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Ralph wurde durch einen Stoß der Dampfflöte geweckt, der seine ganze Kajüte zum Beben brachte. Er richtete sich auf und sah hinaus.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber es dämmerte am Horizont. Der Dampfer glitt mit halber Kraft an einer dunklen Bergwand entlang; er konnte eine kleine Stadt an ihrem Fuße unterscheiden, mit flachen Dächern über blinden Mauern; von einem Haus stieg weißer Rauch langsam in die klare, dünne Luft.

Er kleidete sich an und ging auf Deck, wo zwei Matrosen mit bloßen Füßen spülten.

»Wo sind wir?« fragte er.

»Wourla!«

Die Matrosen drehten sich um und zeigten aufs Land.

»Was sollen wir hier?«

»In Smyrna ist Cholera, – wir dürfen nicht landen, bevor wir einen Arzt an Bord gehabt und einige Quarantänepassagiere aufgenommen haben.«

Etwas weiter fort lag ein großer Passagierdampfer. Ralph sah durch das Fernglas, daß es der »Osmannieh« von der ägyptischen Khediv-Linie war. Die gelbe Quarantäneflagge wurde gerade zwischen den Masten gehißt, und kurz darauf wehte am Vortopp seine eigene heimatliche Flagge, » Stars and Stripes«.

Der Gesandte ist also an Bord, dachte er und erinnerte sich, in der Zeitung gelesen zu haben, daß der Gesandte von seiner Erholungsreise in Aegypten nach Konstantinopel zurück erwartet wurde. Zwischen der hohen Pforte und dem europäischen Konzert mußte etwas nicht in Ordnung sein: es war ein bedenkliches Zeichen, daß Mr. Lawson, dessen er sich von einem Mittagessen in Neuyork erinnerte, seine Reise unterbrochen hatte.

Er versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was er über die politische Situation in den letzten Tagen gelesen hatte, sandte Hopson Brothers in Neuyork, die sein Vermögen verwalteten, einen flüchtigen Gedanken und schob dann alles wieder mit einem Achselzucken von sich.

Das alles kümmerte ihn wenig. Er war ein freier Mann, der sich über den Sonnenaufgang freuen durfte. Er schlenderte über das Promenadendeck, um das Leben an Bord erwachen zu sehen.

Von der Laufbrücke aus konnte er das Zwischendeck übersehen. Um die geschlossene Luke herum lagen Schlafende, in ihre Mäntel gehüllt. Neben der Reling hatte ein Türke, der mit seiner ganzen Familie reiste, durch Decken einen Privatraum für seine Frau und Rinder abgeteilt; ein lautes Schnarchen war von dort zu hören.

Den Rücken gegen die Kajütenwand gelehnt, saß ein armenischer Mönch in seiner langen schwarzen Doppelkutte, die Kapuze über seine Glatze gezogen. Er schlief sanft, die groben Hände um seinen langen, schwarzen Bart gefaltet, der ihm bis an den Gürtel reichte.

Ein junger Levantiner in europäischer Kleidung lag mit dem Kopf auf einer Taurolle. Er hatte sich seinen Wintermantel über die hochgezogenen Knie gebreitet. Die blutlosen Lippen zitterten in der Morgenkälte. Etwas Degeneriertes sprach aus dem schmalen Gesicht mit den langen Brauen und den schlaffen Mundwinkeln. Unter dem aufgeknöpften Kragen hing ihm ein feuerroter Schlips lose über die Brust. Er sah aus, als habe der Schlaf ihn auf der Flucht vor einem Verbrechen übermannt.

In der offenen Kajütentür tauchte eine Frau auf. Sie blickte sich vorsichtig um und schlich unbemerkt durch die Schlafenden, bis sie die Reling erreichte. Sie beugte sich vor und blickte neugierig zum Land hinüber, indem sie die Augen mit der Hand beschattete. Es war eine drusische Frau aus dem Libanontal, in einem langen, groben Mantel, der ihr bis auf die Füße reichte und um die Taille von einem Ledergürtel mit einer kunstfertigen Silberspange zusammengehalten wurde. Von der hohen Spitze ihrer Mütze, die ihr Haar bedeckte, hing ihr ein Kopftuch übers Gesicht; es war der Hennin, derselbe Zuckerhut, den die Ritterfrauen im Mittelalter trugen, und der die syrische Haube genannt wurde, weil die Kreuzritter die Mode im Libanon von den Vorfahren dieser Frau gelernt hatten. Das Kopftuch hing ihr wie eine Gardine vorm Gesicht, so daß sie es zurückziehen mußte, um zu sehen. Als sich kurz darauf jemand hinter ihr rührte, eilte sie zur Kajüte zurück.

Ein junger Perser, der sich die hohe Lammfellmütze über die Augen gezogen hatte, erwachte und reckte sich. Noch schlaftrunken, wandte er sein lehmfarbiges Gesicht dem zunehmenden Licht zu und rieb sich die Augenlider, dann drehte er sich um, suchte etwas hinter dem Bündel, das ihm als Rückenstütze diente, zog eine Nargilha hervor und machte sich eine Pfeife zurecht. Das war seine Morgenmahlzeit.

Zwischen der Reling und einem verdeckten Rettungsboot rührte sich etwas. Eine zusammengerollte, grobe Wolldecke mit breiten, schwarzen Streifen wurde plötzlich lebendig. Sie faltete sich auseinander und aus ihrem Inneren richtete sich ein Beduine auf seinen Knien auf. Ein gewürfeltes Kopftuch, das mit einem Doppelring von gedrehtem Kamelhaar um seinen Kopf befestigt war, fiel ihm über Brust und Schultern. Er reckte seinen mageren Kopf wie ein Adler, der von seinem Felsengipfel zum Sonnenaufgang hinüberblickt und das Land zu seinen Füßen, wo er seine Beute suchen will, mustert. Unter den geraden Brauen glühten die schwarzen Augen noch blank vom Schlaf. Er atmete mit weitgeöffneten Nasenflügeln die Luft, wickelte sich in die Decke ein, die sein Bett gewesen war, und erhob sich, um seine Morgenandacht zu verrichten.

Er ging auf einen Wasserhahn am Vordersteven zu, pumpte sich ein Zinngefäß voll Wasser, befeuchtete seinen dünnen, spitzen Bart damit, setzte sich in die Hucke, streifte seine Lederhosen hinunter und wusch seine Füße und Arme, alles auf die vorgeschriebene Weise. Darauf senkte er den Kopf, bedeckte sein Gesicht mit den flachen Händen, und blieb so eine Weile sitzen. Als die Vorbereitungen zum Gebet beendet waren, erhob er sich, sah zur Morgenröte hinüber, machte die richtige Himmelsgegend ausfindig und wandte sich nach Südosten. Dann breitete er den Mantel zu seinen Füßen aus und stellte sich auf die eine Ecke desselben, das Gesicht gen Mekka gewandt, während die Hände herabhingen, ohne das Hemd zu berühren. So betete er sein Istigphar, das Vergebungsgebet. Darauf hob er die Hände in Gesichtshöhe, wandte die offenen Flächen nach auswärts, indem er die Daumen gegen die Ohrläppchen legte, und sagte das Einleitungsgebet Tekbir – Gott ist groß; darauf betete er den ersten Vers des Korans, legte mit niedergeschlagenen Augen die Hände unter dem Leib aufeinander, so daß die Rechte die Linke, die verflucht ist, verbirgt. Während er betete, neigte er sich tief vornüber, die Hände flach auf den Knien, und richtete sich wieder auf. Dann warf er sich auf die Knie, die Hände vorgestreckt und die Fingerspitzen auf dem Mantel. Er berührte ihn mit seiner Nasenspitze, blieb eine Weile so liegen und betete, erhob sich auf seinen Knien, die Hände auf den Beinen, und verrichtete von neuem sein Tekbir. Wieder warf er sich vornüber, wieder richtete er sich auf den Knien auf, drehte seinen Kopf grüßend erst zu seiner rechten Schulter, wo der gute Engel sitzt, der auf den rechten Weg führt, darauf zur linken, wo der Verführer sitzt, der das Böse in Gewahrsam hat. Und als der ganze Rickah beendigt war, fing er ihn noch einmal von vorn an. Schließlich war das »Salatu'l Fajr«, das Morgengebet, beendet, und er ging auf Deck hin und her, mit befreitem Gemüt, das Gesicht der Sonne zugewandt, während er den Tchibuk aus seinem Gürtel zog und sich eine Pfeife stopfte.

 

Ein junger Türke mit Fes und Kneifer stellte sich in der Tür zum Salon auf, wo die Passagiere der ersten Klasse versammelt waren, rief die Namen aus der Schiffsliste auf und blickte über den Kneifer hinweg auf den, der auf den Namen antwortete. Das war die ganze ärztliche Untersuchung.

Ein Boot kam vom »Osmannieh« mit den neuen Passagieren, die seit zwei Tagen auf Schiffsgelegenheit nach Beyrut gewartet hatten.

Ralph lehnte über die Reling und sah sie die Fallreeptreppe hinaufentern. Da waren zwei sehr lautsprechende französische Damen, die wie für eine Nordpolreise gekleidet waren, eine eckige Engländerin von der bekannten Touristenrasse, mit Sportmütze und Golfjacke, ein ältlicher Türke mit Fes und langschößigem Rock, und fürs Zwischendeck einige schweigsame, dunkeläugige Maroniten, die zu ihren Weingärten im Libanon wollten.

Der Gong ertönte und Ralph eilte zur ersten Mahlzeit des Tages hinunter.

Anfangs war er mit dem Kapitän allein, einem kleinen untersetzten Südfranzosen mit hitzigen Augen und Don-Quijote-Bart, außerdem waren da der Schiffsarzt und der Intendant, die ihren eigenen Tisch hatten. Während er aß, kamen die neuen Passagiere nacheinander herein; sie bekamen ihre Plätze von dem Maitre-d'hôtel angewiesen, einem vierschrötigen Marseiller mit gestutzten Whiskers, blauem, kurzschößigem Livreefrack und weißem Schlips. Die verfrorenen französischen Damen wärmten sich Hände und Rücken am Koksofen mitten im Salon, bevor sie sich setzten.

Der Türke bekam Ralph gegenüber Platz. Er hatte blaßbraune Augen in einem länglichen Gesicht, einen gelblichen Teint voll von kleinen braunen Leberflecken und einen dichten, graugesprenkelten Vollbart, der lange nicht unter der Schere gewesen war.

Den hab' ich schon mal gesehen, dachte Ralph, der ein gutes Personengedächtnis hatte.

Der Türke behielt seinen Fes auf, während er aß. Die schwarze Troddel bewegte sich bei dem energischen Kauprozeß, der seinen ganzen Kopf in wackelnde Bewegung versetzte, wie bei einem wiederkäuenden Widder. Etwas Lauerndes in seinem Blick unter den Lidern sagte Ralph, daß der Türke auch ihn wiedererkannt hatte.

Ralph suchte zu erraten, was der Mann sei. In Neuyork würde er ihn für einen Gelehrten aus einem Laboratorium gehalten haben, hastig forschend, von seinem eigenen Gedankenleben in Anspruch genommen, verschlossen und doch mit wachen Sinnen.

Erst als der Türke sich erhob und mit langen, ruhigen Schritten, die gar nicht zu seinen energischen Kaubewegungen paßten, auf den Diwan zuging und so nahe wie möglich am Ofen Platz nahm, erinnerte Ralph sich, wo er diesen Mann schon einmal gesehen hatte; damals trug er Turban und Djubbe mit grünen, blauen und roten Streifen längs der weißen Aermel.

Ralph lehnte sich in einen Deckstuhl zurück, die Beine auf dem Nachbarstuhl am Ofen, und überflog »Le Temps« und »New York Herald«, die mit der Post an Bord gekommen waren. Er wartete auf Helen Herz. Während seine Augen die Spalten durchflogen, ob er etwas finden würde, was ihn interessieren konnte, waren seine Gedanken bei ihrer abendlichen Unterhaltung.

»Erlauben Sie,« sagte der Türke auf französisch und streckte seine Hand nach »Le Temps« aus, den Ralph auf den Tisch gelegt hatte.

»Bitte!« antwortete Ralph auf englisch und schob ihm die Zeitung hinüber; er war nicht zum Unterhalten aufgelegt.

»Sie sind Amerikaner!« sagte der Türke auf englisch.

Ralph blickte ihn kalt über den Tisch hinüber an und nickte.

Der Türke hatte seine Beine unter sich gekreuzt; Ralph ließ ihn durch einen Blick verstehen, daß er es bemerkte.

Die bläulichen Lippen des Türken verzogen sich zu einem halb nachsichtigen, halb spöttischen Lächeln.

»Entschuldigen Sie!« sagte er und veränderte seine Stellung. »Es ist eine nationale Angewohnheit von uns, die man schwer los wird. Ihr Abendländer wißt nicht, was euch entgeht. Denn wer seine Beine sammelt, sammelt seine Gedanken.«

Während er sprach, drang ihm aus Nasenlöchern und Mund Rauch wie aus den Spalten eines rauchgefüllten Raumes. Er hatte lange keinen Zug an seiner Zigarette getan, die halb ausgebrannt auf dem Aschenbecher lag – mußte also den Rauch seit längerer Zeit in sich gehabt haben. Ralph hatte einmal gelesen, daß die Orientalen durch die Lunge rauchen; nun sah er es zum erstenmal selbst.

»Warum füllen Sie die Lunge mit Rauch?« fragte er unumwunden, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihn etwas interessierte.

»Warum tun Sie es nicht?«

Der Türke nahm die Zigarette und tat einen Zug, bis die Asche glühte. Die weiten Nasenflügel bewegten sich und der Mund stand offen, aber es kam kein Rauch.

Ralph sah ihn an, ohne zu antworten.

Der Türke lächelte und zeigte seine langen, spitzen Zähne, die etwas auseinanderstanden.

»Ich habe keine Freude an dem Rauch, wenn ich ihn gleich hinauslasse! Ihr raucht mit den Lippen, wir mit den Lungen, und durch sie mit dem Blut, und durch das Blut genießt der ganze Körper.«

»Andere Rassen, andere Gewohnheiten!« fügte er hinzu und ließ seinen Blick forschend auf Ralph ruhen. »Als ich zum erstenmal nach Paris und London kam, wurde ich nicht müde, mich über eure abendländischen Gewohnheiten zu wundern. Jetzt sehe ich den Unterschied kaum mehr. Die Welt bleibt sich gleich, aus welcher Himmelsrichtung der Wind auch weht.«

»Und Sie kleiden sich nach der jeweiligen Windrichtung!« – Jetzt entschleiere ich dich, dachte Ralph und lachte kurz auf.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich sah Sie auf der Treppe zum Crédit Lyonnais in Konstantinopel. Damals waren sie wie ein Alttürke gekleidet, mit Turban und allem, was dazu gehört.«

»Das stimmt,« sagte der Türke und lächelte freundlich mit seinen braunen Augen, als verstünde er Ralphs Absicht und hätte Nachsicht mit ihm. »Ich habe auch Sie gesehen.«

»Interessiert es Sie, warum ich mein Gefieder wechsele?« fügte er hinzu und beugte sich über den Tisch zu Ralph hinüber.

»Ja,« sagte Ralph schlagfertig, »sonst hätte ich es nicht bemerkt.«

»Ich bin ein verfolgter Mann!« sagte der Türke still und kreuzte die Beine wieder.

Der geschwätzige Türke war jetzt kein aufdringlicher Reisegefährte mehr, der sich herausnahm, Ralph Cunning überlegen zu behandeln. Er war plötzlich ein Mitmensch mit einem Schicksal, das Ralph kennen zu lernen wünschte.

Er nahm seine Beine vom Stuhl, drehte sich um und heftete seinen scharfen, hellen Blick mitten auf das lebergefleckte Gesicht, das keine Bewegung verriet.

»Wer sind Sie?« fragte er.

Der Türke sah auf und sagte sanft:

»Als ich in Neuyork war, pflegte man seinen eigenen Namen zu nennen, wenn man den eines andern kennen zu lernen wünschte.«

Ralph wurde rot und strammte sein Kinn.

»Entschuldigen Sie!« sagte er mit seinem ungeschickten Lächeln. »Ich bin Ralph Cunning aus Neuyork, Mitglied des ›Klubs der Verantwortungslosen‹.«

Der Türke blickte ihn unter seinen halbgeschlossenen Lidern verstohlen an und nickte.

»Kennen Sie den Klub?«

»Ich habe davon gehört. Mein Name ist Gamâl-ed-dîn. Ich heiße ebenso wie unser berühmter Philosoph aus dem vorigen Jahrhundert. Auch ich bin Schejk, ebenso wie er, oder richtiger: ich bin es gewesen.«

»Schejk – ist das nicht dasselbe wie Bürgermeister?«

»Das kann es sein. Dort wo ich war – an der El-Azhar in Kairo, der größten Universität der Mohammedaner, ist es das, was ihr Professor nennt.«

Also doch ein Gelehrter.

»Und Sie sind es nicht mehr?«

»Nein. Ich bin abtrünnig geworden,« sagte er sanft. »Ich bin Christ.«

Ralph zeigte unverhohlen sein Erstaunen.

»Sie sind in Paris, London und Neuyork gewesen?« fragte er, als Gâmal-ed-dîn mit einem vollkommen unbeweglichen Gesicht an ihm vorbeistarrte, als sei er in tiefe Gedanken versunken.

»Ja, ich habe an der Sorbonne und im British Museum studiert und bin Gast in Harvard gewesen.«

Ralph forschte in seinem Gedächtnis. Merkwürdig, daß solch ein seltener Besuch nicht durch die Neuyorker Zeitung zu ihm gelangt war.

»Sind Sie schon lange Christ?«

»Seit drei Jahren. Ich wollte Mohammeds Lehre reformieren,« sagte er einfach und natürlich, als spräche er vom Wetter, »aber die Turbanleute – so nennen wir die Schejks, die keine andere Weisheit in den Schulen dulden, als die des Korans – vertrieben mich und trachteten mir nach dem Leben. Ich habe Luthers Leben und Lehre studiert und wollte den Islam reformieren, so wie er die christliche Kirche reformiert hat. Christus ist ein größerer Prophet als Mohammed, das war mein Standpunkt. Ich nahm die Konsequenzen und ließ mich heimlich in Genf taufen. Ich habe mein väterliches Gut in Fajum verkauft und besitze genug, um unabhängig leben zu können. Jetzt lasse ich mich vom Zufall führen, oder was dasselbe ist, vom Schicksal, oder wiederum dasselbe: von Gott. Bald bin ich in London, bald in Neuyork. Seine Rasse aber kann man nicht von sich abstreifen, wie man den Glauben wechselt. Sie sehen, wie es mir mit den Beinen geht« – er lächelte und sah auf seine Stiefelspitzen auf dem Diwan herab. – »Das Land des Sultans kann ich nicht ganz entbehren, darum komme ich hin und wieder inkognito her und ziehe mein altes Schejkkostüm an. Darin haben sie mich neulich gesehen. In der Regel ist es nur ein kurzes Wiedersehen, denn die Turbanleute haben tausend Augen, und sobald ich merke, daß ich erkannt bin, muß ich so schnell wie möglich fliehen. Wenn man wüßte, daß ich Christ geworden bin, würde man einen Preis für meinen Kopf aussetzen.«

»Gibt es denn kein Recht und kein Gesetz in den türkischen Landen?«

»Nicht mehr als in Neuyork,« sagte Gamâl und betrachtete ihn mit seinem nachsichtigen Lächeln.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe mir erzählen lassen, daß es auch in Neuyork vorkommen kann, daß ein Mann morgens in sein Geschäft geht und nicht zurückkehrt.«

»Das ist Raubmord. ›Die schwarze Hand‹, – die Italiener.«

»Ist ein Religionsmord unmoralischer als ein Raubmord?«

»Nein. Da haben Sie recht.«

»Ja, so hängt es mit mir zusammen. Jetzt habe ich Sie über mich aufgeklärt. Und Sie sind Techniker?«

Ralph blickte erstaunt auf.

»Sie kennen mich?«

»Sind Sie es nicht, der ›die Himmelsbrücke‹ gebaut hat?«

Er zeigte alle seine weißen Zähne und lachte herzlich.

»Wie lange haben Sie in Neuyork gelebt?«

»Ich bin mehrere Male dort gewesen. Zum letzten Male im vorigen Jahre, als Sie den großen Streik so glücklich lösten.«

Ralph runzelte ärgerlich die Brauen. Sein Interesse für die neue Bekanntschaft schwand, weil der Mann sozusagen aus seiner eigenen Stadt war.

Gamâls braune Augen mit den stechenden Pupillen ruhten auf ihm mit lebendigem Verständnis, und Ralph hatte das peinliche Gefühl, ein offenes Buch in der Hand eines überlegenen Lesers zu sein.

Um Ralphs Mißstimmung zu zerstreuen, nahm Gamâl »Le Temps« und deutete auf einen Artikel.

»Haben Sie den gelesen?«

»Worüber?«

»Ueber die Spannung in Europa.«

»Ist denn eine da?« fragte er gleichgültig.

»Es ist immer eine da,« sagte Gamâl und beobachtete ihn aufmerksam von der Seite, »sie ist wie ein Kaltfieber, das in bestimmten Zwischenräumen akut wird.«

»Warum wird denn nicht losgeschlagen?«

»Ein Weltkrieg?«

»Dem Unvermeidlichen soll man nicht aus dem Wege gehen, wenn man vorwärts will, muß die Machtfrage entschieden werden.«

»Solange wir nicht wissen, wer zu siegen verdient, gibt es keinen Krieg.«

»Zu siegen verdient?«

»Die Spannung zwischen den Großmächten ist keine Machtfrage und auch keine Geldfrage. Es handelt sich darum, wessen Kultur die herrschende sein soll. Brüder streiten sich, obgleich sie aus demselben Mutterschoß geboren wurden, weil ihre Individualität verschieden ist und sich aneinander reibt. So ist es auch mit den Nationen. Seid ihr nicht alle von derselben weißen Rasse? – Warum streitet ihr euch da? – Weil jeder seine eigentümlich ausgeprägte Kultur hat. Darum ist die Reibung in den Grenzländern am größten. Alle Nationen wollen sich entfalten und nach ihrer Eigenart studiert werden, was würde geschehen, wenn Frankreich Deutschland besiegte? Würde das Leben nicht wie bisher weitergehen? – Der Bäcker will Brot backen, und der Beamte will regieren,– nur die Uniformen werden wechseln; die Regierung, das öffentliche Leben wird nach dem Geist der herrschenden Macht geändert werden. Die Flagge wechselt und alles, was durch die Flagge ausgedrückt wird. Nicht einmal die Sprache würde davon berührt werden, oder sprechen nicht alle Deutschen deutsch und alle Franzosen französisch in Elsaß-Lothringen?«

»Sie sagten: zu siegen verdient?«

Gamâl blickte an ihm vorbei und fuhr fort, ohne seinem Zuhörer einen Gedanken zu schenken.

»Das Volk, dessen Kultur am stärksten ist, wird siegen. Denn es sind nicht die Menschen, die kämpfen, sondern ihre Götter.«

Ralph blickte erstaunt auf.

»Es ist nicht nur Mohammeds und Christi Gott, die um die Herrschaft ringen; es ist auch der Gott der Germanen und Gallier und Angelsachsen, die gegeneinander streiten. Die Alten hatten recht, wenn sie die Götter des Feindes mehr fürchteten als ihn selbst. Mithra war es, der die römischen Legionen im Osten besiegte. Darum opferten sie dem Sonnengott und machten ihn zu ihrem eigenen, ebenso wie sie die ägyptischen Götter und schließlich den Gott der Christen annahmen.«

Ralph verzog den Mund zu einem Lächeln.

»Sie sind ein Christ und glauben, daß jede Nation einen anderen Gott hat?«

»Gott ist Gott,« sagte Gamâl und sah ihn nachsichtig an, »aber jede Nation hat ihren eigenen Gott: er ist die Vorstellung der Nation von Gott, ihre eigene Seele in Gott gespiegelt, und dieses Spiegelbild ist die Eigentümlichkeit ihrer Kultur.«

»Und das sollte Einfluß auf den Sieg haben?«

»Der Sieg ist Gottes, ebenso wie das Leben die Entfaltung Gottes in der Welt ist. Diejenige Nation wird siegen, deren Kultur der klarste Ausdruck für Gott ist. Der Weg in der Welt geht vorwärts; denn Gott ist nicht im Zwiespalt mit sich selbst. Also muß derjenige siegen, der am weitesten vorgeschritten ist. Denn Gott ist Gott.«

Ralph lachte.

»Ich glaube mehr an Geld, Heer und Flotte.«

Der Schejk betrachtete ihn mit seinem nachsichtigen Lächeln.

»Sind nicht auch diese Dinge Gottes?«

»Ist der Krieg vielleicht auch Gottes?«

»Krieg ist Vollbringung und Erneuerung, Geburtswehen, bei denen die Rasse entsteht.«

»Wenn die stärkste Kultur siegt, wie Sie sagen, so wird die weiße Rasse also niemals der gelben unterliegen?

Gamâl sah ihn an. Sein Blick war so vielsagend, daß Ralph unwillkürlich die Augen niederschlug. Der Türke schwieg eine Weile. Dann sagte er:

»Große Dinge habt ihr ausgerichtet, aber Gott ist nicht in Resultaten; er ist in erreichten Zielen. Der Mensch ist nicht die Frucht von dem, was er ausrichtet, sondern von dem, was er gedacht hat.«

»Die weiße Kultur beherrscht die anderen. Also ist sie die stärkste.«

»Nur zwei Wege führten zur Kultur: der Weg des Herzens und der Weg des Interesses. Der Zwangsweg ist kein Weg. Eure Kultur ist voll von Irrwegen.«

»Nennen Sie mir einige.«

»Ihr schätzt das Geld höher als die Weisheit. Ihr lehrt eure Kinder, daß die Natur gut und weise ist. Ihr habt falsche Ehrbegriffe.«

»Zum Beispiel?«

»Ich weiß, daß ein Mann die Frau seines Freundes nehmen und dennoch angesehen sein kann; aber er kann nicht mit Löchern in seinem Rock gehen oder seine Spielschuld unbezahlt lassen. Und ihr habt Orden, Rang und Titel.«

»In Europa wohl, aber nicht bei uns. Auf unserer Kultur aber beruht aller Fortschritt, den sich die anderen Rassen aneignen.«

»Seid ihr dadurch glücklicher geworden? Herrscht darum größere Eintracht zwischen euch? – Hat es euren Glauben gestärkt?«

Ralph lachte kurz und hart.

»Nonsens!« – sagte er.

»Was bleibt übrig, wenn man euch die Aufklärung nimmt? Bleibt Weisheit übrig? – Habt ihr nicht eher das Licht vergessen, während ihr hinter Aufklärung herjagtet?«

»Und doch leben die anderen Rassen jetzt im Lichte unserer Kultur,« wiederholte Ralph eigensinnig.

»Ihr habt sie einigen Völkern aufgezwungen, die dadurch unglücklich geworden sind und daran sterben. Andere haben sie angenommen, um sie als Notwehr im Kampf gegen euch zu gebrauchen, wer aber hat sie sich aus freiem Willen angeeignet und aus innerem Drang? – Können Sie mir das sagen?«

Ralph dachte nach, aber er fand keine Antwort.

Gamâl sah es und lächelte. Dann beugte er sich vor:

»Und ehrlich gesagt, kann es sich für andere Völker lohnen, eure Lehre anzunehmen? – Ist sie mehr wert als ihre eigene?«

Ralph lachte und schüttelte den Kopf. Gamâl aber fuhr mit leiser Stimme fort, während seine kleinen Augen glühten:

»Seid ihr nicht satt und müde? – Seufzen nicht viele von euch nach der Ursprünglichkeit, die ihr verloren habt? – Sie selbst, verlangen Sie nicht nach dem, was nicht gelernt, sondern nur gelebt werden kann?«

Ralph blickte erstaunt auf diese stechenden Augen, die in ihm wie in einem offenen Buch lasen. Die Worte hatten ihn getroffen, und er lachte nicht mehr.

»Mit mir ist es eine eigene Sache,« sagte er halb unwillig, halb zustimmend.

»Haben eure großen Männer es nicht wieder und wieder gefühlt, darüber geseufzt und euch zugerufen: Zurück zur Natur! Sie begriffen selbst nicht, daß sie eigentlich meinten: Fort von der Aufklärung, zurück zum Licht – fort von der Kultur, zurück zu uns selbst.«

Ralph erhob sich ohne zu antworten, während der Türke sich eine neue Zigarette rollte und es sich in der Diwanecke bequem machte, ging Ralph aufs Promenadendeck hinauf.

Er dachte an das, was Helen Herz ihm gestern anvertraut hatte. Hier im vollen Tageslicht, während das Schiff zwischen waldbekleideten Felseninseln in einer Landschaft vorwärtsglitt, die beständig wechselte und sich doch gleich blieb, erschien ihm das Erlebnis abenteuerlich fern; es kam ihm wie ein Traum vor, daß er gestern abend auf dieser Bank gesessen und unter einem wachen, lauschenden Sternenhimmel, durch zwei dunkle Augen in eine Seele geblickt hatte, die sich ihm schweigend entfaltete und dabei wuchs. Er sehnte sich, sie wiederzusehen und das Abenteuer bestätigt zu bekommen; aber sie zeigte sich nicht. Die Sonne ging mit derselben glühenden Pracht unter wie gestern, aber sie kam nicht.

Da ging er in seine Kajüte hinunter.

* * *


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