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Zweites Buch.

1.

»Am Grund von allem wohnt in uns doch eine tiefe Sehnsucht,« sagte Hilma. »Wenn alles andere schweigt und schläft, ist sie wach. Sie ist zuweilen so stark, daß man daran zu vergehen meint. Und sie hat mit der Umwelt gar nichts zu tun. Man fühlt sie immer, sehnt sich und sehnt sich, ohne zu wissen nach was. Glaubst Du nicht, Anita, daß diese dunkle tiefe Sehnsucht die Seele ist? Irgend wie muß die Seele doch zu fühlen sein.«

Anita entgegnete: »Ich mag solchen Gedanken nicht nachgrübeln. Der Papa sagt, es ist eine Versuchung, der man aus dem Weg gehen soll.«

»Tust Du immer alles, was er sagt? Immer?«

»Ja, so gut ich kann.«

»Ist Dir noch nie eingefallen, er könnte auch irren?«

»Das wäre sehr traurig.«

»Daß er sich mal irrte?«

»Nein: wenn ich meinem Vater nicht vertrauen wollte; denn er steht für mich an Gottes Statt.«

»Es gibt doch aber auch böse Väter,« sagte Hilma seufzend, »oder man hat überhaupt keinen.«

»Ja, das ist wohl eine schwere Prüfung, die Gott solchen schickt, mit denen er besondere Wege vorhat.«

So unterhielten sich die jungen Mädchen.

Bei aller Verschiedenheit war ihnen eins gemeinsam: ein für ihre Jahre ungewöhnlicher Ernst.

Sie saßen an dem runden Tisch, über dem eine kostbar gestickte seidene Decke hing, in der guten Stube des Zollbrücker Pfarrhauses.

Seit drei Monaten war nun Hilma wieder hier, und die zwei Jahre, die dazwischen lagen, erschienen ihr wie ein schwerer Traum.

Denn damals nach ihrer Einsegnung hatte sie der Onkel Gustav nach Paris gebracht in ein berühmtes Fräuleinsinstitut, welches von Nonnen geleitet wurde. »Damit Du drei Dinge lernst,« hatte der Großpapa gesagt. »Gute Manieren, gutes Französisch und Religiosität.«

Ob diese Religiosität ihr auf protestantische oder auf katholische Weise beigebracht würde, war denen zu Hause einerlei.

Am Bahnhof hatten sie die Nonnen schon in Empfang genommen. Der Onkel Gustav hatte sie abgeliefert, und dann sah sie nichts mehr von ihm, sondern fuhr mit den beiden fremden Nonnen im geschlossenen Wagen nach dem Kloster. Dies Kloster mit seinen hohen, hohen Gartenmauern, – Mauern, die man nicht erklimmen und von denen man nicht herunterspringen konnte, hatte sie zwei ganze lange Jahre nicht verlassen!

Die meisten Klosterschülerinnen wurden zu den Ferien nach Hause geholt, – sie mußte immer zurückbleiben. Ach diese hohen, hohen Mauern, über die man nie wegsehen konnte! Diese verrammelten Pforten! Dies beständige, strenge Überwachtsein! –

Das Heimweh nach dem freien Land und nach Zollbrück hatte sie im ersten Jahr ganz krank gemacht.

Aber sie lernte gutes Französisch und Kunststickerei und die Manieren, die ein vornehmes Fräulein nach der Auffassung der Nonnen haben mußte.

Das ganze Tagesleben war mit religiösen Übungen durchsetzt, an denen sie stets teilnahm, doch machte man keinen Versuch, sie ihrer Konfession abwendig zu machen. Hilma hatte sich anfangs gar nicht den Mitschülerinnen anschließen können, weil sie zu einsam aufgewachsen war und den anderen zu fremd. Allmählich ging es besser, trotzdem schloß sie keine intime Freundschaft. Dagegen wurde sie, gleich allen anderen jungen Mädchen, von dem Geist schwärmerischer religiöser Askese, der die Nonnen beseelte, angesteckt. Es war der einzige Quell, aus dem alle diese nach dem Leben schmachtenden jungen Seelen die Gemütserregungen schöpfen konnten, die ihnen unentbehrlich waren.

Die Nonnen waren gut und liebevoll; nur persönlich konnte man ihnen nicht nahe kommen, – das war in ihrer Ordensregel begründet.

Niemals sprach eine Nonne von sich selbst.

Hilma war fast achtzehn Jahre alt, als Miß Moore sie aus dem Kloster nach Zollbrück zurückholte.

Vor der Abreise hatte man ihr statt der häßlichen Klostertracht ein hübsches Pariser Reisekleid angezogen, in dem sie, nach Aussage einer Mitschülerin, wie eine wirkliche Schönheit aussah.

Ja, nun war sie also erwachsen und hübsch und gut gekleidet. Sie sprach Französisch wie eine Pariserin, konnte damenhaft gehen und tanzen und Komplimente machen. Ihre Erziehung war vollendet.

Die zu Hause schienen befriedigt. Der Großpapa beehrte sie mit artigen Scherzchen und Neckereien, der Onkel Gustav war aufmerksam, die Mama freundlich.

Der Onkel Gustav nahm sie auf seinen Fahrten nach der kleinen Landeshaupt- und Residenzstadt mit, ging mit ihr in ein Konzert oder auf das Vogelschießen oder besuchte mit ihr einige alte Tanten, die ihre lieben Gäste dann mit Kaffee, Kuchen, süßem Wein und Schlagsahnentorte fütterten.

Ihre Begleitung schien dem Onkel ein besonderes Vergnügen zu machen. Sie hörte ihn einmal sagen: »Die Hilma ist so hübsch geworden, daß sich die Leute auf der Straße nach ihr umsehen.«

Das machte ihr insofern Eindruck, als es von dem Onkel kam, dem sie früher stets mißfallen zu haben meinte. Aber sie bemühte sich, nicht viel daran zu denken, ob sie hübsch aussähe oder nicht. Die Nonnen hatten so dringend vor weltlicher Eitelkeit gewarnt.

Gerne hätte Hilma den Onkel auch einmal ins Theater begleitet, aber das wollte die Mama nicht haben. Sie wurde bitter, wenn man es nur erwähnte. »Das Theater ist eine Stätte des Satans,« sagte sie. »Das Laster wird dort geradezu ausgebrütet.«

Dazu schwiegen Großpapa und Onkel seltsamerweise, obwohl sie, wie Hilma wußte, die Antipathie der Mama nicht teilten.

Miß Moore allein war in ihrem Verhalten ganz die alte geblieben. Sie las jetzt Carlyle und Tennyson mit Hilma und begleitete sie auf den Wanderungen durch Wald und Feld.

Auch die Amanda war noch im Hause, aber sie hatte einen Schatz.

»Das dumme Ding will heiraten,« klagte die Mama. »Sonst ist sie ein ordentliches, braves Mädchen, ein treues Ding. Aber die törichten jungen Frauenzimmer können immer gar nicht die Zeit erwarten, in ihr Unglück zu rennen.«

»Ist Heiraten ein Unglück?« fragte Hilma.

»Ja,« sagte die Mama, »für ein edelgeartetes weibliches Wesen ist es immer etwas Schreckliches auch ohne das äußere Unglück, das so oft dazu kommt. Die Ehe ist etwas Grauenvolles; aber davon kannst Du Dir zum Glück keine Vorstellung machen. Ich bete zu Gott, daß Du es nie erfahren mögest.«

Andeutungen dieser Art hatte Hilma auch von den Nonnen gehört.

Übrigens konnte sie sich doch etwas mehr vorstellen, als die Mama glaubte, denn die jungen Pariserinnen im Kloster hatten ihr mit frommem Schauder entsetzliche Dinge mitgeteilt.

Hilma dachte aber nicht gerne daran. Sie schämte sich. Daß man mit einem fremden Herrn so intim werden sollte, wie die jungen Damen im Kloster behaupteten, schien ihr unmöglich. –

Amanda war zu Hilmas persönlicher Jungfer ernannt worden.

»Also, Du hast einen Schatz, Manda?«

Die Amanda nickte und lächelte glücklich. »Ja, gnä' Fräul'n.«

»Wer ist es denn?«

»Dem Strohl sein Louis.«

»Was? Mein alter Freund, der seinen Backsteinkäse mit mir teilte? Den willst Du heiraten? Aber der muß doch noch viel zu jung sein!«

»Nu, er is zwanzig un ich bin achtzehn. Aber nu muß er leider noch seine Militärzeit abdienen.«

Die Manda seufzte.

»Freu Dich doch, wenn Du noch ein paar Jahre Zeit hast,« meinte Hilma. »Das Heiraten soll gar nicht schön sein.«

»Ach, gnä', Fräul'n, wenn zwei sich lieb haben, hernach möcht' mer auch zusammen bleiben.«

»Nun, wenn Du durchaus heiraten willst, dann freue ich mich, daß Du den Louis Strohl bekommst. Den hab' ich immer besonders gern gehabt.« –

Es gab jetzt etwas in Hilmas Leben, was noch schöner war, als die Fahrten zur Stadt.

Der alte Herr Kirchenrat hatte unlängst einen Hilfsgeistlichen zuerteilt bekommen, weil er die Arbeit in der Gemeinde nicht mehr allein bewältigen konnte. Und dieser »Herr Kolbrater«, wie die Bauern ihn nannten, war kein anderer als Horst und Hilmas einstiger Lehrer, der Kandidat Lampert.

Ihm hatte Hilma eines Tages anvertraut, daß sie keinen heißeren Wunsch habe, als Griechisch zu lernen. Und Lampert hatte wirklich Kirchenrats dazu überredet, der Mama den Vorschlag zu machen, daß Hilma und Anita gemeinsam bei ihm griechische Stunden nehmen sollten.

Wenn aber der Mama ein Vorschlag von Kirchenrats kam, für die sie schwärmte, war er auch schon angenommen.

»Das Studium des Griechischen unter der vorsichtigen Leitung unseres treuen Lampert kann den jungen Leuten nicht schaden,« hatte der Herr Kirchenrat geäußert.

Hilma fürchtete anfangs, Anita, die nie einen Drang nach Wissen gehabt hatte, werde sich gegen den Plan wehren oder sich doch nur mit Unlust fügen.

Aber nein! Obwohl sie schwer faßte und sich gehörig anstrengen mußte, um einigermaßen mit Hilma Schritt zu halten, waren ihr die Stunden offenbar lieb.

Anitas Gedanken beschäftigten sich jetzt auffallend viel mit Herrn Lampert. Beständig brachte sie das Gespräch auf ihn. Aber Hilma begriff die Freundin nicht recht, denn während diese immerfort von dem Kandidaten sprach und an ihn dachte, schien sie ihn mit einer etwas spottlustigen Überlegenheit zu betrachten. Sie konnte ganz amüsant werden, wenn sie sich über Lampert lustig machte. Und so wurden Scherze über ihn zu einem Lieblingsthema in den Unterhaltungen der jungen Mädchen.

Im Scherz wie auch im Ernst würdigte Hilma jetzt die Pfarrerstochter mehr als vormals. Sie begann in der gehorsamen Anita eine glaubensstarke, charakterfeste Persönlichkeit zu ahnen und zu achten.

2.

Andreas Lampert sah nicht mehr aus wie ein halberwachsener Knabe, der sich niemals satt gegessen hat. Er war jetzt ein ansehnlicher junger Mann, aber immer noch still und sanft, zu beiden Mädchen gleichmäßig freundlich, geduldig und höflich.

Hilma behauptete, sie könne ein sprechend ähnliches Porträt von ihm aus lauter Halbkreisen zeichnen, denn sein ganzer Kopf bestehe aus solchen Linien: Schädel, Stirn, Nase, Kinn und Augenbrauen. Auch fertigte sie wirklich eine Karrikatur nach diesem Schema, die Anita, nachdem sie sie sehr belacht hatte, sich schenken ließ.

Gewöhnlich saß er ihnen während des Unterrichts mit niedergeschlagenen Augen gegenüber, aber Hilma bemerkte, daß sie ihn leicht reizen konnte – durch irgend ein verwegenes Wort –, betroffen aufzublicken und sie anzustarren.

Seine Entgegnungen waren dann ganz ruhig; aber die Art seines Anschauens hatte ihr doch verraten, daß etwas in der Tiefe seines Wesens berührt worden war. Und nun sie wußte, daß es in ihrer Macht lag, ihn aus seiner gleichmäßigen Ruhe herauszureizen, wenn auch nur für Sekunden, machte ihr das ein außerordentliches Vergnügen und sie legte es häufig darauf an.

Ganz unbefangen teilte sie diese Beobachtungen und Experimente der Freundin mit.

»Wenn ich ihm z. B. etwas über seine Person sage, wird er dunkelrot. Paß mal auf!«

»Zu läppisch!« fand Anita, wurde aber selbst ganz rot.

Eines Tages aber erklärte Anita: »Ich finde Deine Art, Herrn Lampert zu uzen, nicht ganz recht.«

Hilma entgegnete übermütig: »Liebe Anita, laß das Schulmeistern! Nichts ist langweiliger! Herr Lampert wird zu schlafmützig, wenn ich ihn nicht ein wenig aufreize. Auch finde ich, daß er so hübsch aussieht, wenn er rot wird oder sich entsetzt.«

»Nein, ich glaube, es ist nicht ganz weiblich,« beharrte Anita, »und Du solltest es lieber sein lassen.«

Hilma stieß einen Seufzer der Ungeduld aus. »Freut euch doch, wenn ich ein bißchen Sauerteig bin,« sagte sie, »Du bist korrekt und zurückhaltend, er ist korrekt und zurückhaltend, wenn ich's nun auch noch wäre, dann bliebe der Brotteig eben sitzen.«

Anitas Philistrosität reizte Hilma, sich noch unpassender zu benehmen.

In der nächsten griechischen Stunde rief sie aus: »Nein, was haben Sie nur für kleine niedliche Ohren, Herr Lampert!« Worauf nicht nur er, sondern auch Anita dunkel errötete, und das war ein Gaudium.

Oft war Hilma aber auch sehr ernst.

»Ich möchte wissen,« fragte sie einmal den Kandidaten, »ob jedermann im Grund seines Herzens solch eine tiefe, schwere, schmerzende Sehnsucht fühlt, als sei das, was ist, alles nur ein Notbehelf und eigentlich müßte da etwas ganz anderes sein.«

»Ja, daran kranken wir wohl alle mehr oder weniger,« antwortete er sanft.

»Was ist es? Was hat es zu bedeuten?«

Er antwortete: »Wir glauben, daß es die Sehnsucht der aus Gott entlassenen Seele nach der Wiedervereinigung mit ihm ist. Es gibt eben keine Ruhe für uns außer in Gott.«

Man hatte das Neue Testament im Urtext durchgenommen. Daneben trug der Kandidat, der noch ganz von seinen theologischen Studien erfüllt war, etwas Kirchengeschichte vor. Er erzählte von den tiefsinnigen, mit philosophischer Gelehrsamkeit durchsetzten Mysterien, zu welchen das einfache Urchristentum sich in den Köpfen der alten Scholastiker und Gnostiker entwickelt hatte. Das hörte sich so wunderbar an: die Lehre von dem ewigen Abgrund, in den sich die Sophia, die göttliche Weisheit, stürzt, um ihn auszufüllen! Mit glühendem Interesse lauschte Hilma. Was ihr platt und trivial erschienen war, schien sich ins Unbegrenzte zu vertiefen, und das anscheinend Absurde nahm den Charakter höchster Symbolik und fast mystischer Weisheit an.

Auf Anita war die Wirkung eine andere.

Sie gestand der Hilma, daß sie von all diesen verwickelten Dingen viel lieber gar nichts wissen wolle, da sie nur verwirrten und das Glaubenslicht, auf das es doch allein ankomme, verdunkelten.

»Aber nein!« rief Hilma, »mir gehen gerade dadurch noch Lichter auf!«

»Wenn das nur nicht Irrlichter sind,« meinte Anita besorgt.

»Es sind die, die mir leuchten,« erklärte Hilma schroff. »Laß Du mir meine Lichter, ich laß Dir Deins.«

Hilma war in dem Alter der stärksten Wandlungen. Schon die religiöse Symbolik und Mystik des Pariser Klosters hatte sie über den flachen, kindischen Rationalismus, in den sie durch ihre halbverstandene und unverdaute philosophische Lektüre geraten war, fortgehoben. Nun glaubte sie zu begreifen, daß es in der christlichen Glaubenslehre auch für den denkenden Geist noch Abgründe an Tiefe gab.

Ihr eigener Verstand, auf den sie ziemlich viel gegeben hatte, schrumpfte vor diesen neuen Offenbarungen zu einem gar armseligen Ding zusammen, ohne daß sie dies bedauert hätte. Die Erkenntnis seiner Winzigkeit war ja nur die Rückwirkung des Größer- und Größer-Werdens von dem, was die Welt außer ihr ahnen ließ.

Dabei stiegen die Gedanken in ihr auf und füllten ihre Seele mit Leben, wie es der Saft in den jungen Bäumen tat. Aber auch andere belebende Einflüsse machten sich geltend, die unterhalb der Schwelle ihres Bewußtseins lagen.

Man hatte die Gewohnheit angenommen, gemeinsame Ausflüge zu machen: Hilma, Anita, Herr Lampert, Miß Moore. Die beiden vom Pfarrhaus holten die vom Herrenhaus ab oder umgekehrt.

Dann kam es aber immer so, daß Miß Moore mit Anita voranging, Lampert mit Hilma hinterher.

Miß Moore schritt rüstig aus und ging so schnell, als sei ein Spaziergang ein Dauerlauf. Das gehörte nun mal zu ihrem » constitutional walk«. Dafür floß die Unterhaltung desto spärlicher.

Herr Lampert dagegen wandelte und redete und vergaß die äußere Welt über der inneren.

So mußte Miß Moore oft genug stehen bleiben, die zurückgebliebenen zwei erwarten und anfeuern.

Für Hilma wurden diese Wanderungen an der Seite des Kandidaten ein Quell feinsten Genusses; denn er ging mehr aus sich heraus, als wenn Anita dabei war. Er nahm Hilma ernst, suchte ihre Fragen zu beantworten und kam selbst mit Fragen zu ihr. Sie erkannte deutlich die Überlegenheit seines geschulten Denkens, dafür war auf ihrer Seite, das fühlte sie, die größere Beweglichkeit des Geistes, die Phantasie und das Temperament. So ergänzten sie sich gut.

Dennoch wäre das Zusammenklingen ihrer so sehr verschiedenen Naturen wohl nicht so erfreulich gewesen, wenn nicht eines dazu gekommen wäre: Lampert hatte angefangen, sie lebhaft zu bewundern. Er war etwas unter ihren Einfluß geraten. Er huldigte ihr in einer scheuen, verhaltenen Weise, die sich gleichwohl beständig fühlbar machte, und dieser liebliche Honig mundete dem neunzehnjährigen Mädchen, die ihn zum erstenmal zu schmecken bekam, vortrefflich.

Aber während Hilma wie ein Röslein blühte, wurde Anita immer stiller und blasser. Die Tönung ihres zarten Gesichts erinnerte in beängstigender Weise an weißen Alabaster.

»Du bist so furchtbar blaß!« rief Hilma einmal. »Bist Du nicht wohl?«

»Doch ganz. Es ist meine Gesichtsfarbe,« antwortete Anita. »Ich war doch immer so weiß.«

Sie erzählte, daß ihre Mutter nie erlaubt habe, daß sie sich mit anderem als abgekochtem Wasser oder Regenwasser wüsche, denn das Rollbornwasser sei für eine zarte Haut zu hart.

Hilma dachte, daß ihre Mama sich gar nicht darum gekümmert habe, ob sie sich überhaupt wüsche oder nicht. Sie hatte dies alles der alten Kinderfrau überlassen, die es mit Sauberkeit und Hygiene sehr wenig genau nahm. Später paßte zum Glück Miß Moore auf.

Zuweilen, wenn sie die Sorgfalt und die liebevolle Aufmerksamkeit der Eltern Anitas bemerkte, kam es ihr zum Bewußtsein, wie sehr sie selbst nicht allein geistig, sondern auch körperlich vernachlässigt worden war. –

Eines Morgens kam Anita allein nach dem Herrenhaus. Hilma und Miß Moore saßen an einem Gartentisch, nahe dem Hause, und entstielten Johannisbeeren für die Küche.

Anita setzte sich dazu, streifte die Zwirnhandschuhe von den Händen, ließ sich eine silberne Gabel geben und begann mitzuarbeiten.

Dabei rückte sie gelassen mit einer Neuigkeit heraus.

»Herr Kandidat Lampert hat eine Pfarrstelle bekommen!«

»Was?!« rief Hilma.

»Ja. In vierzehn Tagen reist er ab und kommt nicht wieder.«

» O he will be pleased,« sagte Miß Moore in ehrlicher Mitfreude.

Die beiden jungen Mädchen schauten einander in die Augen. Jede wollte wissen, wie diese Kunde auf die andere wirkte.

Anita zuckte mit keiner Wimper, aber unter Hilmas Blick überzog sich ihr Gesicht langsam mit einem ganz feinen Rot, so daß sie einer Teerose ähnlich sah.

In ihrer gemessenen Sprechweise fügte sie hinzu: »Der Papa hat ihm diese Anstellung ausgewirkt. Er sagt, es sei besser für Herrn Lampert, in eine andere Umgebung zu kommen.«

Hilma fühlte, daß jetzt auch sie rot wurde. Was ihr seit einiger Zeit bänglich geahnt hatte, stand plötzlich für sie ganz fest: daß im Pfarrhaus die wachsende Vertraulichkeit zwischen ihr und dem Kandidaten nicht gerne gesehen worden war.

»Wo kommt er denn hin?« erkundigte sie sich.

Anita nannte ein unbekanntes Nest. »Es ist weit von hier,« setzte sie hinzu.

»Und unser Griechisch!« rief Hilma bedauernd. Bei sich selbst dachte sie: ›Und unsere Gespräche! Unsere herrlichen Spaziergänge! Wie werde ich ihn entbehren!‹ –

Als die Puffbohnen auf den kleinen Ackerstreifen der Bauern blühten und in der Abendluft wie Vanille dufteten, gingen sie zum letztenmal zu viert durch die Felder: Anita mit Miß Moore voran, Lampert und Hilma in beträchtlichem Abstand hinterher. Am nächsten Morgen sollte der Freund abreisen.

Er war heute zerfahren und erregt, und Hilma plauderte in etwas krampfhafter Heiterkeit von dem, was sich eben ihren Augen bot: von den festonartigen Ranken der wilden Rosenbüsche am Feldrain, die voll duftigster Blüten saßen und in ihrer hinreißenden Anmut doch der Kunst aller Künstler spotteten; von dem silbergrünen Schimmer des Hafers, der in sanften Wellen wogte, von dem in unsichtbare Höhen entschwebendem silberhellem Trillern der Lerche, die die beschwingte Seele dieser blühenden Feldlandschaft schien, – von diesen Dingen sprach sie, aber nicht von dem nahen Abschied, an den sie doch beide unausgesetzt denken mußten.

Da sagte er mit halb erstickter Stimme: »Ist es wirklich notwendig, daß wir uns trennen, Fräulein Hilma?«

»Ja, das ist nun so,« antwortete sie nüchtern; aber das Herz klopfte ihr heftig. Wo wollte er hinaus?!

Sie erfuhr es rasch genug.

Er fragte bittend: »Könnten Sie sich wohl entschließen, meine Frau Pfarrerin zu werden?«

So zart er gesprochen hatte und so lieb er ihr war und so sehr sie ihn bedauerte, erschien ihr seine Zumutung doch als etwas Ungeheuerliches. Unfaßlich war ihr, daß er derartiges für möglich halten und daß er es aussprechen konnte.

»Nein! Nein! Nein!« stieß sie hastig, mit mühsam beherrschtem Zorn hervor; »das ist unmöglich! Alle Freundschaft will ich Ihnen geben, aber ich will niemals heiraten! Ich wollte, Sie hätten nicht davon gesprochen! Es tut mir so furchtbar leid!«

Er schwieg. Aber nun sah er so unglücklich aus, und darüber, daß sie ihm nicht helfen konnte, wurde auch sie ganz unglücklich.

Alle Sommerherrlichkeit und aller Abendfriede gaben ihnen heute keinen Trost mehr.

3.

Bald nach des Kandidaten Lampert Abreise erschien ein neuer Kollaborator im Pfarrhaus. Er hieß Günther.

Hilma sah ihn fürs erste nur in der Kirche, wo sie feststellen konnte, daß er eine stattliche Figur hatte und einen dunklen Vollbart.

Als er seinen Antrittsbesuch im Herrenhaus machte, war sie mit Miß Moore auf dem Spaziergang.

Ins Pfarrhaus kam sie jetzt nicht, denn Frau Mathis war mit der allzubleichen Anita in ein Seebad gereist.

Dafür kam Horst, glänzend in seiner Fähnrichsuniform. Er hatte jetzt ein hübsches blondes Schnurrbärtchen und eine Männerstimme.

Die Geschwister hatten sich in den letzten Jahren fast gar nicht gesehen und waren einander ziemlich fremd geworden. Sie sprachen beinah konventionell miteinander.

Aber Horst war selbständig geworden. Er hatte seine eigenen Ansichten, darunter auch die, daß es unrecht sei, der erwachsenen Hilma noch immer alles ihren Vater Betreffende zu verheimlichen.

Dies sprach er ihr eines Tages, als sie in ziemlich früher Morgenstunde zusammen durch den Garten schlenderten, aus.

»Ich finde es gerechtfertigt, daß man Dir unsere Familientragödie verschwiegen hat, solang Du ein Kind warst. Jetzt scheint es mir dagegen einfach Pflicht, Dich endlich au fait zu setzen.«

Sie nickte in lebhaftem Zustimmen.

»Wieviel weißt Du eigentlich?«

»Gar nichts!«

»Aber doch, daß unsere Eltern gerichtlich voneinander geschieden sind?«

»Nichts!« wiederholte sie. »Man erwähnt nie unseren Vater in meiner Gegenwart. Und ich hab mir längst abgewöhnt, zu fragen. Sie sind geschieden?«

»Ja. Der Papa hat die Mama veranlaßt, sich von ihm scheiden zu lassen, als wir noch auf dem Fußboden herumrutschten.«

»Warum?«

»Weil er sich in eine andere verliebt hatte. – Und die hat er dann auch geheiratet.«

»Wie schrecklich!« seufzte Hilma erschüttert.

»Ja, es war ein großes Unglück für uns alle!« seufzte auch Horst.

»Ob er die Mama gar nicht geliebt hat?«

»Er wird sie schon einmal geliebt haben, aber das ist dann wohl vergangen. Jedenfalls liebte er die andere mehr.«

Hilma seufzte einmal um das andere, ohne sich dessen bewußt zu werden. Gar so schwer waren ihre Gedanken!

»An uns hat er nicht gedacht,« sagte sie traurig.

»Ich glaube, damals hat er wohl an nichts gedacht, als an seine geliebte Agnes. Sie muß wunderschön gewesen sein.«

»Lebt sie noch?«

»O ja, – sehr.«

»Kennst Du sie?«

»Natürlich. Ich bin ja dort seit meinem zwölften Jahr Kind im Hause. Es ist nämlich damals bei der Scheidung gerichtlich bestimmt worden, daß Du ganz bei der Mama bleiben solltest, ich aber nur bis zum zwölften Jahr. Seitdem bin ich hier nur Gast und dort zu Hause. Aber ich wäre eigentlich lieber in Zollbrück zu Hause.«

»Ist es nicht schön dort?«

»O doch, sehr schön. Sie haben eine luxuriöse Wohnung und viel Geselligkeit. Nur ... unser feudales altes Zollbrück ist mehr nach meinem Gusto, als der Kreis dort. Du mußt nämlich wissen, daß Papas Frau ... Schauspielerin ist.«

»Jetzt noch?!«

»Ja. Sie ist so etwas wie eine Berühmtheit. Sie ist auch noch immer schön. Aber Du kannst Dir denken, daß der Papa durch diesen Scheidungsskandal seine Stellung in der eigentlichen Gesellschaft verloren hat. In seinen Künstlerkreisen macht man sich nichts daraus, wenn ein Mann seine Frau verläßt, um eine andere zu nehmen, die ihm besser gefällt; das kommt dort alle Tage vor. Aber unter uns gilt es für etwas Erbärmliches und Schändliches.«

»Was meinst Du mit unter uns?« fragte Hilma gedrückt.

»Den alten Adel und was dazu gehört. Alle staatserhaltenden, konservativen Elemente. Es ist doch auch so: wer aus freiem Willen einer Frau Treue geschworen hat, soll sie halten.«

»Weiß unser Vater, daß Du so denkst?«

Horst errötete. »Ich glaube wohl, daß er es weiß, obwohl ich natürlich nie über diese Dinge spreche. Aber er ist klug und kennt mich gut.«

»Hat er nicht versucht, sich zu rechtfertigen?«

»Wie kann er?«

›Ja, wie kann er,‹ dachte auch sie.

Nach einem gedrückten Schweigen fragte sie: »Kannst Du ihn trotz alledem gern haben?«

»Er ist immer sehr gut zu mir gewesen,« sagte Horst, »und ich bin ihm für vieles Dank schuldig. Aber wenn das auch nicht wäre, ist er doch mein Vater! Es ist einfach meine Pflicht, ihn zu lieben.«

»Aus Pflichtgefühl kann ich nicht lieben,« sagte sie leise.

Er hörte gar nicht hin, sondern ging den eigenen Gedanken nach.

»Und alles Gute, was er mir auch antut,« fuhr er erregt fort, »kann doch das Schlimme, was er über uns gebracht hat, nicht aufwiegen. Wie oft in der Schule habe ich vor Scham und Zorn geheult – wenn's niemand sah, – und gedacht, daß ich lieber ganz arm sein wollte, aber einen Vater und ein Vaterhaus haben, worauf man stolz sein könnte. Es ist zu gräßlich, jedesmal wenn man nach zu Hause gefragt wird, sich mit der Antwort um die Wahrheit herumdrücken zu müssen, oder die Wahrheit eingestehen und dabei den eigenen Vater schlecht machen zu müssen, um nicht die schuldlose Mutter in schmählichen Verdacht zu bringen! Das kann einem manchmal alles verleiden. Und es hört niemals, niemals auf! Und warum das alles? Weil eine schöne Schauspielerin ihm wichtiger war, als das Wohl seiner Kinder.«

Horst hatte mit steigender Erbitterung gesprochen.

Hilma dachte mit innerem Weinen daran, wie der unbekannte Vater die Schwärmerei ihrer freudlosen Kinderjahre gewesen war, wie sie sein Bild mit allem Schönsten und Größten geschmückt hatte.

Ihr Herz sehnte sich danach, ihn verteidigen und sich auf seine Seite stellen zu können.

Sie konnte nicht!

Er wohnte dort in seinem prächtigen Haus und freute sich an seiner schönen Frau inmitten einer lustigen Gesellschaft von Künstlern.

Und hier saß die Mama über ihrem Thomas a Kempis, verkümmerte in der Einsamkeit, und das Unglück hatte sie menschenscheu und bitter gemacht.

Und ob er wohl ahnte, was seine Tochter gelitten hatte? –

Nein, wenn sie auch gewiß der Art nach zu ihm gehörte und nicht zu den Utendorfs, denen sie innerlich immer fremd blieb, so wollte sie sich um diesen Vater, der, um selbst glücklicher zu sein, Frau und Kind verkommen ließ, nun auch ihrerseits nicht mehr kümmern.

Horst's Urlaub war bald abgelaufen; aber Anfang Oktober kam Frau Mathis mit Anita aus dem Seebad zurück.

Hilma lief nach dem Pfarrhof hinüber, um Anita zu begrüßen.

Anita und der neue Kollaborator waren gerade im Grasgarten mit Äpfelernten beschäftigt.

Der Kandidat stand auf einer Leiter, hielt sich mit einer Hand an dem Ast des großen alten Apfelbaumes und brach mit der anderen die gelb und roten Äpfel.

Unten im Gras stand Anita und hielt mit beiden Händen einen Korb hoch. Ihre Gestalt sah dabei ungemein schlank und zierlich aus.

Sie ließ langsam den äpfelbeschwerten Korb sinken und setzte ihn nieder, um Hilma zu begrüßen.

»Herrn Günther kennst Du wohl schon?«

Der war eilends von der Leiter herabgestiegen und gab dem Fräulein aus dem Herrenhof die Hand zum Gruß.

Er hatte ziemlich hübsche Gesichtszüge und freundliche dunkle Augen. Seine Erscheinung war männlicher als die Lamperts und sein Auftreten sicher.

Hilma dachte: ›Hoffentlich wird aus ihm nun auch ein Freund, und die schönen Tage der griechischen Stunde kehren wieder.‹

Darüber wurde sie sehr froh. Sie plauderte und hatte lustige Einfälle, so daß Anita und Günther, die Ehrbaren, viel lachen mußten. Sie half dann auch beim Äpfelpflücken, indem sie trotz ihrer langen Röcke über die Leiter in den Gipfel des Baumes kletterte und Äpfel holte, die Günther von der Leiter aus nicht erreichen konnte.

Staunend versicherte der Kandidat, daß sie ihm in der Kunst des Kletterns überlegen sei.

»Nun wollen wir recht oft zusammenkommen!« sagte sie beim Abschied.

Anita sagte nicht ›ja.‹ Sie sah auf einmal sehr ernst aus. –

An dem nämlichen Tag hatte die Mama einen langen Besuch von Frau Mathis.

Dann geleitete die Mama ihren Besuch durch den Park bis an das Mauerpförtchen, das in die Pfarrgasse führte.

Hilma saß auf ihrem Lieblingssitz in der Steinlinde und las, da hörte sie die Stimme der Mama nach ihr rufen.

Sie erspähte auch bald die schwarze, überschlanke Gestalt der Mama zwischen kanarienvogelgelbem Birkenlaub und amaranthroten Ebereschenzweigen.

Obwohl Hilma der Mama am liebsten aus dem Wege ging, hatte sie nie aufgehört, für das Edel-Zarte ihrer Erscheinung eine schüchterne Bewunderung zu hegen, die sich neuerdings zu zürnender Parteinahme steigerte, so oft sie an die wunderschöne Agnes dachte.

Eben jetzt führte die Mama das Batisttaschentüchlein an die Nase, an die Augen, – sie weinte!

»Was ist denn, Mama?« rief Hilma. »Habe ich mal wieder etwas verbrochen?«

Die Mama klagte: »Ach, Du kannst ja nichts dafür, daß Du so bist, wie Du bist, Du unglückliches Kind! Ich habe es Dir aber nicht vererbt.«

»Was hab' ich denn getan? Meine Seele ahnt nichts.«

»Weißt Du, was mir die gute Frau Mathis eben verkündet hat? Sie wünscht nicht, daß Du weiter im Pfarrhaus verkehrst!«

Hilma war fassungslos vor Erstaunen. »Aber um alles in der Welt, warum denn?« rief sie.

»Weil sie fürchtet, daß Du mit dem neuen Kandidaten ebenso Dein Spiel treiben könntest, wie Du es mit dem armen Lampert getan hast.«

»Mama!« rief Hilma empört. »Das hat Frau Mathis gesagt?!«

»Die vortreffliche Frau hat sehr gütig von Dir gesprochen, voll der Anerkennung für Deine geistigen Gaben. Aber sie hat erfahren, daß Dein Einfluß weder auf Anita noch auf den armen Lampert ein günstiger gewesen ist! Du habest für einfältige Gemüter etwas Blendendes und Aufregendes und Verwirrendes, sagt sie. Die Anita verlöre ja viel mehr an Dir, als Du an ihr, sagt sie, aber sie fürchtet für den Frieden ihres Kindes. Sie sagt, gerade weil Du bei Deiner freien Richtung klug und anziehend seist, seist Du so gefährlich. Auch dem armen Lampert seist Du gefährlich gewesen.«

»Und darum ...«

»Und darum hält sie es für die Wohlfahrt ihres Kindes notwendig, daß der Verkehr zwischen euch fürs erste unterbleibt. Sie habe sich lange mit ihrem Gott beraten und dann auch mit ihrem guten Mann, sagt sie, denn dieser Entschluß sei ihr sehr hart angekommen.«

»Ich will ihr die Durchführung nicht schwer machen,« erklärte Hilma kalt.

Sie tat verächtlich und stolz. Denn sie wollte durchaus nicht den Schein erwecken, als ob sie sich durch diese Sicherheitsmaßregel gedemütigt oder geschädigt fühle.

In Wahrheit tat ihr nur die Mama leid, die ganz geknickt war, und Anita.

Aber je ernster sie diesem seltsamen Erlebnis nachsann, desto mehr Achtung fühlte sie vor den Eltern Anitas, die keine Unannehmlichkeit und kein Opfer scheuten, sobald sie glaubten, daß es sich um das Wohl ihres Kindes handelte.

Und obwohl es ihr selbst unsinnig schien, daß sie für Anita, deren Glauben und kindlichen Gehorsam sie stets respektiert hatte, ein gefährlicher Umgang sein sollte, konnte sie doch keinen Zorn aufbringen.

4.

Anita Mathis verlebte den Winter und das Frühjahr bei Verwandten ihrer Mutter in Amsterdam.

Hilma las und machte ihre Spaziergänge und stickte und spielte ein wenig Klavier und empfand oft das Nichtige dieses zweck- und ereignislosen Dahinlebens als entsetzliche Öde und Leere. Draußen rauschte der breite, mächtige Strom des Lebens, und sie mußte hier stillliegen, wie eine in absolute Windstille geratene Segelbarke, der die Segel schlaff, wie alte Lappen, um die Masten hängen, statt sich in frischer Brise zu straffen.

Sie wurde matt und unlustig und verlor ihre blühenden Farben.

Eines gab es jedoch, was sie jedesmal an Leib und Seele erfrischte: der Onkel Gustav hatte angefangen, sie reiten zu lassen.

Die Mama schenkte ihr ein schwarzes Reitkleid und der Großpapa einen Damensattel.

Nun begleitete sie den Onkel öfters auf längeren Ritten, und obwohl sie sich immer etwas vor seiner bissigen, verdrossenen Art fürchtete und ihre Worte höchst vorsichtig wählte, um nicht seine Galle zu erregen, denn er war kränklich und reizbar, – gehörten diese Spazierritte doch zu ihren glücklichsten Stunden.

Da ereignete sich eines Tages etwas:

Sie ritten auf der Landstraße, als ihnen ein in eine weiße Staubwolke gehüllter herrschaftlicher Wagen rasch entgegengerollt kam.

»Ich nehme die tête,« sagte der Onkel und bog nach dem Straßenrand aus, um den Wagen vorüber zu lassen. Hilma folgte ihm genau.

Als die Equipage dicht vor ihnen war, rief Hilma: »Was für schöne Pferde!«

Im gleichen Augenblick zog der Onkel den Hut sehr tief vor einer alten Dame. Diese rief dem Kutscher etwas zu und der Wagen hielt.

Da stieg der Onkel ab und trat, sein Pferd führend, an den Wagen.

»Guten Morgen, lieber Graf,« sagte die alte Dame mit einer dünnen, aber angenehmen Stimme, »hierher muß ich mich also verschlagen lassen, um etwas von den Zollbrückern zu merken! Warum sieht man Sie nie bei Hof?«

»Durchlaucht, ich bin verbauert. Bitte um die Ehre, meine Nichte vorstellen zu dürfen: Hilma Viernau.«

»Also wohl die Tochter Ihrer lieben Schwester,« sagte die alte Dame. »Warum haben Sie uns das junge Mädchen nicht gebracht? Sie hätte doch diesen Winter bei uns tanzen können.«

»Durchlaucht verzeihen, meine Schwester wünscht ihre Tochter den weltlichen Zerstreuungen fernzuhalten. Sie hat eine sehr ernste Richtung.«

»Ach wirklich?« sagte die alte Dame.

Dann sprach sie von etwas, was Hilma nicht interessierte, deshalb ließ diese ihre Blicke wandern.

Neben der alten Dame, die der Onkel »Durchlaucht« nannte, saß eine andere, weniger alte Dame in sehr gerader Haltung. Die lächelte mit einem verbindlichen Lächeln, sprach aber nicht mit.

Den Damen gegenüber hatte ein junger Herr gesessen, der war aus dem Wagen gesprungen und stand, wie der Onkel, am Wagenschlag, nur auf der anderen Seite. Auf diesem blieb ihr Blick haften.

Er hielt den Hut in der Hand und sah aufmerksam nach ihr hinüber.

Sein kleiner, rassiger, blonder Kopf und wie er ihn trug, die Haltung der Schultern, der Arme, die ganzen Umrisse der Gestalt, vor allem aber der stolze, freie und fein-kluge Gesichtsausdruck, das gefiel ihr so ungemein, daß das Entzücken ihr wie ein Rausch in den Kopf stieg und sie in den Tiefen ihres Wesens erschütterte.

Sie hörte nicht mehr, was die Durchlaucht sprach, sie sah nur noch ihn.

Da verneigte er sich grüßend und schwang sich leicht in den Wagen. Die Damen winkten noch mit der Hand, dann rollte der Wagen weiter.

Während der Onkel sich brummend aufs Pferd schwang, – es war ihm bei seiner Korpulenz nicht mehr ganz bequem – schaute Hilma sehnsüchtig hinter der sich rasch weiter wälzenden Staubwolke drein, aus der noch der harte, schnelle Hufschlag der Traber tönte.

»Muß uns das Pech auch grade der teuren Landesmutter in den Weg führen!« knurrte der wieder berittene Onkel verdrießlich. »Sie nimmt sonst nie diesen Weg, wenn sie nach Luisenruhe fährt, aber die Waldstraße ist eben unpassierbar, weil das Hochwasser Zerstörungen angerichtet hat.«

Er verbreitete sich über den jedes Frühjahr wiederkehrenden Hochwasserschaden und dessen Zusammenhang mit der unseligen gradlinigen Fluß-Regulierung. Das Thema war ihm offenbar wichtiger, als das aufregende Abenteuer, welches man eben erlebt hatte, ein Standpunkt, den Hilma nicht teilen konnte. Sobald er schwieg, fragte sie nach den beiden, die mit der Fürstin im Wagen gesessen hatten.

»Das waren der Prinz Heinrich, der übrigens recht gut aussieht,« antwortete der Onkel, »und die Hofdame Fräulein von Ysserstedt. Die ist alt geworden, die Lotte Ysserstedt!«

»Ist das ein Bruder vom Erbprinzen, der Prinz Heinrich?«

»Nein, der Erbprinz hat nie Geschwister gehabt. Der Prinz Heinrich ist der Sohn des Bruders unseres Fürsten.«

Hilma verstummte.

Ihre Gedanken konnten von dem anmutig-edlen Prinzen nicht mehr loskommen.

›Ob es wohl irgend etwas gibt, was ich für den nicht tun würde?‹ ging es ihr durch den Kopf, und ohne Zögern gab sie sich die Antwort: ›Nichts! Nicht nur fühle ich, daß ich für ihn alles tun könnte, ich möchte es sogar tun dürfen, ja, ich wünsche mir nichts inniger!‹ –

Sie fragte Amanda: »Sieht Dein Louis auch manchmal unsern Prinzen?«

Der Louis Strohl diente jetzt nämlich in der Residenz des kleinen Fürstentums seine Militärzeit ab.

»Ja, freilich,« antwortete die Amanda. »Die Prinzen kommen ja immer zu den Regimentsfesten und der Prinz Heinrich, der tanzt auf den Soldatenbällen mit einfachen Bauernmädchen. Das is so ein Lustiger!«

»Haben den nicht alle gern?«

»Ja, den haben se gar zu gern! Der macht so viel Spaß und stolz is er gar nich. Der Herr Erbprinz soll ja auch ein sehr guter Herr sein,« setzte die Amanda in ihrer herzenswarmen Weise gleich hinzu, »er is nur eben nich so recht gesund, sagt der Louis, da kann 'r natürlich nich so.«

Seit das Unglück über die Mama gekommen war, dessen nähere Umstände Hilma durch Horst erfahren hatte, lebte man in Zollbrück von allem gesellschaftlichen Verkehr zurückgezogen.

Trotzdem kamen gelegentlich Verwandte oder Gutsnachbarn auf ein Nachmittagsstündchen zum Besuch.

Waren Damen dabei, so mußte Hilma ihr Kompliment machen, die Hand küssen und mit am Kaffeetisch sitzen. Aber sobald es anging, pflegte sie sich fortzustehlen. Diese konventionellen Besuchsunterhaltungen hatten sie noch niemals gefesselt.

Eines Nachmittags kam einmal wieder ein herrschaftlicher Wagen durch das Tor.

Es war Mitte Mai. Der Gärtner holte, wie alljährlich an diesem Tag, die Topfpflanzen aus dem Glashaus, wo sie überwintert hatten, topfte sie um und stellte sie in den gewohnten steifen Gruppen an der Giebelseite des Herrenhauses auf.

Onkel Gustav dirigierte ein wenig, und Hilma sah zu.

Aber als der Wagen an ihnen vorüber vor das Portal fuhr, warf der Onkel den Bast und die weißen Stäbchen auf die Erde und lief nach der Haustür, so gut ihm sein kolossaler Körper das Laufen erlaubte.

Hilma seufzte. Der steife Nachmittagsbesuch war so langweilig!

Da sagte der alte Gärtner: »Nu, das war doch de Frau Hofmarschall'n. Die Pferde un das Geschirre kenn ich.«

»Von unseren Herrschaften?« fragte Hilma gespannt.

»Nu freil'ch.«

Da schlüpfte sie schnell ins Haus, um sich schön zu machen, denn wer von dort kam, wo »er« war, sollte einen guten Eindruck von ihr mitnehmen.

Eine dicke ältliche Dame von sehr selbstsicherem Aussehen saß neben der Mama auf dem Sofa, als Hilma mit Miß Moore den Salon betrat.

Hilma machte die vorschriftsmäßige tiefe Verbeugung mit Handkuß.

Die dicke Dame sah sie durch ein Lorgnon an und nickte ihr aufmunternd zu.

Dann fragte sie in französischer Sprache, ob sie in der Nachbarschaft Freundinnen habe, was Hilma verneinend beantwortete, natürlich gleichfalls französisch.

Ob sich ma petite nicht manchmal etwas einsam fühle?

Errötend antwortete Hilma, sie sei an das Alleinsein gewöhnt und habe ja auch Miß Moore zur Gesellschaft.

Darauf wandte sich die Hofmarschallin der Engländerin zu, der sie in englischer Sprache einige freundliche Worte sagte. Auch mit Hilma unterhielt sie sich dann englisch.

Nach diesem wandte sie sich der Mama zu und sagte: » Mais ça va à merveille, chère Baronne, je vous en fais mon compliment.«

Hilma dachte: ›Sie ist eine Ausländerin und kann nicht Deutsch sprechen.‹

Als man nun aber beim Kaffee saß, wurde die Unterhaltung zumeist deutsch geführt, und das Deutsch der Hofmarschallin war ein durchaus einheimisches.

Sowie Miß Moore und Hilma ihre Tasse Kaffee ausgetrunken hatten, wurden sie aufgefordert, spazieren zu gehen.

»Wir haben einiges zu besprechen, wobei das Kind nicht zuzuhören braucht,« sagte die Mama zu Miß Moore.

Diese Worte füllten Hilma mit Neugier und Spannung. Die Eltern – sie pflegte Mama, Großpapa und Onkel zusammenfassend mit diesem Namen zu benennen, – hatten einmal wieder ganz so ausgesehen, als läge etwas in der Luft. Was sie da jetzt besprachen, war gewiß nichts Gleichgültiges, sonst würde man sie nicht so eilig entfernt haben.

Nachdem der überzählige Spaziergang, der sie heute noch mehr als sonst geödet hatte, glücklich überstanden war, schlich sie in das Vorzimmer des Salons. Die Tür war zwar geschlossen und horchen mochte sie auch nicht; aber sie hörte doch, daß im Nebenzimmer lebhaft hin und hergeredet wurde. Die etwas fette Stimme der Hofmarschallin sprach eifrig überredend, die Entgegnungen der anderen klangen zögernd, weder eifrig noch erfreut, – die Mama schien sogar zu klagen.

Am nächsten Morgen kam das Geheimnis heraus: Ihre Durchlaucht, die Landesfürstin, sah sich nach einer jungen Dame aus gutem Hause um, die mit der Frau Erbprinzessin Französisch und Englisch lesen und sprechen sollte. Dabei war sie auf »die hübsche kleine Viernau« verfallen und hatte die Hofmarschallin in diplomatischer Mission nach Zollbrück geschickt, um auszukundschaften, ob die junge Dame geeignet sei, und wenn so, die Herrschaften dafür zu gewinnen.

Hilma erfuhr auch, daß der Großpapa und Onkel dafür gestimmt hatten, das ehrende Anerbieten der Landesherrin anzunehmen, und daß es ihnen gelungen war, den Widerwillen der Mama zu überwinden. –

Die Mama ließ gegen ihre Überzeugung das mit Hilma geschehen, was die anderen, die den stärkeren Willen hatten, wollten. Denn überzeugt war sie nicht, das ließ sich leicht fühlen. Sie konnte sich einfach nicht gegen willenskräftigere Menschen behaupten, wie sie sich einst auch nicht gegen ihren Mann hatte behaupten können.

›Frau Mathis,‹ dachte Hilma, ›würde sich sicherlich von der ganzen Welt kein »Ja« abringen lassen, wenn ihr für Anitas Wohl ein »Nein« geboten schiene!‹ –

Aber wie froh war sie diesmal über die Widerstandsunfähigkeit der Mama!

Ihr war, als habe jetzt endlich das Schicksal selbst sie auf seine Schwingen genommen, um sie dem fernen, wunderschönen Leben entgegen zu tragen.

5.

»Meine durchlauchtigste Tante hat ihren Ehrgeiz,« sagte der Prinz; »unser kleiner Hof soll ein Mittelpunkt des Geisteslebens sein, ein Versammlungsort erlesener Künstler und Dichter und Denker, – ein neues Weimar. Sie schwärmt für geistreiche Unterhaltung, aber ich fürchte, das Klima in Luisenruhe ist der Entfaltung von Geist ungünstig, denn was hier an Geistreichigkeiten produziert wird, schmeckt meist in beängstigender Weise nach Plattitüden. Nicht wahr? Sie sagen nicht ja, nicht nein? Ach, Sie sind ja eine kleine Diplomatin! Nein, mit dem Weimar will es nicht recht werden: wir haben keinen Goethe und keinen Schiller mehr! – Die Charlotten ließen sich eher finden.«

»Warum sollen wir keine genialen Männer haben?« fragte Hilma unüberzeugt.

»Weil wir in einer Zeit großer sozialer Entwickelung und individueller Verkümmerung leben. Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Applanierung.«

»Ach nein!« protestierte sie. »Das soll es nicht sein! Das brauchen wir es doch nur nicht sein zu lassen!«

Er lachte sein helles, intelligentes Lachen: »Wir! Sie und ich!«

Es war das erste Mal, daß der Prinz sich mit Hilma unterhielt, obwohl sie nun schon fast zwei Wochen in dem fürstlichen Sommerschlößchen Luisenruhe dem Hof beigeordnet war.

Ihre Vorstellung von der Pracht fürstlicher Schlösser hatte sie etwas berichtigen müssen.

Sie bewohnte ein Zimmer, welches immer dunkel war, weil es auf einen von hohen Mauern eingefaßten engen Hinterhof sah, den eine mächtige Trauerweide überschattete.

Und jenseits der Mauer reckten hundertjährige Turmpappeln die halb abgestorbenen Äste himmelwärts und nahmen vollends alle Sonne.

Ein Pförtchen war in der Mauer, zu dem man nur über eine kleine, den Burggraben überführende Brücke gelangen konnte; das war aber stets verriegelt und verrammelt.

Wenn sie am Fenster stand, konnte sie sich in ihr Pariser Kloster zurückversetzt fühlen, so klösterlich und gefängnismäßig und kirchhofnah sah da unten alles aus.

Der Prinz Heinrich bewohnte aber eines der hellen luftigen Kavaliershäuser, die das alte Schlößchen umgaben und aus einer viel späteren Zeit stammten. Und weil er so nah war und sie ihn fast täglich sah, war ihr alles andere recht.

In der ersten Zeit war sie sehr enttäuscht gewesen, weil er sich wenig um sie kümmerte. Aber bald schien es ihr natürlich. Sie selbst durfte sich ja auch nicht mit ihm abgeben, mußte tun, als sei er der gleichgültigste Mensch der Welt. Das verlangte die höfische Sitte, und die durfte sie nicht verletzen, wenn sie hier bleiben wollte.

Und sie fühlte, daß in seiner Nähe weilen für sie Leben war; – fern von ihm sein zu müssen, wäre wie der Tod gewesen – ach, schlimmer!

Die Fürstin war von Anfang an sehr »gnädig«.

»Hier bei uns will ich Sie nur recht heiter haben, kleine Viernau,« sagte sie. »Ihre liebe Mama ist eine ausgezeichnete, seltene Frau, vor der ich die größte Hochachtung habe, – aber mit zwanzig Jahren ist man für ein Eremitenleben noch zu jung.«

Hilma mußte sich im stillen über das der Mama gespendete hohe Lob wundern.

Die Frau Erbprinzessin war eine stolze Erscheinung, so sehr Vollblut wie möglich. Bei sehr hohem Wuchs und königlicher Haltung hatte sie das zierlichste Köpfchen, das nur zu klein gewirkt hätte ohne die Fülle lichtblonden Haares. Aus dem länglichen zarten Oval des Gesichts blickten über einer edelgeformten Nase klare graue Augen, die aussahen, als würden sie sich nie vor etwas senken.

Aber dieser Tochter eines uralten Herrscherhauses ging zum Entsetzen der Schwiegermama und der Hofmarschallin die Fähigkeit ab, sich in einer fremden Sprache auszudrücken.

Sie sagte zu Hilma, als man diese ihr zugeführt hatte, mit einer zarten, aber sehr sicheren Stimme: »Ich habe kein Sprachtalent. Man hat mir unermüdlich Unterricht gegeben, aber ich lerne es nicht. Englische oder französische Konversation zu versuchen würde für uns beide gleich lästig sein und ganz nutzlos. Lesen Sie mir also lieber vor.«

So las nun Hilma der Frau Erbprinzessin jeden Tag eine Stunde lang vor, einmal aus einem französischen, einmal aus einem englischen Buch. Außerdem hatte sie nur die Aufgabe, heiter zu sein und sich mit Grazie zu langweilen.

Anfangs hatte sie der große Kreis fremder Menschen verwirrt und eingeschüchtert, aber sehr bald waren ihr die einzelnen gewohnt und vertraut.

Da war seine Durchlaucht der Fürst, ein alter Herr, der es sich auf dem Sommersitz leicht machte, meist in Joppe und Jagdstiefeln herumging, von seinen drei Hühnerhunden begleitet. Er hatte ein faltiges, gutmütiges Gesicht. Bei Tafel machte er Späßchen, was man an dem schelmischen Blinzeln seiner kleinen Augen und an dem Lachen seiner Tischnachbarinnen und Nachbarn bemerken konnte. Hilma verstand ihn nie, denn er sprach sehr undeutlich, weil ihm die Zähne fehlten.

Im Rang nach ihm kam der Erbprinz, der immer verbindlich lächelte, außer wenn er sich unbeobachtet glaubte. Dann sah er nur abgespannt und leidend aus.

Eine Rolle spielte auch der fürstliche Leibarzt, den man »Herr Hofrat« anredete. Er war eine Künstlernatur, wie er selbst sagte, machte Verse und gereimte Charaden, zeichnete in Stammbücher und auf Fächer und erzählte bei jeder möglichen Gelegenheit von seinen Erlebnissen bei den Papuas und Hottentotten, denn er hatte einmal vor vielen Jahren eine Reise um die Welt gemacht. Er trug lange Bartkoteletts und hatte einen langen, sehnigen Hals mit stark vorspringendem Adamsapfel.

Da war auch ein dicker Naturforscher mit schlauen, lachenden Äuglein. Der sagte manchmal interessante Dinge, aber meistens aß und trank er ungeheuer viel oder lag irgendwo und schlief.

Ein feiner, stiller Bibliothekar, der nicht Verse auf Fächer schrieb, aber ein Dichter war, und ein paar Musiker vervollständigten den Stamm der »Männer von Geist und Genie«, die den Hof zieren sollten.

Sonst bestand der Hof aus dem Hofmarschall und seiner Gemahlin, den persönlichen Adjutanten und Kammerherren vom Dienst und den Hofdamen.

Täglich tauchten bei Tafel neue Gesichter auf, die wieder verschwanden und die Hilma nicht im Gedächtnis behalten konnte.

Über der ganzen Gesellschaft lag es wie ein Zwang, ein leichter Druck und eine mühsam beherrschte Schläfrigkeit. Man tafelte lang, man hielt Siesta, man fuhr oder ritt spazieren. Wenn man sich des Abends zusammenfand, war es, als gratuliere heimlich einer dem anderen, daß man wieder einen Tag mit Anstand losgeworden war.

Nur Prinz Heinrich, der nicht täglich zur Tafel erschien, sondern nur ab und zuging, brachte stets einiges Leben in die schläfrige Gesellschaft. Wenn er eintrat, reckte sich alles innerlich und äußerlich in die Höhe. Hilma bemerkte, daß sie nicht die einzige war, die ihn bewunderte.

Es war ein verregneter Juni-Abend.

Im Musiksalon brannten die Kronleuchter, und es wurde musiziert.

Die beiden Musiker geigten wunderschön, und das Hoffräulein der Frau Erbprinzessin begleitete die Künstler auf dem Flügel.

Die Damen saßen in den tiefen Sesseln und die Herren hinter ihnen auf den Wandsofas.

Nebenan im Spielzimmer spielte der Fürst mit dem Hofmarschall, dem Hofrat und dem Adjutanten Skat mit Strohmann, und mitten in ein verhauchendes Pianissimo hinein konnte man Seine Durchlaucht einen Grand ansagen hören.

Der Bibliothekar saß mit dem Naturforscher beim Schach. Es war sehr warm geworden in den von vielen Lampen erhellten, menschengefüllten Räumen, und Hilma hatte sich in eine Fensternische geschlichen, um die köstlich würzige, feuchte Frische der Juni-Nacht zu atmen.

Zuweilen überkam sie eine jähe Sehnsucht nach der Einsamkeit, an die sie gewöhnt war, und nach Freiheit. Da war auf einmal der Prinz neben ihr gewesen und hatte sie gefragt, wie ihr das Hofleben gefalle. Dann hatte er – immer mit gedämpfter Stimme – den Ehrgeiz der Fürstin verraten, aus ihrem Miniatur-Hof ein neues Weimar zu machen.

Er sagte: »Wie kommt es denn, daß es mir einfällt, zu Ihnen von Dingen zu sprechen, die eigentlich gar nichts für junge Damen sind?«

Sie sah ihn mit innigem Entzücken an und antwortete: »Weil Sie erraten, daß ich es am liebsten höre.«

»Ich errate nicht viel, aber Ihre Augen verraten viel,« sagte er leise.

Der Regen rauschte so sanft. Sie stand, mit beiden Armen auf die Sandsteinbrüstung des Fensters gelehnt. Der Regen spritzte ihr in das Gesicht, und das war Erquickung, denn sie fühlte Glut auf den Wangen.

Er sagte in freundlich sorgendem Tone: »Das Fenster ist naß, Ihre Ärmel werden feucht, Baroneß, das schadet am Ende der hübschen Farbe.«

Sie rührte sich nicht. Was fragte sie nach Kleiderärmeln? Wenn er nur noch da stehen blieb und weiter sprach! Wie glücklich war sie! Wie unbegreiflich glücklich!

Er sagte aber nur noch: »Verzeihen Sie ... die Fürstin sieht sich nach mir um.«

Dann war er fort.

Und sie träumte allein weiter.

Sie hatte nichts getan, ihn zu rufen. Nun war er gekommen. Eine wunderbare Sicherheit erfüllte sie, daß er wieder und wieder kommen werde. Er hätte nicht diese Gewalt über sie haben können, wenn er nicht unter allen Männern der Erde der gewesen wäre, der ihr bestimmt war, – und sie ihm.

Sie hatte einmal irgendwo gelesen, daß jeder Mensch nur die eine Hälfte eines Ganzen sei, daß aber auch für jeden die fehlende Hälfte irgendwo existiere. Und jede Hälfte müsse sich ruhelos nach der anderen sehnen und sie suchen. Käme aber endlich einmal die eine Hälfte in die Nähe der anderen, dann begehre sie auch auf der Welt nichts anderes mehr, als das unauflösliche Einswerden mit ihr.

›Ja, er ist es! Er ist es!‹ jauchzte ihr Herz. ›Denn alle Sehnsucht ist durch ihn gestillt.‹

6.

Hilma war »die« Schönheit des kleinen Hofes und bekam es zu hören. Die Männer huldigten ihr, jeder in seiner Weise. Dieser Weihrauch war ihr anfangs wertvoll, weil sie glaubte, daß er sie in den Augen des einen hob, für den sie sich gern mit allem Glanz und aller Ehre der Welt geschmückt hätte.

Aber dann achtete sie nicht mehr darauf, denn alles andere erschien nichtig, verschwamm und verschwand vor dem, was ihr mit jedem Tag gewisser wurde.

Der Prinz, der sonst nur ab und zugegangen war, verließ kaum mehr Luisenruhe, fehlte kaum je bei Tafel.

»Ich weiß gar nicht, was in unseren Prinzen Heinrich gefahren ist,« sagte Fräulein von Ysserstedt, die Hofdame der Fürstin. »Sonst hat er's in Luisenruhe immer so langweilig gefunden und jeden Vorwand ergriffen, um sich zu drücken.«

Jemand bemerkte: »Es gibt einen Magneten hier.«

»Ja, ja,« sagte der Bibliothekar mit einem leichten Seufzer: »Schöne Augen haben uns betört.«

Hilma wendete das Gesicht ab und tat, als höre sie nicht hin.

Sie war hier nie allein, nie ohne die Gesellschaft mindestens eines weiblichen Wesens, mochte es die Kammerjungfer, eine Hofdame oder eine der fürstlichen Damen sein. Man konnte nicht über den Korridor gehen, ohne den Blicken der an den Türen postierten Lakaien ausgesetzt zu sein. In den Park durfte man als junge Dame auch nicht allein gehen.

Um in ihr eigenes Zimmer zu gelangen oder aus ihm hinaus, mußte Hilma ein Vorzimmer passieren, in dem ihre Kammerjungfer wohnte und schlief.

Diese vollkommene Unmöglichkeit, je allein und unbeobachtet zu sein, erinnerte sie an das Kloster. Dort war ihr die Unfreiheit und das beständige Überwachtsein schwer zu ertragen gewesen; hier war aber alles für sie in den Schleier von Romantik und Poesie gehüllt, den ihre schwärmende Liebe wob. Sie lebte ja jetzt ein Märchen, und da mußte alles so sein, wie es war.

Was sie sonst im Inneren bewegt hatte: Der Drang nach Wissen und Erkenntnis, die Sehnsucht nach einem Leben in Vollkommenheit, das alles schlief. Nichts beunruhigte sie mehr als die tägliche Erwartung, ob und wieviel sie mit ›ihm‹ zusammensein werde. Sie wollte nichts mehr als seine Gegenwart. Alles andere war wertlos geworden.

Entsetzlich war es, wenn er unerwartet fortblieb!

Wenn sie mit den Damen zur Tafel kam, im Gefolge der Fürstin, suchte ihr Blick verstohlen den seinen. Sie war dann glücklich. Fand sie den Gesuchten nicht vor, so sank ihre Lebendigkeit im Nu tief unter den Gefrierpunkt. An solchen Tagen konnte sie kaum den Mund auftun, um die notwendigen Antworten zu geben.

Einmal blieb er drei ganze Tage fort, weil er seinen Onkel an einem fremden Hof bei einer Feier zu vertreten hatte.

In diesen Tagen war Schloß Luisenruhe tot, der Park leer, die Gegend verstaubt, verdorrt, ausgestorben!

Ihre ganze Seele war von der einen Frage erfüllt: Wann kommt er wieder?! Wann?! – Und sie wagte doch nicht, diese Frage laut werden zu lassen.

Als sie ihn dann unverhofft wiedersah, flutete eine solche Glückseligkeit über sie, daß ihr das eigene Erleben ganz unwirklich schien.

Ihr war zuweilen, als könne sie so viel stürmische Wonne gar nicht mehr schweigend tragen.

Sie fühlte, daß er sehnsüchtig danach verlangte, sie einmal ohne Zeugen sprechen zu können.

Und sie dachte: ›Wenn er es will, wird er es schaffen!‹

Er schaffte es wirklich auf ganz einfache Art, indem er sich zum maître de plaisir aufwarf und mit gnädiger Erlaubnis der Fürstin im Parke ›italienische Nächte‹ veranstaltete.

Man lustwandelte zwischen bunten Lampions und bengalischen Flammen, die die Wasserkünste beleuchteten, man aß Gefrorenes und trank Champagner, die Hofkapelle spielte im Musiktempelchen und zuletzt wurde getanzt.

Der Prinz Heinrich tanzte zuerst mit der Erbprinzessin, dann mit der ältesten Tochter der Hofmarschallin, dann holte er Hilma.

Sie hatte ihn bis dahin lebhaft plaudern und lachen hören, – nun war er stumm.

Auch sie hatte geschwatzt und gelacht. Nun klopfte ihr Herz so wild.

Sie tanzten stumm, bald in tiefem Schatten, bald von einer Kunstflamme magisch beleuchtet, und wenn sie ihn grell beleuchtet sah, schien er ihr seltsam erregt und bleich.

Die Streichinstrumente weinten, sangen, jubelten, wühlten die Leidenschaften aus allen Tiefen herauf.

Sie tanzten im wiegenden Walzertakt und hätten so miteinander dahingleiten und schweben mögen, so nahe einander, so nahe! – bis ans Lebensende.

Als sie Atem schöpfend still standen, sagte er: »Sie tanzen wie eine Nixe.«

»Ist das gut?« fragte sie leise.

»Es ist das, was uns um den Verstand bringt,« antwortete er ebenso.

»Ich habe noch nie mit einem Mann getanzt,« bekannte sie, »Sie sind der erste, Durchlaucht.«

»Dann haben Ihnen also wirklich die Waldgeister und Nixen das Tanzen gelehrt?!«

»Nein, im Kloster mußt' ich's lernen.«

»Im Kloster!« wiederholte er mit staunendem Entzücken, als habe sie etwas Wundervolles gesagt.

Andere ausruhende Paare kamen ihnen nahe, da legte er den Arm wieder um ihre Taille, und sie tanzten weiter.

Sie hatte nur eine Sehnsucht: mit ihm allein zu sein, – mit ihm allein und immer fort!

Plötzlich blieb er im schwarzen Schatten einer Trauerlinde stehen. Sie hörte ihn so tief Atem holen, daß es wie ein Seufzen klang.

Dann sagte seine Stimme: »Hilma!«

Sie wußten nicht, wie es geschehen war, daß sie sich mit einem Male umschlungen hielten und küßten, – und küßten!

»Liebst Du mich?!«

»Ja! Ja! Ja!«

»Du, mein Leben!«

»Hast Du mich lieb?«

»Wahnsinnig!«

Und wieder Küsse, Küsse! –

Dann zog er sie schnell fort, führte sie am Arm quer über einen violett beleuchteten Rasenplatz den anderen Damen zu.

Seine Haltung war korrekt, denn man konnte sie jetzt sehen. Dabei flüsterte er ihr zu: »Wir müssen sehr auf der Hut sein! Sowie man etwas merkt, wird man uns trennen.«

In dieser Nacht tanzte er nicht mehr mit ihr.

Bald darauf wurde der Geburtstag der Frau Erbprinzessin gefeiert. Nachmittags gab es ein Kinderfest auf der Waldwiese. Die Erbprinzessin hatte für Kinder eine unglückliche Liebe, denn ihrer eigenen Ehe schienen sie versagt zu bleiben.

Auf der herrlichen Wiese zwischen Park und Forst wurden Spiele gespielt: »Blinde Kuh« und »Böckchen, Böckchen, schiele nicht« und »Katz und Maus.«

Das war für die Erbprinzessin das größte Vergnügen. Sie und die jüngeren Damen und Herren tummelten sich fröhlich mit den geladenen Dorfkindern umher, belustigten sich selbst noch mehr, als die blöden kleinen Festgäste, die sich ihrer Sonntagskleidchen bewußt blieben.

Hilma hörte die Frau Erbprinzessin sagen: »Was, auch der Heinrich?! Das ist ja noch gar nicht dagewesen!«

»Ja, ja, Durchlaucht, es geschehen Zeichen,« sagte der Naturforscher orakelhaft und lächelte.

Nachdem man sich müde gespielt hatte, wurden die Kinder zu einer langen, langen Tafel geführt, die unter den Riesentannen aufgestellt war, und mit Schokolade und Kuchen bewirtet.

Die Damen gingen mit mächtigen Kannen herum, gossen unermüdlich Schokolade nach, oder trugen breite Körbe mit Kuchen umher. Die Dienerschaft durfte aus einiger Entfernung zuschauen.

Der Erbprinz, Prinz Heinrich und die jüngeren Gäste und Kavaliere standen dabei.

Der Erbprinz bemühte sich, mit dem kleinen Volk zu sprechen, er brachte aber nicht viel mehr heraus als: »Nun, schmeckt's euch?« oder »hast Du auch ordentlich Kuchen bekommen?«

Er galt für steif und stolz; aber Hilma hatte längst bemerkt, daß er nur mit einer großen Schüchternheit zu kämpfen hatte, die ihn leicht linkisch machte.

Prinz Heinrich dagegen, der gar nicht schüchtern war, brachte die Dorfkinder und die bedienenden Damen immerfort durch seine lustigen Neckereien zum Lachen.

Als es dunkelte, wurde wieder der Schloßpark bis zum Waldrand hin illuminiert und unter Leitung des Naturforschers Feuerwerk abgebrannt. Der Namenszug der Erbprinzessin erschien in Flammenschrift in der Luft, Raketen und Leuchtkugeln stiegen zum Nachthimmel auf, Feuerräder schwirrten, Frösche prasselten und die aus den umliegenden Dörfern zusammengeströmte Landbevölkerung jubelte.

Ein großer Tanz auf der Wiese und allgemeine Bewirtung der Dörfler mit Rostwürstchen und Bier schlossen das Fest.

Die Frau Erbprinzessin tanzte mit dem Dorfschulzen, die Prinzen mit hübschen Bauerntöchtern, alles mischte sich durcheinander.

Es erregte keine Aufmerksamkeit, daß der Prinz Heinrich auch mit dem Fräulein von Viernau tanzte.

Er wurde nach einigen heiß geflüsterten Liebesworten plötzlich traurig und sagte: »Wir Prinzen von Geblüt sind die unglücklichsten Menschen, denn wir dürfen nur nach Vorschrift lieben!«

»Lieben nach Vorschrift?« wiederholte sie ungläubig.

»Nun ja, – lieben läßt man uns ja, – weil man muß, – aber nicht wählen. Ich will, daß Du mein wirst, – meine Frau, – aber sie werden uns maßlos quälen, ehe sie nachgeben.«

»Ich möchte Dir niemals lästig sein,« sagte sie leidenschaftlich und stolz, »viel eher für Dich sterben.«

»O Himmel, wenn wir jetzt allein wären!« stieß er gepreßt hervor, und dann: »Ich werde Dich mir ertrotzen und wenn die ganze Welt sich dagegen stemmt!«

Ob sie ihn auch zum Mann haben wollte, hatte er gar nicht gefragt.

»Wundere Dich nur nie, wenn ich vor den anderen kalt und fremd tue,« sagte er; »je länger man nichts merkt, um so besser für uns, denn das ist so gewiß wie irgend etwas: sowie der Fürst oder die Fürstin dahinter kommen, daß wir uns lieben, trennt man uns sofort. Wirst Du Dich gut beherrschen können, süßes Lieb?«

»Hab keine Sorge. Ich werde alles können, was Du willst. Aber Du sollst Dich nicht quälen! Wenn Du mich liebst, will ich nicht mehr.«

»Aber ich will mehr!« entgegnete er herrisch. –

Nach jenen Abenden war es mit Hilmas Ruhe aus. Sie verging vor Sehnsucht nach ungestörtem Beisammensein mit dem Geliebten.

Und die Liebesleidenschaft, die sich nicht in natürlicher Weise Luft schaffen konnte, verstieg sich zu beängstigender Spannung und Überreizung.

Sie wußte aber, daß es ihm nicht besser ging.

Der lustige Prinz war jetzt auffallend ungleich in seinem Wesen, launisch gereizt und nervös.

Alle mußten merken, was in ihm vorging, nur zum Glück die fürstlichen Herrschaften nicht, weil die nicht beobachteten. Auch der Hofmarschall und die Hofmarschallin blieben offenbar ganz ohne Verdacht, vielleicht weil der Prinz sich in ihrer Gegenwart besonders zusammen nahm, vielleicht weil sie eine solche Verirrung des fürstlichen Standesbewußtseins für ausgeschlossen hielten.

Die anderen taten ja auch blind, aber sie waren es sicherlich nicht! Er starrte Hilma oft lange an, ohne sich dessen bewußt zu werden, oder brach im Gespräch mit anderen plötzlich mitten im Satz ab, weil er ihre Stimme hörte! Und wenn sie einmal länger mit einem der jüngeren Herren sprach, kam es vor, daß er den Betreffenden ohne jede Veranlassung schlecht behandelte.

Alles dies erfüllte sie wechselnd mit Wonne und angstvollem Schrecken. Sie kam aus der Aufregung nicht heraus.

7.

Eines Mittags, als Hilma sich in ihrem Zimmer für das Diner ankleidete, wobei ihre Kammerjungfer Nanette half, gab ihr diese unter dunklem Erröten ein zusammengefaltetes Zettelchen.

Hilma starrte sie aus großen Augen an.

»Was ist das?«

Nanette schlug die Augen nieder: »Ich sollt's Ihnen geben, gnädiges Fräulein.«

Hilma wollte fragen: »Wer?« Sie wagte es nicht.

Sie wagte auch nicht, das Billett zu entfalten, ehe sie nicht die Jungfer in das Nebenzimmer geschickt hatte. Dann las sie dieses:

»Ich halte es nicht mehr aus, ohne Dich zu sprechen. Da sich kein anderer Weg fand, habe ich mich der guten Ysserstedt anvertraut. Und Deiner Nanette. Beide sind mir treu ergeben. Ich bitte Dich: gehe heut gleich nach Tisch mit der Ysserstedt die Pappelallee hinunter nach dem Fluß. Ich bitte Dich dringend! Mein Verlangen nach Dir ist so ungestüm, daß ich gar nicht mehr weiß, was ich tue. Heinrich.«

Sie küßte das Zettelchen und dann schloß sie es gut ein.

Plötzlich kam ihr der Gedanke: ›Wenn es eine Falle wäre? Am Ende ist das Billett gar nicht von ihm, sondern von jemand, der Verdacht geschöpft hat?‹ Ihr Herz klopfte heftig vor Schreck.

Sie rief die Jungfer.

»Gnädiges Fräulein sind doch nicht unwohl?« schrie Nanette auf. »Aber so weiß wie gnädiges Fräulein aussehen!«

»Nanette,« sagte Hilma, »bin ich einmal unfreundlich oder ungeduldig oder ungerecht mit Ihnen gewesen?«

»Aber liebes gnädiges Fräulein! So gut wie Sie gibt's überhaupt keine Herrschaft wieder.«

»Du würdest mir nichts Böses antun wollen, nicht wahr?« forschte Hilma dringend.

»Gnä' Fräul'n! ...« Nanette war dem Weinen nah.

»Sag mir die Wahrheit: wer gab Dir den Zettel?«

Die Nanette stammelte weinend: »Seine ... Durchlaucht ... der Herr ... Prinz ...«

»Prinz Heinrich?«

»Ja.«

»Er selbst?«

»Jawohl. Heut Morgen, in dem Flur vor der Küche, wie Durchlaucht den Cesar gefüttert haben. Das tun Durchlaucht der Herr Prinz meistens nämlich selbst. Er hat zu mir gesprochen und hat gesagt: ›Tu's für mich, Nettchen. Sieh, ich verlaß mich auf Dich,‹ hat er gesagt, ›und wenn Du nicht klug und treu bist, gibt's ein großes Unglück.‹ Ach du lieber Gott, wenn ich da schuld dran wär! So ein seelensguter, freundlicher Herr! Sie werden ihn doch nicht unglücklich machen, gnä' Fräul'n!«

Hilma fragte ganz bewegt: »Haben Sie ihn wirklich so lieb, Nettchen?«

Das Mädchen lächelte unter Tränen: »Dem muß ein jeder gut sein.« –

In Luisenruhe herrschte im Sommer die gutdeutsch-bürgerliche Sitte, in der Mitte des Tages die Hauptmahlzeit einzunehmen und abends zu soupieren.

Nach dem Abendessen erging sich die Gesellschaft bei schönem Wetter noch im Park, oder man saß zusammen im Musiksaal und Spielzimmer. Dann war ein Isolieren kaum möglich. Aber nach dem Mittagsmahl zog sich jedermann zur Siesta zurück, und man vereinigte sich erst wieder zum Fünf-Uhr-Tee, dem sich Spazierfahrten anzuschließen pflegten.

Hilma setzte gleich nach dem Mittagessen ihren Gartenhut auf, zog die Handschuhe an und ging an den schläfrigen Lakaien vorüber die breite Treppe hinunter in den Hof.

Da stand richtig Fräulein von Ysserstedt und fütterte mit Brotbrocken die weißen ausländischen Hühner, die eine Liebhaberei der Erbprinzessin waren.

Henriette von Ysserstedt, die Hofdame der Fürstin, eine etwa fünfzigjährige, schön gewesene und noch immer sehr stattliche Dame, war bei allen beliebt wegen ihrer Gutmütigkeit, aber auch der Zielpunkt vieler Neckereien. Sie seufzte und stöhnte beständig darüber, daß sie zu dick wurde, fand aber doch stets einen Vorwand, um die lästigen Diätvorschriften, die der Hofrat ihr gab, nicht zu befolgen.

Hilma kam sich wie eine Verbrecherin vor, als sie zu der Dame trat.

»Ach meine Liebe,« sagte die Ysserstedt, »der greuliche Hofrat will ja, daß ich gleich nach dem Essen eine Stunde promeniere. Begleiten Sie mich vielleicht? Aber nur wenn Sie mögen. Ich kann ebenso gut allein gehn.«

Hilma sagte, ohne den Blick zu heben, daß sie ganz gern mitgehe, wenn es Fräulein von Ysserstedt erlaube.

»Gehen wir die Pappel-Allee hinunter nach dem Fluß,« sagte die Dame. »Es ist viel luftiger draußen als im Park.«

Schweigend durchschritten sie die Höfe der Wirtschaftsgebäude und kamen ins Freie.

Da seufzte Fräulein von Ysserstedt aus Herzensgrund und sagte: »Weiß der Himmel, daß ich jetzt lieber Stallmagdsdienste täte oder sonst was, als hier mit Ihnen gehen, Sie Unglückskind! Aber ich kann's nicht länger mit ansehen! Der arme Prinz quält sich ja, daß es einen Stein erbarmen könnte. Gott wird mir's verzeihen, wenn es 'ne Sünde ist.«

Da fühlte sich Hilma an solchem Unheil schuld und zugleich so hülflos, daß sie zu weinen anfing.

»Was soll ich tun?!« rief sie.

Fräulein von Ysserstedt seufzte weiter. »Ein Unglück ist es, wie man's auch besieht, Kinder,« sagte sie, »denn was draus werden kann ja nie. Er bekommt nie die Erlaubnis, eine Unebenbürtige zu heiraten, nie! Denn man rechnet damit, daß seine Kinder einmal den Stamm unseres Herrscherhauses fortführen, weil ja die Ehe der erbprinzlichen Herrschaften leider ohne Nachkommenschaft zu bleiben scheint. Also heiraten kann er Sie nie, arme kleine Hilma, und das weiß er ganz genau. Er ist sonst der ehrenhafteste Mensch, aber ach! Solch ein verliebter Tor verliert eben alle Besinnung! Ach Kinder, Kinder, was soll daraus nur werden?!«

»Da ist er,« sagte Hilma und wischte schnell die Tränen aus den Augen.

Die Pappeln zur Linken traten an dieser Stelle zurück und umgaben im Halbkreis eine alte Steinbank. Hier hatte er gesessen und gewartet.

Nun war er aufgesprungen und küßte der Hofdame die Hand.

»Yssy! Sie haben mir Ihre Siesta geopfert! Das werde ich Ihnen nie vergessen.«

Sie wandte sich strahlend zu Hilma: »Issy! So hat er mich genannt, wie er noch ein Buberl war.«

»Und ein rechter Gassenbub,« setzte er lachend hinzu.

»Aber ein arg lieber,« meinte die Ysserstedt. –

Die Sonne der prinzlichen Huld schien die Sorgenwolken, die eben noch ihre Seele überschattet hatten, verscheucht zu haben.

Sie zog einen Tauchnitzband aus ihrem Pompadour und setzte sich auf die Steinbank. Doch hob sie mit einem hülflos besorgten Blick den Warnungsfinger gegen den Prinzen und sagte: »aber bitte, vernünftig!«

Der Prinz dachte schon nicht mehr an die Gute. Er zog Hilma in den Schatten des nächsten Baumes. Eine ganze Weile sprach keines ein Wort.

Und auch als sie endlich zum Sprechen Zeit fanden, blieb es ein Stammeln, abgerissene Worte, eine kurze Neckerei, eine grollende Frage, heiße, wiederholte Versicherungen, daß man einander liebe, – für unverliebte Menschen sinnloses Faseln, für sie beide aber das Wichtigste, Spannendste, Bedeutungsschwerste von allem, was auf Erden gesprochen werden konnte.

Plötzlich mahnte die Stimme der Ysserstedt zum Aufbruch.

Sie glaubten es kaum, daß sie eine volle Stunde lang auf demselben Fleck gestanden hatten und fast nichts besprochen hatten, aber es war so und sie mußten auseinander gehen.

Von jenem Tage an sahen sie sich fast täglich in derselben Weise.

Auch schickte er ihr täglich durch Nanette einen schriftlichen Guten Morgen-Gruß, den sie auf gleichem Weg erwiderte.

Jetzt erst lernten sie sich näher kennen.

Hilma kam bald dahinter, daß ihr Prinz kein Halbgott und kein Helden-Ideal war, sondern ein Mensch mit allerlei menschlichen Schwächen. Das verringerte ihre Liebe nicht, aber es veränderte ein wenig deren Charakter. Statt der Anbetung, die sich nicht genug tun kann, bis sie zum Staub unter des anderen Füßen werden möchte, mischte sich jetzt ein mütterliches Element in ihre Liebe: Etwas wie zärtliches Mitleid. Ihr war, als liebe sie ihn für jede kleine Schwäche, die sie an ihm kennen lernte, nur um so inniger. Sie erzählte ihm von ihrer einsamen Kindheit, wie die, denen sie gehörte, sie nie begriffen und nie recht gemocht hätten, weil sie nicht ihnen glich, sondern dem ihr unbekannten Vater, den die Utendorfs verabscheuten.

»Mit einigem Grund,« sagte er. »Sie können ihn unmöglich dafür bewundern oder lieben, daß er Deine Mutter verlassen hat, um die Schauspielerin zu heiraten.«

»Wenn er diese Frau aber nun geliebt hat, wie Du mich liebst?« wandte sie ein.

Er schwieg einen Augenblick betroffen. Dann sagte er: »Ich hätte mich in diesem Fall lieber tot geschossen. Übrigens wollte ich, Du glichst ihm nicht.«

Ein andermal fragte er sie, ob sie gar nicht wisse, daß ihr Vater ein berühmter Dichter sei?

Sie war ganz erstaunt: »Mein Vater?!«

»Ja gewiß. Daß Dir Dein Bruder davon nichts gesagt hat, wundert mich. Hilmar Viernau hat Gedichte und Dramen geschrieben, die von denen, die so was beurteilen können, soviel ich weiß, sehr geschätzt werden.«

Sie errötete vor Freude. Was sie einmal Gutes über den Vielgeschmähten hörte, empfand sie immer als Wohltat.

In den nächsten Tagen erhielt sie eine kleine Sendung Bücher. Es waren, in luxuriösen Liebhaber-Einbänden, die Werke Hilmar Viernaus.

Mit welchem Fanatismus wäre sie sonst über diese kostbaren Dokumente hergefallen! Jetzt war sie von ihrer Leidenschaft so benommen, daß es ihr schwer fiel, die Gedanken den nicht ganz leichten Versen zuzuwenden. Die törichtsten verliebten Zeilen ihres Prinzen fesselten sie weit mehr.

Sie erzählte dem Prinzen auch, daß sie nie geliebt habe, bevor sie ihn gesehen, – denn das wollte er wissen, – ihn aber auf den ersten Blick.

Das schien ihn sehr zu entzücken.

Ihm war stets viel geschmeichelt worden und weil er klug genug war, um das wenigste davon für bare Münze zu nehmen, hatte er von den Menschen im allgemeinen eine geringe Meinung.

»Die Menschen sind entweder ehrgeizig oder eitel oder beides zusammen,« sagte er. »Am anständigsten sind wirklich noch die Phlegmatiker, die es nur bequem haben wollen. Aber gemeine Seelen haben sie fast alle. Der Neid frißt an ihren Lebern und macht sie oft aus Schafen zu Teufeln. Dummheit, Eitelkeit und Neid regieren die große Herde. Gesindel ist das Volk!«

Das mißfiel ihr.

»Über Gesindel zu herrschen, kann grade kein stolzes Gefühl sein,« meinte sie. »Ob der Erbprinz auch so über seine zukünftigen Landeskinder denkt?«

»Nein. Karl ist ein Idealist. Er hält noch immer alle Menschen für so kolossal anständig, wie er selbst es ist. Gott segne ihn.«

Sie sagte: »Du denkst so gering von den Leuten, und sie haben Dich so gern! Alle haben Dich gern! Sie lieben Dich viel mehr, als den Erbprinzen. Verdienst Du das?«

Da lächelte er mit dem freimütigen und schalkhaften Lächeln, das ihm stets die Herzen gewann und entgegnete: »Nichts verdiene ich, am allerwenigsten Dich und Dein großes Herz! Aber das ist ja gerade so schön, daß man das Allerbeste ohne Verdienst und Würdigkeit geschenkt bekommt!«

8.

Im Oktober siedelte der Hof nach der Residenzstadt über. Die winterliche Geselligkeit begann mit ihren zeitraubenden Pflichten und Sorgen.

Hilma merkte, daß sie in der Stadt der Brennpunkt des Interesses geworden war. Sie wußte, daß des Prinzen Leidenschaft für die meisten ein offenes Geheimnis war.

Es gab hier viele, die nichts Besseres wünschten, als dem Prinzen gefällig zu sein. Wo es anging, leistete man seinem unausgesprochenen Verlangen, mit Fräulein von Viernau allein gelassen zu werden, Vorschub.

Trotzdem sie nun reichlich Gelegenheit hatten, sich zu sprechen, wurde er nicht ruhiger, sondern immer aufgeregter und reizbarer. Zuweilen beklagte er sich heftig.

Manchmal äußerte er, er habe Lust, seinen Verwandten »den ganzen Krempel« vor die Füße zu werfen, dem Fürstenrang zu entsagen und irgend einen bürgerlichen Namen anzunehmen.

»Dann reisen wir als Herr und Frau Schulze in irgend ein fernes schönes Land und leben dort stillvergnügt wie einfache Privatleute. Du würdest mir doch in jeden Stand und jedes Land folgen?«

Sie bejahte zärtlich. Aber im Herzen tat es ihr weh, wenn er so sprach, denn sie fühlte, daß es aus tiefer Mutlosigkeit geschah. Er verzweifelte jetzt mitunter daran, seinen Wunsch durchsetzen zu können. Und dabei hing er, wie sie wußte, mit ganzer Seele an seinem Hause, seinen Familientraditionen und seiner Heimat.

Es war ihr nicht möglich, ernstlich zu wünschen, daß er ihren Besitz mit allem erkaufen sollte, was ihm das Teuerste war.

Einmal war es ganz schrecklich!

Er lag irgendwo, wo man sie freundlichst allein gelassen hatte, mit fieberheißen Augen vor ihr auf den Knien und sagte diese Worte:

»So weit ist es jetzt mit mir gekommen, daß ich den Tod des Erbprinzen herbeisehne.«

»Heinrich!« rief sie.

»Er ist doch immer leidend und hat wenig vom Leben. Wenn er stirbt, so folge ich dem Fürsten in der Regierung. Und der Onkel ist alt. Bin ich aber erst der Landesfürst, dann kann ich die Hausgesetze ändern, wie es mir beliebt. Dann mache ich Dich zur Fürstin und erkläre Deine Kinder für vollbürtig. ›Ich will es, so ist es.‹ Beiläufig gesagt, sind die Viernaus und die Utendorfs ebenso alter Adel wie wir.«

»Heinrich, Du bist ja entsetzlich!« rief sie.

»Wieso?«

»Damit Du mich heiraten und Fürst bleiben kannst, wünschest Du Deinem Vetter, der das Glück seiner alten Eltern und seiner Frau ist, den Tod! Seine Frau liebt ihn doch! Ja, sie liebt ihn, das weiß ich! Er ist es auch wert. Er ist viel besser als Du.«

Da stand er auf und sah sie staunend, verwirrt, verzweifelt an.

»Also der Karl ist Dir lieber als ich? – Ja, dann kann ich ja gehen.«

Nun wußte sie nichts anderes, als ihn unter zärtlichen Liebkosungen zu beruhigen.

Nach solchen Szenen war Hilma oft so müde und zerbrochen, daß sie den Obliegenheiten ihres Tages nachkam wie ein Automat. Sie ließ sich so und so viel mal am Tag von der Nanette umkleiden und ging und saß und stand, wie es eben verlangt wurde und redete mit gleichgültigen Menschen gleichgültige Dinge. Alles das ging glatt und mühelos vonstatten, vielleicht eben darum so glatt und mühelos, weil sie mit ihrem Inneren völlig unbeteiligt war.

Sie dachte oft: ›Dies kann unmöglich lange dauern! Die Spannung ist zu ungeheuer. Etwas wird geschehen.‹

Auf dies Geschehen wartete sie mit Fatalismus.

Sie war von Kind auf gewöhnt, alles über sich ergehen zu lassen im Gefühl ihrer Ohnmacht.

Seit sie den Prinzen liebte, war zu dieser auf Machtlosigkeit beruhenden Ergebung ein fatalistischer Schicksalsglaube hinzugetreten, ein Glaube oder Aberglaube, dem leicht solche verfallen, die sich in ungewöhnliche Schicksale verwickelt sehen.

Es schien ihr, als habe seit jener ersten bedeutungsvollen Begegnung mit dem Geliebten eine höhere Macht ihr Leben geführt, und sie habe nun nichts zu wollen, als dieser Führung zu vertrauen.

So verging der Winter wie ein Fiebertraum.

Es war an einem stürmischen Aprilvormittag, als die Nanette ihr wie gewöhnlich des Prinzen Guten-Morgen-Briefchen zusteckte.

Da las sie:

 

»Mein Liebling! Es ist so: der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Die Schmelling (Gräfin Schmelling war die Hofmarschallin) hat Witterung bekommen und erklärt, sie müsse die Fürstin au fait setzen. Die Gräfin ist meiner Tante bis in den Tod ergeben. Nichts wird sie zurückhalten. Das habe ich immer befürchtet. Ich kann nun nichts mehr tun, als ihr zuvorzukommen. Um elf Uhr empfängt mich der Onkel. Dann werde ich seine Genehmigung zu unserer Heirat erbitten. Natürlich wird er sie verweigern, und ich beharre. Dann werden wir sehen, wessen Wille der zähere ist. Aber die nächste Folge dieses nun unvermeidlichen Schrittes wird leider unsere räumliche Trennung sein. Vertraue mir nur, mein armes Herz, und behalte mich um Gottes willen lieb! Ich kritzle dies in Eile! Küsse Deine lieben Augen! Dein Heinrich.«

 

Mit zitternder Hand zog Hilma ihr Ührchen aus dem Gürtel: es zeigte auf zehn Minuten nach elf! –

Eine tiefe Mutlosigkeit überfiel sie.

Nun also fing die Quälerei für ihn an. Sie würden auf ihn einreden von allen Seiten! Sie würden ihn mit allen Mitteln zu beeinflussen suchen! Elenden und abmatten und reizen würden sie ihn! Immer und immer würde er gegen ihre Staatsraison anzukämpfen haben, bis sie ihn ganz zermürbten! Und sie durfte ihm nicht zur Seite stehen, ihn beruhigen und ihm helfen. Ganz sicherlich nicht!

Man würde einmal wieder über ihr Schicksal bestimmen, ohne sie mitsprechen zu lassen. Wie ein Postpaket würde sie wieder einmal verpackt und verschickt werden! –

Noch schneller, noch rücksichtsloser als sie geahnt, sollte sich dieses erfüllen.

Ein Diener meldete ihr die Frau Hofmarschallin.

Aufgeregt und mit heißem, rotem Gesicht rauschte die majestätische Gräfin ins Zimmer.

» Ma chère enfant, Sie müssen gleich nach Zollbrück. Packen Sie nur das Unentbehrlichste rasch ein. Der Wagen wird in einer Stunde vorfahren.«

»In einer Stunde schon ...,« stammelte Hilma fassungslos.

»Ja, Sie müssen sich eilen, petite

»Wissen denn die in Zollbrück ...«

»Ihrer lieben Mama ist schon telegraphiert worden.«

»Aber ...«

»Es ist der Befehl Ihrer Durchlaucht,« sagte die Gräfin abschließend.

Das hieß: »Hiergegen gibt es kein Aber.«

Hilma wagte keine Frage nach dem Grund, und die Hofmarschallin gab keine Erklärung und sagte kein freundliches Abschiedswort, noch verriet ihr Blick irgend welche Teilnahme.

Hilma begriff, daß sie für die Fürstin nichts mehr bedeutete, als eine möglichst schnell zu beseitigende Gefahr und deshalb für die Gräfin Schmelling erst recht nichts weiter.

»Also um ein Uhr erwartet Sie der Wagen. Bitte, seien Sie ja pünktlich bereit.«

Die Gräfin ging.

Hilma packte weinend mit Hilfe der weinenden Nanette das Notwendige zusammen.

Es wurde halb eins, drei viertel ...

Sollte sie wirklich ohne allen Abschied fortgeschickt werden?! Transportiert wie eine Strafverbannte? Ohne einen Händedruck, einen letzten Blick von ihm?!

Nanette hielt ihr den Pelzmantel hin.

Da meldete der Diener den persönlichen Adjutanten des Fürsten.

Es war ein älterer, streng blickender Offizier von stets tadelloser Haltung.

Dieser kündigte der erschrockenen Hilma an, er werde die Ehre haben, sie an den Wagen zu begleiten.

Der Fürst hatte auf dem kurzen Weg durch das Schloß eine sichere Eskorte für nötig gehalten!

Hilma folgte dem Adjutanten mit äußerlicher Ruhe.

Sie schritten schweigend durch die langen geheizten und mit Maiglöckchenduft parfümierten Hallen des Schlosses, dann eine Seitentreppe hinunter in den Hof.

Hier wartete ein geschlossener Landauer. Ein fürstlicher Jäger saß neben dem Kutscher. Das war sonst nie der Fall, wenn Mitglieder der Hofgesellschaft den Wagen benutzten. Ob man fürchtete, sie werde einen Fluchtversuch machen? Oder fürchteten sie eine Entführung? –

Sie warf einen sehnsüchtig suchenden Blick rings umher und nach den Fenstern.

Aber ihn, von dem sie so gerne einen Abschiedsblick erhascht hätte, hielt man ohne Zweifel irgendwo fest, bis sie in sicherer Ferne war.

Ein Diener schloß hinter ihr den Wagenschlag.

Der Adjutant stand, militärisch grüßend, im Schnee, der sich schon in kleinen weichen Sternen auf seinem dunkeln Uniformrock niedergelassen hatte. Das war das letzte, was sie von der Hofwelt sah.

Der Wagen fuhr rasselnd über das holperige Pflaster des alten Residenzstädtchens. Schnee- und Hagelschauer prasselten gegen die Scheiben. Das Unwetter verwandelte die Mittagshelle in dämmerige Dunkelheit. Sie konnte nichts sehen. Auch hören konnte sie nichts als Wagenrasseln. Sie fror und kroch tief in ihren Pelz.

Ihr wurde graulich. Wenn sie jetzt gerufen hätte, würde niemand gehört haben! Sie dachte, daß ähnlich wohl den armen politischen Verbrechern in Rußland zumute sein mochte, die man bei Nacht und Nebel fortschleppt, sie wissen nicht, wohin. –

Doch auf einmal änderte sich alles. Dem Schneegestöber und Hagel war heller Sonnenschein gefolgt. Hilma ließ ein Wagenfenster herab und schaute hinaus.

Man war auf der Landstraße. Der Schnee schmolz in den Wasserlachen, in denen sich das Blau des Himmels spiegelte. Der von geschmolzenem Schnee zum Strom angeschwollene Fluß rauschte und züngelte an den Uferweiden hinauf und überspülte die dicken Wurzeln der Pappeln. Das Geäst der Weiden leuchtete in tiefem Rot, silberne Kätzchen schimmerten an den Zweigen.

Am Straßenrand sproß Gras und Kraut in zartestem, frischestem Grün. Und da – zwischen dem lichten Blattgrün sanfte gelbe Sterne: Schlüsselblümchen blühten schon! –

Sie atmete begierig die reine, herbe Landluft.

Etwas Befreiendes, Herzstärkendes ging von dieser Vorfrühlingslandschaft aus.

›Nun werde ich erst wieder ich selbst sein können,‹ fühlte sie mit einem Male.

Die Stille und der ländliche Frieden lockten sie plötzlich machtvoll.

9.

War es wohl irgendwo auf Erden noch stiller, als in dem Herrenhaus von Zollbrück und seinem mauerumgebenen Garten? Man horchte auf, wenn von der Dorfstraße her das Geschnatter einer Gans laut wurde, und man reckte den Hals, wenn ein Bauernkütschchen am Parktor vorbeifuhr.

Miß Moore forderte nicht mehr zum » constitutional walk« auf, denn sie war in England. Auch die kleinen freundlichen Unterhaltungen mit der Amanda gab es nicht mehr, denn diese hatte geheiratet.

»Leider heiraten müssen,« berichtete die Mama. »Sie wird schon bald taufen lassen müssen, – wenige Monate nach der Hochzeit! Ich kümmere mich natürlich nicht mehr um das leichtsinnige Ding, seit ich weiß, wie unsittlich sie sich betragen hat.«

Hilma fühlte etwas wie Neid.

»Das ist doch nicht schlimm,« sagte sie. »Sie hat ihren Louis lieb und er sie auch, und nun sind sie ja verheiratet.«

»Trotzdem hätten sie nicht so schamlos sein dürfen. Aber das kannst Du zum Glück nicht verstehen.«

Man hatte Hilmas unerwartete Heimkehr sehr gelassen aufgenommen, freilich in dem Wahn, daß es sich nur um einen Erholungsurlaub handle.

»Du siehst aus, als ob Du Landluft und Ruhe recht nötig brauchtest,« sagte der Onkel Gustav.

Ja, der Spiegel erzählte es ihr alle Tage, daß sie mager und blaß geworden war und dunkle tiefe Schatten unter den Augen hatte. Gar nichts von blühender Schönheit und von Liebreiz!

Aber wenn sie sich so sah, dachte sie nur mit heimlicher Wonne daran, daß es einen gab, der sie immer schön gefunden hatte und immer!

Zwei Tage nach ihr kam wieder ein Hofwagen aus der Residenz, der ihre Koffer brachte und einen Brief der Hofmarschallin an die Mama.

Hilma hatte schon gebeichtet, daß man sie des Prinzen Heinrich wegen, der sie heiraten wolle, so schleunig vom Hof entfernt habe. Aber sie hatte es erzählt, wie man eben eine notwendige Aufklärung gibt, und als ginge ihr selbst diese Sache gar nicht nahe. Die Maske der Unbekümmertheit, die sie nun seit Monaten Tag für Tag hatte zur Schau tragen müssen, war ihr natürlich geworden.

Nun hatte die Hofmarschallin geschrieben.

Hilma stand über einen offenen Koffer gebeugt, als ganz ungewohnterweise die Mama in ihr Zimmer kam.

»Die Schmelling schreibt mir da etwas, was mir über alle Maßen peinlich ist,« sagte die Mama aufgeregt, »man macht Dir den Vorwurf, daß Du die Annäherungen des Prinzen nicht, wie es Deine Pflicht gewesen wäre, zurückgewiesen hättest! Ist das nun wirklich wahr? Kann das wahr sein?!«

Hilma richtete sich auf. Sie fühlte, daß sie im Sturm widerstreitender Empfindungen wechselnd rot und bleich wurde.

›Welche Zumutung!‹ dachte sie, ›welche Ungeheuerlichkeit!‹

Und sie sagte: »Wie soll ich denn den zurückstoßen, der mich anzieht, als wäre er der Magnet und ich die Nähnadel? Es ist unmöglich.«

»Unmöglich? Wenn es doch ganz einfache Notwendigkeit ist?«

Mit erhobenem Kopf und offenem Blick sah Hilma die Mama an. »Wir lieben uns, Mama. Ich liebe ihn.«

Die Mama seufzte und schüttelte den Kopf. »Aber Du unglückliches Kind, kannst Du denn nicht begreifen, daß Du das nicht darfst?«

»Ich dürfte ihn nicht lieben?!«

»Nein, seine Fürsten darf man verehren und sie bewundern, wenn man mag, man soll ihnen auch in Treue ergeben sein; aber sie lieben, so wie Du es meinst, das darf man nicht. Das ist schon fast Hochverrat.«

»Daran glaube ich nie und nie!« rief Hilma feurig. »Wenn ihr sagt: Du darfst ihn nicht heiraten! ja, das könnt ihr mir verbieten – und tut es –; ich finde es entsetzlich grausam, aber ich muß es hinnehmen. Zu lieben, wen ich lieben muß, kann mir dagegen kein Mensch auf der Welt verbieten. Das läßt sich nicht verbieten.«

»Du hättest es wenigstens verbergen müssen!«

»Das hab' ich auch getan, – nur nicht vor ihm.«

»Dann hat also der Prinz Dich verraten?«

»Er hat den Fürsten gebeten, mich heiraten zu dürfen. Das war sein ganzer Verrat.«

Da auf einmal fing die Mama zu zittern an, ihre Lippen färbten sich bläulich und ihre blauen Augen sahen schwarz aus, so erweiterten sich die Pupillen.

Sie verlor alle Beherrschung und fuhr Hilma mit zornigem Entsetzen an: »Du sollst dies Gesicht nicht machen! Ich kann's nicht sehen! Ich hasse das! Geradeso sah er aus, wenn ...«

»Wann sah er so aus?« fragte Hilma gespannt, – und mit grausamer, bewußter Nichtachtung der mütterlichen Empfindlichkeit setzte sie hinzu: »Vielleicht, wenn er von der sprach, die er lieb hatte?«

»Ja, wenn er von der Person sprach,« antwortete die Mama mit zornfunkelnden Augen.

Sie schien sich nicht zu wundern, daß Hilma um das wußte, was sie durch viele, viele Jahre sorgsam verschwiegen hatte. Die Erinnerung an irgend eine durchlebte Szene, die eben durch Hilmas Ausdruck lebendig geworden war, schien sie so zu erregen, daß sie die Gegenwart und die Tochter über der Vergangenheit vergaß. Hilma selbst war so erschüttert, daß auch für sie im Augenblick das eigene Schicksal hinter dem der Eltern zurücktrat.

Was mochte der Vater gelitten haben, ehe er den Mut zu diesem traurigen Bruch gefunden hatte! Aber auch sie, die Mama! Daß sie den wütenden Schmerz niemals überwinden konnte! Daß sie ihr Leben vertrauerte und verseufzte! Und welcher Haß wohnte noch immer in ihrem Herzen!

»Mama,« sagte sie sanft, »denke nicht an etwas, was Dich quält! Die Frau Hofmarschallin muß mich anklagen, um die brüske Manier zu entschuldigen, mit der man sich meiner entledigt hat. Willst Du Dir darum wieder Deine Migräne holen?«

Die Gedanken der Mama kamen wie von einem wachen Traum zurück zur Gegenwart.

Sie seufzte tief: »Unglückliches Kind! Mit Deiner Ungezügeltheit wirst Du noch Dich und andere zugrunde richten, gerade wie Dein Vater es gemacht hat.«

»Mama,« rief Hilma leise, »ich bin so froh!« Und ganz zag und zart wagte sie es, die Mutter zu umarmen, – aus Freude darüber, daß diese sich endlich einmal entschloß, den Vater vor ihr zu nennen.

Die Mama befreite sich mit erstauntem Lächeln.

»Du wunderliches Kind,« sagte sie, »es ist wirklich nicht möglich, Dich zu verstehen.«

»Sollte man sich nicht vielleicht ein bißchen lieb haben können, auch ohne das?« meinte Hilma in freundlich zuredendem Tone.

Die Mama senkte den Kopf, sah mutlos und müde aus.

»Was in mir lieben konnte, – Menschen lieben, meine ich, ist gewaltsam verwüstet worden,« sagte sie, vor sich hin sprechend. »Ein Seelenmord ist an mir begangen worden! Der es getan hat, wird es einst vor dem ewigen Richter zu verantworten haben.«

Wieder in die eigenen finsteren Gedanken versunken, schlich sie davon, mit den schleifenden Schritten und dem schleppenden schwarzen Gewand. ›Wie ein dunkler Unglücksvogel,‹ dachte Hilma, ›dem die Schwingen gebrochen sind.‹

Wie Hilma ihre Mutter kannte, mußte diese ohne Zweifel den Großpapa und den Onkel mit dem Inhalt des Briefes der Hofmarschallin bekannt gemacht haben, aber die beiden Herren schwiegen sich aus. Im Verkehr mit Hilma waren sie nur ein wenig höflicher und förmlicher als früher.

Beide, der hagere, weißköpfige Großvater und der Onkel Gustav mit seiner kolossalen Hünengestalt machten jetzt Eindruck auf sie durch ein stolzes, unabhängiges Herrentum in Haltung und Wesen, wie sie es in der kleinen Welt des Hofes nirgends, nicht einmal bei den Mitgliedern des Fürstenhauses angetroffen hatte. Dort war doch jeder – auch der Fürst – in tausend Rücksichten und Vorsichten eingezwängt, – hier hausten freie Herren auf ihrem Grund und Boden in selbstherrlicher Einsamkeit.

Der Prinz schrieb:

 

»Dein Heinrich hat üble Tage durchlebt, mein geliebtes Herz! Ich war Seiner Durchlaucht gegenüber etwas zu heftig geworden und erhielt Zimmerarrest. Von Deiner Abreise erfuhr ich erst, als Du schon fort warst. Man hat es ja ungeheuer eilig gehabt, Dich zu entfernen! Sie haben von ihrem Standpunkt aus auch ganz recht, denn Du bist in der Tat eminent gefährlich! Deine Nähe ist für meine Gemütsruhe, was die Brandfackel für den Pulverschuppen ist. Jetzt werde ich auf Schritt und Tritt bewacht. Sie fürchten, ich könnte eines Tages Orlando, meinen Fuchshengst, satteln lassen und nach Zollbrück jagen. Freilich täte ich es lieber heut als morgen. Aber die Dinge hier haben sich derart zugespitzt, daß ich nicht wagen darf, die, in deren Händen die Macht ist, zu reizen. Wir Fürsten sind die unfreiesten von allen Menschen, das ist gewiß! Man will mich auf eine Weltreise schicken, um mich von dieser Passion zu kurieren. Sie können mich um den Mond schicken und um alle Planeten, ohne diesen Zweck zu erreichen. Aber wir müssen uns fürs erste ruhig halten und uns stellen, als hätten wir uns gefügt, damit sich unsere Staatsräte usw. ihrerseits beruhigen und uns wieder einige Freiheit der Bewegung erlauben. Diese Zeilen stecke ich in ein leeres Kuvert, welches ich durch Olemeyer (der Kammerdiener) an den Oberleutnant v. P. schicke, dessen Frau die Rolle der Korrespondentin mit Dir übernimmt. Sie adressiert. Antworte ebenso, d. h. in doppeltem Kuvert, dessen Äußeres du an Annchen P. adressierst. Beide P.'s sind mir sehr ergeben und absolut sicher.«

 

Hilma antwortete und trug den Brief selbst nach dem nächsten Postort. Sie war jetzt mehr als je sich selbst überlassen, unbehindert durfte sie ausgehen, wann und wohin sie mochte.

Auf dem Weg zur Poststation begegneten ihr Anita und der Kandidat Günther, die seit kurzem verlobt waren.

›Da geht sie nun am Arm ihres stattlichen Bräutigams,‹ dachte Hilma, ›und gewiß ist es ihr, als hätte es niemals anders kommen dürfen. Und doch war sie vor wenigen Jahren in den armen Lampert verliebt.‹

(Dieser Umstand, an dessen Möglichkeit sie damals kaum gedacht hatte, war ihr nachträglich zur Gewißheit geworden.)

Sie dachte auch: ›Wenn Anita nicht eine kleine Heilige wäre und temperamentlos obendrein, so müßte sie mich in jener Zeit gehaßt haben – und ein klein wenig hat sie's wohl auch getan.‹

Anita blieb stehen.

»Sieht man Dich endlich einmal wieder, gute Hilma?« sagte sie in ihrer ruhigen Art; »Du hast uns Zollbrücker in Deiner großen Welt wohl ganz vergessen gehabt!«

»Die Welt war klein, nicht groß,« entgegnete Hilma mit einem Lächeln. Dann versicherte sie, daß sie das Zollbrücker Pfarrhaus nie und nirgends vergessen werde und gratulierte den beiden mit hübschen Worten zur Verlobung.

Den Oberflächenton hatte sie bei Hofe gelernt und handhabte diese Fertigkeit, wenn sie wollte, wie eine Kunst.

»Ob Du glücklich bist, braucht Dich niemand zu fragen, liebste Anita – man sieht es Dir von weitem an.«

»Aber Du siehst viel weniger frisch aus als früher,« sagte Anita aufrichtig.

Hilma dachte mit bedrücktem Herzen: »Das ist kein Wunder.« Sie sagte lächelnd: »Das Hofleben macht ein wenig müde.«

Als die Verlobten weitergegangen waren, wollte es Hilma nicht aus dem Sinn, wie rein und friedevoll und still sie ausgesehen hatten! Da waren keine Spuren von Stürmen der Leidenschaft, von Ängsten, Zweifeln und Sorgen.

Sie schüttelte aber die Niedergeschlagenheit, die sich ihrer bemächtigen wollte, rasch ab, indem sie zu sich selbst sagte: »Die Anita hat immer unter einer Glasglocke gelebt, und ihr Glück ist Glasglockenglück.«

Am nächsten Tag ereignete sich das noch nie Dagewesene, daß die Frau Kirchenrat Mathis ihr, der Hilma, einen feierlichen Besuch machte!

Hilma saß der kleinen, unscheinbaren, puritanisch einfach gekleideten Frau mit mehr Schüchternheit gegenüber, als sie solche je vor ihrer Durchlaucht der Landesfürstin empfunden hatte.

Frau Mathis sagte: »Du weißt, liebe Hilma, daß ich Dich auf einer gefahrvollen Straße glaube. Aber immer habe ich etwas hoch an Dir geschätzt: Deinen aufrichtigen Ernst. Ich mußte vor einigen Jahren meiner Anita die Freude, mit Dir zu verkehren, leider versagen, weil ich den Einfluß Deines starken Geistes auf ihren schwächeren ernstlich fürchtete. Jetzt hat sie aber einen so festen Halt an unserem lieben Günther, daß ihr kein anderer Einfluß mehr Gefahr bringen kann. Tue mir nun die große Liebe und komm wieder ins Pfarrhaus wie früher.«

»Ich bin nicht gut, Frau Mathis!« sagte Hilma. »Ich muß über Recht und Unrecht so anders denken, als die sogenannten Guten!«

»Niemand ist gut, denn der alleinige Gott,« entgegnete Frau Mathis. »Ich bin fest überzeugt, daß Deine ehrlich ringende Seele noch auf den rechten Weg gelangt. Nur vor geistigem Hochmut hüte Dich.«

Jedes Wort kam der kleinen Pfarrerin ganz unmittelbar aus dem Herzen, darum empfand man ihre Worte als etwas besonders Eindringliches, Schwerwiegendes, während die gleichen Worte bei anderen leicht banal geklungen hätten.

Es war nicht möglich, sich in ihrer Gegenwart zu langweilen, und es war nicht möglich, ihr etwas zu verargen.

Der Mutter zuliebe nahm Hilma den Verkehr mit der ihr fremd gewordenen Anita wieder auf, ohne daß man sich freilich näher kam. Es blieb ein rein nachbarlicher Freundlichkeitsaustausch.

Hilma hatte ihre Briefe.

Sie ging fast täglich durch das Wiesental nach der Poststation und trug ihren Brief in den Kasten, oder frug an dem kleinen Schalter: »Ist etwas für mich da?« Der junge Postbeamte wußte längst, wie der Brief aussehen mußte, den sie haben wollte, und an seiner Miene erkannte sie sofort, ob er den richtigen in der Hand hielt.

Einmal begegnete sie der Anita im Dorf und diese erzählte, sie käme gerade von der jungen Frau Strohl. »Eurer guten Amanda, weißt Du, die hat einen herzigen kleinen Jungen.«

Da fiel es Hilma mit Beschämung ein, daß sie sich in den acht Wochen, die sie nun schon zu Hause war, noch gar nicht nach der treuen Amanda umgesehen hatte.

Sie machte sich noch denselben Tag auf den Weg.

Der Bauernhof der Strohls war zwar nicht der reichste, aber der hübscheste im Dorf. Das alte Haus und die Hofmauer mit Torfahrt und Pförtchen waren so hübsch, daß fremde Maler kamen, um sie zu zeichnen. Nichts Traulicheres als das alte hohe Dach, die Holzgalerie vorm ersten Stock, das Fachwerk mit seinem wetterharten und wetterdunkeln Gebälk zwischen dem weißen Kalkbewurf!

Der Meister Strohl war seines Zeichens Tüncher, und das Gehöft mit samt dem Ackerland hatte ihm die Frau in die Ehe gebracht. Sie war zehn Jahre älter wie der Mann, den sie sich ausgesucht hatte, und galt im Dorf für ein böses Weib.

Der Louis half dem Vater beim Tünchen und in der Wirtschaft, und sein junges Weib hatte die Arbeit einer Großmagd zu tun.

Als Hilma durch das Hofpförtchen trat, sah sie die Amanda in der Haustür stehen. In dem weiten, langen Mantel von Kattun trug sie ihr kleines Söhnchen.

Hilma hatte noch nie etwas so Glückliches, Beseligtes gesehen, wie das Gesicht der jungen Mutter, die bald ihr, bald dem Kindlein zulächelte. Über die Maßen entzückt schien die Amanda von dem kleinen Wesen, welches für Hilmas Augen recht häßlich war. Hilma traute sich nie an ganz kleine Kinder heran, diese schrumplichen, gebrechlichen, quäkenden Kreatürchen flößten ihr ein leises Grauen ein. Doch das ließ sie die strahlende Mutter nicht merken.

»Ein gar zu liebes, kleines Dingelchen!« sagte die Amanda mit stolzer Zärtlichkeit. »Wir sind alle ganz vernarrt in das Fritzchen! Den Großvater müßten Sie nur mal sehen, Fräul'n Hilmchen! Nun, da muß mer wirklich lachen, wie der mit dem Kind is! Und die Großmutter gibt ihm auch kein böses Wort. So'n herz'ges Närrchen aber auch! Nichwahr, mein Goldjunge, Du läßt den ganzen Strohlhof nach Deiner Pfeife tanzen? Wie er lacht, Fräul'n Hilma! Nun, sehn Sie nur!«

Die Amanda selbst lachte vor Freude und Wonne.

Nie hatte Hilma ein glücklicheres Menschenkind gesehen!

›Ihr Hof, ihr Haus, ihr Mann, ihr Kind, das ist ihr die Welt,‹ dachte Hilma, als sie wieder auf der Dorfstraße war, ›und in dieser Welt ist sie alles, ist stolz und reich, ist eine Königin, obwohl der Louis nur Knecht bei den Eltern ist und sie der bösen Schwieger als Magd dienen muß.‹

Ein heißes Sehnen überfiel sie.

»Wäre doch nur mein Heinrich ein Bauer und dürfte ich mit ihm als seine Bäuerin auf einem Hof, wie der Strohlhof, wirtschaften! Und dann müßten wir auch ein Kind haben und ... und ...«

In schweren lila Blütentrauben hing der persische Flieder über die Mauer des Schloßgartens und duftete stark und mischte sein Parfüm mit dem Duft der Rosen und des frisch gemähten blumigen Grases.

Die Mädchen auf der Straße faßten sich bei den Händen und sangen.

Hinter ihnen, in einiger Entfernung, schritten Bauernburschen, die trugen halb erschlossene Rosen zwischen den Zähnen und lachten vor Lust.

10.

Im Hochsommer kam Horst. Er trug jetzt Leutnantsuniform, die seiner schlanken, eleganten Figur wie angegossen saß. Hilma fand ihn so hübsch geworden, daß sie ganz eitel auf den Bruder wurde. Alle Mädchen und Weiber im Dorf schauten ihm nach.

Ihm gefiel die Schwester weniger.

»Sag mal, hast Du eigentlich gar keine Heiratsanträge gehabt, als Du dort am Hof warst?« forschte er unzufrieden.

»Doch. Einen.«

»Und? Mochtest Du nicht?«

»Doch. Sehr.«

»War er nicht von Stand?«

»Er ist ein Prinz. Der Prinz Heinrich. Aber man erlaubt ihm nur, eine Prinzessin zu heiraten.«

Daß ein Prinz des regierenden Hauses sich um seine Schwester beworben hatte, schmeichelte dem jungen Leutnant. Trotzdem schüttelte er bedenklich den Kopf.

»Ja, das ist nur so schrecklich aussichtslos,« meinte er. »Ich rate Dir: vergiß ihn und nimm einen aus unserem Stand.«

»Nein, ich liebe ihn und kann keinen anderen nehmen, selbst wenn ich die Wahl unter vielen hätte, was ich nicht habe.«

Er schüttelte den Kopf.

»Dann wirst Du eine alte Jungfer werden.«

»Das ist noch lange nicht das Schlimmste,« fand sie.

Er zog die Brauen hoch, die in dünnen, wagerechten Strichen seine Stirn begrenzten. Und wie sie jetzt in sein feines, besorgtes Gesicht sah, fiel ihr auf, wie sehr seine Züge denen der Mama glichen.

»Übrigens hat mir der Papa einen Auftrag an Dich gegeben,« sagte Horst nach einem längeren Schweigen. »Er läßt Dir sagen, Du möchtest Dich daran erinnern, daß sein Haus jederzeit für Dich offen stehe.«

Sie vergaß alles andere, wenn von ihrem Vater die Rede war.

»Das läßt er mir sagen?!«

»Ja, und er band mir auf die Seele, es nicht zu vergessen.«

»Weiß er denn nicht, daß man mir hier nie und nimmer die Erlaubnis geben würde, ihn zu besuchen?«

»Doch, das muß er wissen, und ich habe ihm auch gesagt, daß es unmöglich sei.«

»Und ... was meinte er?«

»Er beharrte dabei, Du müssest es jedenfalls wissen, daß Dir sein Haus offen stehe, wie sein Herz.«

»Wie sein Herz? Sagte er das?«

»Ja.«

»Ich habe seine Gedichte und Dramen gelesen. Ich besitze sie. Sie sind schön.«

Horst errötete. »Hm, ja,« sagte er; »ich verstehe nicht viel von moderner Literatur. Mir kommt das Zeug so dunkel und verkünstelt vor. Aber in seinen Kreisen gilt der Papa was.«

»Ob ich ihn wohl noch einmal kennen lernen werde?« Sie sprach es vor sich hin.

»Ich muß gestehen, daß mir der Kreis um Papa und Agnes als täglicher Verkehr für Dich nicht sehr behagen würde. Du wärst dort ziemlich deplaziert.«

»Und hier? Bin ich hier denn am rechten Platz?!«

»Hier bist Du ganz gut aufgehoben. Ich glaube gern, daß es ein wenig langweilig ist; aber standesgemäße Langeweile ist für ein Edelfräulein immer doch viel besser, als unstandesgemäßes Amüsement.«

Sie lachte.

»So könnte ja der Großpapa sprechen!« sagte sie. –

Im Oktober trat Prinz Heinrich die Weltreise, die ihn von seiner ›unglücklichen Passion für die kleine Viernau‹ kurieren sollte, wirklich an, und damit hörte der Briefwechsel, der während des Sommers Hilmas Glücksquell gewesen war, mit einemmal auf.

Nun hatte sie wieder nichts als ihre Bücher.

Im Frühjahr heirateten Anita und Günther. Der Kirchenrat traute das Paar in seiner Dorfkirche unter Tränen, und die aus dem Herrenhaus wohnten dem exquisiten kleinen Hochzeitsmahl im Pfarrhaus bei.

Am nämlichen Tag reisten die Neuvermählten ab; nicht auf eine Hochzeitsreise, – diese Einrichtung fanden Kirchenrats gänzlich überflüssig, sondern nach Günthers neuer Pfarrstelle.

Hilma sah so blaß und schwermütig aus, daß der Onkel Gustav seiner Bequemlichkeit einen Stoß gab und sie wieder auf Spazierritte mitnahm.

Und solange sie auf dem Rücken ihres Pferdes saß, durch die ihr liebe Landschaft trabte, und sich von der Luft umblasen ließ, wichen Trübsinn und Lebensunlust, die sie jetzt oft niederdrückten, einem Rausch von Freiheits- und Kraftgefühlen.

Zweimal erhielt sie während dieses Jahres Briefe aus weiter Ferne, die sie dann für kurze Zeit mit heißem Glück erfüllten.

Aber diese Oasen waren zu spärlich verstreut. Und so schlich der Sommer vorüber und der lange dunkle Winter, und endlich kam das Frühjahr, das den Prinzen in die Heimat zurückbringen sollte.

Eines Tages im März fuhr am Portal des Herrenhauses ein herrschaftlicher Wagen vor und Hilma, die in ihrem Zimmer über dem Xenophon saß, sah neugierig durch das Fenster einen etwas gebeugten alten Herrn aussteigen, den sie mit Staunen als Seine Exzellenz den Herrn Staatsminister von Zeyern erkannte.

Eine halbe Stunde danach ließ der Großpapa sie bitten, sich zu einer kurzen Unterredung auf sein Zimmer zu bemühen.

An dem Sofatisch, unter dem großen Stahlstich, der die Beichte des sterbenden Banditen darstellte, saßen der Großpapa und der Minister. Der Aschenbecher aus Lapis-Lazuli und Gold, den Hilma immer bewundert hatte, stand zwischen ihnen. Sie rauchten, und der Duft ganz feiner Zigarren hüllte sie ein. Auf dem Tisch vor ihnen standen auch geschliffene Kristallgläser und eine Flasche Wein, goldbrauner schwerer Wein, der sein Aroma mit dem des Tabaks mischte. Ein Sonnenstrahl hatte sich in dem Kristall und dem Wein verfangen und warf wunderzarte goldfarbige Lichtkegel über das Tischtuch.

Der Minister erhob sich und begrüßte Hilma mit einer tiefen Verbeugung.

Er hatte ein strenges, verknöchertes Altmännergesicht, in dem Gesetzeswille und Rechtsbewußtsein jede impulsive menschliche Regung ertötet zu haben schienen.

Auch aus seiner trockenen tonlosen Stimme schien alles unmittelbare Empfinden entflohen.

»Setze Dich ein wenig zu uns, liebes Kind,« sagte der Großpapa, und Herr von Zeyern rückte ihr einen Sessel zurecht.

»Gestattest Du, daß wir weiter rauchen?« fragte der Großpapa höflich.

»Bitte sehr!«

Sie hatte die Scheu vor dem herrischen Großvater, der so eisig sein konnte und ihr nie eine Spur von wirklicher Zuneigung gezeigt hatte, noch heute nicht überwunden. Jetzt eben schien er ihr aber von den beiden doch der weniger Beängstigende.

Der Minister machte eine höfliche Wendung gegen sie und sagte mit seiner leisen, blechernen Stimme: »Ich bitte um Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, daß ich eine sehr delikate Angelegenheit berühren muß. Es handelt sich um eine Feststellung in betreff gewisser – hm – intimer Abmachungen, die zwischen Ihnen und Seiner Durchlaucht dem Prinzen Heinrich existieren sollen.«

Er machte eine Pause.

Hilma, die auf ihre Hände gesehen hatte, hob den Kopf und blickte dem alten Herrn grade in die Augen. Sie fühlte: ›Was Du jetzt auch von mir denkst, ich schäme mich meiner Liebe nicht und das sollst Du wissen.‹

Dennoch war sie rot geworden, was sie an der Glut ihrer Wangen wohl spürte.

Der Minister sah auf die Zigarre, die er zwischen den Fingern hielt und fuhr fort:

»Ich darf voraussetzen, daß Sie, mein gnädigstes Fräulein, mit der Tatsache vertraut sind, daß nach dem fürstlichen Hausgesetz, insbesondere auch dem die Thronfolge regelnden Gesetz, nur eine Prinzessin von Geblüt die Gemahlin unseres Prinzen Heinrich werden kann?«

»Ja, ich weiß,« antwortete Hilma.

»Das habe ich erwartet,« sagte der Minister mit hörbarer Befriedigung. »In der Residenz gehen aber Gerüchte um, der Prinz habe Ihnen – hm, – eine Art Eheversprechen gegeben, und dieses Gerücht soll sich, so wird behauptet, auf Äußerungen Seiner Durchlaucht selbst stützen. Ich muß Sie dringend bitten, mein gnädiges Fräulein, mich über diesen Punkt genau orientieren zu wollen.«

Hilma empfand diese Worte als eine Mißhandlung. Ihr ganzer Stolz lehnte sich auf. In dieser prinzlichen Angelegenheit wurde sie einfach als » quantité négligeable« genommen! Man griff mit roher Hand in ihr allerheiligstes, allerpersönlichstes Leben und keiner schien auch nur einen Gedanken daran zu wenden, daß es sich doch für sie um nichts Geringeres als ihr Frauenglück handelte!

Wie erbärmlich diese Menschen alle waren! Wie kalt, wie gefühllos!

Ihr Mund zitterte vor Zorn; allein sie antwortete mit fester Stimme: »Was mir der Prinz im Vertrauen gesagt hat, war für keinen Dritten bestimmt. Ich habe aber nie etwas von dem, was er vielleicht in augenblicklicher Erregung versprochen hat, als bindend angesehen, denn ich weiß, daß er noch weniger als andere sein eigener Herr ist. Er hat mich geliebt, und es ist mir immer nur um seine Liebe zu tun gewesen und nicht um Rechte. Er kann jede Prinzessin heiraten, die Sie für ihn aussuchen, – wenn er will, – ich werde niemals Rechte geltend machen.«

Sie sprach das Wort ›Rechte‹ mit einer Verachtung aus, die wie ein moralischer Peitschenhieb wirkte.

Der Minister zwinkerte mit den Augen, als habe seinen Sehnerv etwas zu Grelles getroffen; aber der Großpapa sah sie mit einem Aufblitzen seiner kalten Augen an und nickte Beifall.

Hilma merkte, daß sie ihm eben imponiert hatte, – vielleicht das allererste Mal.

Es entstand eine Pause.

Dann räusperte sich der Minister und sagte in verbindlichem Ton: »Eine vollkommen korrekte Auffassung, mein gnädiges Fräulein, – eine Auffassung, die Ihrem Verstand Ehre macht. Wir müssen jedoch auch mit der Möglichkeit rechnen, daß Seine Durchlaucht der Prinz sich selbst wegen solcher in der Erregung des Augenblicks gegebener Versprechen mit Bedenken tragen könnte.«

»Sie können ihm versichern, Exzellenz, daß ich gar keinen Anspruch erhebe, – gar keinen! – Er weiß das übrigens,« setzte sie leise hinzu.

»Darf ich Sie bitten, mir diese Versicherung schriftlich zu geben? Es ist nur eine Form.«

Hilma, der es eine Genugtuung gewesen war, den beiden despotischen Greisen gegenüber nur ihren Stolz zu Worte kommen zu lassen, erschrak.

Sie begriff, daß der Prinz seinen hartnäckigen Widerstand gegen den ihm abverlangten Verzicht mit der Versicherung begründet hatte, daß er durch heilige Versprechen gebunden sei. Nun wollte man ihm ihren ausdrücklichen Verzicht vorzeigen. Das entwand ihm seine letzte Waffe. Und dazu sollte sie selbst, – sie! – die Hand bieten? –

In schwerem Zweifel schaute sie zu dem Banditen auf, der in so schöner Pose starb, und ließ die tonlose Stimme des fürstlichen Staatsmannes über sich hinsäuseln.

›Da er im Sterben ist, hätte man ihm wenigstens die Fesseln von den Armen nehmen können!‹ dachte etwas in ihr.

Indessen sagte der Minister beinahe gütig: »Sie schreiben nur auf einen Bogen Papier, daß Sie keinerlei Anspruch an den Prinzen erheben und kein Recht geltend zu machen hätten. Dies unterzeichnen Sie mit Ihrem vollen Namen. Nach den sehr verständigen, einsichtsvollen Worten, die wir soeben die Genugtuung hatten, hier von Ihnen zu hören, kann Ihnen diese gleichgültige Äußerlichkeit kaum etwas bedeuten.«

»Aber ihm wird sie etwas bedeuten,« entschlüpfte es ihr. Dazu schwieg der Minister.

Der Großpapa war geräuschlos aufgestanden und an den Schreibtisch getreten, auf dem die Leuchter mit den goldenen Löwen und den Kristallklunkern blinkten und alle die anderen kostbaren, schönen Gegenstände.

Er öffnete die nach Juchtenleder duftende Schreibmappe, legte mit seinen schlanken, weißen Händen einen wappengeschmückten Briefbogen auf das Löschblatt der Unterlage und griff nach seinem Federhalter, der aus Malachit geschnitten war.

»Du kannst die paar Worte gleich hier schreiben,« bestimmte er.

»Nein! nein! nein!« rief ihr Herz.

Aber über ihre Lippen kam der Ruf nicht. Wenn der Großvater einen Befehl gab, pflegte man in diesem Hause widerspruchslos zu gehorchen.

Sie stand auf, setzte sich vor den vielbewunderten Schreibtisch und nahm den Malachitfederhalter aus der Hand des Großpapa entgegen.

Der Großpapa öffnete den Deckel des Tintenfasses und bemerkte: »Hier ist der Streusand.«

Dann trat er leise zurück.

Es wurde so still im Zimmer, daß man die Stutzuhr unter ihrer Glasglocke ticken hörte. Die beiden alten Herren warteten ohne sich zu rühren.

Hilma saß mit dem Federhalter in der Hand, starrte auf das weiße Papier und strengte sich an, mit sich selbst ins Klare zu kommen.

Warum graute ihr eigentlich davor, niederzuschreiben, was sie doch eben stolz bekannt hatte? Doch nur, weil sie seiner Liebeskraft nicht ganz sicher war. Sie fürchtete, daß er des unerquicklichen Streitens müde werden und nachgeben könne, wenn sie selbst noch den Gegnern half.

›Aber will ich denn seine Treue erlisten?‹ sagte sie zu sich selbst. ›Ist seine Liebe wirklich groß und stark, dann wird ihn dies Schriftstück nicht irre machen. Und ist sie nicht stark genug, dann verliere ich ihn doch. Und nichts kann mir helfen!‹

Sie tauchte entschlossen die Feder in die Tinte und schrieb ihre Erklärung bündig. Darunter setzte sie mit festen Schriftzügen ihren Namen.

11.

Einige Wochen nach dem Besuch des Ministers ritt Hilma mit dem Onkel Gustav spazieren.

In bequemem Schritt ging es hügelan durch einen lichtgrünüberwölbten Hohlweg. Die Sonne, die durch das junge Laub der Buchen und Kastanien schien, warf grünes Licht auf Onkel Gustavs Schimmel, auf ihn selbst und auf den Boden. Alles war grün.

Hilma ließ die Zügel lose hängen, denn der Weg war schlecht, und ihr Pferd bückte den Kopf und suchte sich einen Pfad zwischen den tiefen Furchen, die winterliche Holzfuhren eingegraben hatten, und über hohe Baumwurzeln.

»Es ist so klug und sicher,« sagte sie, von ihrem Pferd entzückt, »ich vertraue ihm, wie wenigen Menschen.«

»Ach freilich,« entgegnete der Onkel, »Tiere sind im allgemeinen weit zuverlässiger als Menschen.«

Er war heute besonders liebenswürdig.

Plötzlich sagte er: »Hast Du schon gehört, daß Dein edler Prinz in der nächsten Woche zurückerwartet wird?«

Sie wurde dunkelrot.

»Ja. Ich weiß.«

»Weißt Du auch, daß man bei Hofe in lebhafter Besorgnis ist, der hohe Reisende könnte den Weg von der Residenz nach Zollbrück finden?«

»Ach, er denkt wahrscheinlich längst nicht mehr an mich,« sagte Hilma mit gespielter Unbekümmertheit.

»Man scheint hiervon bei Hofe keineswegs überzeugt zu sein,« entgegnete der Onkel. »Jedenfalls hat man den dringenden Wunsch, daß Du fürs erste aus der Nachbarschaft verschwinden möchtest.«

»Soll ich jetzt eine Weltreise machen?« fragte sie spottend.

Er lachte behaglich: »Sie würden vielleicht sogar das Reisegeld stiften. Aber der Papa und Deine Mutter haben entschieden, Dich für ein paar Jahre in das Stift Altenhagen zu schicken; dort ist doch die Tante Eveline Priorin.«

»Unter die alten verschrobenen Stiftsdamen nach Altenhagen soll ich?« rief Hilma mit einem solchen Ruck des Entsetzens, daß ihr Pferd unruhig wurde. »Lieber möchte ich gleich tot sein!«

»Mein Fall wäre es auch nicht grade,« gab der Onkel zu. »Und darum will ich Dir mit Erlaubnis des Großpapas und Deiner Mutter einen vernünftigen Verschlag machen. Uns allen wäre es sehr recht, unseren Durchlauchtigsten Herrschaften ad oculos zu demonstrieren, daß auch wir weitaus am liebsten unter uns bleiben. Machen wir also doch ihren Ängsten kurzerhand ein Ende, indem wir uns heiraten. Du wirst Gräfin Gustav Utendorf und damit ist die Sache ein für allemal erledigt. In unserem Stillleben braucht das nichts zu verändern.«

»Das ist sehr gut von Dir, Onkel,« stammelte die erschrockene Hilma in äußerster Verwirrung, »ich bin Dir sehr dankbar, – aber ich glaube, es ist unmöglich.«

»Warum?«

»Weil ... weil ... ich den Prinzen doch liebe!« –

Er entgegnete ruhig: »Sieh mal, Kind, so was vergeht. Die sogenannte Liebe beruht immer auf Einbildung. Man seufzt ach! und oh! und denkt, die Welt geht unter, wenn man die Betreffende oder den Betreffenden nicht kriegt, und ein paar Jahre später ist man heilfroh. Unglücklich wird man aber, wenn man den geliebten Gegenstand wirklich kriegt. Wie oft hab' ich das erlebt! Und Deinen Herrn Prinzen kannst Du ja doch nicht bekommen. Du kannst sieben Jahre in Altenhagen sitzen und mit den Stiftsdamen Meinungen über die Schwächen der lieben Mitmenschen austauschen, ohne daß sich hierin etwas ändert.«

Sie wagte einen starken Einwand.

»Wenn ich heirate, muß ich doch Treue schwören! Und wenn ich die dann nicht halten könnte?«

»Das laß Du meine Sorge sein,« sagte der Onkel sehr gelassen. »Ich bin fünfundzwanzig Jahre älter als Du. Mit Liebhaberwünschen würde ich Dir nicht lästig fallen. Aber Deine Zukunft wäre sichergestellt und die Gegenwart desgleichen. Wir wollen das jetzt nicht weiter erörtern. Überlege Dir den Vorschlag gründlich.«

Sie schaute von der Seite nach ihm hin.

Sicher und lässig saß er im Sattel auf seinem schweren Wallach. Wie klein sah sein Kopf über den mächtigen Schultern aus! Sein Gesicht hatte die dunkelrote Farbe der Blonden, die sich viel dem Wetter und der Sonne aussetzen. Er trug einen kurzen Backenbart und seine kleinen grauen Augen blickten hochfahrend und herrschgewohnt. Er war stämmiger, grobkantiger, robuster als der Großpapa, hatte auch nicht dessen Neigung, sich mit feinen, schönen Dingen zu umgeben. Aber der Kern seines Wesens blieb ihr noch fremder, als bei den anderen. Er konnte in so verletzender Weise höhnen und war jedenfalls völlig rücksichtslos.

Ihn zum Ehemann haben?! Der Gedanke war beängstigend wie ein nächtlicher Alb!

Sie ritten ziemlich stumm heimwärts. Der schöne Frühlingstag neigte sich dem Abend zu.

Die Amanda stand im Mauerpförtchen des Strohlschen Hofs und schaute nach den von der Feldarbeit heimkehrenden Mannsleuten aus. Sie trug das Jüngste auf dem Arm und das Fritzchen stand auf schwanken Beinchen neben ihr, an ihren Rockfalten sich haltend. Die Gestalt der Mutter verriet, daß in nicht zu langer Zeit ein Allerjüngstes die Wiege füllen werde. Freundlich nickend und lachend erwiderte sie Hilmas Gruß und den des Onkels.

Auf dem grobknochigen, ehrlichen Gesicht der jungen Frau lag wieder der Friede und das stille, lebenatmende Glück, das Hilmas Neid wachrief.

›Ach, wär ich Du!‹

Ein schwerer Druck lag auf ihr. Was war das für ein Leben, das sie lebte?! So öde, so leer, so nutzlos! Immer nur stillehalten und warten! Und während sie stille hielt, schmiedeten andere ihr Schicksal, diesen und jenen Rücksichten folgend, nur nicht denen für ihr eigenes Glücksverlangen. Immer hatte sie gehofft, einmal freier zu werden, aber die alten Ketten saßen noch fest, wenn sie auch nicht immer drückten. Und nun wollte man diese Ketten mit einem Ring schließen, der sie für immer fesselte. Wenn sie auch diesmal nachgab, wie sie schließlich doch immer nachgegeben hatte, – aus Furchtsamkeit, aus Hoffnungslosigkeit, aus Müdigkeit der Seele, – dann war alles zu Ende.

So furchtbar war ihr der Gedanke dieser lebenslangen Versklavung, daß der andere an den Geliebten, von dem man sie gewaltsam trennen wollte, ganz zurücktrat.

»Ich muß fort! Ich muß fort, koste es was es wolle! Aber nicht in den Klosterzwang des Stifts, sondern in die Freiheit.« –

Sie konnte nichts anderes mehr denken, als dies angstvolle: ›Ich muß fort!‹

Sie fürchtete sich selbst, – die starke Heimatsliebe, die ihr Herz mit Zollbrück hatte verwachsen lassen.

Der Abend war so traulich. Jeder Stein, jeder letzte Sonnenschimmer, jeder Baum rief ihr zu: ›uns kennst Du und hast uns lieb und uns findest Du auf der ganzen Welt nicht wieder.‹

Die vertraute Stimme des alten Dieners, der das Abendessen meldete, – die drei vertrauten Gesichter um den lieben alten Eßtisch – jeder Geruch, jedes Geräusch, der besondere Geschmack jedes Gerichts, sagte heute Abend: ›Wir sind, was Du kennst und lieb hast, wir sind die Heimat, und uns findest Du niemals wieder.‹

Und dazwischen rief es immer banger, immer dringender: ›Ich muß fort!‹

»Fühlst Du Dich nicht wohl, Hilma?« fragte der Großpapa und fügte, den anderen zugewandt, hinzu: »Sie sieht auffallend blaß aus.«

Hilmas Augen standen voll Tränen.

»Sie hat sich vielleicht beim Reiten ein bißchen ermüdet,« sagte der Onkel Gustav. »Die Frühlingsluft greift an.«

›Seid jetzt nur nicht freundlich!‹ fühlte Hilma in Herzensangst, ›sonst wein' ich los.‹

Die Mama sagte: »Ja, auch mich greift diese Luft entsetzlich an! Ich bin wie an allen Gliedern zerbrochen. Todelend!«

Diese bekannte Wendung rettete Hilma. –

Am nächsten Morgen ging sie zu der Mama hinauf in das von Blumen durchduftete Erkerzimmer, das sie nie ohne besonderen Anlaß betrat, denn sie mußte immer fürchten, lästig zu fallen.

Die Mama pflegte, obwohl sie sich so müde und leidend fühlte, früh aufzustehen, weil sie ein langes Imbettliegen morgens für lasterhaft hielt.

Trotzdem fand Hilma das Erkerzimmer noch leer. Die Veilchen und Primeln und Treibhausrosen füllten es mit Farben und mit Duft. Auf dem Sofatischchen stand zierlich geordnet das Frühstück: altfranzösisches Porzellan mit Streublümchen, das silberne Zuckerschälchen, das Schüsselchen mit Biskuits. Es harrte der Herrin, die nur noch nach ihrer Malz-Schokolade zu klingeln brauchte. Neben der Frühstückstasse lag im Lederband mit gepreßtem Kreuz der Thomas a Kempis.

Leise schob Hilma ein wenig den Vorhang zurück, der das Wohnzimmer vom Schlafzimmer trennte.

In dem Schlafzimmer hatte die Mama einen mit verblichenem Samt bezogenen Betstuhl, der aus einer alten Hauskapelle stammte. Über ihm hing eine sehr schöne Kopie der Murilloschen Vision des heiligen Franz von Assisi.

Die Mama kniete im Betstuhl. Ihre langen dunklen Röcke lagen schleppend am Boden. Sie regte sich nicht.

Hilma ließ den Vorhang scheu zurückfallen. Sie trat an das offene Erkerfenster und wartete.

Endlich raschelte es drinnen. Sie hörte den wohlbekannten schleifenden Schritt.

Mit dem gewohnten flüchtigen Handkuß wünschte sie guten Morgen.

»Warum kommst Du so früh? Ich habe noch nicht meine Andacht gelesen,« klagte die Mama mit sanftem Vorwurf.

»Ich muß Dir etwas sagen,« erklärte Hilma.

»Damit hättest Du doch warten können! Du hast eine Vorliebe dafür, mir gleich zu Beginn des Tages die Stimmung zu verderben.«

»Wir stimmen eben überhaupt nicht zusammen,« entgegnete Hilma, »darum ist es auch für Dich gut, daß wir uns trennen müssen.«

»Du weißt, daß ich diesen Ton nicht liebe.«

Mamas Kammerjungfer trat ein und setzte das dickbäuchige geblümte Schokoladenkännchen auf den Tisch, schenkte auch ein.

Dann sagte sie in dem zärtlich-mitleidigen Tonfall, den die Mama gern hörte: »Wünsche gesegnetes Frühstück, Frau Baronin,« und entfernte sich auf weichen Sohlen, die Tür geräuschlos hinter sich schließend.

Die Mama blickte ihr nach, ähnlich wie ein Kind der davongehenden Kindermuhme nachblickt.

»Die Adolfine ist vielleicht der einzige Mensch, der sich wirklich noch um mich sorgt,« seufzte sie.

Hilma erwiderte hierauf nichts, sondern begann mit leiser Stimme über ihre gestrige Unterhaltung mit dem Onkel zu berichten.

»Ich kann nicht,« schloß sie.

Die Mama redete ein wenig zu, aber Hilma fühlte, daß dies nur der Einfluß der beiden Männer war, die diese schwache Seele knechteten.

»Sieh mal,« sagte die Mama, »wenn Du das großmütige Anerbieten Deines vortrefflichen Onkels annimmst, können wir Dich ganz ruhig behalten. Sonst müssen wir Dich ins Stift nach Altenhagen tun und dort mußt Du bleiben, bis der Prinz vernünftig wird.«

»Wenn er's nun aber nicht wird?«

»Dann macht er andere Torheiten, die uns nichts angehen. Aber glaube ja nicht, daß ein Weltmann jemals treu ist! Das können die Männer gar nicht, denn das Neue reizt sie am meisten. Je weniger wir an ihnen hängen, desto besser für uns.«

Da sagte Hilma: »Wenn ich fort muß, möchte ich nicht ins Stift, sondern zu meinem Vater.«

Das schlug ein wie der Blitz! Die Tasse, deren Henkel die Mama zierlich zwischen den Fingern hielt, klirrte auf die Untertasse. Das feine Gesicht verzerrte sich, und die blauen Augen wurden weit und schwarz vor maßloser Empörung.

»Niemals!« rief sie zornig. »Nie und nie und nie erlaube ich das! Und Dein Großvater erst recht nicht. Dein Vater ist, Gott sei's geklagt! ein grundsatzloser, tief gesunkener Mensch, der in schlechter Gesellschaft lebt, weil anständige Menschen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Es ist ein himmelschreiendes Unrecht, daß man mich gezwungen hat, ihm den Horst auszuliefern. Man hat mein armes Herz stückweise aus der Brust gerissen! Es gibt kein Mitleid auf der Welt mit einer verratenen, verlassenen Frau! Steine könnten über mich weinen! Aber Du hast kein Gemüt. Dir ist alles, alles einerlei, wenn Du nur Deinen eigenen Kopf durchsetzen kannst. Halb tot bin ich, – jeder sieht es, – aber meine Tochter macht sich kein Gewissen daraus, dem zu Tode gemarterten Herzen ihrer Mutter noch den letzten Tritt zu versetzen.«

Hilma stand kalt und starr mit dem Rücken gegen die sonnendurchlichteten Blumen des Erkers.

»Ich kann nicht den Onkel heiraten und will nicht ins Stift,« wiederholte sie. »Und ich bin kein Kind mehr, sondern längst mündig. Gebt mir etwas Geld und laßt mich meiner Wege gehen. Irgendwohin.«

»Damit wir Dich in der Gosse enden sehen? Nein! Deiner Mutter gegenüber bleibst Du immer das Kind. Du hast leider viel von dem zügellosen Naturell Deines Vaters, darum müssen wir Dich doppelt hüten.«

»Mein Vater hat mir einmal durch Horst sagen lassen, sein Haus stände mir offen.«

»Und das hat der Horst gewagt, zu wiederholen?!« Die Mama kam in einen solchen Zorn, daß sie fauchte wie eine Wildkatze. »Unterstehe Dich, einen Fuß über die Schwelle seines Hauses zu setzen, und wir sind miteinander fertig. Entweder wir oder er.«

Hilma wollte sagen: ›Mir hat er nie etwas zuleide getan,‹ und die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.

Hatte er nicht gerade ihr das Aller-allerschlimmste angetan? –

Sie sah entsetzt in das blasse, hagere Gesicht der Mama, auf dessen Backenknocken brennend rote Flecke erschienen waren, und aus dem die weitgeöffneten, zürnenden Augen sie so drohend anblitzten.

Ein Luftzug strich durch das offene Fenster, bewegte die Tüllvorhänge, daß sie flatterten, und zauste in Hilmas Haar.

Sie raffte sich aus ihrer Starrheit auf.

»Verzeih, Mama, daß ich Deinen Morgenfrieden so arg gestört habe,« sagte sie traurig. »Ich hatte gehofft ... aber ... nun hoff' ich nichts mehr.«

Damit ging sie durch das Zimmer und aus der Tür.

Sie wußte, wie nun alles weiter ging: Die Mama klagte mit vielen Tränen dem Großpapa ihre Not, der berief die renitente Sünderin und prägte ihr auf seine Weise ein, daß sie sich den Beschlüssen des Familienoberhauptes zu fügen habe und weiter nichts. Mit seinem starren Autoritätsprinzip würde er sie einschüchtern, wie immer. Und das Nächste würde sein, daß man sie unter sicherer Bedeckung nach Altenhagen schickte in das adelige Fräuleinstift, in dem sie eingekauft war. Dort konnte sie dann unter der Obhut einer würdevollen, steifen Tante ihr nutz- und glückloses Dasein weiterspinnen.

Nein! nein! nein!

Jetzt mußte sie fort, es mochte kosten, was es wollte! Sie durfte die Strafpredigt des Großpapas gar nicht erst abwarten.

In Hast kleidete sie sich um und steckte ihr Zahnbürstchen und ein reines Taschentuch zu sich. Alles andere würde sie entbehren können.

Sie zerbrach die irdene Sparbüchse, die sie besaß, und zählte besorgt den Inhalt. Die Stadt, in der der Vater wohnte, war weit. Aber man konnte vielleicht dritter Klasse fahren.

So ausgerüstet schlich sie fort. Sie hatte drei Stunden zu wandern bis zur Eisenbahnstation und mußte sich eilen, wenn sie den Schnellzug erreichen wollte. Das war gut, denn es ließ ihr keine Zeit, zurückzuschauen nach dem geliebten Erdenfleck, der hinter ihr verschwand. Und die Angst, verfolgt oder angehalten zu werden, regte sie so stark auf, daß sie auch nicht dazu kam, zurückzudenken.

Sie sprach sich nur immer den Spruch aus dem Märchen vor:

»Hinter mir Nacht und vor mir Tag,
daß mich niemand sehen mag.«


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