Er sah sie mit seinen großen Augen zerstreut an.

»Würden Sie glauben, daß die Edelberg zehn Jahre jünger ist als die Viernau?« fragte er; »und Sabine spielt schon lange die komischen Alten. Aber Agnes ist unsere Ninon de l'Enclos. Sie hat den Teufel im Leib.«

Hilma gewann die Überzeugung, daß Herr Altenstein entweder gar nicht begriffen oder vergessen hatte, wer sie war.

Es war unterhaltend, nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, wie Dr. Rode, der ein kluges, scharfes, aber angenehmes Gesicht hatte, mit Agnes stritt. Rode sprach sachlich, kühl, überlegen; er schien immer recht zu haben. Aber Agnes ersetzte durch Feuer, was ihr an logischer Denkfähigkeit abging. Sie ereiferte sich gewaltig und zog alles ins Gebiet des Persönlichen, verlor dabei indessen nicht für einen Augenblick die Anmut ihrer Haltung und Mienen. So erschien sie zugleich bewußt und unbewußt, beherrscht und unbeherrscht.

Zuweilen warf auch Horst eine Bemerkung ein. Dann lächelte ihm Agnes zu, wie man einem verzogenen Kinde zulächelt, wenn es eine naive Torheit zum besten gibt. Die anderen quittierten mit einer nichtssagenden Höflichkeit, gingen aber nicht ernsthaft auf ihn ein.

Hilma fühlte, daß ihr Bruder diesem Künstlerkreis innerlich fern stand, daß er trotz des jahrelangen Verkehrs von dem Innenleben dieser Menschen so wenig begriff, wie sie von dem seinen.

›Er ist ein Utendorf,‹ dachte sie. Damit war ihr seine seltsame Unzugänglichkeit erklärt.

Sie selbst empfand die eigene Unwissenheit lebhaft. Man unterhielt sich von Kunstrichtungen, Stilen, Moden und berühmten Persönlichkeiten, von denen allen sie nichts wußte.

Nun, sie öffnete die Ohren weit. Sie wollte hören und lernen.

Mehr als dies alles beschäftigte sie aber der Vater. Der saß meist, als ob ihn die Unterhaltung der anderen nichts angehe. Zuweilen kam jedoch ein Aufleuchten in seine müden, dunkeln Augen. Sprach er dann ein paar Worte, so lauschten alle aufmerksam, ja mit Ehrerbietung. Man schien seinem Urteil besonderen Wert beizumessen. Das freute Hilma.

Und doch: je länger sie ihn sah, desto mehr befestigte sich in ihr die Empfindung: ›er ist nicht glücklich.‹

Gar zu gern hätte sie gewußt, wie er innerlich zu seiner Frau stand, aber sie konnte es nicht herausfinden.

3.

Horsts Bemühung, die Zollbrücker Verwandten mit Hilma auszusöhnen, scheiterte.

Der Großpapa schrieb an Horst, man wolle noch einmal Gnade für Recht ergehen lassen und das Vorgefallene verzeihen, wenn Hilma unverzüglich nach Altenhagen reisen wolle und sich in das Stift begeben, wo die treffliche Tante Eveline sie mütterlich aufzunehmen bereit sei. Doch müsse sie sich ein für allemal entscheiden, ob sie noch ferner dem Hause ihrer Mutter zugehören wolle, oder dem ihres Vaters. Denn bei all der bewiesenen Urteilsverwirrung dürfe man wohl erwarten, daß sie wenigstens einzusehen imstande sei, daß von den genannten beiden Eventualitäten nur die eine oder die andere möglich sei.

Das ›oder‹ war unterstrichen.

Horst redete seiner Schwester dringend zu, sich den Zollbrückern zu fügen.

Und obwohl ihr der Ton in des Großvaters Brief, ebenso wie der Gedanke an das Stiftsleben verhaßt war, schwankte sie wirklich.

Sie hatte in der kurzen Zeit, die sie im Vaterhause weilte, schon so viel vom Recht der Persönlichkeit und von individueller Freiheit gehört, daß ihr der Despotismus der Utendorfer widernatürlicher und unerträglicher erschien als je.

Andererseits empfand sie es aber auch als Qual, im Hause der Frau zu leben, die sie nur ungern neben sich duldete. Agnes konnte berückend liebenswürdig sein, nur wollte sie Alleinherrscherin bleiben, Mittelpunkt der Aufmerksamkeiten sein. Hilma, die das rasch herausgefühlt hatte, hielt sich aufs äußerste zurück, aber sie war hübsch und jung, – sie konnte es nicht hindern, daß ihr Blicke und Worte huldigten, ebensowenig wie, daß dies von Agnes bemerkt wurde.

Sie sagte zum Vater: »Es ist besser, ich gehe.«

Er entgegnete: »Du allein hast hier zu entscheiden. Ich wünsche nur, daß Du dabei auf niemand soviel Rücksicht nimmst, als auf Dich selbst.«

Das sagte er so ruhig, mit so stillem Blick, daß sie über seine Empfindungen völlig im Unklaren blieb. Sie war Elternliebe gar nicht gewöhnt, wurde einen Augenblick auch an seiner Zuneigung irre.

Ganz zaghaft seufzte sie: »Wenn es nur nicht für immer sein sollte! Ich muß ihnen versprechen, nie wieder zu Dir zu kommen.«

Sie sah ihn nicht an, stand mit gesenkten Lidern vor ihm.

Da griff er nach ihrer Hand. »Kannst Du nicht bei mir bleiben? Du weißt: ich mache keine Bedingungen. Alles, was Du mir gibst, ist ein Geschenk. Ich empfinde es als Gnade, für die ich sehr, sehr dankbar bin.«

Er hatte ganz leise gesprochen, als scheue er davor zurück, die eigenen Worte zu hören.

Sie hätte sich am liebsten ihm um den Hals geworfen. Statt dessen zwang sie etwas, zu sagen: »Agnes ist die Herrin hier, und sie sieht mich nicht sehr gern.«

Da schwieg er und nahm auch das Thema nicht wieder auf. –

»Finden Sie nicht, daß mein Vater leidend aussieht?« fragte Hilma am Abend ihren Tischnachbar.

Es war Rode. Der blickte ein paar Sekunden nach dem Hausherrn. Dann bemerkte er: »Viernau hat den wunden Blick eines fein organisierten Menschen, dem die Lebensfluten über seine Kraft gegangen sind.«

In der Nacht, als Hilma eben die Flämmchen in den von der Decke hängenden Glockenblumen ausgedreht hatte und sich anschickte, einzuschlafen, klopfte es an ihre Tür.

»Ich bin es!« sagte Agnes.

Hilma wollte Licht machen, aber Agnes wehrte. Im Dunkeln setzte sie sich auf Hilmas Bett.

»Was hast Du für prachtvoll dichtes Haar, Du Krauskopf! – Hilmar sagt, Du wollest wieder fort! Ist das wahr?«

»Ich fürchte: ich muß.«

»Warum denn nur, um Gottes willen?!«

Das klang ehrlich empört.

»Ich fürchte so sehr, Dir lästig zu werden.«

»Ach was, fürchten! Immer fürchten! Du bist ja der reine Angsthase! Nicht lästig, sondern nötig bist Du mir, wenn Du es wissen willst. Dein Vater ist nämlich von der fixen Idee besessen, es müsse Dir schlecht gehen, sowie er Dich nicht bei sich hat. Es ist ja verrückt, aber er läßt sich's nicht ausreden. Eine schöne, intelligente Person, wie Du, kann natürlich überall ihr Glück machen. Das sieht er nicht ein. ›Ihr hat die Sonne gefehlt,‹ sagt er. ›Na, Du wirst sie ihr auch nicht schaffen,‹ hab' ich ihm geantwortet. So ein schwermütiger Pessimist, wie er! Aber ich weiß: er fällt mir ganz zusammen, wenn Du wieder fortgehst. Und warum sollen wir uns nicht vertragen? Ich habe meine Nerven, natürlich, und meine Unausstehlichkeiten, das ist mal so bei uns Künstlern, – aber um die mußt Du Dich nicht kümmern. Die Hauptsache ist, daß er hat, was ihn freut, und das bist Du. Sei also ein braves Mäderl und gib mir einen festen Kuß, – so, – und halt bei uns aus.« –

So kam es, daß Hilma sich für den Vater entschied.

Seit sie Agnes auf der Bühne gesehen hatte, bewunderte sie sie staunend. Besonders die Nora hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. Hilma hatte das Stück noch nicht gekannt. Nun brachte Agnes den Geist der Dichtung so überzeugend zum Ausdruck, daß man unwillkürlich die Gedanken des Dichters für ihre eigenen hielt.

Und doch erlebte Hilma gerade im Anschluß an diese Nora-Vorstellung einen Auftritt, in dem Agnes wenig Ibsensche Größe an den Tag legte.

Agnes pflegte im Bett zu frühstücken und dabei die letzten Theaterkritiken zu lesen, die ihr ein Bureau stets vollzählig zuschickte.

Eines Tages, als eben die Glocken der alten Stadtkirchen draußen die Mittagsstunde verkündeten, kam sie bleich vor zorniger Erregung in das Zimmer, in dem der Vater mit Hilma über einer Mappe Klingerscher Radierungen saß.

Sie trug das rote Morgengewand von japanischer Crepeseide und das Haar gelöst, wie Hilma sie zuerst gesehen hatte. Und auch heute ließ das zu beiden Seiten wie Gardinen herabhängende Haar das Gesicht schmal und kinderhaft erscheinen und ließ das leuchtende Rot die blonde Haut in perlmutterähnlichem Weiß schimmern.

Agnes legte die zur Faust geballte Hand zwischen Vater und Tochter auf den Tisch, ohne des Bildes zu achten, das hier lag, und sagte:

»Läßt Du Deine Frau öffentlich beschimpfen und der Lächerlichkeit preisgeben?«

Der Vater entgegnete ruhig: »Wer hat das getan?«

Er sah sie nach dem ersten flüchtigen Aufblick, als sie eingetreten war, gar nicht an, lehnte sich aber in den Sessel zurück, wie jemand, der sich bereit macht, etwas über sich ergehen zu lassen, was Geduld erfordert.

Agnes antwortete: »Ein impertinenter Judenjunge behauptet, ich sei für die Nora zu alt und nicht mehr ›grazil‹ genug. So eine gemeine Lüge! Meine Nora ist eine Leistung, die mir so leicht keine nachmacht, und wenn diese Idioten nur ein Fünkchen wahren Kunstsinns hätten, würden sie dem Himmel auf den Knien danken, daß sie mich haben. Aber dem Herrn Isidor Mai und seinen würdigen Genossen ist ja die dümmste Gans von achtzehn Jahren lieber als eine reife Künstlerin.«

»Ja, das können wir aber doch nicht ändern,« sagte der Vater. »Der von seiner Sinnlichkeit beherrschte Mann wird immer mehr auf das Weibchen achten, als auf die menschliche Persönlichkeit im Weib.«

»Ich lasse mir das aber ein für allemal nicht bieten,« rief Agnes mit kaltem Zorn, und sie war prachtvoll, wie sie da hoch aufgerichtet stand.

»Ich war brillant zurechtgemacht und sah aus wie zwanzig! Jeder Unparteiische wird mir das ohne weiteres zugeben. Mein Geburtsdatum geht keinen etwas an. Auf der Bühne bin ich nicht, was ich bin, sondern was ich scheine. Hinter diesem schmierigen Zeitungsjuden stecken aber andere, die ihn bestochen haben. Sie wollen mich in das Fach der Mütter drängen, um die kleinen Anfängerinnen hoch zu bringen. Darum schreiben sie jetzt so lange, ich sei alt geworden, bis man es glaubt. Als ob das Alter bei einer großen Künstlerin irgend eine Rolle spielte?! Ist die Sara Bernhard etwa jung? He? Und der sollte mal einer sagen, sie sei zu alt für die Nora oder die Julia!«

In dieser Tonart ging es fort.

Als sie endlich abbrach, fragte der Vater: »Was willst Du also dagegen tun?«

»Ich? – Du sollst etwas tun! Wozu habe ich denn einen Mann?«

»Also, was soll ich tun?«

»Hingehen und dem indiskreten Frechling eine Ohrfeige geben.«

»Und dann?«

»Dann? – Noch eine.«

Der Vater schüttelte den Kopf und sagte lächelnd: »Einen anständigen Menschen würde ich nicht ohrfeigen und einen unanständigen erst recht nicht, denn man beschmutzt sich die Hand.«

»Dann sag ihm wenigstens gründlich Deine Meinung.«

»Über was?«

Agnes stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf.

»Sei kein Dickhäuter, Hilmar! Du weißt ganz gut, was Du zu sagen hast, um ihm das Handwerk zu legen. Sag ihm, er möchte nicht versuchen, ein zweites Mal Niederträchtigkeiten über Deine Frau in die Welt zu posaunen.«

Der Vater zog die Brauen humorvoll hoch und zuckte mit den Achseln. Er sagte: »Daß er Dich nicht jung aussehend findet, soll ich eine Niederträchtigkeit nennen? Er würde mir doch einfach antworten: ›Mein Herr, Sie sind Partei, die Liebe macht Sie blind.‹ Das könnte Isidor sagen.«

»Herr des Himmels, warum hast du denn eigentlich Männer geschaffen?!« rief Agnes, die Arme in etwas theatralischer, aber schöner Geste emporhebend.

»Hauptsächlich wohl als Folien für Euch,« entgegnete der Vater.

Zu Hilmas Staunen schien ihn ihre Empörung zu belustigen.

»Nun, da ich keinen Mann habe, sondern einen Klumpen Phlegma,« fuhr sie fort, indem sie ihn offenbar durch verletzende Geringschätzung aus seiner Gelassenheit herauszureizen suchte, »so muß ich mich selbst wehren. Diesen Isidor werde ich vernichten! Keines von unseren anständigen Blättern soll ihm mehr seine Spalten öffnen. Er soll meine Macht fühlen, der infame Bengel.«

Jetzt rückte sich der Vater gleichsam zusammen – er wurde ernst, sah sie auch, seit sie ihre Klage führte, zum erstenmal an.

»Der junge Mensch hat vielleicht eine zärtlich geliebte alte Mutter, die er erhält.«

Da lachte aber die schöne Frau voll Hohn.

»Nimm auch noch für den Verleumder Partei! Das sieht Dir gleich! Meinetwegen kann dieser Isidor sieben Mütter und ebensoviele Großmütter und Tanten erhalten. Was geht das mich an? Wenn er nicht sicher steht, soll er sich hüten, berühmte Künstlerinnen mit seinem Dreck zu bewerfen.«

»Und wenn es Dir gelingt, den armen Tropf fortzuintrigieren, so sagt morgen irgend ein anderer dasselbe. Es gibt nur eine eines Künstlers würdige Antwort auf ungerechte Urteile, immer wieder muß ich Dich daran erinnern: die Widerlegung durch die Tat. Wir wollen die Nora noch einmal zusammen lesen! Es wird Dir leicht werden, durch neue Feinheiten neu zu fesseln, und dann fragt keine Katz nach Herrn Mais Ansicht. Vielleicht warst Du das letzte Mal nicht ganz auf der Höhe deiner Nerven?«

Sie entgegnete verächtlich: »Ich spiele die Nora noch im halben Schlaf besser als die anderen, wenn sie ihr Äußerstes leisten.«

Wie eine beleidigte Königin zog sie ab, und die lange, rote, weiche Schleppe schleifte hinter ihr her.

Hilma hatte sich längst in ein Mauseloch gewünscht, so schämte sie sich für den Vater ihrer Zeugenschaft.

Sie wagte den Blick nicht zu erheben.

Da sagte er in gütigem Ton: »Du mußt dies nicht tragisch nehmen, Kind. So rasch wie der Zorn bei Agnes aufflammt, so rasch ist er verraucht. Und wer die Gunst der Menge nötig hat, um zu gelten, der kann nicht über ihr Urteil erhaben sein und auch nicht über ihre Schwächen.«

Leise, ohne aufzublicken, fragte sie: »War sie immer so?« Die andere Frage ihres Herzens: ›Und konntest Du sie doch so sehr lieben?‹ unterdrückte sie.

Er antwortete: »Etwas stürmisch war sie wohl immer. Es ist ihr Temperament.«

Sie dachte: ›Liebst Du sie nun wirklich so sehr?‹ – Es war die Frage, die sie sich hundertmal am Tage stellte. Denn täglich bemerkte sie Agnes' Launen, ihre naive Eitelkeit, ihren robusten Egoismus, ihre Rücksichtslosigkeiten.

Und daneben sah sie den Vater: geduldig, zartfühlend und von feinem Verstehen. Er schien ihr so innerlich vornehm, so leicht verletzbar!

Sie konnte sich die Leidenschaft dieses Mannes für diese Frau – eine Leidenschaft, die ihn für das ganze Leben aus seinen Bahnen gerissen hatte, die ihn pflichtvergessen und treulos gemacht hatte, angesichts der launischen, oft so rohen und kleinlichen Agnes schwer vorstellen, trotz ihrer künstlerischen Genialität. Einmal, als man abends mit den Hausfreunden plaudernd zusammensaß, äußerte der Vater etwas, was ihr auffiel.

Er sagte ziemlich lebhaft: »Eigentlich hat nur das Kind einen freien Blick für den Menschen. Das Urteil aller Erwachsenen ist verrenkt durch die Erotik.«

Fühlte er, daß sein Urteil »verrenkt« worden war?

Und dann fiel ihr wieder Rodes Ausspruch ein: »Er hat die wunden Augen eines feinorganisierten Menschen, dem das Leben über seine Kraft gegangen ist.«

Einmal bei der Abendunterhaltung im Salon kam man auf die Eitelkeit zu sprechen.

»Ich halte Eitelkeit für den Grundzug des menschlichen Charakters,« sagte Rode. »Sie ist das erste und letzte Motiv zu allem Tun und als solches von eminentem Wert. Der Hauptunterschied liegt darin, mit wieviel Unbefangenheit wir diesen nervus rerum zur Schau stellen. Es gibt kluge und einfältige, geschmackvolle und geschmacklose Leute, aber eitle und uneitle? Nein.«

Der Vater entgegnete: »Eitel erscheinen immer die ihrer selbst nicht Sicheren. Sie wollen sich im Urteil der anderen vorteilhaft gespiegelt sehen, um an sich selbst glauben zu können; denn dies nicht zu können, ist eines der quälendsten Übel.«

»Dies Übel habe ich niemals kennen gelernt!« rief Agnes fröhlich. »Ich bin auch nicht eitel.«

Hilma hörte es mit Verwunderung.

›Wie wenig sie von sich weiß!‹ dachte sie. Agnes sagte: Ich, ich, ich. Alles brachte sie sofort in Beziehung auf ihre Person. Wo das nicht anging, langweilte sie sich.

4.

Ein ungeheuerliches Phantom war die Riesenstadt!

Unter der Million Menschen, die sich in diesem Straßenlabyrinth durcheinander schob, ereignete sich zu jeder Stunde etwas Aufregendes. Irgendwo war immer etwas Neues zu hören oder zu sehen. In der Nacht wie am Tag siedete diese aus Tausenden von Begierden und Willensäußerungen sich brauende Lebensflut. Man beobachtete, man hörte, man kombinierte, – man gewöhnte sich das Staunen ab. Und man gewöhnte sich die Hast an.

Und doch gab es so viel gequälte Einsamkeiten in diesem menschlichen Ameisenhaufen! Und in diesem zusammengehamsterten Reichtum gab es die martervollste Armut, Armut, die mit hohlen Augen und eingefallenen, bleichen Wangen vor den prunkenden Schaufenstern stand, von Gier verzehrt, und in sich den Zündstoff häufte: Haß und Rachsucht.

Ja, dies furchtbare, außen funkelnde und innen schwärende Ungeheuer war die große Stadt!

Man brauchte hier gar nicht zu denken, fand Hilma, man wurde von selber klug. Das schwirrende, sausende Getriebe warf jedem die Urteile um den Kopf, daß er brummte. Beständig stiegen neue Künste, neue Ideen, neue Moden aus dem Hexenkessel herauf, wie Schaumblasen. Man fischte sie mit leichtgekrümmter Hand von der Oberfläche, um sie brühwarm zu verhandeln. Das Ganze war ein Markt, die Menschen Konkurrenten. Alles nur Vorstellbare galt nach seinem Marktwert, selbst die Religion.

Während der ersten Wochen schwamm Hilma mit Wonne in diesem Strom rastloser Lebendigkeit. In ihr erwachte die Lust, mitzutun, sich kräftig und erfolgreich zu betätigen. Man durfte nur nicht sinnen und träumen, sonst sah man Gespenster!

Nein: jetzt endlich, endlich wollte sie leben! Aufpassen, streben, handeln! Vor allem erst noch vieles, vieles lernen!

Sie ging fast jeden Abend ins Theater, ging tags in die Galerien und Museen, oft in Begleitung des Vaters, was das Schönste war, oft auch mit den Hausfreunden.

Unter diesen herrschte ein Ton, dessen Zwanglosigkeit von Horst gräßlich gefunden wurde und an die sich auch Hilma erst hatte gewöhnen müssen. Man sprach von den natürlichen Dingen auf die natürlichste Weise und verachtete alles Konventionelle. Eines Tages, zur Zeit, da die ersten Rosen in den Vorgärten blühten, machte Altenstein, der junge Dichter, Hilma in aller Seelenruhe in scherzendem Ton einen Liebesantrag. Vor wenigen Monaten noch hätte Hilma das als eine tödliche Beleidigung empfunden. Jetzt aber wunderte sie sich kaum. Sie antwortete ohne jede Empfindlichkeit mit den Worten einer neuen, jungen Dichterin, die es ihr angetan hatte:

»Mit nichten, guter Knabe;
nimmer bin ich eine Braut für Dich,
weil ich einen andern lieber habe.«

Der Dichter gab sich auch ohne weiteres zufrieden. Er dachte wohl: ›Nun, ist's nicht die eine, so ist's eine andere.‹

Aber auf Hilma wirkte das kleine Erlebnis nachhaltiger, denn es hatte ihr das Bild des fernen Geliebten mit einem Male wieder ganz nahe gebracht. Wie wenig hatten ihr die vergangenen Wochen Zeit und Raum gelassen, an ihn zu denken!

Nun auf einmal durchzuckte sie die Erinnerung an die schönsten, süßesten und heißesten Augenblicke ihres Daseins, und die Sehnsucht krallte sich fest, daß sie es wie körperlichen Schmerz empfand.

Er war ja nun wieder an seinem Hof und hatte jedenfalls von ihrer Flucht zum Vater gehört und daraus geschlossen, daß sie ihn aufgegeben habe.

Und dann hatte ihm sein Onkel, der Fürst, den Verzicht vorgelegt, den sie geschrieben.

Sie sah deutlich sein blondes Gesicht, dem das Lächeln so natürlich und so reizend stand, erblassen und bekümmert blicken. Ach, und mit diesem bekümmerten, sorgenden Blick liebte sie es ja doch noch tausendmal mehr!

Aber nun war das aus.

Im Sommer, als die Theaterferien begannen, reiste Agnes mit einigen Freunden und sehr vielen Koffern nach Scheveningen, wo sie eine kleine Villa besaß.

»Ich nehme Dich mit, wenn Du magst,« sagte sie zu Hilma.

»Ich möchte lieber mit dem Vater in den Wald,« erklärte diese.

»Ganz wie Du willst,« sagte Agnes ohne Empfindlichkeit. »Aber Du stehst Dir selbst im Licht. Meinem Mann gefällt es, wie ein Bauer in einer primitiven Mühle zu hausen. Du hörst und siehst dort nichts. In Scheveningen dagegen trifft man die Creme der internationalen Welt, man sieht entzückende neue Toiletten und hört täglich die erstklassigsten Konzerte.«

Aber weder die ›Creme der internationalen Welt‹, noch die ›entzückenden‹ Toiletten, noch die ›erstklassigsten‹ Konzerte konnten Hilma verlocken.

Sie gehörte zu ihrem Vater, – nicht zu seiner Frau.

Ihre Entscheidung beglückte den Vater offenbar, doch war er besorgt, sie möchte den gewohnten Komfort vermissen.

»Wenn Du Dir nur keine falsche Vorstellung machst,« sagte er. »Meine Mühle liegt sehr einsam, und man lebt dort sehr einfach.«

»Ach, ich sehne mich ja so sehr nach dem Land und seiner grünen Stille!« rief sie.

Mit der Sommerhitze, dem Staub und den widerlichen Ausdünstungen war die Riesenstadt abstoßend häßlich geworden. – –

Nun saßen sie auf einer Bank von rohem Holz unter raunenden Tannen und tranken köstliche Milch und aßen grobes schwarzes Landbrot dazu, wie die Müllerin es buk.

Rings duftete es nach Harz und Moos, und wenn man still war, hörte man fern im Wald den Specht an morsche Stämme pochen. Wo der Tann abgeholzt war, färbten sich die Hänge mit zartem Rosenrot, den Blüten der Weidenröschen.

Vater und Tochter waren die einzigen Gäste, denn die Mühle war nicht bekannt. Der Vater hatte sie einmal auf einer Wanderung entdeckt.

Das enge Waldtal folgte dem gewundenen Lauf eines Bergwassers. Neben dem Bach und ihn häufig überbrückend, lag das schmalspurige Geleise einer kleinen Gebirgsbahn. Wenn die seltenen Personenzüge vorbeifuhren, winkten gutgelaunte Reisende mit den Taschentüchern, und Hilma winkte fröhlich Antwort.

Solange sie denken konnte, hatte sie noch nie so köstliche Ruhe, so tiefen Frieden genossen, wie hier im Waldtal allein mit dem Vater. Sie fühlte sich von einem Tag zum anderen gesunder, kräftiger, frischer werden.

Auch der Vater verlor die ungesunde, gelblichbleiche Stadtfarbe, sein Gesicht bräunte sich kräftig, und immer seltener gewahrte sie in seinen Augen den »wunden« Blick.

Eines Tages waren sie morgens fortgegangen und weiter als sonst gewandert, hügelan, stundenlang durch Tannenwald.

Endlich hörte der Wald auf. Sie traten auf eine angebaute Hochfläche hinaus, mit Feldern, Wiesen, kleinen Dorfschaften.

Es war ein sonnenheißer Julitag. Die ganze Landschaft vor ihnen lag in Licht gebadet, hell und zart alle Farben, blaßblau schimmerten jenseits am Horizont die Waldberge, der Staub der Landstraßen leuchtete so weiß, daß die darüber fallenden Baumschatten blau aussahen, wie auf sonnigem Schnee.

Ein kleines Dorf lag vor ihnen. Eingebettet in breiten Linden lagen die roten Ziegeldächer, darüber der Kirchturm. Die von Ebereschen eingefaßte Fahrstraße, die gerade darauf zuführte, lockte zum Weiterschreiten.

Und obwohl es nahe an Mittag war, litten sie nicht unter der Hitze, so rein und köstlich strich die Luft über die weiten Felder.

Dennoch erschien ihnen das in seinem Lindenschatten liegende Dörfchen wie eine winkende Oase.

»Wir werden dort einen Brunnen finden und einen Schluck Wasser,« sagte Hilma. »Kannst Du aus der Hand trinken, Papa?«

Er lachte über die Frage. »Wenn ich das nicht könnte! Ich bin nicht mein Leben lang Stadtmensch gewesen.«

Manchmal war ihr jetzt, als sei er ganz jung!

Die Linden vor dem Dorf blühten noch und dufteten. In ihrem Schatten waren zwei Burschen mit dem Zerkleinern von Wurzelknorren beschäftigt, prächtige, kraftvoll geschmeidige Gestalten, blond und gebräunt, von Gesundheit strotzend. Aus ihren blauen Augen lachte jugendliche Daseinslust, als sie jetzt in der Arbeit innehielten, um die fremden, städtisch gekleideten Wanderer zu betrachten.

»Heut macht die Arbeit warm!« sprach der Vater sie an.

»Ja, mer kriegt Durst auf Bier,« antwortete der eine lustig.

»Wasser ist besser als Bier,« entgegnete der Vater und lenkte dem Dorfbrunnen zu, der nahebei sein Quellwasser mit anmutigem Plätschern in einen Steintrog rinnen ließ.

»Na, Wasser is nix,« sagte der Bursche, der erst gesprochen hatte, »das gibt kei Kraft net. An Bier, das gibt fein Kraft.«

»Das glaubt man,« belehrte der Vater, »'s ist aber nur grad für eine Viertelstunde, dann ist das Kraftgefühl hin.«

Da sagte der andere Jüngling mit weiser Überlegenheit: »Na, na, Herr! Das Bier, das hat Prozente, und die kommen halt wieder in den Menschen.«

Dies Argument schien den Vater besiegt zu haben; er stritt nicht dagegen an, sondern wandte sich dem Brunnen zu und beugte sich über den Wasserstrahl, den seine Hand auffing; aber seine breiten Schultern bebten, als schüttle ihn verhaltenes Gelächter. Noch nie hatte ihn Hilma so heiter gesehen.

Während er sich labte, fragte sie nach dem Namen des Dorfes, und als ihn die Burschen nannten, war sie davon seltsam betroffen.

Diesen Namen hatte sie irgendwann schon gehört und zwar in einer Verbindung, die nichts ganz Gleichgültiges gewesen sein konnte. Sie suchte scharf in ihrem Erinnern.

Was war nur damit? Was war es doch?

Und auf einmal hatte sie es gefunden: Es war der Name des Pfarrdorfs, nach dem Herr Lampert von Zollbrück aus versetzt worden war.

»Wie heißt der Pfarrer hier?« fragte sie gespannt.

»Unser Pfarr' heißt Lampert.«

Da jubelte sie auf: »Dann ist es mein alter Lehrer!«

Die jungen Leute mußten ihnen den Weg zum Pfarrhaus weisen.

Mit Worten, die vor frohem Eifer einander jagten, erzählte Hilma dem Vater von den griechischen Stunden, den Spaziergängen zu viert und den religionsphilosophischen Unterhaltungen.

»Als wir klein und unartig und dumm waren, der Horst und ich, nannten wir ihn den ›Feind‹ und taten ihm jeden Schabernack an. Später ist er mein allerbester Freund geworden.«

Über den Ausgang dieser Freundschaft schwieg sie.

Der Vater hörte ihren Erzählungen mit mehr als Teilnahme zu. So begierig nahm er jede ihr früheres Leben betreffende Mitteilung auf, als sei es Lebensnahrung für ihn.

Das Pfarrhaus war klein und bescheiden, wie das ganze Dörfchen.

Als sie von der Gasse aus in den Hausflur traten, öffnete sich sogleich eine Zimmertür; der Pfarrer spähte nach den Eindringlingen.

Fassungslos, den Türgriff in der Hand, stand Lampert vor Hilma und starrte sie an, als sähe er einen Traumspuk.

Er trug ein joppenartiges Hausröckchen von Grasleinen, sein lichtblondes Haar war offenbar ziemlich lange nicht geschnitten, so daß es lockig über die gewölbte Stirn fiel, um Mund und Kinn sproßte krauses rötliches Barthaar. Seine Hautfarbe war ganz hell geblieben. Hell und klar war auch noch der Blick der gewölbten blauen Augen. Man meinte diesen Augen anzusehen, daß nie ein unreiner Gedanke die hinter ihnen wohnende Seele überschattet hatte.

Jetzt errötete er langsam, wie Hilma es an ihm kannte. Wie gern hatte sie einst durch einen verwegenen Scherz dies mädchenhafte Erröten hervorgerufen! – Strahlend vor Wiedersehensfreude begrüßte sie ihn und machte ihn mit dem Vater bekannt.

»Nun bitte, sagt: ist das nicht wie in einem Märchen?« rief sie aus. »Nichts geahnt haben wir, nichts gesucht, als wir auszogen, und Sie haben wir gefunden!«

»Haben Sie Familie?« fragte der Vater. »Oder hausen Sie hier ganz allein?«

Wieder errötete Lampert: »Meine Mutter führt mir den Haushalt. Sie ist Witwe.«

»Dürfen wir sie nicht begrüßen?« fragte Hilma.

»Sie wird sich herzlich freuen, – aber« – er senkte den Blick, – »sie ist eine einfache Frau, eine Bauerntochter. Mein Vater war Dorfschulmeister.«

»Sie ist Ihre Mutter,« entgegnete Hilma warm, »alles andere ist ganz Nebensache.«

Da ging der Pfarrer, die Mutter zu holen.

Sie standen in dem Studierzimmer. Hilma bemerkte, daß eine kleine Photographie, die sie als Kind darstellte, im Rähmchen auf seinem Schreibtisch stand. Des Vaters Blick ruhte nachdenklich auf der Tochter.

»Wie Du lebendig geworden bist!« sagte er. »So habe ich Dich noch nicht gesehen. Macht Dich die Stadt so still oder sind wir es?«

Sie hätte antworten können: ›Ich muß still sein, wo ich mich nicht heimisch fühle, – und doppelt still neben Agnes, die es nicht liebt, wenn man mich sehr beachtet.‹

Aber statt dieses sagte sie nur: »Das machen alle die gemeinsamen lieben Erinnerungen. Es ist so köstlich!«

»Ja, die gemeinsamen Erinnerungen,« wiederholte er traurig.

Sie sah ihm an, daß er dachte: ›die zwischen uns leider fehlen.‹

Ihr schien oft, als sei der Vater so voller verwundeter Stellen, daß jede achtlose Berührung ihm Schmerz bereitete.

Die Frau Kantor Lampert kam und hieß die Gäste in würdevoller Weise willkommen.

Man sah ihrem guten Gesicht an, daß sie ihr ganzes Leben lang schwer gearbeitet hatte, und den vollen weißen Scheiteln, daß sie früh gealtert war. Sie trug bäuerlich schlichte Kleidung, über dem vortretenden Leib eine faltige bunte Kattunschürze, aber alles von der peinlichsten Sauberkeit.

Man merkte ihr an, daß sie sich am liebsten nicht in die Unterhaltung mischte; ihre aufmerksamen Augen folgten jedoch stets dem Sprechenden und strahlten in glücklichem Mutterstolz bei allem, was der Sohn sagte.

Bald entfernte sie sich wieder und lud nach einer kleinen Weile zum Mittagessen ein.

»'s ist ja nicht, wie Ihr Gewöhntes,« sagte sie, »aber Sie müssen mir schon die Ehre antun. Eine Stärkung nach dem langen, heißen Weg ist Ihnen nötig.«

Im Wohnzimmer war der Tisch gedeckt, nicht mit Damast, aber mit selbstgesponnenem Linnen, das Geschirr war grob, äußerst einfach. Die Hausfrau saß nicht mit am Tisch, sondern ging ein und aus, trug die schmackhaften Gerichte herbei, nötigte eifrig zum Essen.

Hilma hatte ihr helfen wollen, – der Pfarrer hielt sie mit bittendem Blick zurück.

»Sie würden sie nur in Verwirrung setzen!«

Hilma fühlte, daß ihm der bäuerliche Zuschnitt der Mutter und des Hauswesens ihr gegenüber nicht ganz angenehm war. Aber ihrer offenen freien Art gelang es bald, diese Schwäche in ihm zu überwinden. Nach dem Mahle führte Lampert seine Gäste durch den Pfarrgarten, auf dessen Rabatten wunderlich altmodische Blumen blühten: zitronengelbe Rosen, Rittersporn, brennende Liebe usw.

Es gab auch eine Rosenlaube mit Holzbänken, und hier saßen Hilma und Lampert, während der Vater auf des Pfarrers Sofa etwas ruhte und die Frau Kantor einen Vesperkaffee vorbereitete.

Auch Hilma wurde müde. Die Müdigkeit, die Wärme, der Zauber dieses idyllischen Landfriedens und die Nähe eines feinsinnigen Mannes, der sie von klein auf kannte und der sie liebte, das alles gab ihrer Stimmung eine große Weichheit.

›Dies könnte mein Heim sein!‹ mußte sie denken.

Die Vorstellung, Lamperts Frau zu sein, beleidigte sie gar nicht mehr.

Aber was half's? Der andere war vorhanden, und niemals würde sie vergessen können! –

»Ihre Mutter ist so stolz auf Sie,« sagte sie, »jedem ihrer Blicke sieht man es an, daß Sie ihr ganzes Glück sind.«

Da erzählte er, wie arm sein Vater gewesen sei, dabei von schwächlicher Konstitution, »ein Idealist und geistig seine Umgebung weit überragend«. Wie seine Mutter sich abgearbeitet habe für Mann und Kinder, wie sie es nach des Vaters frühem Tod unter schweren Opfern durchgekämpft habe, ihn studieren zu lassen. Er habe noch eine Schwester, die an einen Pächter verheiratet sei, berichtete er auf ihr Befragen.

Während er so von den Entbehrungen seiner Jugend erzählte, – es waren freilich nur materielle Entbehrungen gewesen! – mußte sie daran denken, wie unausgewachsen und knabenhaft schwächlich er einst in das Zollbrücker Herrenhaus gekommen war, und wie der Onkel Gustav gesagt hatte: ›der sieht aus, als ob er sich noch nie richtig satt gegessen hätte‹.

»Jetzt vergelten Sie Ihrer Mutter alle Opfer,« sagte sie warm.

Er entgegnete: »Einer Mutter kann man nie alles vergelten. Und die meine gibt fort und fort sich selbst ganz. Da kann man nur in Demut danken.«

»Ja, aber es gibt auch lieblose Mütter,« sagte sie traurig. –

»Um ihr Kind gelitten hat doch jede,« wandte er ein.

»Verpflichtet uns schon das?«

»Ich glaube, ja.«

Es fiel ihr auf, daß er sich abgewöhnt hatte, sich bei jeder Gelegenheit auf Worte der Schrift zu berufen.

Auf dem Heimweg begleitete der Pfarrer seine Gäste ein langes Ende Wegs.

Er hatte noch den etwas unruhigen, wiegenden Gang, von dem die Zollbrücker bemerkten: ›wie ein Tanzmeister geht unser Herr Kol'brater‹, obwohl sie doch gewiß nie einen Tanzmeister gesehen hatten. Hilma dachte: ›er geht, als bewege er sich zu einer in seinem Inneren klingenden Musik.‹

Erst als der Waldweg talwärts zu führen begann, entschloß sich Lampert umzukehren.

»Gott hat mir heut' einen Festtag geschenkt,« sagte er.

»Uns!« ergänzte Hilma.

Als sie dann ohne ihn weiter waldeinwärts gingen, im Schatten alter Tannen, sagte der Vater: »Ich wünschte, Du sprächest so frei und vertraulich zu mir, wie Du es heute zu dem Pfarrer getan hast.«

Sie entgegnete: »Das ist, weil er mich schon gekannt hat, als ich ein Kind war.«

Aber gleich fühlte sie, daß sie wieder eine der wunden Stellen berührt hatte. Um durch Vertrauen das gut zu machen, fügte sie schüchtern hinzu: »Er hat mich einmal heiraten wollen.«

»Ja,« sagte der Vater, »man merkt ihm an, daß er es auch heute gern tun würde. Aber er ist zum Heiraten nichts.«

Sie fragte verwundert: »Warum nicht?«

»Weil er krank ist. Dieser auffallende Farbenwechsel und der fiebrige Glanz der Augen sind verdächtige Anzeichen. Er wird nicht alt. Wahrscheinlich ist er in den Entwickelungsjahren ungenügend ernährt worden und hat sich mit Studieren überanstrengt. Das kommt so häufig vor. Er steckt ja ganz voll von theologischer Gelehrsamkeit, viel mehr als ein Dorfpfarrer davon nötig hat.«

»Du glaubst, er wird nicht alt?« fragte sie erschrocken.

»Ja. Und es tut mir für seine Mutter leid. Das ist eine von den Frauen, die gar nicht wissen, was es heißt, sich selbst leben.«

»Wenn sie aber den, für den sie lebt, wirklich verliert?« fragte Hilma ernst. »Was dann?«

Er bewegte den Kopf wie einer, der in seinen Gedanken keinen Ausweg findet, und schwieg.

Sie aber mußte weiter an die Frauen denken, die ihre eigene Menschenpersönlichkeit ganz auslöschen, ganz in anderen aufgehen, und damit so abhängig von diesen anderen werden, daß sie, wenn das Geschick ihnen die nimmt, hilflos im Leeren stehen, verzweifeln oder in Stumpfheit versinken müssen.

›Nein, das kann das Rechte nicht sein,‹ dachte sie. ›Gewiß sollen wir lieben und anderen zuliebe leben, aber nicht, weil wir nicht anders wissen und können, sondern weil wir es wollen. Wissen und wollen müssen wir das Gute. Nicht aus unserer Schwäche heraus wollen wir dienen, sondern aus unserer Kraft. Das ist so gewiß wahr, wie ... wie das braune Eichkätzchen dort an der Tanne hinaufläuft.‹

»Sieh, Papa, das reizende Tier!« rief sie entzückt.

Die Abendsonne warf lange, schräge Lichtstreifen zwischen den alten Stämmen hin in den Waldschatten, wie durch die schmalen hohen Fenster gotischer Dome. Hier und dort erglühte in ihrem Strahl ein Fleckchen smaragdnes Moos, palmenwedelgleiches Farnkraut, feines, weiches Waldgras, oder irgend ein Wipfel erglänzte rötlich. Das Abendlicht trieb sein Spiel im Wald wie ein Kobold.

Vater und Tochter waren still geworden. Hand in Hand gingen sie durch den wonnevollen Abendfrieden, dem alle dunkeln Gedanken und Sorgen weichen mußten.

5.

An einem Nachmittag saß Hilma mit einem Buch nahe ihrer Mühle unter einer riesigen Weide am Bach. Der Vater hielt im Zimmer sein gewohntes Nachmittagsschläfchen.

Auf dem Schienengeleise jenseits der Fahrstraße stand ein kleiner Kieszug, und Streckenarbeiter, auf den Loren stehend, warfen mit ihren Schaufeln Kies zwischen die Schwellen. Sie schaufelten stetig und stumm; immer wenn ein Steinchen gegen das Eisen der Puffer fiel, gab es ein ganz helles, feines Klingen, wie der Klang geschliffener Gläser; das begleitete die Arbeit mit einem leisen Geläute.

Heiß und still war es, man hörte das Gesumme der Insekten.

Hilma konnte nicht lesen, sie träumte.

Da kam der Landpostbote, bemerkte ihr helles Kleid unter dem Weidenbaum und brachte ihr zwei Briefe.

Die Adresse des einen war von des Prinzen Hand geschrieben.

Sie riß den Umschlag auf und las.

Der Prinz begann mit Vorwürfen. Er habe ihrer stets gedacht im fernen Indien, in China und Japan. Auf der Heimreise sei ihm kein Schiff und kein Bahnzug schnell genug gefahren, so habe er sich ihr entgegengesehnt. Sie aber habe ihn treulos im Stich gelassen, um sich anderen Göttern zuzuwenden. Ob sie nichts mehr von ihm wissen wolle? –

Er müsse sie unter allen Umständen wiedersehen und habe alles für ein Zusammentreffen vorbereitet, nachdem er zuerst ihren Aufenthalt erkundet. Ein zuverlässiger Freund, der Graf U., besitze ein Schloß in nicht zu weiter Entfernung, sie könne es in wenigen Stunden Eisenbahnfahrt erreichen. Sie solle Gast der Gräfin sein, unter deren Schutz usw.

 

»Ich gebe Dir mein Wort, daß Deine Ehre und Dein Ruf nicht angetastet werden sollen. Nicht mit einem Finger will ich Dich anrühren, wenn Du es nicht willst. Aber sehen und sprechen muß ich Dich. Die Einladung der Gräfin (die eine scharmante Frau ist und Dir gefallen wird), muß gleichzeitig mit meinem Brief in Deine Hände kommen. Diese kannst Du Deinem Vater zeigen, aber mich erwähne nicht. Überhaupt bitte ich Dich dringend, Deinem Vater und Bruder von unserem Verlöbnis nichts zu sagen, ehe dasselbe nicht in ein anderes Stadium getreten ist. Sie würden uns, die wir ohnehin übel genug daran sind, nur noch ihrerseits Schwierigkeiten machen. Liebst Du mich nicht mehr, so ist mir alles gleich, und ich tue alles, was sie wollen, heirate selbst die häßliche Prinzessin Anna, die sie mir ausgesucht haben. Aber dann glaube ich auch an nichts mehr und werde ein schlechter Kerl. Deshalb: wenn Du mich noch lieb hast, komm nach der Marisburg.«

 

Der andere Brief war die Einladung der Gräfin U., ein paar Tage auf der alten romantischen Marisburg zuzubringen, wo einige von Hilmas alten Freunden aus Amalienruhe sich so sehr freuen würden, sie zu sehen.

Hilma war sofort entschlossen.

Der sehnsüchtige Ruf des geliebten Mannes kam wie eine unmittelbare Antwort auf ihr eigenes, in dieser träumerischen Sommerstille neuerwachtes Sehnen.

Sie wußte auch: die Gräfin U. war eine vornehme Dame, die sich gewiß für keinen anderen zur Vermittlerin eines heimlichen Wiedersehens hergegeben hätte; aber der Prinz hatte es an sich, daß man ihm mehr als anderen zu Gefallen tat. Das hatte sie erfahren.

Sie mußte heute noch eine Depesche auf die Station befördern lassen und morgen reisen.

Eilig ging sie nach der Mühle, wo der Postbote noch saß und ein Glas Bier trank, denn der Müller hatte Schankgerechtigkeit. So konnte sie ihr Telegramm ihm mitgeben.

Als der Vater erschien, hatte sie bereits mit dem Müller die Fahrgelegenheit nach der Station beredet. Alles war in Ordnung.

Unter der Linde neben dem Haus tranken sie immer den Vesperkaffee. Das war behaglich und vergnüglich. Sie belustigten sich damit, den Mühlenspitz zu necken und die großen weißen Hühner mit Brotkrumen zu füttern.

Heute sagte Hilma, sowie sie dem Vater gegenüber am Kaffeetische saß: »Morgen muß ich Dich auf vier Tage verlassen, Papa!«

Erstaunt blickte er sie an. »So? Du mußt?«

»Ich will.«

»Wohin soll es denn gehen?«

Sie gab ihm den Brief der Gräfin.

Er las ihn langsam durch, sehr aufmerksam, wie sie an seinem gesenkten Gesicht sehen konnte. Dann gab er den Brief zurück.

»Kannst Du Dir denken, wer die Freunde aus Amalienruhe sind, die Dich sehen wollen?« fragte er langsam.

»Ja.«

»Kannst Du es mir sagen?«

Sie schwieg und fühlte mit Schrecken, daß sie dunkelrot wurde.

Wie leicht wäre eine Lüge gewesen! Dem Vater gegenüber brachte sie nicht einmal eine Ausflucht über die Lippen.

»Bitte, frage nicht,« sagte sie endlich. »Ich darf nicht antworten.«

Er sprach kein Wort weiter. Aber das sanfte Leuchten der Heiterkeit, das sein Gesicht während der letzten Wochen so wunderbar verjüngt hatte, war plötzlich erloschen. Wieder lag auf den lieben Zügen tiefer Schwermutsschatten, und die Augen hatten den ›wunden‹ Blick.

Sie machte sich gewaltsam hart gegen ihn. Hatte er sie nicht beinahe fünfundzwanzig Jahre lang im Stich gelassen um einer Liebesleidenschaft willen? Wie konnte er ihr vier kurze Tage mißgönnen?! Nein, sie erkannte ihm jedes Recht dazu ab. –

Ohne viel Worte nahm sie am nächsten Tage Abschied. Und vier Tage später kehrte sie schweigend von ihrem Ausfluge zurück.

Das Stillleben in der Mühle blieb äußerlich das gleiche. Innerlich war alles verändert.

Der Vater ging mit Hilma und sie mit ihm so behutsam um, als sei jedes ein Wesen aus dem zerbrechlichsten Glas. In der Unterhaltung lavierten sie beständig, aus Sorge, an irgend einen gefährlichen Stein zu stoßen. Sie täuschten einander Harmlosigkeit vor, aber weder die Vertraulichkeit, noch die Heiterkeit von vordem wollten sich wieder einstellen.

Der cholerische Spitz und die Hühner und die feierlichen Gänse, die sich im Abendschein auf dem kleinen Mühlenteich wie Schwäne gebärdeten, entlockten wohl noch Scherzreden und Lachen, nur blieb das Lachen gedrückt und der Scherz unfroh.

Auch ein zweiter Besuch im Pfarrdorf Lamperts, den sie diesmal nicht zu Fuß, sondern im Wägelchen des Müllers unternahmen, brachte die frohe Stimmung nicht zurück. Sie fanden den Pfarrer krank. Er lag zwar nicht zu Bett, aber fiebernd auf seinem Sofa. Trotzdem war seine Freude groß. Weder er noch die Mutter nahmen übrigens seinen Zustand ernst.

»Das hat er immer mal,« sagte die Frau Kantor. »Er ist von klein auf nicht kräftig gewesen.«

Hilma und der Vater saßen ein Stündchen bei dem Kranken, dessen Augen strahlten. Dann, um nicht das Fieber zu verschlimmern, fuhren sie zurück. Es war ein trüber Tag, der sich jetzt dem Abend zuneigte.

Die Sonne stand auf den untersten Sprossen einer zarten, grauen Wolkenleiter, die sich vom Scheitelpunkt des Himmels bis an den Horizont erstreckte. Sie stand bleich, strahlenlos, mit mattem Geleucht. Zerfetzte graue Wolken schwebten ihr entgegen, schienen verirrt und verängstet. Es war heute etwas wie Beunruhigung, wie Verstörtheit in der Luft. Die weiten stillen Felder lagen öde. Zwar trillerten auch heute Lerchen ihr helles, eintöniges Liedchen, – aber ohne den Jubel, der an sonnigen Tagen daraus tönt.

Vater und Tochter schwiegen, und der kleine Bauernwagen schüttelte sie fürchterlich.

Das Herz war beiden schwer. Ihre so innig verwandten Seelen suchten einander in scheuer Liebe, aber Berge des Verschweigens hatten sich zwischen ihnen aufgetürmt, und ihre tiefsten Erlebnisse lagen jenseits dieser Berge.

6.

Als mit dem September die Theaterspielzeit begann, fand sich alles wieder im Stadthaus zusammen.

Der Gartensaal oder die große Veranda, die sich ihm anschloß, versammelte an den freien Abenden der Künstlerin den gewohnten Freundeskreis.

Eines sommerlich warmen Oktoberabends saß die Gesellschaft in den bunten, niederen Korbsesseln auf der Veranda, von der einige weiße, wie Marmor blinkende Stufen hinab in den Garten führten.

Auf diesen Garten mit dem geschorenen Samtrasen, auf dem die Zypresse stand, den der rötliche Sandweg einfaßte, und auf dem stets, von kundiger Gärtnerhand gesetzt, die Modeblume der Saison blühte – jetzt japanische Astern, – war Agnes sehr stolz. Für die an weite, ländliche Parks gewohnte Hilma behielt er mit seinem schwarzen Schnörkelgitter, hinter dem das Straßenleben schwirrte, etwas Vogelkäfigartiges.

Außer Dr. Rode, dem Dichter Altenstein und der Sabine Edelberg waren zwei männliche Kollegen Agnes' anwesend: Maxime, der Komiker, und der Heldendarsteller; dazu eine Malerin und eine junge Dichterin.

Die Malerin hieß Libussa Holgers und war durch Altenstein eingeführt worden als seine Freundin. Sie sah die Menschen an, wie man Bilder ansieht, und sprach fast gar nicht, schien sich dabei aber ausgezeichnet zu unterhalten. Ihr Anzug, der offenbar aus malerischen Gesichtspunkten zusammengestellt war, paßte nicht zu dem Typ seiner Trägerin und wirkte deshalb störend, obwohl er an sich schön war.

Wunderlicher noch sah die junge Dichterin aus, die sich Kornelia Assunta nannte. Diese schwärmte für Agnes und hatte unlängst ein Drama vollendet, »Frau oder Mann« betitelt, in dem eine sehr pikante Rolle für Agnes gedacht war, weshalb diese die Annahme des Stückes bei der Theaterdirektion befürwortete und die Autorin überhaupt unter ihre Flügel nahm.

Kornelia Assunta hatte eine schwarze Lockenmähne, die die Stirn fast ganz verdeckte und perückenhaft aussah. Sie wurde von einem goldenen Reif gekrönt. Mit ihren grünlich schillernden, etwas glasigen Augen und den gewundenen Bewegungen des binsenschlanken Körperchens glich Kornelia Assunta einer geheimnisvollen kleinen Schlangenkönigin.

»Weiß der Himmel, wo bei der Lunge, Leber, Magen und die anderen unerläßlichen Organe Platz haben!« sagte Sabine Edelberg nüchtern.

Ein amüsanter kleiner Hofskandal beschäftigte gerade die Gemüter. Eine Prinzeß war mit ihrem Liebhaber durchgegangen, um auf diese Weise die Erlaubnis zur Heirat mit ihm, der ein simpler Baron war, zu erzwingen. Natürlich würde den allerhöchsten Eltern nun nichts übrig bleiben, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und nachträglich ihren Segen zu geben.

Alle waren entzückt von dem Mut und der Rücksichtslosigkeit der jungen Fürstentochter, die ihre Liebe nicht der Politik hatte opfern lassen.

Nur der Vater widersprach.

Er sagte: »Hier steht ein Recht gegen das andere, und ich halte es gar nicht für ausgemacht, daß das Recht der Liebe jederzeit für das höhere gelten darf.«

»Aber Viernau!« rief man. »Welche Lästerung!«

Er fuhr fort: »Man vergißt gewöhnlich, daß die erotische Liebe viel mehr mit unserem Blut zu tun hat, als mit den Tiefen unserer Seele, daß sie fast immer auf Illusion beruht und eines Tages wie Seifenblasen sich in Nichts aufzulösen pflegt.«

Alles protestierte.

Dr. Rode sagte lächelnd: »Die Liebesleidenschaft weist ihre Legitimation als absolute Herrscherin deutlich genug vor, denn mit ewig gleicher elementarer Gewalt durchbricht sie immer wieder alle Bande, die ihr Gesetz und Klugheit angelegt haben. Sie ist und bleibt das Stärkste. Glaubst Du denn, es sei von ungefähr, daß jeder naive Mensch in jedem Fall auf seiten der Liebenden steht? Die Liebe ist Natur. Aber ich hätte mir bei Gott niemals träumen lassen, daß ich in die Lage kommen würde, hier, im Viernauschen Hause, solche unbestrittene Gemeinplätze aufzuwärmen!«

»Was ein Gemeinplatz ist, ist darum noch keine endgültige Wahrheit,« entgegnete der Vater. »Ich kann Dir übrigens auch mit einem Gemeinplatz dienen: Da wir längst nicht mehr im Naturzustand leben, sondern uns mehr oder minder organisch von diesem fortentwickelt haben, so sind wir genötigt, die natürlichen Leidenschaften im Sinne unserer Kultur zu bändigen und in Schranken zu halten. Dazu haben wir unsere Vernunft und unsere Erfahrung.«

»Sehr schön,« bemerkte Maxime, »nur daß die Liebe uns in dem Alter zu packen pflegt, dem die Erfahrung fehlt, die Erfahrung uns aber klug macht, wenn die Leidenschaften verglüht sind.«

»Darum eben sind die Eltern da, um für die Kinder Vernunft zu haben,« sagte der Vater lebhaft.

Agnes sah sich wie nach Hilfe suchend im Kreise um und rief: »Haltet mich, Kinder! Mir wird schwach. Der Hilmar bekommt auf seine alten Tage den Moralkoller!«

Rode lachte mephistophelisch. Ihm war eine Erleuchtung gekommen. »Wir haben halt jetzt eine Tochter,« sagte er halblaut. »Das erklärt den neuen Kurs. Ja, das erklärt vieles.«

»Er leidet an einem plötzlichen Anfall von Atavismus,« sagte Altenstein, »man sollte den Doktor holen.«

Die Unterhaltung nahm damit eine Wendung ins Scherzhafte, und ein wahrer Schauer von Neckereien prasselte auf den Vater herab.

»Was ist Atavismus?« fragte die kleine Schlangenkönigin, die das Drama »Frau oder Mann« geschrieben hatte.

Maxime, der Komiker, der im Alltagsleben immer schwermütigen Ernst zur Schau trug, antwortete ihr: »Das ist, wenn einer wieder auf allen vieren zu laufen anfängt.«

Darauf sagte Kornelia Assunta mit der ihr eigenen Inbrunst: »Man soll nach den Früchten der Erkenntnis greifen, wo irgend man sie fassen kann.«

»Nur nicht, wenn sie molsch sind,« entgegnete Maxime und verdrehte ekstatisch die Augen, um eine der ihren würdige Inbrunst zu markieren.

Hilma hatte auf einem kleinen japanischen Rohrsofa neben Sabine Edelberg gesessen und mit starrem Staunen dem Vater gelauscht.

Was bedeutete das mit einem Male?! Sein Urteil war hier stets das letzte und höchste gewesen, hatte den Ton beherrscht. Und nun sprangen auf einmal seine Worte wie von der Kette losgelassene bissige Hunde allem an die Gurgel, was sie bisher in diesem Hause vernommen und mit gläubigem Entzücken in sich aufgenommen hatte! Das Recht der Persönlichkeit, volle individuelle Freiheit im Denken, Glauben und Lieben, souveräne Selbstbestimmung usw., das war die hier herrschende Lehre, deren überzeugte Anhängerin sie geworden war. Das »Du sollst« und »Du sollst nicht«, was ihr von Kindheit an unablässig in den Ohren gedröhnt hatte, war hier verpönt gewesen. Jeder durfte »in Schönheit frei« sein. Jeder dachte und tat und sagte getrost, was er wollte. »Der Mensch darf, was er kann,« hieß das Moralgesetz dieser Künstler.

Und plötzlich kam der Vater wieder mit der Theorie der Bändigung!

Während sie also sich der Verwunderung und Verwirrung hingab, in die das Auftreten des Vaters sie versetzt hatte, redete Sabine Edelberg mit halber Stimme eifrig auf sie ein.

Sabine konnte Diskussionen über die Liebe keinen Geschmack abgewinnen. Während die anderen sich über »so abgedroschenes Zeug« ereiferten, erzählte sie von einer großen Frauenversammlung, die Hilma durchaus besuchen müsse: »Denn wir stehen am Vorabend einer Umwälzung, wie die Menschheit noch wenige gesehen hat. Die denkenden Frauen sind sich – endlich! – ihres vollwertigen Menschentums bewußt geworden. Demnächst werden sie sich nun organisieren, um sich in Geschlossenheit von der jahrtausendelangen, elenden Männerknechtschaft zu befreien. In England und Amerika sind sie bereits mit unerhörter Energie und entsprechendem Erfolg vorangegangen.«

»Ach wirklich?« sagte Hilma zerstreut.

»Passen Sie mal auf: das wird uns eine ganz neue Kultur heraufbringen,« fuhr die Edelberg eifrig fort, »denn, Sie begreifen, die in ihrer naturwidrigen Einseitigkeit so barbarische Männerkultur wird nun endlich durch den weiblichen Geist ihre notwendige Ergänzung erfahren. Sie kommen doch jedenfalls zu unserer Versammlung, Hilma?«

Diese sagte gedankenabwesend: »Ja.«

Ihr tönte Rodes sarkastische Bemerkung im Ohr: »Wir haben jetzt eine Tochter – das erklärt den neuen Kurs.«

Die anderen schienen die Worte überhört zu haben, in Hilma hatten sie allerlei geweckt, was nicht zur Ruhe kommen wollte.

War es wirklich das? Weil der Vater an seine Tochter dachte, verschoben sich auf einmal seine Ansichten über die wichtigsten Lebensprobleme? Oder hatte er vielleicht auch an die eigenen Erfahrungen gedacht?

Und was für einen Wert hatte denn eine Weltanschauung, die bei der ersten Probe auf das Exempel nicht Stich hielt? Ihr war, als sei alles um sie her ins Wanken gekommen.

Sie war verstimmt und zu nichts recht aufgelegt. Sie glaubte, daß der Vater irgendwie um ihre Liebesangelegenheit wisse und sie mißbillige. Seit jener Sommerfahrt nach der Marisburg fühlte sie sich ihm entfremdet.

Horst wollte seinen Oktoberurlaub in Zollbrück verbringen, an dessen jetzt vom weißen Herbstgespinst überzogene Stoppelfelder, dessen Kartoffeläcker, auf denen die Feuerchen schwelten und flammten, sie nicht ohne heißes Heimweh denken konnte.

Als er sich gutgelaunt von ihr verabschiedete, rief sie sehnsüchtig: »Könnte ich mit!«

»Ja,« sagte Horst kühl, » Vous l'avez voulu, George Dandin! Du könntest jetzt dort Gräfin Utendorf sein.«

Es war ihm eine Genugtuung, sie nach dem verschmähten Heimatparadies seufzen zu hören.

Aber sie sagte stolz: »Ich weiß, was ich getan habe, und würde es heute wieder tun. Der Papa ist mir doch noch mehr als Zollbrück. Gute Dinge haben eben ihren Preis.«

Ihm fiel plötzlich auf, daß sie schön aussah, schöner als je.

»Warum heiratest Du eigentlich nicht?« fragte er.

»Du weißt ja.«

Er zog die feinen Striche seiner blonden Brauen hoch in der hochmütig verwunderten, ablehnenden Art, die sie an die Mama und den Großpapa erinnerte.

»Was soll ich wissen?«

Da errötete sie langsam und schwieg. Auch fragte Horst nicht weiter.

7.

Der Winter riß Hilma in einen Strudel geselligen Treibens, der sie gar nicht mehr zu sich selbst kommen ließ. Überall fand man Zerstreuung, nirgends Sammlung.

Eines Tages, als man beim Gabelfrühstück saß, zu dem sich Horst meist einfand, sagte dieser, sich zu seiner Schwester wendend: »Unser Erbprinz ist gestern gestorben. Ich las es eben im Depeschensaal.«

Hilma ließ Messer und Gabel sinken.

»Die arme Erbprinzeß!« sagte sie ergriffen.

»Er war der einzige Sohn und sogar das einzige Kind des Fürstenpaares,« sagte Horst ernst.

»Und ein uranständiger Mensch,« fügte Hilma hinzu.

»Ja, Du hast ihn ja gut gekannt,« sagte Horst. »Sein Tod ist ein harter Schlag für unsere Herrschaften.«

»Wer besteigt denn nun einmal den hohen Thron eures großmächtigen Raubstaates?« fragte Agnes spöttisch.

Horst antwortete: »Der Neffe des Fürsten, Prinz Heinrich. Er ist sehr beliebt im Land.«

Ganz kurz blickte Hilma zum Vater hin, und ihr Blick begegnete dem seinen. Beider Augen wandten sich sofort ab, doch die Begegnung war gewesen.

»Himmlische Güte, muß das langstielig sein!« rief Agnes. »So ein Duodez-Fürstentum zu regieren, das weder Macht noch Bedeutung hat, und sich dabei doch mit dem ganzen fürstlichen Etiketten- und Repräsentations-Ballast durchs Leben schleppen zu müssen!«

Der Vater stimmte ihr bei. »Sie sind wahrhaftig nicht zu beneiden.«

Agnes' Interesse für den Gegenstand war damit erschöpft. Sie sprach von etwas anderem. –

Einige Tage später erhielt Hilma den Brief, den sie seit jener Nachricht mit Spannung erwartet hatte.

Der Prinz schrieb:

 

»Daß der arme Karl tot ist, weißt Du wohl schon. Morgen haben wir die feierliche Beisetzung. Wenn man die Eltern des Verstorbenen als ›tiefgebeugt‹ bezeichnet, so ist es diesmal kein leeres Wort. Ich gestehe, daß mich selbst diese Tage etwas mitgenommen haben. Aber die Erbprinzeß hält sich süperb! Sie gehört zu den grandiosen Frauen, die nichts aus der Fassung bringt, die auch noch auf dem Schafott die Haltung der großen Dame bewahren würden. Ich möchte ihr immer die Füße küssen. Aber vor Dir, mein geliebtes Herz, kann ich nicht Komödie spielen. So aufrichtig ich seine Witwe und seine Eltern beklage, hab ich doch die ganze Zeit daran denken müssen, daß Karls Tod für uns einen großen Schritt vorwärts bedeutet. Der arme Onkel ist alt und gebrochen. Laß mich nur erst ans Ruder kommen! Verzeih, ich muß eilen. Diese Tage sind fürchterlich für mich, weil alles auf mir liegt. Phrasen hören, Phrasen machen, ohne Ende, das Gesicht unentwegt in den Falten ernster Trauer. Lieber Himmel! Aber: time and the hour go through the longest day, und dahinter sehe ich immer Dich!«

 

In diesem Brief war ihr das Eindrücklichste die Bemerkung: »ich möchte ihr die Füße küssen«. Also auch er konnte sich für strenge Selbstbeherrschung, für die Hoheit klagloser Entsagung begeistern?!

Zum erstenmal seit sie ihn liebte, fühlte sie eine kleine Regung von Eifersucht. Sein »ich möchte ihr die Füße küssen« verfolgte sie. Die starke Bewunderung, die daraus sprach, neidete sie der Prinzeß ein wenig.

Im übrigen hatte es ihr stets widerstanden, ihr Glück dem Unglück anderer verdanken zu sollen. Sie konnte die Hoffnung auf eine nahe Wendung nicht in sich aufkommen lassen.

Und bald waren ihre Gedanken wieder von dem Vielen, was jeder Tag jetzt zutrug, ausgefüllt.

Da wurde ihr eines Tages ein Besuch gemeldet, der sie in Erstaunen setzte: es war die Hofdame der verwitweten Erbprinzessin.

Vor der Tür des Salons, in dem das Fräulein wartete, stand Hilma ein paar Augenblicke still. Eine dunkle Angst, sie wußte nicht vor was, lähmte sie. Agnes' Wort fiel ihr ein: »Der reine Angsthase!« Was hatte sie so furchtsam gemacht? –

Sowie sie der ihr als talentvollen Klavierspielerin wohlerinnerlichen jungen Dame gegenüberstand, war sie ruhig, fand auch gleich Worte, die erfreute Begrüßung und den Ausdruck inniger Teilnahme geziemend vereinten.

Doch zu ihrer nicht kleinen Verwunderung vernahm sie nun, daß die Frau Erbprinzessin selbst hier in der Stadt weile, im ersten Hotel abgestiegen sei und Hilma bitten lasse, nachmittags um die und die Stunde zu ihr zu kommen.

Beim Gabelfrühstück sagte Hilma: »Unsere Frau Erbprinzessin hat mich für nachher befohlen. Sie ist hier.«

»Na, dann sonne Dich mal wieder in Hofluft!« höhnte Agnes. Sie sprach nie ohne spöttische Geringschätzung von der Welt, die sich exklusiv als »die« Gesellschaft bezeichnete, weil diese sich, seiner zweiten Heirat wegen, von ihrem Gatten demonstrativ zurückgezogen hatte.

Aber sowohl in des Vaters wie in Horsts Blicken sah Hilma fragendes Erstaunen. –

In stumpfes Schwarz gekleidet, fuhr sie nach dem Hotel und wurde sogleich in den Salon der Prinzessin geleitet.

In dem ausdruckslosen Hotelzimmer stand die Fürstin.

Sie war allein.

Der lange Kreppschleier und die tief in die Stirn reichende Schneppe der Witwenhaube wirkten zuerst fremdartig, veränderten das Gesicht. Aber doch: das waren die gradaus blickenden hoheitsvollen Augen, die sich vor niemand auf der Welt senkten, das war die Kopf- und Schulterhaltung, die den Eindruck des absolut Aufrechten hervorrief. Die Prinzeß stammte aus dem Norden.

›Sie hat nie Englisch oder Französisch sprechen lernen können,‹ ging es durch Hilma's Kopf, ›aber sie hat gewiß auch nie eine Unwahrheit gesagt.‹

Ganz gewiß hatte kein Mensch die Erbprinzessin weinen sehen, aber rotumrandete Augen und geschwollene rote Lider zeugten verräterisch von durchweinten Nächten.

Hilma wußte, daß ihre Ehe trotz der Kinderlosigkeit sehr glücklich gewesen war. Sie hatte manches leise Wort, manchen Blick zwischen den Eheleuten aufgefangen, die von inniger Neigung erzählten. Und sie dachte des Verstorbenen, der für einen stolzen Herrn gegolten hatte, während ihn in Wahrheit nur Schüchternheit zurückhaltend machte. Er war einer der gütigsten und einer der bescheidensten Menschen gewesen, die sie kennen gelernt hatte.

So heißes Mitgefühl ergriff Hilma, daß sie sich selbst vergaß.

Sie küßte die Hand der Prinzessin ein über das andere Mal, und ihre Augen flossen über von Tränen.

Die Prinzeß markierte eine leichte Umarmung und zog dann Hilma neben sich auf einen kleinen Diwan.

Und nun begann das Gespräch.

»Sie sind mir noch ergeben, Hilma?«

»Immer, Durchlaucht.«

»Vielleicht werden Sie es nun doch nicht bleiben, denn ich muß Ihnen Schmerz bereiten. Es ist der innige Wunsch des Fürsten und der Fürstin, den Prinzen Heinrich als den letzten männlichen Sprossen unseres Hauses jetzt mit der Prinzeß Anna von ... zu vermählen. Sie wissen, daß nur eine Tochter aus fürstlichem Haus für den Thronfolger in Frage kommen kann, denn nur die Kinder einer solchen haben Anwartschaft auf Fürstentitel und Regierungsnachfolge. Prinz Heinrich gibt sich dem Wahn hin, er könne aus eigener Machtvollkommenheit dies Gesetz umstoßen, wenn er erst an der Regierung ist. Seine Liebe macht ihn ganz blind. Er denkt gar nicht an die Schwierigkeiten, die die anderen fürstlichen Häuser ihm entgegensetzen würden. Er denkt auch nicht daran, daß der liebe Gott, wenn es ihm gefällt, unserem verehrten Herrn, dem Fürsten, noch zwanzig – fünfundzwanzig Lebensjahre schenken kann. Dies und manches andere mußte man ihm jetzt zu bedenken geben. Der Unglückliche erklärt aber, er könne nur Sie heiraten, denn Sie seien seit Jahren seine Braut.«

Sie schwieg.

»Wir haben uns lieb,« sagte Hilma leise.

»Ich weiß wohl,« sagte die Prinzeß. »Der vor Ihnen liegende Weg der Pflicht ist für Sie beide schwer. Aber wir dürfen ja nicht danach fragen, ob eine Pflicht schwer oder leicht ist.«

»Der Prinz ist nicht absolut überzeugt, daß es sich um eine Pflicht handelt,« wagte Hilma einzuwenden.

»Ich glaube, es ist uns gelungen, ihn davon zu überzeugen,« sagte die Prinzessin ernst.

Hilma hob den Kopf. Sie hatte die ganze Zeit lautlos vor sich hingeweint, weniger um sich als um die Erbprinzeß. Mit einem Mal waren die Tränen versiegt.

Sie dachte zugleich erbittert und bewundernd: › Du hast ihn bezwungen! Das konntest nur Du.‹

Laut fragte sie: »Also hat sich der Prinz gefügt?«

»Er hat versprochen, sich Ihrer Entscheidung zu fügen, liebe Hilma.«

Hilma sprang in ihrer Erregung auf. Er hatte also entschieden! Denn das wußte er sehr gut, daß sie nicht versuchen würde, ihn zu halten, wenn er bereit war, nachzugeben.

Die Prinzessin deutete ihre Aufregung anders.

Ruhevoll ergriff sie eine von Hilmas herabhängenden Händen und sagte milde:

»Wissen Sie, daß ich mich für Sie verbürgt habe? Ich habe zu meinen Schwiegereltern gesagt: für die Hilma Viernau stehe ich ein. Ich habe nie einen Zug von Niedrigkeit in ihr entdecken können. Sie ist diejenige, die uns helfen wird. Ich bat um die Erlaubnis zu dieser Reise, um Sie selbst zu bitten. Erschweren Sie ihm die Lossagung nicht! Sie haben ihn, – gewiß ohne bewußte Absicht, – von dem Weg seiner Pflicht entfernt, nun führen Sie ihn dahin zurück! Glauben Sie wirklich, daß ein ertrotztes Erdenglück Ihnen beiden zum Segen gereichen würde?«

Hilma antwortete mit zitterndem Mund: »Ich habe nie das Glück ertrotzen wollen, Durchlaucht. Habe nur gewartet, ob es kommen würde. Wenn der Prinz bereit ist, zu verzichten, bin ich es auch. Ich war es immer.«

»Er will von Ihnen darum gebeten sein!«

»Wenn Durchlaucht befehlen, werde ich ihn bitten. – Aber es ist eine leere Form.«

»Er legt Wert darauf. Gott wird Ihnen diese Ergebung segnen.«

Die Prinzessin stand auf, umarmte Hilma und küßte sie in ihrer ruhig-kühlen Weise auf jede Wange.

Dann sagte sie: »Der Prinz ist hier. Sagen Sie ihm, was Sie sagen wollen, gleich.«

Hilma erklärte sich bereit.

Die Erbprinzeß ließ durch den Kammerdiener, der im Vorzimmer stand, Seine Durchlaucht zu sich bitten.

Während sie ihn schweigend erwarteten, fühlte Hilma die Schläge ihres Herzens bis hinauf zur Kehle.

Er kam schnell, küßte die Hand der Prinzeß und verneigte sich vor Hilma.

Er sah schlanker und vornehmer aus als je in dem langen, schwarzen Gehrock, den er trug; aber sein Gesicht, – wie war es verändert! Um Stirn und Augen Züge des Leidens; der Blick finster; der Mund – dieser reizende Mund, dem Schalkhaftigkeit und übermütiges Lachen natürlich waren, – hatte die Lippen in verächtlichem Trotz aufeinander gepreßt.

In Hilmas Herzen schrie es: ›Sie haben Dich gequält! Mehr gequält, als Du ohne Schaden zu nehmen erträgst!‹

Sie war dies letzte Jahr ganz ruhig gewesen ohne ihn, hatte gar nicht viel an ihn denken müssen, sich kaum nach ihm gesehnt, so stark wie sie in Anspruch genommen war. Aber nun sie ihn, den der Himmel ganz eigens für Glück und Freude geschaffen zu haben schien, in diesem Zustand des Zerquältseins sah, fühlte sie sich so heftig erschüttert, daß es sie innerlich umwarf. Sie hätte sich auf der Stelle für ihn töten lassen mögen. Und doch konnte sie nichts tun. Nichts!

Er hatte sie bereits aufgegeben, das wußte sie, wie er es wußte.

Nein, sein blasses, finsteres Gesicht sah nicht nach irgend einer versteckten Hoffnung aus! –

Er stand vor der Prinzeß. »Du befiehlst?« –

»Fräulein von Viernau will Dir ein Wort sagen. Sie schließt sich unserer Bitte an, wie ich mir dachte.«

Er wandte sich an Hilma.

»Also Du auch?! – Du selbst willst, daß ich die ›Ebenbürtige‹ heirate? Wirklich?«

»Ja, ich bitte Dich. Es muß ja sein.«

Sie standen einige Sekunden Auge in Auge, regungslos und stumm.

Dann wandte er sich wieder an die Erbprinzessin.

»Sei so gnädig, mich drei Minuten mit ihr allein zu lassen!« bat er.

Die Prinzessin schien zu zögern.

Flehend, ungeduldig, drängte er: »Nur wenige Minuten! Es ist ein Abschied für immer.«

Seine Stimme brach bei den letzten Worten.

Da entfernte sich die Fürstin schweigend.

Sowie sie allein waren, riß er Hilma an sich und tat ihr mit seinen wilden Küssen weh.

Sie sprachen kein Wort.

Die Prinzeß kam zurück und verabschiedete Hilma sehr gnädig.

»Erinnern Sie Sich, daß Sie in mir eine treue Freundin haben,« sagte sie.

Fünf Minuten später saß Hilma wieder im geschlossenen Mietscoupé, das auf dem Straßenpflaster schlitterte, rasselte und klirrte.

Sie weinte immer fort und wußte gar nicht, daß sie weinte! Eine Welt war hinter ihr versunken.

Vier Zeilen aus dem Lieblingslied ihrer Kindheit lagen ihr im Ohr und ließen sie nicht los:

»Better far to be,
in utter darkness lying
than to be blessed with light and see
the light for ever flying.«

Als sie den mosaikbelegten prunkhaften kleinen Flur der Villa Viernau betrat, begrüßte sie der Vater an der Tür. Er mußte auf sie gewartet haben.

Sie wollte unbekümmert scheinen, aber ihr Gesicht war vom Weinen entstellt.

»Mein liebes, liebes Kind!« sagte er sehr weich.

Da fiel sie ihm um den Hals.

»Auf der ganzen Welt habe ich nur noch Dich, Papa!«

8.

Im Februar brachten die Zeitungen die Nachricht von der Verlobung des Prinzen Heinrich mit der Prinzessin Anna, und im März schon wurde die Vermählung gefeiert. In den illustrierten Blättern konnte man das hohe Brautpaar im Bilde sehen, die Prinzessin sah unschön und einfältig aus.

»Tut nichts,« spottete Agnes, »wenn nur der Stammbaum ohne Fehl und Tadel ist.«

Hilma hatte angefangen, eifrig mit Lampert zu korrespondieren. Sie schickte ihm moderne Zeitschriften und Bücher. Seine Briefe waren ihr wert. Wie aus einer besseren Welt tönte seine ernste Stimme in ihren Großstadttrubel hinein.

Und es tat ihr wohl zu fühlen, daß ein solcher Mann sie liebte.

Das »wenn wir im Sommer wieder in Ihrer Nachbarschaft sind« spielte in ihren Briefen eine große Rolle, und er schrieb ebenso oft »wenn Sie erst wieder in der Mühle sind«.

Aber einmal ließ er sie lang auf Antwort warten. Kein Brief kam, der auf dem Umschlag die kleinen lateinischen Schriftzüge seiner Gelehrtenhand zeigte. Wie konnte er nur so schreibfaul sein! Sie wurde ganz ungeduldig, sandte einen Mahnbrief. Der kam zurück und außen auf dem Kuvert stand der Postvermerk: »Adressat verstorben«. Auf diese Weise erfuhr sie den Tod des treuen Freundes! –

Da überfiel sie die alte Kinder-Schwermut.

Sie klagte dem Vater: »Alles, woran mein Herz hängt, wird mir genommen! Das war immer so.«

Er entgegnete: »Wer das nicht erfahren will, darf sein Herz an nichts Vergängliches hängen. ›O habet die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne,‹ singt schon ein alter Dichter.«

»Was sollen wir denn lieben?« fragte sie traurig.

» Alles, – aber im Vergänglichen das Ewige.«

Seit jenem Besuch bei der Erbprinzessin-Witwe war das Vertrauen zwischen ihr und dem Vater wieder hergestellt. Mit verdoppelter Zärtlichkeit schlossen sie sich einander an, und seine Güte für sie hatte keine Grenzen. Leider war Agnes eifersüchtig. Sie war gegen Vater und Tochter beunruhigend reizbar geworden. Ihre Liebe zu dem Gatten war immer noch leidenschaftlicher Natur, aber es war eine sehr egoistische Liebe, für die Hilma wenig Mitgefühl hatte. Ihr Mann sollte für sie da sein, für keinen anderen, ihr allein gehörte er, und sie mochte sich mit niemand in seine Liebe teilen. Was dagegen in des Vaters Herzen noch von der einst so stürmischen Leidenschaft für Agnes übrig geblieben war, war ein Gemisch von kameradschaftlicher Treue, Gewöhnung und Pflichtbewußtsein. Das meinte Hilma endlich herausgefühlt zu haben. Er litt unter dem ungleichen, unbeherrschten Wesen seiner Frau und an der Ruhelosigkeit, die sie in sich selbst hatte und im ganzen Haus verbreitete.

Ein Glück war es, daß sie selten vor Mittag ihr Ankleidezimmer verließ, dadurch verblieben den anderen die Morgenstunden.

Agnes fühlte sehr gut, daß ihres Mannes Liebeswärme sich immer ausschließlicher der Tochter zuwandte. Und da sie nicht gewohnt war, ihre Empfindungen zu beherrschen, – außer wenn sie auf der Bühne war, – zeigte sie sich oft sehr unfreundlich, ja gehässig, gegen Hilma. Sie wurde sofort verstimmt, wenn sie Vater und Tochter irgendwo beieinander traf, so daß diese in schweigendem Einvernehmen äußerst vorsichtig wurden. Dieser Zustand war mitunter so quälend, daß Hilma den Vater schon gebeten hatte, sie fortzuschicken. Dann aber wurde er tief traurig, und das Ende war immer, daß Agnes selbst Hilma beschwor, sich aus ihren Launen nichts zu machen, sondern auszuhalten.

»Wenn Du uns verließest,« sagte sie, »würde er denken, ich sei daran schuld, und dann würde er anfangen, mich zu hassen.«

So blieb alles, wie es war.

Hilma erzählte dem Vater, daß sie durch Sabine Edelberg mit einigen Leiterinnen der Frauenbewegung bekannt worden sei.

»Ihr spottet immer über diese Frauen, aber ich muß Dir sagen, daß sie mir alles andere als lächerlich erschienen sind. Ich glaube: sie arbeiten für eine große, segensreiche Sache, und ich möchte versuchen, nach meinen geringen Kräften zu helfen.«

Lächelnd entgegnete der Vater: »Du, wenn das aber der Horst hört, wird er Dich verleugnen.«

»Mag er,« meinte sie leichten Herzens. »Ich kann nicht immer so unnütz dahin leben, muß arbeiten!«

»Du bist nicht unnütz,« wandte er ein, »Du bist der gute Geist unseres Hauses.«

»Aber ich tue gar nichts!«

»Edle Menschen zahlen mit dem, was sie sind, sagt unser großer Schiller. Davon wollen freilich Deine tätigen Damen nichts hören.«

Sie seufzte: »Was bin ich denn?«

»Mein Glück,« sagte er rasch und warm.

Sie küßte seine Hand. Dann bemerkte sie mit leiser Stimme: »Aber kein Glück für Deine Agnes!«

Da seufzte er und schwieg.

Hilma fand die nutzbringende Tätigkeit, die sie suchte, bald in Fülle.

Die Damen, an die sie sich gewandt, griffen mit allen Händen nach der freien und willigen Hülfskraft. Sie mußte in Häuser gehen, wo die Mutter fehlte und dort nach dem Rechten sehen, sie mußte nachsehen, ob die bezahlten Pflegemütter an den Ziehkindern nichts versäumten, – und aus dem einen Amt erwuchs immer noch ein anderes.

So befand sie sich, ehe sie sich dessen versah, inmitten einer Tätigkeit, die nicht allein ihre Zeit und Kraft ernstlich in Anspruch nahm, sondern sie auch in einer ihr ganz neuen Weise mit dem Leben in Berührung brachte. Den geistigen Hunger und die Herzensnot der Frauen ihres Standes hatte sie ja an sich selbst erfahren, nun lernte sie auch Not, Hunger und Hülflosigkeit der Frauen des trostlosen großstädtischen Proletariats kennen. –

Darüber glitten Wochen und Monate dahin, wie Tage. Immer wollte die Zeit nicht reichen.

Eines Herbstnachmittags, – sie lebte nun schon drei und ein halbes Jahr im Haus des Vaters, – als sie nach einer Vorstadtwohnung hinauswanderte, kam ihr ein Offizier sporenklirrend und säbelklappernd nachgelaufen. Es war Horst.

»Wenn man Dich einmal unter vier Augen sprechen will, muß man Dir auf der Straße nachrennen,« klagte er, »ich finde diese Aushäusigkeit von euch modernen Frauen einfach sündhaft! Sonst kam man müde nach Haus und war sicher, euch ruhig und bereit zu finden, dem verärgerten Menschen wenigstens das › in doors‹ behaglich zu machen. Und nun sehen wir die Hatz und plebejische Unrast, an der wir ohnehin genug leiden, auch noch bei euch.«

»Es gibt schwerere Leiden.«

»Das sagst Du so in Deinem Leichtsinn! Es gibt aber sicherlich wenig höhere Güter, als den Besitz einer stillen, häuslichen, echt weiblichen Frau.«

»Du findest ihrer noch genug. Ich würde mich einmal unter den Töchtern des Landes umtun.«

»Das habe ich auch, und gerade darüber wollte ich mit Dir sprechen. Ich bin nämlich im Begriff, mich zu verloben.«

»Horst!« Sie blieb vor Überraschung stehn und sah in seine leuchtenden Augen. »Mit wem denn, Du lieber Alter?«

Er erzählte, daß er ›sie‹ im Manöver kennen gelernt habe, wo er auf dem Schlosse ihres Vaters in Quartier gelegen. Sie sei reich und aus altem gräflichen Hause, Race vom Scheitel zur Sohle, ausgezeichnet erzogen, fromm, kurz und gut: sein vollkommenes Frauen-Ideal.

»Und das Ideal liebt Dich?«

»Sie hat den schlechten Geschmack.«

Er kam ins Erzählen und vergaß vor Glück den rieselnden Herbstregen und den Schmutz, der das Steinpflaster klebrig überzog, und das ärmliche öde Aussehen der Vorstadtgassen, in die sie einbogen.

Auch sie war ganz glücklich und auf den brüderlichen Erfolg stolz. Was war er doch auch für ein hübscher, ritterlicher Mensch, der Horst! Wie er nie vergaß, ihr die besseren Stellen des Wegs zu lassen, ihr Platz zu schaffen, sich zwischen sie und andrängende Menschen oder Wagen zu schieben, alles ganz unauffallend und selbstverständlich. Und mit einer so vornehmen Haltung! Ja es ging sich freilich angenehmer durch belebte Straßen unter seiner Führung als allein!

Auf einmal sagte er in verändertem Ton: »Mir ist nur das Eine sehr fatal: ich möchte sie nicht mit Papas Zirkeln in Berührung bringen. Diese Künstlerklique mit ihren Bohème-Manieren und der ganze Ton, weißt Du, ist absolut nichts für sie. Zollbrück, ja, dort wird sie sich zu Hause fühlen können! Wenn es auch etwas melancholisch ist, so ist es doch durch und durch feudal, – bei aller Einfachheit. Ich wollte, ich könnte es irgendwie deichseln, daß sie Agnes und ihre Gesellschaft lieber gar nicht zu genießen bekommt.«

»Aber Horst!« rief Hilma. »Fühlst Du nicht, wie furchtbar kränkend das für den Papa sein würde! Das Haus, in dem Dein Vater Herr ist, muß Deiner Braut schon recht sein, wie es ist, meine ich.«

Er entgegnete lebhaft: »Der Papa ist eben leider Gottes nicht Herr in seinem Hause, sondern Agnes ist Herrin.«

Sie versetzte darauf: »Ich habe in Papas Gegenwart nie etwas gesehen oder gehört, was eine junge Dame nicht sehen oder hören dürfte, ohne sich verletzt zu fühlen.«

»Weil Du eben längst den Sinn für vornehme Lebensführung verloren hast!« rief er. »Du weißt, daß auch Du nie hierhergekommen wärst, wenn ich darüber zu entscheiden gehabt hätte. Euer Freiheitstempel ist kein Aufenthalt für Frauen, wie ich sie haben will.«

Ihr taten diese Worte weh für den Vater!

»Der Papa läßt jedem Freiheit, daß man sich geben kann, wie man ist, das ist wahr,« sagte sie. »Aber sein eigenes edles Wesen ist doch das dominierende. Wenn Deine Auserwählte so wenig über den Konventionen ihrer eigenen Kreise steht, daß sie die freieren Lebensformen eines Künstlerheims anstößig findet, dann muß ich schon sagen, daß ich Dich bedaure.«

Da er nicht antwortete, blickte sie von der Seite zu ihm auf und sah um seinen Mund das ironische hochfahrende Lächeln, mit dem sie der Onkel Gustav einst so oft verletzt hatte.

Alle die wohlbekannten kleinen Utendorfzüge, die ihrem innersten Wesen zuwider waren, mußte sie bei dem Bruder wiederfinden!

Sie begriff, daß sie ihn eben empfindlich gekränkt hatte, und wußte, daß er darauf sann, ihr nun seinerseits weh zu tun, und sie wartete auf sein nächstes Wort wie auf einen Schlag.

Da sagte er: »Im Manöver bin ich übrigens auch unserem edlen Prinzen Heinrich begegnet, das ist ja ein wüster Patron! Zecht, jeut, wettet, – von anderem zu schweigen. Und für diesen Wüstling hat sich meine Schwester begeistert! hab ich immer denken müssen.«

Sie seufzte und sagte traurig: »Er war anders.«

»Man nennt ihn in der Armee nur den tollen Heinrich,« fuhr er fort. »Unglaubliche Geschichten sind über ihn im Umlauf! Seine Ehe soll ja auch höchst unglücklich sein.«

»Die arme Frau,« seufzte Hilma. »Alles ist fehlgegangen! Man erwartete von ihr, daß sie dem Herrscherhaus den Stammhalter schenkte, und nun heißt es, daß nach dem ersten, verunglückten Wochenbett alle Hoffnung auf Kinder ausgeschlossen sei. Eine Ärztin erzählte mir davon.«

»Ja, sie kann einem leid tun. Er soll von brutaler Rücksichtslosigkeit sein, sich gar nicht um sie kümmern.«

»Man hätte ihm erlauben sollen, mich zu heiraten,« sagte Hilma, »dann wäre er vielleicht glücklich und gut geblieben. Ich bin gewiß, er wäre anders geworden!« Sie sagte es kummervoll.

»Es handelte sich eben um allgemeine Prinzipien,« meinte Horst. »Du wärest gewiß gut für ihn gewesen und wer weiß, was für ein Prachtexemplar er in Deinen Händen geworden wäre. Aber Du kannst nicht verlangen, daß man um eines Einzelfalles willen den festen, soliden Bau alter Überlieferung plötzlich einreißt.«

»Ich habe nie etwas verlangt,« sagte sie leise, »vielleicht hätte ich es sollen. Ein starker Wille bahnt sich seinen Weg auch durch Mauern. Agnes würde es getan haben.«

»Lärm und Skandal hätte sie gewiß gemacht,« meinte Horst, »das glaube ich auch. Aber ich muß gestehen, daß mir Dein Verhalten lieber ist. Es ist das sehr viel vornehmere.«

So trennten sie sich doch wieder in gutem Einvernehmen.

9.

Horst war auf seinen Wunsch nach einer entfernten Garnison versetzt worden, die nicht gar zu weit von dem elterlichen Schloß seiner Auserwählten war. Auf dem Schloß der gräflichen Schwiegereltern feierte er dann im Frühjahr seine Verlobung.

Seitdem war fast ein Jahr vergangen.

Hilma und der Vater kannten die junge Braut nur von Bildern und Briefen. Sie hatte einige konventionell-töchterliche und schwesterliche Briefe geschrieben, aus welchen hauptsächlich zu ersehen war, daß sie sich einiger Bildung und musterhafter Wohlerzogenheit erfreute.

Agnes bemerkte zuweilen: »Ich finde, die hochgeborene Komtesse könnte sich auch mal bei uns sehen lassen. Ihr fiele doch wahrhaftig keine Perle aus ihrer Neunzackigen!«

Hilma dachte ungefähr dasselbe und der Vater vielleicht auch. Aber beide schwiegen über diesen Punkt in stillem Einverständnis, wie so häufig.

Indessen rückte der für die Hochzeit festgesetzte Termin näher, und Hilmas bemächtigte sich geheime Bangigkeit. Horst konnte nur entweder seine Mutter oder seinen Vater zu der Feier einladen. Der Vater war in diesem Fall das Natürlichere. Denn die Mama war immer leidend und ging nie unter Menschen. Seit vielen, vielen Jahren, seit dem Unglück ihrer Ehescheidung, hatte sie Zollbrück nicht mehr verlassen. Und der Vater hatte ganz für den Sohn gesorgt, seit dieser ein Knabe von elf Jahren gewesen.

Es konnte eigentlich nicht anders sein, als daß er den Vater seiner Hochzeit beizuwohnen bat. Ihn zu übergehen um der Zollbrücker willen, schien fast undenkbar. Und doch wurde Hilma die Unruhe nicht los.

Das, vor dem sie sich heimlich geängstet, traf wirklich ein. Horst schrieb dem Vater, daß die Mama und der Großpapa und der Onkel Gustav zu seiner Hochzeit kommen wollten!

Das besagte, daß der Vater und Hilma fern zu bleiben hatten. Und welche Kunst der Überredung mußte Horst aufgewandt haben, um dies zu erreichen! Der Vater blieb in seinen Augen eben die › partie honteuse‹ der Familie.

Der Vater gab ihr den Brief zu lesen, und als sie besorgt fragend zu ihm aufschaute, sagte er mit einem Lächeln, welches ihr das Herz zerschnitt: »Es ist der Mama zu gönnen. Außer ihm hat sie ja nichts.«

»Und von ihm hat sie wenig genug,« setzte Hilma hinzu. Dann, innig zu ihm aufblickend: »Wir zwei sind ja viel reicher, denn wir haben uns ganz.«

»Ja, mein Kind, ja, mein Liebling!« antwortete er mit müder Zärtlichkeit.

Aber schon rief Agnes ungeduldig nach ihm! Das war jetzt immer so. Er stand auf und ging.

Hilma sah ihm bekümmert nach.

Er kränkelte, litt an Beängstigung, zuweilen an Atemnot, und Agnes, die sich von allen bedienen ließ, nahm auf ihn keine Rücksicht, wie sie überhaupt keine Rücksichten zu nehmen pflegte. Sie selbst ließ sich keine Ruhe und das Ruhebedürfnis anderer konnte sie nicht verstehen.

»Ihr seid Schwächlinge,« sagte sie verächtlich, wenn Hilma ihr Vorstellungen machte.

Und nun hatte er sich gegrämt. Jawohl, sie sah es ihm an, wenn er auch tat, als sei alles ganz in Ordnung.

Mit wieviel Liebe und Sorge hatte er sich des Sohnes immer angenommen! Ein warmherziger, großmütiger, unendlich liebevoller Vater war er dem Knaben gewesen! Sie kannte ja seine Zartheit, seine grenzenlose Güte und Nachsicht! Aber Horst hatte ihm die Treulosigkeit gegen seine Mutter niemals vergessen können. Dies Wissen hatte ihm die Ehrfurcht vor dem Vater genommen und den Glauben an ihn. Damit war seiner Sohnesliebe das Beste entzogen worden. Auch ein Übermaß an Güte und Zartheit konnte das nicht ersetzen.

Sie wußte es und fühlte, daß auch der Vater es wußte und daß er tief daran litt.

Ein so heißes Mitleid durchströmte sie, daß ihr schien, als sei alles, was sie sonst tun konnte und tat, nichtig gegen das eine: dem Vater an Liebe und Freude zu ersetzen, was der Bruder ihm schuldig blieb.

Agnes machte es ihr leider schwer, – aber wenn auch! Sie durfte sich hier nicht verdrängen lassen, mußte rücksichtslos auf ihrem Tochterrecht bestehen! Und das wollte sie von nun an viel energischer tun.

Man saß am Abend dieses Tages im gewohnten Freundeskreis lange beisammen, trennte sich erst nach Mitternacht. –

Aus dem ersten Schlaf erwachte Hilma mit einer Empfindung traumartigen Erstaunens. Ein Licht blendete sie. Mühsam öffnete sie die blinzelnden Lider und fuhr in jähem Schrecken auf.

»Was?!«

Die elektrischen Lampenglocken, die von der Decke hingen, waren hell. Vor ihrem Bett stand Agnes wie eine Schlafwandlerin. Sie hatte nicht einmal eines ihrer Negligees übergeworfen, sondern war im Nachthemd und in bloßen Füßen. Ihr Haar war in dünne Zöpfchen geflochten. Grau und verfallen sah sie aus, – erbarmenswert. Und obwohl das ganze Haus durch Zentralheizung erwärmt war, – der April war winterlich, – fror sie, daß ihre Lippen blau aussahen und die Zähne gegeneinander schlugen.

»Was ist Dir?!«

»Dein Vater stirbt! ... Um Gottes willen, komm!«

Es bedurfte da keiner Bitte.

Treppenhaus, Flure, fast sämtliche Zimmer der Villa blieben nachts erleuchtet, denn Agnes fürchtete sich vor Finsternis. –

Der Vater lag wie in einer tiefen Ohnmacht.

Hilma beugte sich über seinen Mund, konnte keinen Hauch spüren, legte das Ohr horchend auf die linke Seite seiner Brust, – keine Atmungsbewegung, – kein Herzschlag zu spüren!

In erregtem Flüstern erzählte Agnes: »Ich bin davon aufgewacht, daß er mich am Arm gepackt hat. Ich sage: ›Was hast Du denn?‹ Keine Antwort. Da richt' ich mich auf und schau hin. Er sitzt aufrecht, faßt mit der Hand nach der Herzgegend und schnappt nach Luft. Plötzlich stöhnt er auf und sinkt zurück. Seitdem liegt er so. Wie tot. Herrgott, Herrgott, laß ihn nur nicht sterben! Nur das nicht! Was soll aus mir werden ohne ihn? Ich kann nicht ohne ihn existieren!«

Sie verfiel in lautes Wehklagen.

Hilma dachte: ›Hast Du danach gefragt, was aus uns würde, als Du ihn uns nahmst, Du Egoistin?!‹

Agnes' stürmische Klagen erbitterten sie gegen die Frau, die des Vaters Schwäche ausgebeutet, seine Geduld mißbraucht und seine ganze reiche Persönlichkeit sich dienstbar gemacht hatte. Und nun, in der Angst, ihn zu verlieren, barmte sie, als widerfahre ihr das größte Unrecht, und doch hatte sie die feine, edle Seele, die ihrem Weiberreiz zum Opfer gefallen war, niemals verstanden oder gewürdigt. Und darum verargte Hilma der anderen die Klagen, fand, sie habe kein Recht darauf.

Sie selbst wollte nicht an das Schlimmste glauben. Sie wußte, daß er an Herzschwäche litt und daß dabei todähnliche Ohnmachten vorkamen.

Sie eilte an das Telephon und rief durch dieses den Hausarzt herbei, weckte auch die Dienerschaft, denn Agnes hatte alle Besinnung verloren. Während des Wartens auf den Arzt kleideten sich die Frauen notdürftig an.

Der Arzt kam so rasch als menschenmöglich. Er konnte nur den Tod feststellen.

»Ein Herzschlag.« – –

Horst war auf die Todesnachricht sofort herbeigeeilt. Er fand den Sarg noch offen. Hilma führte ihn in das Sterbezimmer, das einer phantastischen Blumengrotte glich, und Horst weinte bitterlich.

Hilma hatte ihm in der Qual dieser Tage immer gezürnt um des kaltherzigen Briefes willen, der dem Vater noch den letzten Kummer bereitet hatte. So sehr hatte sie ihm gezürnt, daß sie es ihm sagen wollte: ›Sein letzter Schmerz kam ihm durch Dich.‹

Nun sie den Bruder so erschüttert sah, schwieg sie. Er fühlte seine Schuld wohl selbst.

Bei dem Begräbnis, das mit großem Pomp und unter großer Geleitschaft vonstatten ging, bewahrte Horst eine männliche, soldatische Haltung und hatte für jeden einzelnen der Trauerversammlung ein verbindliches Wort des Dankes, während Hilma kaum aus den Augen sehen, viel weniger noch sprechen konnte.

Agnes lag krank zu Bett.

Als die Geschwister in der geschlossenen Trauerkutsche zurückfuhren, war in Horsts Gesichtsausdruck und Haltung etwas wie Erleichterung. Ihm hatte des Vaters Tod eine Last vom Herzen genommen. Nun durfte er den Kopf wieder höher tragen, wenn er des Toten Erwähnung tat. Des Lebenden und seines Hauses hatte er sich vor der Braut und deren hochfeudaler, gesinnungsstarrer Sippe geschämt.

Er blieb bis zur Testamentseröffnung.

Der Vater hatte sein kleines Vermögen seinen beiden Kindern zu gleichen Teilen vermacht, da Agnes auf ihr Anrecht verzichtet hatte. Für Horst bedeutete das nicht viel; aber Hilma machte es unabhängig. Ihr fiel überdies auf des Vaters Wunsch seine ganze bewegliche Habe zu.

Agnes hatte sich einen längeren Urlaub erbeten. Sie war völlig zusammengebrochen, mit einem Schlage alt geworden, fand nicht mehr die Energie, ihren täglichen Verjüngungsprozeß vorzunehmen, und vernachlässigte sich im Anzug.

Dabei klammerte sie sich an Hilma, die ihr beim Ordnen ihrer Angelegenheiten zur Seite stand. Die willensstarke, naiv egoistische Frau schien die moralische Stütze eines Menschen von der Art ihres verstorbenen Gatten nicht missen zu mögen.

Eines Tages ließ sich der Theaterdirektor melden, als Hilma und Agnes bei ihrem Gabelfrühstück saßen.

»Er kann reinkommen,« sagte Agnes nachlässig.

»Willst Du ihn nicht im Salon empfangen?«

»Nein, ich bin zu faul, um aufzustehen.«

Hilma wollte das Feld räumen, aber Agnes wehrte.

»Bleib doch, bitte!« sagte sie in dem kindlichen, halb trotzigen, halb schmeichelnden Ton, den sie so oft dem Vater gegenüber angeschlagen hatte. »Wenn Du dabei bist, kann ich den unausstehlichen Kerl eher verknusen.«

Schon trat der Unausstehliche ein. Er war selbst vom Fach und schauspielerte auch im Salon mit Routine. Den ernst bewegten Freund voll Teilnahme und doch voll weltmännischer Haltung markierte er vortrefflich. Erst nachdem er der repräsentativen Anstandspflicht wohl genügt zu haben glaubte, schwankte er in eleganter Volte zum Geschäftlichen um.

Seiner gewundenen, überaus verbindlichen Rede kurzer Sinn war, daß er den Moment für geeignet erachte, »unserer einzigen Frau Agnes« das so dankbare Fach der Mütter zu übertragen.

Hilma glaubte, Agnes werde auffahren, wie eine vom Feuer berührte Pulvermine. Und der Direktor mochte auf Ähnliches gefaßt sein.

Aber nein! Sie erklärte ganz ruhig, sie werde sich von der Bühne, wie aus dem Leben, ganz und gar zurückziehen.

»Ich bin eine alte Frau und tu' nicht mehr mit,« sagte sie.

Und sie blieb dabei.

Die Villa wurde zum Verkauf ausgeboten, der Haushalt aufgelöst, Agnes reiste nach Italien, um dort zu bleiben.

»Wenn man alt ist, muß man im Süden leben,« erklärte sie. Sie wollte Hilma am liebsten mitnehmen.

»Weil Du mich jetzt so oft an meinen Hilmar erinnerst! Ich wollte, Du bliebst bei mir!«

Aber Hilma hatte bereits eine hübsche kleine Wohnung gemietet und erklärte, hier in ihrer Tätigkeit bleiben zu wollen.

Mit Agnes weiter gemeinsam zu hausen, lockte sie durchaus nicht. Doch trennten sich die beiden Frauen, die sich während der letzten Jahre um des Verstorbenen willen beinah gehaßt hatten, ohne Groll.

10.

Hilma brauchte ihre ganze Willenskraft, um den Schmerz über des Vaters Tod, der sie erbarmungslos durchwühlte, so weit zu überwinden, daß sie lebensfähig blieb.

Dann aber, als sie endlich zu gesunden begann, war ihr, als sei sie in eine Flut getaucht worden, die die Seele stählt und gegen alle Pfeilschüsse widriger Geschicke so undurchdringbar macht, wie die Haut des hürnen Siegfried.

In Zollbrück starb der Großvater.

Hilma schrieb an die Mama und bat sie, endlich zu verzeihen und sich mit ihr auszusöhnen. Sie bot ihre ganze Beredsamkeit auf.

Aber der dicke Brief kehrte uneröffnet zurück. Auf dem Kuvert stand: »Annahme verweigert.« –

Horst wurde als Militär-Attaché nach Tokio versetzt. Vor der Ausreise besuchte er seine Schwester, um ihr Lebewohl zu sagen.

Er war sehr glücklich über das schöne Kommando.

»Meinem Frauchen graut etwas vor dem Land der Gelben,« sagte er, »aber nach allem, was ich höre, wird sie sich dort riesig wohl fühlen.«

»Und eure kleinen Mädchen?«

»Gerade für Kinder soll es dort ausgezeichnet sein.«

»Wie steht's in Zollbrück?«

Er wurde ernst. »Die Mama ist schrecklich hinfällig geworden,« berichtete er seufzend, »und auch der Onkel Gustav fällt zusammen. Die machen einen ganz melancholisch.«

»Warum sind sie so unnatürlich hart gegen mich?!« rief Hilma. »Wie gern sähe ich nach ihnen! Sie lassen's ja nicht zu.«

Er sagte: »Sie sind eben Utendorfe. Eigensinnig bis zum Starrsinn und zähe.«

»Und Du konntest nicht für mich plädieren?!«

»Unmöglich. Man darf ja Deinen Namen gar nicht nennen.«

»Was kann ich denn nur tun?!«

»Gar nichts, fürchte ich,« sagte Horst in betrübter Ratlosigkeit. –

Nun war er mit den Seinen am anderen Ende der Welt.

Aber der Gedanke an die einsame alte Frau, die in Zollbrück saß und sich grämte, fuhr fort, sich quälend in Hilmas Tagesleben einzudrängen. Sie mußte oft an Lampert denken. Wie er gesagt hatte: »Einer Mutter alles vergelten kann man nie.« Und dann: »Um ihr Kind gelitten hat doch jede. Das allein verpflichtet schon,« hatte er gemeint.

›Jedenfalls verknüpft es Mutter und Kind mit unlösbaren Banden,‹ dachte sie. Was sie auch tat, sie fühlte diese Bande an ihrem Herzen zerren. –

Wenigstens ein Wort der Versöhnung, der Verzeihung hätte sie erlangen mögen! Der Anblick einer hinfälligen alten Frau ergriff sie stets; sie tat ihr Allerbestes, um zu helfen, zu erfreuen. Was sie an Güte dann an irgend eine arme Alte verschwendete, galt der vereinsamten Mutter, die nichts von ihr wissen wollte.

Da, eines schönen Oktobermorgens, fand sie unter dem Haufen von Briefen, der täglich auf ihren Tisch gelegt wurde, ein altmodisch längliches Kuvert mit von ungeübter Hand geschriebener Adresse.

Sie wollte den Brief einstweilen zu anderen ähnlich aussehenden Bittgesuchen legen, als ihr Blick auf den Poststempel fiel. Was war das?! – Der Name des kleinen Postorts, von dem sie einst in Liebesseligkeit und Kummer des Prinzen Briefe abgeholt hatte, die Poststation Zollbrücks! – Es überlief sie heiß.

Mit zitternden Fingern öffnete sie den Umschlag, entfaltete den Brief und las:

 

»Mein liebes gnädiges Fräulein,

ich bitte, zu verzeihen, daß ich wage, zu schreiben. Aber ich kann nicht länger schweigen, denn unsere gnädige Frau Baronin härmt sich ab und siecht hin und gnädiges Fräulein Hilma sind weit. Ich denke immer: wenn gnädiges Fräulein nicht bald kommen, werden Sie die Mama am Ende nicht mehr finden. Auch unser Fräulein Anita, die ja jetzt unsere Frau Pfarrerin ist, sagt, die Frau Baronin wären doch sehr schwach. Nun bitte ich noch vielmal um Entschuldigung, auch wegen der schlechten Schrift, weil ich doch nur eine Bauersfrau bin und nicht besser kann. Und ich hab die vielen Kinder, die uns der liebe Gott geschenkt hat. Womit ich in Ergebenheit verbleibe

Ihre alte Dienerin
Amanda Strohl.

Hilma überlas den Brief unter Lachen und Weinen.

›Natürlich und wie immer trifft sie das Rechte, diese goldene Amanda,‹ dachte sie. ›Warum warte ich, daß ich gerufen werde, und weiß doch, daß ich vergeblich warte?! Kommen will ich ganz einfach und da sein, – das andere wird sich finden.‹

Sie ging sofort daran, für die laufende Arbeit, die notwendig getan werden mußte, Vertreterinnen zu suchen, und als ihr dies nach einigem Mühen gelungen war, reiste sie ab. –

In dem von Zollbrück noch stundenweit entfernten Eisenbahnort nahm sie ein Wägelchen.

Als der Einspänner die Höhe des letzten Hügels über dem Dorf erklommen hatte, bat sie den Kutscher, hier zu halten, und stieg aus, ihn mit ihrem Handkofferchen allein nach dem Dorfwirtshaus dirigierend.

Sie blieb neben dem dicken alten Steinkreuz stehen, das noch aus der Pestzeit stammte, und schaute auf die roten Dächer hinab, die, um das Kirchlein geschart, traulicher als irgend etwas sonst in der Welt zwischen den grünen und herbstlich bunten Bäumen lagen.

Ihr schlug das Herz so stürmisch, daß sie kaum weiter konnte.

Durch ein Hinterpförtchen schlich sie sich in den Park, und die Knie zitterten ihr, als sie die alten Wege wandelte und mit wachen Augen wiedersah, was sie im Traum, – ach Gott, wie oft! – geschaut.

Alles fand sie wie einst. Hier war sie mit Horst von der Mauer gesprungen, dort hatte Anita den unglücklichen Fall getan, – da stand noch der Rautenbusch, an dem sie die »Bitternis des Todes« kosteten, – die alte Steinlinde, darauf sie Storchennest gespielt.

Und hier! Und dort! ...

Jedes Fleckchen, jede Bank, jeder Baum erzählte eine Geschichte!

War das Haus kleiner geworden?! Fast schien es ihr so. Aber nein: nur alle Bäume und Büsche waren gewachsen.

Von all dem tobenden Vorwärtshasten, dem rastlosen Wechsel und Wandel in der Menschenwelt draußen, war dieser stille Erdenwinkel unberührt geblieben.

Denn die Natur, obwohl sie lebt und Leben schafft, zeigt, wo Menschenwillkür sie nicht hindert, stets das gleiche Angesicht, – das Angesicht Gottes.

Hilma betrat das Haus.

Alle Türen standen offen. Innen herrschte Ruhe und Stille wie außen.

Am Fuß der Treppe trat ihr ein ältlicher Diener entgegen, den sie nicht kannte.

Sie frug nach der Baronin.

»Die Frau Baronin empfangen keinen Besuch. Sie sind krank.«

Hilma sah dem Mann in die Augen.

»Ich möchte sie trotzdem sehen, denn sie ist meine Mutter.«

»Unser gnädiges Fräulein Hilma!« rief der Diener. »Nee, Du lieber Gott aber!«

»Sie sind ein Zollbrücker?«

»Nu freil'ch, gnä' Fräul'n! Der Amand Reißland bin ich! Wissen gnä' Fräul'n noch, wie wir den kleinen Hund ins Wasser tragen wollten, was nachher der Sokrates war?«

»Ach ja! Ja! Alles weiß ich noch. Ist die Mama noch in ihrem alten Zimmer?«

»Ja, im Erkerzimmer, gnä' Fräul'n.«

Wie genau kannte sie den Weg! Leise ging sie durch Flur und Vorzimmer, leise öffnete sie die Türe ein wenig und schaute durch den Spalt in das Zimmer.

Von dem Luftzug, – denn das Fenster stand offen, – kamen die Vorhänge in wehende Bewegung. Die alten Gardinen waren es, von gesticktem Tüll. Der Erker stand voll blühender Topfgewächse, wie einst.

Die Mama lag auf der Couchette, weiche Decken umhüllten sie, aber durch die Decken sah man die Formen ihrer Gestalt, und sie erschienen seltsam klein und schmächtig.

Auf einem Tischchen am Kopfende des Lagers stand in einer Vase aus blauem Ton ein Strauß prachtvoller Spätrosen und neben den Blumen lag ein Buch in schwarzem Leder-Einband mit goldenem Kreuz: Der Thomas a Kempis.

Das Klavier stand offen.

Alles wie in der alten Zeit: Ihre Blumen, ihre Musik, ihr Thomas a Kempis, – und Stille.

Sie hatte zur Decke aufgesehen, jetzt machte das geisterblasse verfallene Gesicht eine schwache Wendung der Türe zu.

Dann sagte eine matte Stimme: »Bist Du's, Adolfine? Komm nur herein! Ich schlafe nicht.«

Einen Augenblick später lag Hilma vor der Mutter auf den Knieen.

»Mama! Ich bin's. Dein Kind! Hilma!«

Die Mama öffnete die Augen groß und weit. Als sie endlich begriff, schwanden ihr die Sinne.

Hilma entsetzte sich nicht und rief auch nicht nach Hilfe. Sie war nicht mehr unwissend, hilflos und verängstet wie einst, sondern kannte Frauennöte und Frauenschwachheit von allen Arten und wußte damit umzugehen.

Ihren Bemühungen gelang es rasch, die Ohnmächtige ins Bewußtsein zurückzubringen. Sanft und ruhig sprach sie der Zitternden zu, bis diese sich wirklich beruhigte.

»Ich habe nicht geglaubt, daß ich Dich in diesem Leben noch einmal sehen würde!« seufzte die Mama.

»Siehst Du mich nicht gern bei Dir?«

»Ach ja, natürlich! Ich habe mich so sehr gesehnt.«

»Nach mir?! Aber warum riefst Du mich nicht? Wie hab ich gewartet auf ein Wort von Dir! Seit Jahren und Jahren.«

Die Mama seufzte tief. »Wie konnte ich? Wenn Du doch aus freier Wahl von uns gegangen warst zu ihm? –«

»Ich schrieb, und Du hast den Brief nicht einmal gelesen, Mama?«

»Ich habe nie einen Brief von Dir bekommen,« hauchte die Mama.

»Man hat ihn Dir nicht gegeben,« sagte Hilma bitter.

Die Mama entgegnete kleinlaut: »Das war anfangs so ausgemacht worden, und sie haben es dabei gelassen, um mir Aufregung zu ersparen. Denn Du weißt, die hab ich seit meinem Unglück nicht mehr vertragen können. Wir sprachen auch darum niemals von Dir, und später hatte ich nicht den Mut, zu fragen. Einmal fing die gute Anita an, – die ist ja jetzt unsere Pfarrerin, – da bekam ich gleich einen so entsetzlichen Weinkrampf, daß ich tagelang vor Schwäche im Bett liegen mußte. Meine Widerstandskraft ist eben ganz aufgebraucht.«

»Und so ließen sie Dir lieber Deine Ruhe,« sagte Hilma traurig.

Die Mama zitterte vor dem Gedanken an den Onkel Gustav.

»Wenn er nur nicht in furchtbaren Zorn gerät! Willst Du Dich nicht bei der Anita verstecken? Vielleicht merkt er gar nichts. Das wäre das beste.«

»Nein, Mama. Fürchte Dich nicht. Er wird mich nicht umbringen, – und Dich erst recht nicht.«

Als Hilma eine halbe Stunde später die sehr ruhebedürftige Mutter verließ und aus der Haustür trat, kam eben der Onkel Gustav mit einem Hühnerhund und zwei Teckeln von der Jagd zurück. Er hatte offenbar schon von ihrer Ankunft gehört, denn statt Überraschung zu zeigen oder zornig zu werden, begrüßte er sie gelassen, mit der Artigkeit des Hausherrn einem fremden Gast gegenüber.

»Wie ist denn der Maria, – Deiner Mama, – diese kleine Überrumpelung bekommen?« fragte er mit unsicherem Augenblinzeln.

»Recht gut, glaube ich. Ich denke, daß ein etwas rücksichtsloses Aufrütteln möglicherweise kräftigender wirkt, als gar zu viel Schonung. Ich hoffe es.«

»Das wäre wirklich ein wahrer Segen,« sagte der Onkel. »Aber ich fürchte, Du bist zu optimistisch, verehrte Nichte! Deinen Koffer habe ich übrigens schon holen lassen. Du wohnst doch wohl wieder in Deinen alten Parterre-Zimmern, oder sind sie Dir zu kalt?«

Nein, sie wollte gern in den alten Räumen wohnen.

»Deine Mutter hast Du wohl recht gealtert gefunden?« fragte er.

Sie antwortete lächelnd: »Gealtert sind wir natürlich alle.«

Der Hüne, vor dem sie sich einst so leicht gefürchtet hatte, schien kleiner geworden. Seine Haltung war etwas gebeugt. Sein Gesicht war noch röter als einst, aber das Haar ergraut, auch Bart und Brauen. Diese, dicht und buschig, hingen tief über die kleinen graublauen Augen, die noch immer finster blicken und böse blitzen konnten.

Aber das alte Gefühl furchtsamer Scheu konnte Hilma nicht mehr heraufrufen. Zu deutlich empfand sie jetzt die geistige Hilflosigkeit, die sich unter der grimmigen Hülle verbarg.

»Da Du mich aufnehmen willst, möchte ich sehr gerne einige Tage bei Euch bleiben,« sagte sie.

Er antwortete: »Wenn wir es Dir nur ein wenig behaglich machen könnten!« – beinah herzlich sagte er es.

Was sich in ihrer aller Einbildung zu Unmöglichkeiten ausgewachsen hatte, zeigte sich nun in der Wirklichkeit vollkommen natürlich und einfach!

Hilma nahm allein mit dem Onkel die Mittagsmahlzeit ein, und weil er wenig sprach, erzählte sie ihm dies und das, bis er ganz munter wurde.

»Wir sind eingerostet,« bemerkte er. »Haben verlernt, den Mund aufzutun. Es wäre recht verdienstlich, wenn Du ein wenig von dem Rost wegputzen wolltest. Es ist aber auch hohe Zeit, daß Du Dich einmal nach Deiner Mutter umsiehst.«

Sie sah ihn schweigend an, ohne den Brief, den er der Mama vorenthalten hatte, zu erwähnen. Er wollte sich jetzt offenbar seiner feindseligen Haltung nicht erinnern, also erinnerte sie ihn auch nicht daran.

11.

Am Nachmittag ging Hilma in das Dorf, zuerst nach dem Pfarrhaus, wo Pfarrer Günter jetzt an Stelle seines Schwiegervaters, des verstorbenen Kirchenrat Mathis, waltete. Eine sittsame, sehr saubere Pfarrmagd führte sie durch das Haus in den Garten.

Pfarrer und Pfarrerin waren dabei, die blauen Weintrauben abzuschneiden, die an einer sonnigen Scheunenwand am Spalier gereift waren.

Pfarrer Günter war stämmiger und breiter geworden, sein dunkles Haar fing an leicht zu ergrauen, und das freundlich-ernste Gesicht zeigte gleichfalls die Spur der Jahre.

Anita dagegen schien völlig unverändert: die schlanke Gestalt mit den ruhigen Bewegungen, die vollen, glatten, blonden Scheitel und die zarten Farben des Gesichts, das an Biskuitporzellan erinnerte, ganz wie einst! Die Zeit hatte keine Furchen in dies reine Antlitz graben können.

Sie begrüßte Hilma freundlich und ruhig, als habe sie sie erst vorgestern gesehen, führte sie aber ins Haus, den Pfarrer allein bei den Trauben zurücklassend.

»Treue Hilma,« sagte sie, »Gott wird es Dir lohnen, daß Du heimgefunden hast! Deine gute Mutter ist recht schwach.«

Während Anita sprach, erinnerte sie jetzt an die verstorbene Kirchenrätin. Wie bei jener, wirkten auch ihre ganz schlichten Worte eindringlich durch die Echtheit und den alles durchdringenden Lebensernst, aus dem sie unmittelbar hervorgingen.

Sie saßen in der alten »guten Stube«, in der einst die griechischen Stunden stattgefunden hatten, und auch hier war nichts verändert, schien die Zeit spurlos vorüber gegangen.

Der ganze Pfarrhof glänzte noch wie einst von Sauberkeit und zierlichster Akkuratesse, innen und außen. Und diese Ordnung hatte nichts Kahles, denn sie war gepaart mit dem häuslichen Schmuck eines ererbten, gediegenen Wohlstandes, den der Kunstsinn einer vergangenen Kultur prägte. Dies Haus war wirklich ein Tempel, in dem die Frau, – Anita, – als Priesterin waltete, das heilige Herdfeuer hütend!

Nun saßen sie auf den altvertrauten, gediegen schönen Stühlen um den eingelegten Mahagonitisch und unterhielten sich ruhevoll von den alten Tagen.

Sie sprachen von Lampert. »Er ist früh heimgegangen,« sagte Anita, »und, weißt Du, ich glaube, er war schon zu gut für die Welt.«

»Ja, er war gut.«

»Weißt Du eigentlich, daß er meine erste Liebe gewesen ist?«

»Ich riet es.«

»Damals war ich recht kleingläubig und verzagt. So wenig wissen wir, was uns zum Heil dient!«

Hilma erzählte von Miß Moore, die in London einem Ladies-College vorstand und die sie dort mehrfach besucht hatte.

»Sie war eine treue Seele,« sagte Anita.

Anita schaute die Menschen und ihre Geschicke nie anders, als in der Ewigkeitsperspektive. Das hob ihre einfachen Äußerungen ganz wundersam aus der Alltäglichkeit heraus.

Als Hilma sich von ihr verabschiedet hatte, blieb ihr der Eindruck von etwas seltsam Reinem, Ernstem und Geschlossenem, ein Eindruck, der so stark war, daß er wie ein Erlebnis wuchtete. Es war etwas in dem strengen Stil dieser Lebensschönheit, was an eine Fuge von Bach gemahnte.

Auch andere Gedanken drängten sich auf. Hilma hatte sich daran gewöhnt, das Hauswirtschaften der Frau nur von sozial-ökonomischen Gesichtspunkten aus zu betrachten, als ein Arbeitsgebiet und einen wirtschaftlichen Machtfaktor. In Anitas Heim war ihr mit einem Mal deutlich geworden, daß eine Häuslichkeit zum edelsten Kunstwerk werden kann, und daß die Frau, die dieses Kunstwerk schafft und erhält, zu des Lebens feinsten Künstlern zählt.

›Anita gibt ihrer Umgebung Schönheit und reinen Stil,‹ dachte sie, ›Amanda strömt auf die ihrige Wärme und Leben aus. Beides ist köstlich.‹

Sie hatte ihren Besuch im Strohl-Hof angesagt und wußte, daß die Amanda sie schon erwartete.

Da lag das stattliche Bauerngehöft mit seinem hohen, wetterdunklen Ziegeldach, seiner Holzgalerie und dem altertümlichen Fachwerk.

Und in ihrem Sonntagsanzug stand die Amanda stattlich in dem Pförtchen der gerundeten Hofmauer. Hinter ihr drängte sich eine junge Schar.

Hilma umarmte und küßte die Bäuerin.

›Du bist eine Wohltäterin,‹ dachte sie, ›und warst es immer. Auch für mich.‹

Die Amanda lachte und weinte, und unter Tränen lachend zeigte sie ihre Kinder, eins nach dem anderen, und nannte sie zärtlich mit Namen. Das jüngste konnte kaum auf den Füßchen stehen, der älteste Sohn, ein schlanker, blonder Bursche mit den sonnigen Augen seines Vaters, sollte schon »auf Ostern« zum Militär.

Die Wangen aller dieser großen und kleinen Kinder waren rot, und die Augen aller glänzten vor Daseinsfreude.

»Zehn!« stellte Hilma fest.

Da sagte die Amanda betrübt und mit gedämpfter Stimme: »'s war'n 'r elf. Uns is ein kleines Malchen gestorben.«

Hilma tröstete: »Dein Segen ist reich genug.«

Die Amanda trauerte dennoch um das elfte. »Wir hätten's zu gern behalten! Mein Mann spricht immer: er beneidet keinen, der bloß zwei oder drei Kinder hat. Wir haben doch an jedem einzigen unsre zu große Freude!«

Hilma wurde in die Stube geführt. Die älteste Tochter trug Kaffee herbei, die zweite eine Schüssel mit hausbackenem Kuchen.

Der Gast saß auf dem Sofa, die Amanda auf einem Stuhl. Alle zehn Kinder standen strahlend vor Festfreude um sie her, bescheiden still, nur lauschend und schauend.

Nun kam auch der Louis, gebräunt und von Arbeit und Wetter mitgenommen, aber auch er in Gesundheit und Glück strahlend.

Er war jetzt nach der Eltern Tod der Hofbauer, hatte das Tüncherhandwerk ganz an den Nagel gehängt.

»Wir haben noch ein Stück Ackerland zugekauft,« erzählte er, »das will bewirtschaftet werden. Da müssen unsere Großen tüchtig mit an die Arbeit. An Sorgen fehlt's ja auch nicht. Zwölf Köpfe, die wollen ernährt werden!«

»Ja freilich,« stimmte Hilma bei. »Und gekleidet dazu.«

Aber Mutter Amanda lächelte zuversichtlich: »'s sind noch immer alle satt geworden.«

Als Hilma sich endlich auf den Heimweg begab, ging die Amanda ein Stück Weges mit.

Nun sie ihre kleinen Freudenspender nicht um sich hatte, war sie ernst und sprach bekümmert von der lieben gnädigen Frau, die gar so elend sei.

Auch von Schwerem, was sie selbst durchlebt hatte, erzählte sie. Von den Schwiegereltern, die bis vor kurzem als Herren auf dem Hof geschaltet hatten, denen alles sich fügen mußte! Auch noch, als sie schon bresthaft und halb kindisch waren und beständiger Wartung bedürftig.

»Es ging oft scharf über mich her,« gestand die Amanda, »die kleinen Kinder immer und das liebe Vieh, das wollte doch alles versorgt sein und seine Zeit haben. Und das konnte nun die Schwieger nicht mehr begreifen. Da mußt' ich nu immer springen und hetzen, und wenn ich eben meinte, ich hätt' alles in Ordnung gebracht bei der alten Frau, da rief sie schon wieder: Amande! Ach, da hab' ich mich manchmal zusammennehmen müssen! Nu, ich hab's so gut mit ihr gemacht, wie ich konnte, und der liebe Gott hat ja auch immer geholfen, daß ich die Geduld behielt. Nur wenn sie mal zu mir sagte: ›Gute Mande!‹ das konnt' ich nicht hören.«

»Warum denn nicht?« fragte Hilma. »Du warst doch sehr gut zu ihr, und sie meinte es gewiß von Herzen.«

Die Amanda sah aus, als werde sie von einer quälenden Erinnerung gepeinigt. Sie suchte nach Worten, um sich verständlich zu machen.

»Wenn's meine Mutter gesagt hat,« erklärte sie, »dann hab ich's gern gehört, – aber von der Schwieger – das is mir allemal so durch und durch gegangen, denn eigentlich war ich ja nicht gut.«

» Du wärst nicht gut gewesen?!«

»Äußerlich schon; aber nicht innen.«

Hilma verstand. Weil die Amanda der Schwieger nur aus Pflicht und mit großer Selbstüberwindung gedient hatte, war ihr der Dank der Alten unerträglich gewesen! –

Beim nächsten Parkpförtchen trennten sie sich herzlich. Die Sonne sank, und Hilmas Füße raschelten in dem gelben Sternenteppich, den das fallende Ahornlaub an manchen Stellen über den Weg legte.

Sie war tief in Gedanken.

Vor ihrem Geist zogen Bilder aus dem Großstadttreiben vorüber, das nun seit Jahren ihre Welt gewesen war, ohne daß sie sich je darin hatte wirklich heimisch fühlen können.

Sie dachte all der tüchtigen Frauen, die dort so rastlos arbeiteten und strebten, um bessere Zustände zu schaffen. Sie leisteten Staunenswertes; aber die meisten wollten nicht nur schaffen, sondern auch etwas gelten, etwas vorstellen, bemerkt und bewundert werden. Es war viel Kleinliches, viel Eifersucht, Neid, Eitelkeit mit diesem Wirken am Gemeinwohl verknüpft, bei den Frauen ganz wie bei den Männern.

Das konnte kaum anders sein. Das Leben in der Öffentlichkeit brachte es mit sich. Auch sie selbst hatte sich nicht immer von Erfolgseitelkeit frei halten können.

Aber daß die Frauen sich in dieser Art am Menschheitswerk betätigen mußten, war wohl nur ein notwendiges Übel, ein zu überwindender Übergang. Um ihre Kräfte schön und frei regen zu können, mußten sie erst die Mauern, die sie einzwängten, sprengen; aber nicht das Sprengen war das Ziel, sondern die Freiheit. Was sich dann aus dem Werde-Chaos herauskristallisieren sollte, war als vollendetes Schönstes doch nur: statt der instinktiv sicheren, unbewußten Anita und Amanda, die durch Wissen hindurchgegangene bewußt Wollende.

Segenspenderin sollte die Frau sein! Die leuchtende, wärmende, belebende Sonne, die inmitten ihres kleinen Planetenkreises der Ruhepunkt ist. Das Schweifen in die Fernen mochte dem Mann bleiben, – und jeder andere Ruhm. Und je mehr dieser zentralen Sonnen flammen, desto reicher und freudiger wird ringsum das Leben sich entfalten. – Nur darf es kein »Du sollst« sein, sondern ein aus tiefer Überzeugung geborenes »ich will«. –

Als Hilma sich dem Herrenhaus näherte, kam ihr der Onkel entgegen.

»Du bist lange fortgeblieben. Deine Mutter hat schon hundertmal nach Dir gefragt. Sie ist wie elektrisiert durch Deinen Besuch.«

»Ich will gleich zu ihr hinaufgehen.«

Der Onkel seufzte.

»Wenn Du doch länger bei uns aushalten könntest!«

»Ich kann,« sagte sie lächelnd.

Er schüttelte den Kopf. »Du würdest ja vor Langeweile sterben. Es ist einsam und still hier, wie auf einem Kirchhof. Das erträgst Du nicht.«

Sie antwortete: »Einsamkeit schreckt mich nicht mehr. Man muß nur erst die Welt kennen gelernt haben, um zu wissen, daß das wahre Leben nicht dort ist, wo die Stürme toben, sondern da, wo Natur und Stille ist.«

Ihre Worte gefielen dem alten Herrn.

Ein wenig später saß Hilma am Teetischchen der Mama in dem blumendufterfüllten Erkerzimmer.

Sie goß den Tee in Mamas Tasse, gab Zuckerstückchen und Sahne dazu, schnitt die Rinden von den Butterbrötchen und erzählte allerlei Unterhaltendes, bis Leben und sogar ein schwacher Schimmer von Heiterkeit in das vergrämte Gesicht zurückfluteten.

›Ja, dies ist es, was ich künftig zu tun habe,‹ dachte Hilma.

Auf einmal sah sie, daß den Augen der Mama Tränen enttropften.

»Was betrübt Dich?«

»Ich ... ach ... ich fürchte mich so sehr davor, daß Du gehst und mich wieder allein läßt!«

Hilma streichelte und küßte die Weinende.

»Ich lasse Dich nie mehr allein, meine arme, kleine Mama!«

Ganz erschöpft von Freude und Schmerz und wieder Freude, mußte die Mama ihr Bett aufsuchen. Die alte Adolfine ging hin und her und stellte die Öllampe mit dem grünen Schirm auf den Betstuhl, wo sie unter der Vision des heiligen Franz von Assisi leuchten mußte, bis die Herrin eingeschlafen war.

Hilma setzte sich an das Bett und sprach der Erregten beruhigend zu.

Sie hatte diese Mutter nie zu lieben gemeint, – aber nun: dieser heiße Drang, zu trösten, dieses innige Erbarmen, das ihr keine Ruhe gelassen hatte, – woher kam es? – –

Auf einmal sagte die Mama: »Ach, Kind, es quält mich so, – sag' mir nur eins: ist Dein Vater als Christ gestorben?«

»Als ein echter Christ,« antwortete Hilma entschieden; und mit weicher Stimme fügte sie hinzu: »Er war nicht glücklich, Mama! Er hat lange innerlich um das Vergangene getrauert.«

Die Mama hatte sich halb aufgerichtet. Ihre Augen öffneten sich weit in leidenschaftlichem Verlangen.

»Hat er bereut?« forschte sie.

Hilma antwortete leise: »Ja.«

Die Mutter sank zurück und schloß die Augen. So lag sie eine Weile schweigend. Allein an dem Zucken um Mund und Nasenflügel sah Hilma, daß es in ihrem Inneren heftig arbeitete.

Endlich blickte sie mit einem Ausdruck starker Ergriffenheit auf und sagte:

»Ich danke Dir! Ich danke Gott! Denn jetzt kann ich ihm endlich verzeihen!« –

 


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