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Helen Herz erzählte:

»Ich bin in einer Häuslichkeit aufgewachsen, wo man es für das einzige Glück hielt, für andere zu leben.

Mein Vater war Oberarzt am Armenkrankenhaus. Sie können sich nicht denken, wie gut er war, wie aufopfernd. Nach dem Tode meiner Mutter widmete er denen seine Liebe, die ihn am nötigsten hatten, den Allerärmsten.

Als ich achtzehn Jahre alt war, machte ich mein Abiturium und durfte studieren, was ich wollte. Ich habe mich mit Philosophie beschäftigt, Sprachen, Geschichte, Kunst, von allem etwas. Aber ich bin kein Stubenmensch. Vater hatte mich von klein auf an Sport gewöhnt, wir haben viele Jahre jeden Morgen zusammen geturnt. Seit ich erwachsen bin, ist mein Leben ein beständiges Schwanken gewesen. Wenn ich eine Zeitlang mit Büchern und Vorlesungen, Ideen und Gedanken gelebt hatte, brach ich plötzlich eines schönen Tages ab und kehrte zu dem zurück, was der Körper verlangte. Ich spielte Fußball und Hockey, besuchte Gesellschaften und Theater. Vater ließ mich gewähren; aber seine großen nachdenklichen Augen folgten mir, und sein stilles Lächeln bewachte mich, wenn ich über Stag ging, wie er es nannte. Während er wie eine fleißige Arbeitsbiene herumsummte, flatterte ich im Licht wie eine Eintagsfliege.

So ging es einige Jahre, bis ich eines Morgens erwachte und wußte, was ich lange vor mir selbst zu verbergen versucht hatte, daß ich mich leer und unbefriedigt fühlte. Etwas in meinem Gemüt empörte sich gegen das Leben, das ich führte. Seit Jahren war ich Zeuge der großen Not gewesen, die zu lindern mein Vater sich berufen fühlte. Ich begegnete den Patienten auf unserer Treppe, wenn sie ihn außerhalb des Krankenhauses aufsuchten. Plötzlich gingen mir die Augen auf. Ich fühlte ihre Not in meinem Herzen und schämte mich; jetzt erst sah ich, wie müde und betrübt die Augen meines Vaters waren. Ich fühlte, daß ich ein leichtfertiges Leben führte und so nicht fortfahren konnte.

Ich erinnere mich nicht, wie es eigentlich kam: ob er mich mit seinen Augen rief, oder ob ich von selbst den Weg zu ihm fand. Eines Tages aber stand ich in seinem Zimmer und bat ihn, mich an seiner Liebesarbeit teilnehmen zu lassen. Nie hatte ich ihn so froh gesehen. Seine Augen standen voller Tränen, als er mich küßte und sagte: ›Also bist du doch gekommen, mein geliebtes Kind.‹

Ich lernte Krankenpflege im Hospital. Sie können sich nicht denken, wie schwer es mir zu Anfang fiel, weil alles so unschön war. Eines Tages aber kam die Freude von selbst. Ein Lächeln auf einem kranken Gesicht hervorbrechen zu sehen, wie eine kleine bleiche Blume, die sich in der Sonne erschließt, und zu wissen, daß man selbst das Lächeln unter der Wärme seiner Hand hervorgelockt hat – das ist ein Glück, das man gekostet haben muß, um es ganz zu verstehen. Und als es erst begonnen hatte, nahm es mich ganz gefangen. Ich brachte es so weit, daß ich Vater als seine beste Krankenpflegerin zur Hand ging.

Ebenso wie er, begnügte ich mich nicht mit dem Krankenhaus. Ich suchte die Armen in ihren Häuslichkeiten auf, wenn sie als gesund entlassen waren; ich habe den Haushalt bei armen Wäscherinnen besorgt, die im Wochenbett lagen und deren Kinder sich noch nicht allein helfen konnten. Ach, Sie kennen die Armen nicht. Hat man ihnen erst einmal geholfen, dann lassen sie einen nicht wieder los. Ging es ihnen schlecht, dann kamen sie zu mir, öffneten mir vertrauensvoll ihr Herz, weinten ihre Not in meinen Zimmern aus und legten treuherzig ihr neues Elend auf meine Schultern, als sei ich ihr natürlicher Versorger. Was es mich kostete, nein zu sagen, wenn zuletzt meine Körperkraft oder mein Geldbeutel versagten, davon machen Sie sich keinen Begriff; es war schrecklich, Enttäuschung in ihren Augen zu sehen, die der hoffnungsvollen Erwartung folgte, mit der sie gekommen waren.

Vater bekam wie immer recht. Er hatte mich davor gewarnt, mich zu heftig in die Arbeit zu stürzen. Jetzt kam es: ich hatte mich überanstrengt, war eine Zeitlang krank und während ich Rekonvaleszentin war, kehrte mein Verlangen nach dem freien Leben, nach Entwicklung und eigener Freude zurück. Ich sehnte mich von neuem nach allem, was schön war, sehnte mich, das Leben in freien, schönen, persönlichen Formen zu leben, und nicht der Not und Erniedrigung Aug in Auge gegenüberzustehen.

Ich hatte Ekel vor meiner Arbeit bekommen. Es tat mir weh, aber ich konnte nichts dafür. Ich fühlte mich so jung und stark und schön, und fand, daß alles, was nicht nur elend und arm, sondern auch häßlich und schmutzig war, mir aus den Augen mußte.

Ich fing an, mich selbst und mein Aeußeres zu pflegen, wie meine Freundinnen es taten. Ich interessierte mich wieder für meine Toilette und für die Meinung der Welt. Meine gleichaltrigen Kameraden empfingen mich wie den verlorenen Sohn, man machte mir die Cour und verhätschelte mich.

Mein Vater hatte kein Wort des Vorwurfes für mich; nur war es, als wollte er den Armen den Verlust ersetzen. Er nahm sich derer an, die mich aus alter Gewohnheit aufsuchten und meine Tür verschlossen fanden. Einmal hörte ich zufällig, wie er mich bei ihnen entschuldigte und mit einem Lächeln auf meine Jugend hinwies. Es kränkte meinen Stolz und rührte mich dennoch tief. Jetzt, wo er tot ist, sitzt es wie ein Stachel in meinem Herzen, daß ich ihn enttäuscht habe.

Ich verliebte mich in einen Studiengenossen, einen jungen Mediziner. Er war hübsch und hatte sich moderne Gedanken und Worte angeeignet, aber das war auch alles. Als ich ihn näher kennen lernte, enttäuschte er mich. Er schrumpfte gleichsam zusammen, und meine Verliebtheit verging, als ich sah, daß die Eigenschaften, die ich in seinem frischen Wesen und seinem hübschen Gesicht zu finden gemeint hatte, von mir selbst hineingedichtet worden waren.

Ich spiegelte mich in ihm und sah, wie es auch mir ergehen, daß auch bei mir alles nach und nach Oberfläche werden würde. Ich sah ein, daß ich mich auf die Dauer von diesem Leben, zu dem ich zurückgekehrt war, nicht befriedigt fühlen könnte. Ich fühlte, wie ich nun einmal geschaffen bin, daß ich etwas haben müßte, nach dem ich streben und um das ich mich sammeln konnte. In mir ist ein ewiger Kampf zwischen Gemüt und Körper: bald betrachte ich mein eigenes Glück als das einzig wichtige in der Welt, und bald gewinnt mein angeborenes Verlangen, andere um mich herum glücklich zu machen, die Oberhand.

Wieder und wieder stellte ich mir selbst die Frage: Warum bist du gesund und stark und hübsch und jung, wenn du dich dessen nicht freuen und zu etwas noch Stärkerem und Schönerem entwickeln darfst? Wenn mir aber ein verhungerter Mensch auf der Straße begegnete, erlosch meine Freude. Besonders Kinder rührten mein Herz; ich meinte, ich dürfte mich nicht satt essen, solange sie hungerten.

Mein Gemüt war abermals aus dem Gleichgewicht gebracht und das Schlimmste war, daß ich nicht länger an eine Lösung glaubte. Kaum hatte ich mir selbst gesagt: Jetzt will ich meiner eigenen Entwicklung leben, so fühlte ich auch schon, daß ich es nicht konnte, solange ich menschliches Elend vor Augen hatte, wenn ich mir aber vorstellte, daß ich zu meiner alten Arbeit zurückkehren und Freude in der Linderung der Leiden anderer finden würde, dann verlangte meine Persönlichkeit ihr Recht, und ich war ebenso wie vorher.

Mein Gemüt wurde schwer. Die Augen meines Vaters folgten mir mehr als je. Schließlich ging ich zu ihm und offenbarte ihm, wie es um mich stand. Er klopfte mir die Wange und sagte, daß er mir weder helfen könne noch wolle, es sei ein Kampf, den ich allein durchkämpfen müsse. Er selbst habe ihn in seiner Jugend bestanden. Die meisten Menschen, die etwas taugten, kennten ihn in der einen oder anderen Form. Es sei nicht nur der Kampf zwischen der Pflicht gegen sich selbst und gegen andere, sondern es sei gleichzeitig der Kampf zwischen Körper und Geist.

Vater ging nie zur Kirche. Er sprach nie von Gott, und doch bin ich fest davon überzeugt, daß er gläubig war. Ich bin von klein auf oft zur Kirche gegangen. Mutter hatte mich zu glauben gelehrt, und nach ihrem Tode ist unser altes Mädchen jeden Sonntag mit mir zur Kirche gegangen, bis ich konfirmiert wurde. Ich fühlte, daß Vater es gern sah, obgleich er mich nie dazu aufforderte.

Während ich Konfirmationsunterricht hatte, war ich stark von der Religion erfüllt. Ich kam in ein eigenes persönliches Verhältnis zu Gott, das ich mir nach meinem eigenen Kopf formte; so wie er war, gehörte er mir und hatte mein volles Vertrauen. Er ersetzte mir die Mutter; ich fand, daß sie auch dabei sei, wenn ich zu ihm betete. Es war, als ob wir gemeinsame Sache machten.

Als aber mein Gemüt schwer geworden war, suchte ich vergeblich Trost in meinem Glauben. Bis jetzt hatte ich nie selbständig über diese Dinge nachgedacht. Es war mir nie eingefallen, zu zweifeln. Jetzt fing ich an zu vergleichen. Was ich gelesen und studiert, hatte mich früher nicht angefochten, weil ich nie so tief darin eingedrungen, daß es meinem Glauben zu nahe gekommen war – jetzt meldete es sich mit Zweifel und Verlangen nach Zusammenhang. Ich konnte die Not, die ich in der Welt sah, nicht mit einem gnädigen und barmherzigen Gott vereinigen – und ich kann es noch immer nicht.

Ist die Erklärung der Erbsünde denn etwas anderes als eine große Ungerechtigkeit gegen das ganze übrige Leben? Wie kann ein allmächtiger und barmherziger Gott Menschen mit so himmelschreiend ungleichen Schicksalen auf die Welt kommen lassen, von denen der eine einen geebneten Glücksweg, der andere ein Leben in Not und Qual vor sich hat? Darüber kommt das Christentum nie hinweg, was hilft es, daß es auf Gottes Unerforschlichkeit hinweist oder auf die Gnade und Erlösung durch seinen Sohn, der die Erbschuld bezahlte? Gerechtigkeit und Gnade sind zweierlei. Was soll es heißen – Gnade für einen sündigen Menschen – wenn er die Sünde nicht selbst verschuldet hat, sondern sie ihm von dem Allmächtigen zuerteilt worden ist? Bedeutet es nicht, daß Gott in sich selbst gegangen ist und die Strafe für nichtig erklärt hat, weil er selbst erkennt, daß Erbschuld keine Schuld, sondern eine Ungerechtigkeit ist? Ich habe den Glauben meiner Mutter verloren, der mir in meiner Kindheit geholfen hat. Gottlos bin ich nicht, aber ich bin auch keine Christin.

Not und Elend, Glück und Unglück, wie wir sie täglich in unbegreiflichem Durcheinander sehen, müssen einen Zusammenhang, einen vernünftigen Sinn haben; denn ohne den ist das Leben sinnlos; welchen Sinn? – Das ist für mich die große offene Frage; und bevor ich sie nicht gelöst bekomme, durch Gewißheit oder durch einen Glauben, der ebensogut ist wie Gewißheit, kann ich nicht froh werden, wie ich es in meiner Kindheit war, kann ich nicht wie ein freies, persönliches Wesen leben; denn wie sollte ich mich selbst oder andere gegen ein solches Unrecht wehren?

Keine Religion, die ich kenne, gibt eine Lösung. Vielleicht, daß es in Asien, woher all unser Wissen vom Ewigen stammt, Weise gibt, die das Rätsel gelöst haben. Ach, ich würde viel darum geben, wenn ich's erfahren könnte.

Daß es einen Gott gibt, erscheint mir ebenso sicher, wie daß es eine Seele und einen Körper und eine Welt um mich herum gibt; aber er ist stumm, er verbirgt sich vor den Menschen. Man sagt, daß das Niedrigere das Höhere nicht erfassen kann, ein Hund zum Beispiel nicht den Menschen, der sein Gott ist; ein Mensch aber würde doch einen Hund nicht fortweisen, wenn er das Leben seines Herrn retten will. Es gibt Menschen, die im Verhältnis zu Gott wie herrenlose Hunde sind.

Wenn Menschen ihrem Glauben an einen allmächtigen und allgütigen Gott treu bleiben sollen, muß es eine Offenbarung, eine Erklärung geben, wie es mit der Gerechtigkeit des Lebens zusammenhängt. Die alte Lehre, die die Menschen vor zweitausend Jahren erlöste, genügt heute nicht mehr. Die Menschen sind durch ihre Arbeit ein anderes Geschlecht geworden wie früher. Ihr Gott, der Gott unserer Vorfahren, ist hinfällig geworden.

Der Ewige aber muß in unsern Herzen lesen können, wie wir darunter leiden, daß keine neue Offenbarung uns die höhere Einweihung gegeben hat, zu der wir jetzt herangereift sind. Sie ist notwendig, damit unsere Entwicklungsquellen nicht versanden, und unser Sinn nicht von hoffnungslosem Zwiespalt in uns selbst verzehrt wird.

Christus erneuerte das alte Gesetz, dem das Leben entwachsen war, und gab den Menschen ein neues, weil es notwendig war. Die neue Zeit hat die alten Lebensformen wie eine Puppenlarve gesprengt; mit den alten können wir nicht mehr weiterleben und die neuen haben wir noch nicht erreicht. So war es zu Christi Zeiten, und so ist es heute wieder. Eine neue Offenbarung muß uns die höhere Form, das neue Gesetz zeigen, das für uns Leben und Wahrheit bedeutet.

Der Ewige muß uns sein Antlitz von neuem zeigen, damit wir auch jetzt auf das Licht zusteuern können. So denke ich jetzt und so dachte ich vor einem Jahr, als ich von dem Unglück betroffen wurde, daß mein Vater eines Tages während seiner Tätigkeit im Krankenhaus das Bewußtsein verlor und krank nach Hause gebracht wurde. Er war verbraucht. Das Leben für andere hatte ihm das seine gekostet.

Nicht eine Klage kam über seine Lippen, und doch war auch er einst ein junger Mensch wie ich gewesen, der danach strebte, sein eigenes persönliches Leben zu entwickeln und der jetzt ein Opfer für andere geworden war. Der Gedanke war mir unerträglich. Ich verbarg vor ihm, was in meiner Seele vorging, aber ich glaube doch, daß er es in meinen Augen las.

›Ich muß sterben, mein geliebtes Kind,‹ sagte er eines Tages, ›es gibt keinen Ausweg. Die Maschine will nicht mehr, die Räder sind verbraucht. Was aber soll aus meinen Kindern werden?‹

Er meinte die vielen armen Menschen, deren Leben er gerettet hatte und für die er später ein Freund gewesen war, für viele der einzige, den sie im Leben gehabt hatten, ein Freund, der ihre Not sah, ohne kleinlich nach Ursache oder Schuld zu forschen.

Eines Abends zog er mich an sich und küßte mich auf die Stirn, hielt meine Hand lange in der seinen und betrachtete mich, bis seine Augen sich mit Tränen füllten. Wir hatten lange von Mutter gesprochen, und ich glaube, daß er deshalb so bewegt war. Am nächsten Morgen lag er tot in seinem Bett.

Nie werde ich vergessen, als die Todesnachricht in unserm Viertel bekannt wurde. Sie standen vor unserer Tür, um zu hören, ob es wahr sei; bis weit auf die Straße hinaus standen sie, Frauen und Männer und Kinder, Alte und Junge, stumm und bedrückt in ihrer Not. Die Frauen weinten, die Männer trockneten sich die Augen. Ich sah sie von meinem Fenster aus. In meinem eigenen verzweifelten Schmerz meinte ich, daß der ihrige nicht geringer sei, und daß ich ihn, der dort lag und im Tode lächelte, fast leichter entbehren könne, als alle die, die jetzt ohne Freund in der harten Welt standen. Sie waren ebensosehr seine Kinder wie ich. In diesem Augenblick liebte ich diese armen Menschen wie meine Brüder und Schwestern.

Ein größeres Begräbnis als das meines Vaters hatte man nie gesehen. Da waren keine Orden auf seinem Sarg, keine Ehrenbezeigungen von der herzlosen und unpersönlichen Obrigkeit dieser Welt, keine Herren mit Titeln und Uniformen, aber eine leidende und trauernde Menschheit gab ihm zu Fuß den langen Weg zum Grabe hinaus das Geleit, um ihm ein letztes Lebewohl zu sagen.

Und dieser Mann, der mein Vater war, der mein Gemüt und mein Herz kannte, der selbst das Richtige gewählt und niemals von seiner Pflicht abgewichen war, hatte mich vor seinem Tode vor dieselbe Wahl gestellt. So wie er einst zu mir gesagt hatte, als ich mich ihm in meiner Not anvertraute: das mußt du selbst durchkämpfen, hier kann nur dein eigenes Gemüt dir helfen, so mahnt er mich auch jetzt aus seinem Grabe: Du mußt deine Wahl treffen!

In seinem Testament stellt er die Größe seines Vermögens fest und sagt darauf: ›Dies alles hinterlasse ich meiner Tochter. Es ist ihr väterliches und mütterliches Erbe. Ich habe keine Legate verteilt, habe niemandem über meinen Tod hinaus helfen wollen, obgleich jetzt viele brotlos werden. Ich überlasse alles meiner Tochter. Ihr gehört das Ganze, sie soll wählen, was sie damit machen will. Ob sie, jung und kräftig, wie sie ist, und mit der Ausbildung, die sie bekommen hat, das Los der Allgemeinheit teilen und sich durch Arbeit und eigene Kraft ernähren will, um mit dem Vermögen einen Fonds zu stiften, der meinen armen Kranken zugute kommen soll, oder ob sie das Vermögen dazu verwenden will, ihre eigene Persönlichkeit zu einem reicheren und schöneren Eigenleben zu entwickeln. Sie allein soll es entscheiden, vor sich selbst, ihrem Nächsten und ihrem Gott.‹«

 

Helen hielt inne und starrte vor sich hin.

Der Mond war aufgegangen; seine scharfe Sichel zog eine Linie von zitterndem Gold über das dunkle Wasser.

Ralph hatte sie nicht ein einziges Mal unterbrochen; mit stiller Verwunderung, ja, fast mit Ehrfurcht war er Zeuge davon gewesen, wie eine junge Frauenseele sich vor ihm entfaltete und ihm ihr Inneres zeigte. Das hatte er noch nie erlebt.

Auch jetzt wollte er das Schweigen nicht brechen, das ihm aus ihrer bewegten Seele entgegenzitterte.

 

»Ich habe überlegt und überlegt,« begann Helen wieder mit gedämpfter Stimme, während ihre Hände sich um ihr Knie falteten, »aber ich bin zu keinem Resultat gekommen. Ich habe denen geholfen, die nicht ohne meine Hilfe leben konnten. Aber die entscheidende Wahl habe ich noch nicht treffen können. Da faßte ich den Entschluß, fortzureisen. Nur wenn das Herz leer ist, ist es bereit, Gott zu empfangen, habe ich einmal gelesen; darum wollte ich fort von all dem, was mich zu Hause mit Kummer und Freude erfüllte. Es wurde mir klar, daß Vater mich zwingen wollte, mich selbst zu finden, weil er sah, daß ich in beständigem Zwiespalt mit mir selbst lebte. Und im Zwiespalt mit sich selbst kann kein menschliches Gemüt gedeihen.

Er hatte erreicht, was er wollte. Habe ich das Recht, mir selbst zu leben und kann ich es? – oder muß ich für andere leben? Darf ich Zuschauer sein – oder muß ich dienen; das ist das Entscheidende für mich geworden. Darum muß ich fort. Solange ich zu Hause bin, fühle ich mich nicht frei in meiner Wahl. Ich kann nicht über eine Straße gehen, ohne daß es mir von jedem Ladenfenster zuruft: Sieh hier, was für dich zu haben ist, damit dein Leben reicher und schöner wird, du Glückliche, die du die Mittel hast zu kaufen. Museen und Bibliotheken, Kunst und Pracht und alle schönen Dinge rufen mir zu: hier ist, was du suchst. Alles dies ist gesammelt und gebaut, um der Entwicklung deiner Persönlichkeit zu dienen. Der Staat, der mit der Kirche im Bunde ist, der du angehörst, unterhält es; wie kannst du da noch zweifeln? Warum ist dir ein lebendiger Geist mit Verlangen nach Schönheit und Erkenntnis gegeben, wenn du dich nicht zu einem höheren Menschen und einem reicheren Leben entwickeln willst? Laß die, denen es nicht gegeben ist, anderen dienen, diene du, die du die Begabung und das Verlangen hast, Gott durch dich selbst.

Ich will fort von der Zivilisation, hinaus zu Menschen, die nur Menschen sind, um zu finden, wo ich wurzle; durch die dicke Schicht von Gewohnheitsgedanken und Gewohnheitsglauben will ich den Weg zurück, den die Kultur gewandert ist, bevor sie mich formte. Vielleicht finde ich in Asien, woher alles stammt, zu dem Ursprünglichen in mir zurück, wo es keinen Zwiespalt und keine Wahl gibt, weil die Entscheidung schon in dem Gesetz meines Wesens begründet ist. Darum sitze ich nun hier neben Ihnen und sehne mich nach den Bergen dort drüben. Ich werde erst in das Land meines Vaters und zu der Frage meines Vaters zurückkehren, wenn ich Antwort gefunden habe.« Helen hatte sich erhoben. Sie stand vor ihm, groß und schlank, mit einem fernen Blick in ihren tiefen, glänzenden Augen. Ihre Lippen trennten sich zu einem wehmütigen Lächeln.

»So allein bin ich, daß ich mein Herz einem Fremden öffnen muß.«

»Für mich sind Sie keine Fremde,« sagte er und nahm ihre Hand.

»Nein,« lachte sie, »jetzt kennen sie mich in- und auswendig.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Zutrauen!« sagte er und blickte ihr fest in die Augen.

Er wollte etwas ganz anderes gesagt haben, aber es fehlten ihm Worte, um Gefühle auszudrücken; darin hatte er niemals Uebung gehabt.

»Gute Nacht!« sagte sie, drückte seine Hand und eilte in ihre Kajüte hinunter.

* * *


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