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Den ganzen Tag wehte eine südwestliche Brise über das erhitzte Meer und machte die Luft milde.

Sie ließen sich den Nachmittagskaffee auf Deck bringen; sie saß in demselben Stuhl, in dem sie neulich abend gesessen hatte, und er auf der Bank neben ihr.

Schweigend sahen sie die Sonne ins Meer sinken; während sie längs der Südküste von Zypern fuhren, war der Horizont frei. Sie sahen die glühende Kugel wie einen Ball auf der Scheidelinie zittern, sahen das Meer unter ihm entweichen, sich an seinem Rand emporschieben, bis es ihn in seinen dunklen Schoß aufgesogen hatte. Sie sahen, wie die letzten langen Strahlen sich loslösten und über den blanken Spiegel tanzten. Es war, als ob die Kugel in dem Augenblick, wo sie ganz untertauchte, zerschmölze. Indem ihr Gold am Rande zerfloß, stiegen helle Feuerwolken in die Höhe, wie Wasser an einem Sommerabend in hellen Dämpfen aus einem dunklen See emporsteigen kann. Das Flammenmeer streckte sich weit über den Himmel, wechselte schnell die Farbe, wurde purpurrot, grün, blau, und als der letzte Himmelsschleier verflogen war, lag der Sternenhimmel offen und funkelnd vor ihnen.

Ralph erhob sich und ging auf den Salon zu, während Helen noch in den Anblick versunken war.

Sie wandte den Kopf nach ihm um, als er die Tür erreicht hatte.

»Wollen Sie schon hineingehen?«

»Ich komme gleich wieder – ich will nur etwas holen.«

Zehn Minuten vergingen. Es fror Helen und sie wollte sich gerade erheben, als Ralph endlich zurückkam.

Das weiße Licht der Glühlampen, die jetzt angezündet waren, fiel auf sein Gesicht. Es war etwas Ungewöhnliches in seinem Blick, wie der Widerschein eines frischen Erlebnisses.

Hinter ihm ging ein junger Bursche, der sich dicht neben ihm hielt. Erst als sie ganz nah an Helens Stuhl herangekommen waren, sah sie, daß es der kleine Türke war, den Ralph im Hotel engagiert hatte.

Sie hatte ihn ganz vergessen. Jetzt wunderte sie sich, daß sie ihn noch gar nicht auf dem Schiff gesehen hatte.

»Sie haben nicht viel von Ihrem Diener hier an Bord,« sagte sie und betrachtete Schehanna, die ihre Augen verbarg und ihren Mund zusammenpreßte, damit er nicht verriet, was in ihrem Gemüt vorging.

»Nein,« sagte er und setzte sich neben sie, »darum will ich ihn auch loswerden.«

Helen sah von ihm zu dem Knaben. Da machte sie etwas in Schehanns bewegtem Gesicht stutzig. In dem scharfen, weißen Licht der Glühlampen sah sie das hohe Wogen der Brust und den weichen Fall der Schultern. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß Schehann eine Frau sei. Sie wurde rot; und ein plötzlicher Unwille gegen den fremden Mann an ihrer Seite stieg in ihr auf.

»Was meinen Sie mit loswerden?« fragte sie und sah ihn an.

»Ich will ihn Ihnen als Vielliebchengeschenk verehren.«

Schehanna schlug die Augen auf und sah Helen mit einem so schuldfreien Blick an, daß Helens Verdacht sofort verschwand und einem tiefen Erstaunen Platz machte.

Sie blickte Ralph unsicher an; er genoß augenscheinlich die Situation und schien nicht die Absicht zu haben, sich näher zu erklären, sie sollte selbst fragen.

»Was soll ich mit einem Diener?« fragte sie und erinnerte sich im selben Augenblick seiner Verwunderung, daß sie ganz allein reiste.

»Wenn es noch ein junges Mädchen gewesen wäre, aber ein Diener!«

Schehannas Gesichtsausdruck wechselte mit ihren Worten, als seien sie ein Windhauch, der über sie ging und ihre Brauen zum Zittern, ihre Lippen zum Beben brachte. Die dunklen Pupillen zogen sich unter den nervösen Lidern zusammen, als verursache ihnen das Sehen einen physischen Schmerz. Helen hatte noch nie einen so empfindsamen Blick gesehen, das tief Kummervolle rührte ihr Herz.

»Es ist ein Mädchen!« sagte Ralph nachlässig und sah Helen mit einem großen Lächeln in seinen hellen Augen an, ohne Miene zu machen, mehr zu sagen.

Es war also wirklich sein Ernst. Eine Menge Gedanken kreuzten ihr Gehirn, wie konnte er so ohne weiteres in ihr tägliches Leben eingreifen? Es war ein merkwürdiges Geschenk: ein fremdes Mädchen, für das sie sorgen und deren Reise sie bezahlen sollte. Dennoch war etwas in seinem freimütigen Wesen, das sie ansprach. Und das Mädchen selbst –

»Man kann nicht verschenken, was einem nicht gehört,« sagte sie und versuchte zu lächeln. »Sie können sie mir doch höchstens zu denselben Bedingungen überlassen, die Sie selbst –«

Sie hielt plötzlich inne und wurde rot. Was war seine Absicht gewesen, als er ein junges Mädchen engagierte, das ihn auf seiner Reise begleiten sollte, – als Diener verkleidet?

Sie zog sich unwillkürlich zurück. Er wurde ihr plötzlich ebenso fremd, wie damals, als sie ihn zum erstenmal auf der Galatabrücke sah. Sollte sie aufstehen und den Scherz abbrechen? Oder offen eine Erklärung fordern und sich einer Antwort aussetzen, die –? was wußte sie von ihm? – vielleicht war er ein Monoman, der auf diesem einen Punkt, der sein Laster war, unzurechnungsfähig war!

»Da ich sie gekauft und bezahlt habe,« sagte Ralph, ohne seine Augen von Helen abzuwenden, »kann ich sie wohl auch verschenken.«

Sie richtete sich auf, griff energisch um den Stuhlarm und sagte mit gerunzelten Brauen, indem sie ihm voll in die Augen sah:

»Herr Cunning, wenn Sie ein Gentleman sind, dann geben Sie mir eine Erklärung.«

So ging es nicht weiter. Im nächsten Augenblick würde ihr Zorn in hellen Flammen ausbrechen. Verflucht, wie wenig sie sich auf Scherz verstand.

Er richtete sich langsam auf, machte Schehanna ein Zeichen, daß sie beiseite gehen solle, und erzählte Helen Herz sein ganzes Abenteuer in der Waschmühle des Sultans.

Schehanna stand neben der Brücke des Promenadendecks, die Hände auf die Reling gestützt und blickte übers Wasser. Ihre Gedanken wurden von den Strahlen ihres Blickes getragen und verloren sich in dem großen Leben des Raumes draußen, während ihr Herz im Takt mit dem Puls desselben schlug. Sie war weit von hier und in Ruhe.

Da fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter, und eine weiche Stimme rief sie zum Augenblick und zur Wirklichkeit zurück. Sie wandte sich um und blickte in zwei warme, lebensvolle Frauenaugen.

»Schehanna, wollen Sie mir statt Herrn Cunning dienen? Ich will gut gegen Sie sein.«

Schehannas Augen suchten die Ralphs. Er stand einige Schritte entfernt, aber als er ihren Blick durch die Dunkelheit merkte, nickte er zur Bekräftigung auf ihre schweigende Frage.

»Ja, gnädige Frau, wenn mein Herr es will,« sagte sie und beugte ihren Kopf.

Helen nahm ihre Hand, die gewohnheitsmäßig nach der Brust greifen wollte. Sie drückte sie zwischen den ihren und sagte:

»Ich weiß alles, Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Sie sollen in Ihre Heimat zurückkehren, wie Herr Cunning es Ihnen versprochen hat. Wir reisen zusammen und Sie sollen bei uns bleiben.«

Ralph sah Schehannas Kopf von der einen zur anderen Seite schwanken, wie er es bereits an ihr kannte, wenn etwas ihr Gemüt überwältigte.

Dann beugte sie ihr Gesicht über Helens Hand und küßte sie, wie sie die seine an jenem Abend im Hotel geküßt hatte.

»Dank, gnädige Frau,« sagte sie und sah zu ihr auf.

Ihre Augen standen voll klarer Tränen. Helen folgte einer Eingebung, nahm ihren Kopf zwischen ihre Hände und küßte sie auf die Stirn.

 

Als Ralph sich in seiner Koje streckte und das elektrische Licht löschte, war er mit seinem Tagewerk zufrieden. Er hatte mit einem Schlage zwei Ziele erreicht. Erst hatte er Schehanna aus ihrer Verkleidung erlöst, die sich, wie er einsah, unmöglich auf der Reise durch halb Asien durchführen ließ, ohne sie Mißdeutungen auszusetzen, die sie tief kränken und ihn in dem Kreis, dem er angehörte, isolieren würden. – Ferner aber, und das war wichtiger, hatte seine Liebestat ihn enger mit Helen Herz zusammengeführt, als er es in Tagen durch Worte erreicht hatte; das hörte er an ihrer bewegten Stimme, als sie ihn wegen des Unrechts um Entschuldigung bat, das sie ihm einen Augenblick in Gedanken angetan hatte. Wie die zehntausend Franken ihr imponiert haben! dachte er. Sofort hatte er seinen Sieg verfolgt und ihr vorgeschlagen, die Reise mit ihm gemeinsam zu machen. Sie wurden sich über ihre Reiseroute einig, indem er versprach, Palästina in seinen Reiseplan aufzunehmen, was er ursprünglich nicht beabsichtigt, während sie ihm nach Kairo folgen wollte, was außerhalb ihres Planes gelegen hatte. Sie wollten beide durch Syrien, dann nach Ceylon und von dort über Indien nach Bombay.

 

Kurz vor Sonnenuntergang tauchte die Reede von Beyrut wie ein bunter Saum an dem dunklen Mantel des Libanon, am Horizont auf. Nördlich von der Stadt streckte der Sannin seine weißen Schneegipfel in einen Wolkenballen hinein, das Meer war still und dunkel. Nur lange Dünungen hoben sich wie die ruhigen Atemzüge eines schlafenden Riesen.

Cooks Boot kam zum Dampfer hinaus, von jungen kräftigen Syriern gerudert, mit roten Fes und hellroten Wolljacken, wo der Name der Firma vorn auf der Brust eingewebt stand. Der stille, kühle Abend trug den Rudergesang der lebensfrohen Syrier weit übers Wasser.

Die Ausbootung ging unter Scherz und Gelächter vor sich, während der Kapitän auf dem obersten Deck vor den Damen stramm stand, die alle an Land wollten.

Cooks Agent, ein junger Syrier mit großen, intelligenten Augen in einem runden, sinnlichen Gesicht, war mit im Boot. Er fand gleich heraus, wer Herr Cunning war, dessen Ankunft man aus dem Kontor in Konstantinopel telegraphisch gemeldet hatte. Die Ruderknechte, die gleichzeitig Gepäckträger waren, scharten sich um Ralph, und der Agent redete Helen mit großer Ehrerbietung als Frau Cunning an.

Ralph gab ihm zu verstehen, daß Schehanna zu seinem Gefolge gehöre. Darum kam sie mit ihm und Helen ins erste Boot, zusammen mit den Damen und dem Schejk Gamâl, der wegen Seekrankheit zwei Tage in seiner Kajüte geblieben und erst im letzten Augenblick an der Fallreepstreppe erschienen war, mit grünen Schatten in seinem lebergefleckten Gesicht. Im zweiten Boot befand sich außer dem Gepäck der armenische Mönch in seiner Doppelkutte, der Beduine, der mit erhobenem Kopf die Stufen hinabschritt, ohne das Geländer zu berühren, die drusische Frau, die die Gardinen ihres Kopfschleiers vors Gesicht gezogen hatte, so daß nur das eine Auge frei war, und der falsche Levantiner mit dem schäbigen Wintermantel und dem hellroten Schlips, der über seinem Mantelkragen flatterte.

Ralph und Helen fuhren, mit Schehanna auf dem Bock, durch die abendstillen Hafenstraßen zum Grand Hotel d'Orient, dessen blaugemalte maurische Bogen aufs Meer gingen.

Am selben Abend bat Ralph den Agenten vertraulich, einen Frauenanzug für Schehanna zu besorgen, die in Knabenkleidern geflüchtet sei, um in ihre Heimat zurückzukehren.

Während Ralph seine Abendzigarre in dem großen Salon rauchte, der sich durch die ganze Länge des Hauses erstreckte und gleichzeitig Rauch- und Billardzimmer war, saß Helen in ihrem Zimmer am Fenster und starrte in den dunklen Garten hinaus, von wo der Duft der Apfelsinen heraufstieg und sich mit einem kräuterigen Blumenduft vermischte, dessen Ursprung sie nicht kannte. Kurz darauf hörte sie Schehanna im Nebenzimmer. Sie klopfte an und ging hinein.

Schehanna war im Begriff, ihren Knabenanzug mit dem Kleid, das der Agent ihr verschafft hatte, zu vertauschen. Helen amüsierte sich über ihre Unbeholfenheit und stand ihr bei. Es war ein Stubenmädchenanzug von französischem Schnitt, den der Agent einem Hotelmädchen abgekauft hatte. Er war viel zu weit über Brust und Hüften. Ein Schimmer von kindlicher Ausgelassenheit blitzte in Schehannas Augen, als sie sich selbst im Spiegel sah. Sie lachte mit einem kurzen klaren Lachen auf, wurde aber gleich wieder ernst, als ob der Laut sie erschreckt habe.

Helen versprach ihr, ihr am nächsten Morgen im Basar ein neues Kleid zu kaufen. Dann legte sie den Arm um ihre Taille und zog sie mit sich in ihr eigenes Zimmer, zeigte ihr ihre Kleider und Schmucksachen, und lehrte sie, wie sie ihr bei der Toilette helfen sollte. Schehanna sah mit großen Augen zu, aufmerksam und bewundernd; sie verstanden sich bald sehr gut.

Helen fragte, und Schehanna erzählte von sich und ihrem Lande. Ihre Augen strahlten, plötzlich aber blitzten Tränen darin, und sie beugte den Kopf, von Erinnerungen überwältigt.

Helen nahm ihre Hand und streichelte sie; sie fragte nicht, aber nachdem sie eine Weile so gesessen hatten, begannen die Worte von selbst aus Schehannas Herzen zu strömen; und als sie merkte, daß es ihr Gemüt erleichterte, hielt sie nicht inne, bevor sie Helen ihre ganze Geschichte erzählt hatte.

Die Uhr wurde zwei. Durch die offenen Fenster klang nur noch das stille Lied der Sterne, als die beiden Frauen sich schließlich trennten, um zur Ruhe zu gehen.

 

Schehanna erzählte: Ich bin aus dem Geschlecht der Sanjana, dem ältesten der fünf großen Priestergeschlechter. Einer meiner Vorfahren war es, der Zarathustras Feuer nach Indien brachte, als die reine Lehre in Persien verfolgt wurde und unser ganzes Volk flüchten mußte.

Ich bin das einzige Kind meiner Eltern, die in Navsari am Purnafluß nördlich von Bombay wohnen. Dort in unserm kleinen weißen Haus am Fluß bin ich geboren. Unser Garten stößt an den Tempelgarten, von der Grotte unter dem Baum der Tempelblume konnte ich den weißen Turm des Schweigens sehen, um den die Geier kreisen, wenn ein Leichenzug die Straße heraufkommt.

Unser Haus liegt am äußersten Ende der Stadt, dicht neben Sir Cowringhees großem Bungalow. Er hat sein Geld in Kalkutta verdient; als er alt wurde, zog er sich in die Stadt seiner Väter zurück und schenkte ihr eine neue Wasserleitung zu Ahura-Mazdas Ehre, viele reiche Parsen wohnen vor unserer kleinen Stadt in weißen Häusern mit grünen Matten, die von den Dächern herabhängen. Sie liegen im Schatten von fächelnden Palmen. Navsaris Dattelpalmen sind die größten und schönsten in ganz Indien; Hinduknaben kommen des Nachts, klettern auf die Bäume und schneiden sich Scheiben von den frischen Blumenkolben, um den Saft auszusaugen.

Solange ich zurückdenken kann, habe ich meiner Mutter im Hause geholfen. Ich machte die kleinen Darunbröte, die die Priester beim Opferfest essen. Ich formte sie aus Teig, breitete sie auf den Herd und gab acht, daß sie nicht ausbrannten.

Ich begleitete meinen Vater, wenn er bei Tagesgrauen zum Tempelhof ging; wenn er sich vor dem Opfer reinigte, stand ich dabei und half ihm.

Ich saß unter der Dattelpalme in dem weißen Hof und sah zu, wie er das Opferwasser weihte, wenn er Wasser aus dem großen Gefäß, das er am Brunnen gefüllt hatte, in das kleinere Gefäß schöpfte, blickte er zur Sonne und sagte laut: »Gepriesen sei Ahura-Mazda!« und darauf flüsterte er leise vor sich hin: »Gereinigt sei das Meer, gereinigt sei der ganze göttliche Fluß.«

Ich wartete im Hof, während er im Adaran opferte, wo keiner außer ihm und dem Zot, dem geweihten Priester, hineinkommen darf, wenn ich auf dem Steinabsatz stand, der um den Brunnen herumläuft, konnte ich ihn durch das Gitterfenster vor der Feuervase stehen sehen. Mit dem Padan-Schleier vor Mund und Nase, und Handschuhen an den Händen, damit nichts Unreines das heilige Feuer berühren sollte, reinigte er den Stein Adosht, auf dem die Vase stand. Dann nahm er die silberne Schaufel von der Wand und schaufelte damit den reinen Körper des Feuers in die Aschenschublade. Darauf hob er mit der großen Zange das duftende Sandelholz vom Holzfuß und legte es auf die hellen Flammen, die mit der Luft über der Kante der Vase spielten. Er nahm Weihrauch, warf ihn ins Feuer und sagte: »Gegen die bösen Gedanken, bösen Worte und bösen Taten!« Dann läutete er mit der Glocke, die von der Kuppel herunterhing, damit alle auf der Straße hören konnten, daß er das Morgengebet sprach. Jeder, der draußen vorbeiging, blieb stehen, blickte zur Sonne und betete mit. Und wenn das ganze Gah zu Ende gebetet war, tauchte er seine Finger in den heiligen Körper des Feuers und bestrich damit seine Stirn, auf daß er im Tode rein werden möge wie diese Asche.

Während ich wartete, sah ich die Herbeden in ihren weißen Kitteln aus dem Meßhaus Izish-Gah kommen, das östlich vom Adaran im Hof lag. Sie scherzten und lachten, wie Knaben es zu tun pflegen; wenn aber die Glocke ertönte, blieben sie stehen, blickten zur Sonne und schwiegen; denn keiner von uns, der der reinen Lehre dient, darf sprechen, wenn gebetet wird. Auch wenn wir essen, sind wir stumm, damit kein unreines Wort die Speisen berühre. Darum nennen die Muselmänner uns Geben und spucken aus, um uns zu verhöhnen.

Ich spielte im Palmenhain, am Ufer des rinnenden Flusses. Ich pflückte die weiße duftende Tempelblume und warf sie ins Wasser, um die reine Jungfrau Asai Vanuhi zu bitten, daß sie mir einen kleinen Bruder schenken möge, wie meine Mutter es mich gelehrt hatte.

Von der Anhöhe am Fluß konnte ich das Meer im Westen hinter den grünen Reisfeldern leuchten sehen. Ach, es ist schön in meinem Heimatland, wenn die Bananen mit ihren langen, grünen Blättern fächeln, und die Büsche, die ihr Bougainvilles nennt, bei Sonnenuntergang wie rote Wolken leuchten, die vom Himmel gefallen sind. Silberweiße Baumwollfelder spiegeln sich in dem blanken Wasser des Flusses. An der Mündung aber versandet er, und der Wind wühlt in den Sandhügeln.

Seit ich Bombay und die unreine Stadt gesehen habe, die wir eben verließen, erscheint unsere Stadt mir nicht mehr groß. Als ich aber Kind war, schien sie mir groß und wunderbar mit ihren weißen Häusern und grünen Läden, mit ihren reinen Straßen, die von feinem, rotem Sand bedeckt sind.

Keine Stadt kommt unserer an Reinlichkeit gleich; das haben wir unseren Vorfahren zu verdanken. Keine Stadt hat solch reines Wasser und solch reine Erde; die Ehre dafür gebührt den Parsen. Ahura-Mazda hat in Gnade auf uns herabgesehen, weil wir sein Feuer gegen die Verunreinigung der Ungläubigen bewahrt haben.

Der weiteste Weg, den ich an der Hand meiner Mutter machte, führte uns bis zur Eisenbahnstation. Ich sah das schwarze Ungeheuer über die Felder zischen, während sein unreiner Atem zu dem heiligen Licht des Himmels hinaufbrodelte; ich tat dann wie sie und rief die guten Gedanken, die guten Worte und guten Taten um Schutz an.

Wir gingen durch die Straße der Handwerker, wo Männer vor ihren Läden hockten und Kupfergefäße hämmerten, Messingplatten gravierten, Holzschnitzarbeiten oder Ledergürtel und Sandalen machten. Ich wußte, daß Männer, die uns in weiten Gewändern mit einer hohen Mütze, wie die, die mein Vater trug, begegneten, Mobeds waren, wie er. Es gibt viele in unserer Stadt. Mehr als in Bombay, ja, mehr als in ganz Indien. Bei uns werden sie zu Priestern geweiht und mit dem weißen Saderé bekleidet, das die Frauen und Mädchen der Mobeds weben. Ich war erst fünf Jahre alt, als meine Mutter mich lehrte, die heilige Betschnur zu knüpfen, die Khosti, die aus zweiundsiebzig Fäden gewebt wird, einen für jedes Kapitel aus dem Nasnas.

Meine Mutter lehrte mich den Unterschied zwischen Ahura-Mazdas und Ahrimans Reich, zwischen rein und unrein. Sie lehrte mich die Reinigung für Kopf, Hände und Füße; sie lehrte mich zu dem hohen Mithra, dem Gott des Lichts zu beten, der mit der Sonne um die Erde wandert und alles überblickt, von den reinen Gefilden, wo Ahura-Mazda wohnt, bis zum Reich der Dunkelheit, wo Diven und Darvanden herrschen. Ich lernte zum Mond und zu den Sternen beten, zu den Lichtern, die Gott als Geschenk für die Guten an seinen Himmel gesetzt hat.

Mein Vater war ein stiller Mann mit klaren, traurigen Augen und einem langen, schwarzen Bart, der von Reinheit schimmerte. Er sprach sehr wenig, aber seine Augen erzählten mir seine Gedanken, und ich lernte zeitig ihre Sprache verstehen.

Meine Mutter war klein und zart wie ich, aber heiter und hell. Oft mußte sie ihre Munterkeit beherrschen, damit kein unreiner Div durch die Tür ihrer Fröhlichkeit in ihr Gemüt eindränge. Sie war leichtfüßig und hatte eine geschickte Hand, war zeitig auf und niemals untätig. Sobald mein Vater zum Morgengebet gegangen war, setzte sie sich an den Webstuhl, und das Weberschiffchen ruhte nicht, bevor die Sonne so hoch stand, daß es Zeit war, die Gefäße für das Mittagessen zu reinigen. Es war meine größte Freude, wenn ich ihr helfen durfte; ich beobachtete jede Bewegung ihrer Hände, machte sie ihr nach und murmelte dieselben Einweihungsworte vor mich hin wie sie, obgleich ich den Sinn nicht verstand. Alle Gefäße, die man für das Essen, für Wasser und Milch und Gemüse verwandte, müssen gereinigt werden, damit kein Div sich darin verbergen und durch unsere Nahrung in unsern Körper einschleichen kann.

Der größte Kummer meines Vaters war, daß er keinen Sohn bekommen hatte. Oft stand er vor unserer Tür, streckte seine Arme der untergehenden Sonne entgegen und flehte Ahura-Mazda an, den Leib meiner Mutter zu segnen. Oft, wenn meine Mutter scherzte, blickten seine traurigen Augen sie verwundert an, als ob er dächte: wie kann sie lachen, sie, die keinen Sohn geboren hat? Dann ging meine Mutter abseits und weinte. Jeden Monat nahm sie die große Reinigung, Barashnun, vor; neun Tage fastete sie, und bei Sonnenuntergang ging sie schweigend mit gebeugtem Kopf durch die Oeffnung in unserer Gartenmauer zum Fluß hinunter; sie ging allein, ich aber folgte ihr von der Grotte mit den Augen. Ich sah sie niederknien und aus dem rinnenden Fluß Wasser schöpfen; wenn sie zurückkam, schloß sie sich im Dashtanistan ein, wo nie Licht hineingelangt. Während sie sich wusch, hörte ich sie die einundzwanzig Worte, das Glaubensbekenntnis und das Sündenbekenntnis beten. Ich hörte sie mit lauter Stimme Jahi, den Diven, der die Frauen verunreinigt, und den bösen Aeshma-Daeva beschwören. Sie rief den heiligen Geist und die sechs Amshaspand, Zarathustras Erzengel, an; den einen nach dem anderen rief sie an ihr Lager, den Geist der Güte und den der vollkommenen Reinheit und Unsterblichkeit, die hohen Richter auf der Tchinwatbrücke, die, welche die Guten zum Bihisht und die Bösen zum Dozakh verurteilen; sie rief den Erzengel an, der die Seelen zur Himmelsbrücke geleitet, den, der die Schuld auf der strengen Wage der Gerechtigkeit wiegt, und den hohen Mithra selbst, der das Urteil ausspricht. Sie betete zu den Ferveden, den freigemachten Seelen der Lebenden wie der Toten, daß sie die Reinigung ihres Körpers vervollkommnen möchten, damit ihr Leib sich von neuem öffne. Dann wurde es still in der dunklen Kammer. Am Morgen strahlte das Licht der Reinheit aus ihren Augen; sie küßte mich segnend; und mein Vater legte meine Hand auf ihren Kopf, und sein Blick wurde milde und tief von neugeborener Hoffnung. Ich aber bekam keinen Bruder, und meine Mutter keinen Sohn.

Als ich sechs Jahre alt war, kam ich zur Schule und lernte eure Sprache, die ihr über Hindus, Muselmänner und Parsen herrscht. Die englische Schule ist von unsern Reichen gestiftet worden, die wollen, daß wir uns mit euch vermischen und zu eurer Höhe hinaufgelangen sollen – wir, die wir der reinen Lehre dienten, als eure Vorfahren noch viele wilde Götter hatten. Dort lernte ich von der Natur, von Tieren und Pflanzen und von euren fremden Ländern; es gab viel Schönes zu lernen, viel Großes, das leuchtet, wenn man es hört, wenn man auch nicht alles glauben kann; denn es gibt keine andere Wahrheit als Zarathustras; er ist das Licht in der Welt, und ihr habt ihn nicht gekannt. Es wurde mir nicht schwer, eure Sprache zu erlernen, sie war so knapp und einfach. Meine Zunge gehorchte gern euren Lauten. Ein Dastur lehrte sie uns; er hatte viele Jahre in eurem Lande gewohnt und eure Bücher studiert, als er für Leute unseres Stammes in London Priester war.

Einer der kleinsten Knaben in der Schule hieß Darab und war der Sohn eines Mobeds aus Bombay; sein Vater starb, als er in die Schule gekommen war, und unser Zot wurde sein Vormund.

Eines Tages kam der Zot mit ihm an der Hand zu uns und fragte nach meinem Vater. Sie sprachen lange im Garten zusammen; und als er gegangen war, hatte ich einen Spielkameraden bekommen, der meine Einsamkeit teilte.

Darab durfte unsere Kuh aus dem Stall auf die Weide führen und sie abends wieder heimziehen. Wir gingen Hand in Hand zur Schule und spielten am Fluß, wenn wir nach Hause kamen. Wir waren gleich alt, er aber war größer als ich und wollte mich immer gern belehren und leiten.

Als wir einst am Flußufer saßen und den großen schwarzen Reiher auf der anderen Seite nach Fischen schnappen sahen, hörten wir jemanden hinter uns. Als wir uns umblickten, war es Dasturan Dastur, der Priester aller Priester, der über unsere Gemeinde und unsere ganze Stadt gebietet. Er stand da, die Hand an seinem langen weißen Bart, und blickte uns mild mit klaren, weisen Augen an.

»Der Mund des Mädchens und ihre arbeitende Hand ist rein!« sagte er; dann nickte er und ging weiter.

Wir begriffen ihn nicht, aber seine Worte blieben in meinem Gedächtnis haften. Wir sahen ihn in seinem weißen Gewand langsam auf dem sonnenheißen Wege dahinschreiten. Der Wind erfaßte seinen Mantel und blähte ihn; es sah aus, als ob sein Körper fortgetragen würde.

»Sieh,« sagte Darab und ergriff meinen Arm, »ist er nicht ein Amshaspand?«

Seine Augen wurden groß und tief, als er es sagte; er blickte hinter dem Alten her, solange er ihn sehen konnte, und ich wünschte aus tiefstem Herzen, daß ich ebenso schön und gut sei wie Darab.

 

Als Darab sieben Jahre alt war, näherte sich der Tag, wo er in der Gemeinde aufgenommen werden sollte.

Der Zot holte ihn eines Tages, um ihn zum Nozud vorzubereiten. Da vergingen ganze Tage, wo wir uns nicht sahen, wenn ich zum Fluß hinunterging, streckte ich meine Hand aus und reichte sie ihm in Gedanken. Ich fühlte, wie sein Ferved sie ergriff, so sanft, als sei es nur die Luft, die durch meine Hand strich. Dann sprach ich mit ihm, wie ich es zu tun pflegte, und war nicht mehr allein; wenn es aber Abend wurde, verließ sein Ferved mich, und ich dachte: wenn er mich einmal ernstlich verläßt? Und ich weinte, denn ich liebte ihn mehr als mich selbst.

Eines Morgens, als ich im Garten spielte, rief meine Mutter mich zu sich an ihren Webstuhl.

»Schehanna,« sagte sie, »sieh, diese Fäden hab' ich ausgewählt.« Sie hob sie hoch und ich sah, daß sie blendend weiß und ohne Fehl waren.

»Wozu?« fragte ich, obgleich mein Herz es wußte.

»Für Darabs Khosti. – Willst du ihn weben?«

»Ja,« sagte ich und senkte den Kopf.

Ich fühlte, daß Darabs Ferved in der Stube sei; ich hob meine Augen zu ihm auf und flüsterte: alle Reinheit, die ich durch Ahura-Mazdas Gnade besitze, will ich in deine Betschnur weben, damit sie für dich sprechen möge, wenn das Urteil über dein Leben auf der hohen Brücke gesprochen werden soll.

Meine Mutter beugte sich herab, küßte meine Stirn und sagte: »Der heilige Geist sei mit dir und führe deine Hand.«

Sie hatte bereits seine Saderé gewebt; jetzt befestigte sie die siebzig Fäden auf dem Webstuhl und las bei jedem ein Kapitel aus dem heiligen Pasna vor. Sie sprach langsam, und ich wiederholte die Worte. Ich verstand sie damals nicht, aber ich wußte, daß der Faden durch ihre Reinheit geweiht und der heilige Nasna durch meine Hand in Darabs Khosti eingewebt wurde.

Als ich fertig war, gingen mein Vater und meine Mutter zum Zot, und tags darauf stand Darab wieder in unserer Stube.

Seine Wangen waren blaß, seine Augen groß und seine Hände bebten, während er sein Ashem-Vohu hersagte: »Gerechtigkeit ist das größte Gut; selig der, dessen Gerechtigkeit vollkommen ist!« und danach das Glaubensbekenntnis: »Ich glaube an Ahura-Mazda und sage mich los vom Fürsten der Dunkelheit.« Und die einundzwanzig Worte, Ahuna-Vairyu: »Der Wille des Herrn ist das Gesetz der Gerechtigkeit. Der Himmel lohnt, was auf Erden zu Mazdas Ehre verrichtet wird. Ahura schenkt demjenigen sein Reich, der den Armen hilft.« Zum Schluß sagte er dem Zot und meinem Vater das Sündenbekenntnis auf, während Mutter und ich als Zeugen zuhörten.

Der Zot küßte Darab auf die Stirn, breitete seine Arme aus und wandte sein Gesicht Mithras Licht zu. Er nahm das Saderé aus der Hand meiner Mutter, segnete es und bekleidete Darab damit. Dann wandte er sich an mich, nahm die Khosti, die ich auf meinen Armen trug, und legte sie um den Leib Darabs, zur Hilfe für die guten Gedanken, guten Worte und guten Taten.

Jetzt war Darab in den richtigen Glauben aufgenommen und für seine Handlungen verantwortlich.

Darab kam wieder zu uns; wir spielten wie sonst miteinander, gingen aber nicht mehr in dieselbe Klasse, in der meinen waren nur Mädchen; er saß zwischen den Mobedsöhnen, die weiterstudieren sollten, um erst Herbed und später Mobed zu werden, wie ihre Väter. Er lernte viele neue Dinge; und wenn wir zusammen am Fluß gingen, erzählte er mir davon. Wir spielten, daß er Mithra auf der Tchinwatbrücke und ich die Seele sei, die gerichtet werden soll. Wir stiegen auf die Anhöhe, Elburs Berg, und er war Sraosha, der das Kraut der Unsterblichkeit pflückte, die heilige Haoma. Wir spielten, wir wären das erste Menschenpaar, Mashya und Mashyoi, die ihr Adam und Eva nennt. Und das Ende der Zeiten kam, wo der letzte Kampf zwischen Licht und Dunkelheit geführt wurde. Da mußte ich mich entkleiden und im Fluß baden; ich war die Jungfrau Eredhatfedhri, die im Kasava-See badet, nachdem sie unbefleckt von Zarathustra den Erlöser empfangen hat und den siegesstarken Astvatereta gebiert.

Einmal war ich Jahi, der Geist der weiblichen Unreinheit, und er war Ahriman, der Fürst der Dunkelheit, den ich zum Kampf gegen das Licht verlockte; er rief seine Diven und Darvanden, damit sie die Erde verpesten sollten. Unser Spiel war so stark, daß wir beide Furcht bekamen; und als die Sonne unterging, streckte Darab seine Arme der Dunkelheit entgegen und rief mit lauter Stimme die Worte der Teufelsbeschwörung; und wir reinigten uns in dem rinnenden Wasser des Flusses, um uns gegen die Diven der Luft zu wehren, die in der Nähe der Menschenhäuser schwärmen, wenn die Dämmerung hereinbricht.

Darab hütete unsere Kuh; er liebte sie, als ob sie ein Mensch sei, weil er wußte, daß sie Zarathustras heiliges Tier war; er gab ihr Wasser und sorgte dafür, daß nichts Unreines in ihre Nähe kam. Eines Tages lief er weinend nach Hause und erzählte, daß er auf der Wiese einen toten Hund gefunden habe. Er und Vater gingen mit einem Tuch vorm Mund hinaus und schafften den Kadaver mit langen Stangen fort, damit der Tod ihre Hände nicht beschmutze. Die Kuh aber hatte auf der Weide in der Nähe des Todes gegrast. Jetzt war sie unrein und ihre Milch durfte ein ganzes Jahr lang nicht getrunken werden. So streng ist unsere Lehre.

Die Jahre vergingen, und Darab wuchs heran, schweigend und still wie mein Vater. Wir spielten nicht mehr wie in unserer Kindheit. Ich durfte nicht mehr mit ihm im Fluß baden; und als ich weinte und nach dem Grund fragte, antwortete er, daß er ein Mann und ich ein Weib sei, und nichts Unreines zwischen uns sein dürfe.

Eines Tages, als wir schweigend nebeneinander auf der Anhöhe saßen und in das Meer blickten, nahm er meine Hand und sagte:

»Dasturan Dastur sagt, daß das Ende der Zeiten nahe sei. Daß aber der, der sich rein wie das Licht bewahrt, die weise Haoma auf Elburgs Berge pflücken und ewig leben wird!«

Und wir versprachen einander, uns rein wie das Licht zu bewahren, um einst auf Elburs Berg zusammenzutreffen.

Von da an ging er am liebsten allein. Ich folgte ihm aus der Entfernung und dachte, daß ich nicht würdig sei, an seiner Seite zu gehen.

* * *


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