Alfred Brust
Jutt und Jula
Alfred Brust

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Sie lagen jeder auf einer der truhenartigen Bänke, die die beiden Seitenwände des Kapellenraumes einnahmen. Es war spät in der Nacht. Von Westen her fiel in Lichtbändern der matte Schimmer des mailichen Mondes schräg durch die bunten Fenster und gab dem Gezimmer einen milden Hauch freundlicher Schwermut.

Jutt konnte den Schlummer nicht finden. Sein Gehirn arbeitete wie ein galoppierendes Pferd. Immer neue Gedanken der Zukunft brandeten heran, wenn er sich glaubte ausgedacht, müdegedacht zu haben. Und in der Stille der Nacht nahmen die Gedanken alle so große umständliche Formen an. Wohl waren es etwa dieselben Gedanken wie sonst, doch ihr Umfang war von einer anderen überhöhten Art. Mitunter glaubte er wahrzunehmen, daß nicht er selber dachte, sondern daß mit ihm gedacht wurde. Das war ein peinvoller Zustand. Er kam sich dann auf seinem seltsamen Lager wie ein verschnürter Ballen vor, der sich nicht rühren konnte und durch den 132 hindurch eine unbekannte Macht denken durfte, was ihr nur paßte. Er hatte nichts zu tun als stille zu halten. Dann stöhnte er auf, wischte sich mit der heißen Hand das eingebildete Netz von der Stirn und atmete wieder ruhiger in das Schweigen der Nacht hinein.

Und als er wieder von Zweifeln überfallen wurde, hauchte er ganz, ganz leise zu dem wie in Totenstarre liegenden Alten: »Schläfst du?«

Und langsam mit sanftem Schmelz kam die Antwort:

»Ich – schlafe – nie –.«

Jutt schrak auf. Was war denn das? Hier lag er neben einem Manne, der überhaupt keinen Schlummer fand, wo er selbst schon an dieser einen schlaflosen Nacht im Verstand verwirrt wurde!

»Aber man muß doch – jeder Mensch muß doch schlafen,« sagte Jutt.

»Es gibt Menschen,« sprach der Innige, »die schlafen immer. Und das tun fast alle Menschen auf dieser Erde: Sie schlafen auch dann, wenn sie mit offenen Augen durch den Tag laufen, ihren verzweifelten Geschäften nachgehen, essen und trinken oder fahren. Und auch bei ihren Vergnügungen schlafen sie sogar – bei Musik, bei Tanz, bei Becherklang – und bei dem anderen allen. Es ist erschütternd diese schlafenden Menschen handeln, lachen, tanzen, essen zu sehen . . . Aber es gibt auch einzelne Menschen, die niemals schlafen, die immer wach sind, und 133 die auch dann noch wach sind, wenn sich ihr Körper in Schlummer zu befinden scheint. Man kann dies jedoch nicht Schlaf und nicht Schlummer nennen, denn sie sind im Gegenteil von besonders geschärfter Wachsamkeit. Auf daß sie den Stricken und Angeln des Fürsten dieser Welt nicht zur Beute fallen und durch ihr Wachsein auch schwache Seelen vor der Verstrickung schützen können.«

»Dann störe ich dich, wenn ich rede,« fragte Jutt besorgt.

»O nein . . . Ich vermag hier zu leben und zu reden und anderwärts zu handeln und Bewegung zu machen,« war die schlichte Antwort. »Niemand vermag mich zu stören. Und ich habe immer Zeit.«

Und nach einer Weile tiefster Überlegung wagte Jutt die Frage: »Muß denn ein Mensch in Ehe treten?«

»Ja – jeder Mensch auf dieser Erde muß in die Ehe gehen. Das ist oberstes Gesetz für die Menschheit. Ein Mensch, der ehelos gestorben ist, hat seinen Zweck in diesem Leben nicht erfüllt. Er muß es bitter büßen.«

»Die Krüppel aber – und die Menschen mit zerrissenen Organen –«

»Auch diese sollen in die Ehe treten. Und gerade sie vermögen es am frühesten die wahre Ehe aufzurichten – – denn ihre Lust hört früher auf zu stöhnen . . .«

»Doch der Weise,« beharrte Jutt, »der Christus, er hatte keine Ehe, wie geschrieben ist . . .«

134 »Ich weiß es nicht. Doch gehen alte Sagen, daß Maria seine Frau gewesen sei. Und wo gute Menschen auf der Erde sind, lebt die Kraft seines großen Samens in den Nachkommen wieder auf.«

»Eine schöne Legende . . .« Jutt schwieg. Er dachte nach, ob er den Innigen wohl fragen dürfe, wie er es selbst im Leben mit der Ehe gehalten habe. Aber er beschloß zu schweigen und es einem späteren Zufall zu überlassen die Wahrheit zu erfahren.

»Ja – auch ich, auch ich hatte eine Ehe,« begann der Alte leise zum glücklichen Erstaunen Jutts. »Das ist zwanzig Jahre her,« fuhr er fort, »und sie war sehr kurz – meine Ehe.«

Und als er wieder eine Spanne geschwiegen hatte, hub er an leise und langsam zu erzählen. Jetzt fiel ein Mondstrahl durch eine kleine blasse Raute und beleuchtete die Gestalt, die ausgestreckt auf dem Rücken dalag, wie eine Bildnerei auf einem Sarkophag. Das ebenmäßige Gesicht war weiß wie Marmor – und der weiche Bart lag kurz auf der Brust.

»Einen Augenblick in meinem Leben,« begann der Alte mit langsamer, leiser Stimme, »hatte mich die Welle des Ruhmes erfaßt und hoch auf ihren Rücken genommen. Ich war von Kindheit an ein Geigenspieler. Und in den Jahren meines gefährlichen Wanderns hat sie mich schlecht und recht ernährt. Ich machte Musik wo 135 es gerade nötig und nicht nötig war. Und für den Fiedelreißer fällt schließlich immer wo was ab. Aber neben dieser Musik, die keine Musik war – wer wird denn das große Wort so in den Kot drücken – machte ich doch auch richtige Musik, so ganz für mich allein, wenn ich weit von den Menschenwohnungen war. Ich hatte im Sack ein paar Noten. Etwas Bach, etwas Mozart, etwas Beethoven. Und dann noch so verschiedene kleine harmlose, aber sehr innige Sachen. Die spielte ich alle für mich ganz allein. Und da ich das jahrelang tat – und mit Fleiß tat – und nicht abließ immer reineren Ton in die Melodien zu bringen, muß das wohl auch in mein banaleres Spiel eingedrungen sein. Doch die Kneipen, wo ich musizieren sollte, waren mir zuwider. Ich hielt mich an die Hochzeitsbauern und kleinen Leute, denen ich gern zum Tanz aufspielte und deren Groschen mir lieber waren als die Goldstücke der ungesunden Lusthäusler . . .

Eines Tages war ich wieder einmal am Ende meines Lebens. Schuh und Strümpfe waren zerrissen und durch die Hosen pfiff der Wind. Der Winter wartete im lastenden blauen Gewölk. Die Straßen, Wege, Felder, Wälder waren durch die wochenlangen Herbstregen aufgeweicht. Meine Geige sang nicht mehr so recht. Denn im Herbst bekam sie auf der Landstraße die Feuchte. An jenem Tag setzte ich mich auf einen Hügel, von dem aus man die große Provinzstadt übersehen konnte, vor der ich 136 nun stand und nicht wußte, ob dort eine Tür sich meinem zerbrochenen Blick öffnen würde. Ich glaubte es nicht. Und in dem Schmerz meiner Verlassenheit, im Bewußtsein ausgestoßen zu sein, griff ich noch einmal zu meiner Violine und ließ in den Musikstücken, die ich liebte, meinen ganzen Kummer und Lebensschmerz aus. Wie lange ich gespielt, wußte ich nicht. Aber es begann zu regnen, als ich aufhören mußte. Da legte mir jemand die Hand auf die Schulter. Ich erschrak. Ein riesiger Mensch stand vor mir, sehr gut aber flüchtig gekleidet. Er starrte mich eine Weile an. Dann schüttelte er den Kopf und sprach: ›Und sowas läuft hier einfach in der Landschaft herum. Kommen Sie mit. Wir gehören ja zusammen.‹

Seinen Namen nannte er mir. Er war der größte Meister des Klavierspiels seiner Zeit. Ich erschrak. Und ich gedachte doch irgendwo an einer Straßenecke auszurücken. Aber er brachte mich in ein Hotel und schloß mich ein. Nach einiger Zeit kam er mit einigen Schneidermenschen wieder, die sich um mich bemühten. Es kamen Schuhe, Strümpfe. Kurz – es kam alles, alles, was ich noch nie besessen hatte. Ich aß und trank. Und dann fuhren wir in einen gewaltigen Saal. Dort gab er mir ein Geige. Die war so zart wie eine Jungfrau. Und auf dem Notenpult vor mir standen die nagelneuen Noten der Sachen, die ich draußen vor der Stadt gespielt.

137 Der berühmte Geiger, das erfuhr ich erst am Abend nach dem Konzert, war plötzlich erkrankt. Der Klaviermeister, der auch ein großer Rechner war, wollte unter allen Umständen spielen. So bekannte er sich rasch zu meinem Programm und belegte mich mit einem fremdländischen Namen. Der Erfolg war ungeheuer. Ich bekam eine schöne Brieftasche mit lächerlich vielem Gelde. Und so begann ein Zigeunerleben durch Europa, ein Taumel von Saal zu Saal, ein richtiger Taumel, der kein Erwachen kannte. Nur manchmal des Nachts riß es mich hoch aus traumgepeitschtem Schlaf. Dann fiel eine namenlose Unruhe über mich, eine unerklärliche Angst, daß mir irgend etwas fehle, daß ich irgend etwas versäumt. Qualvoll blickte ich in die Finsternis. Das Herz drängte mit dumpfen Schlägen ganz hoch nach dem Hals. Damals, in einer solchen furchtsamen Nacht, zwang sich mir ein Gedicht auf, das ich niederschrieb. Doch ich weiß nicht, ob ich sein Verfasser bin, oder ob ein fremder reiner Geist mir es zuraunte. Denn ich bin kein Dichter.

In der müden Nacht
hör ich wohl ein Hexlein rufen.
Bin erwacht.
Mondlicht zittert Silberstufen.

Singsang schwillt.
Aber niemand tanzt im Zimmer.
Nur ein Bild
quält mich nimmer. 138

Träne tropft.
Warme Wehmut an den Wänden
klopft
bittend an mit fernen Händen.

Seit dieser Nacht hatte ich keinen anderen Wunsch mehr, als mich von meinem Taumeldasein zu wachem Leben zu erretten. Denn es war ein Pseudodasein, ein krankes, afteriges Blühen unter einem Pseudonamen. Aber wo ich auch hinsah – einen Ausweg vermochte ich nirgend zu erkennen.

Da wurden wir einst aufgefordert in der Familie eines Mannes zu spielen, der uralt adligen Geblüts war. Er hatte nur ein Kind, eine Tochter, die, tief religiös veranlagt, den eingehämmerten Willen hatte in ein Kloster zu gehen, um durch solche Abgeschiedenheit auch nach außenhin den innerlich längst vollzogenen Abbruch aller noch vorhandenen schwankenden Brückchen, die nur noch schmale Brettchen nach dem Diesseits waren, vorzunehmen.

Untröstlich waren die hohen Eltern und versuchten das Erdenklichste, um den Sinn der Jungfrau auf überkommene Bahnen zu lenken. Und da unser Spiel und unser Name, derjenige des Klaviermeisters und mein falscher Name, im Zenit des Ruhmes standen und man unserer Kunst nachsagte, sie sei der Quell einer neuen Lebensbejahung, so war es natürlich, daß der unglückliche Vater 139 nach diesem letzten Anker griff. Und falsch gegriffen hatte er sicher nicht. Er hatte irgendwie zu gut gegriffen.

Mein Lebenlang werde ich so das blasse schöne Fräulein eintreten sehen in den wundervollen Saal. Fast hätte ich das kostbare Instrument zu Boden fallen lassen. Zum Erstaunen der wenigen Anwesenden kam die schlanke Schöne mit großen, runden, erschreckten Augen ganz langsam auf mich zu. Ich konnte den Blick nicht wenden. Und als sie ganz nahe war und sich nach einem Sitz umsah, den sie nicht fand, räusperte sich ihre Mutter und sprach mit einem kalten Klang in der Stimme: »Da hörst du ja nichts! Hier – hier ist ein Sessel für dich.«

Und die Jungfrau ging zurück, zog den Sessel ganz zur Seite und ließ sich zögernd nieder, so daß sie eine Lehne in der Hand behielt, um womöglich gleich aufspringen zu können.

Ich aber spürte, daß ich langsam erwachte. Schicht für Schicht fiel etwas von meinem Herzen ab. Und was dahinsank, waren Schemen, steife Formen, kalte Hölzer und Metalle, die mich seit vielen Jahren umstellt gehabt hatten. Etwas nie Empfundenes brach meine Brust auf. Und ich spielte, spielte wie noch nie. Dem Klaviermeister schwoll die Halsader. Ich sah ganz kalt, wie die Wut in dieser Ader pochte. Denn seine große Technik brach vor dem, was ich gab, mit ganzer Seele geben konnte, zusammen. Ich fühlte nur zu deutlich, daß 140 sich unsere Wege bei der allernächsten Straßenkreuzung trennen würden. Oh – und er war doch der Festere im irdischen, materiellem Sattel. Es konnte ihm vielleicht gelingen, mich jetzt noch zu zertrümmern.

Als er am Schluß des Konzerts aufstand und mir die Noten hinwarf, damit ich sie zusammennähme, durfte ich den ersten Grad seiner Verachtung spüren. Der Gastgeber drückte ihm warm die Hand und bedankte sich bei mir mit einer kühlen Verbeugung, indem er mir ein Kuvert reichte, das ich nicht weniger vornehm auf den nächsten Stuhl warf, um mich nicht mehr darum zu kümmern.

Ein Abendessen sollte sich anschließen. Ich aber nahm meine Geige, verabschiedete mich sehr kurz und verließ rasch zur sichtbaren Erleichterung der Gesellschaft das Schloß. Am Gartenportal blieb ich stehen. Da hörte ich schnelle Schritte hinter mir. Ein zarter Arm legte sich auf meine Schulter.

›Wohin gehen Sie jetzt, Kaserrie?‹ fragte mich die sanfte Stimme der Jungfrau.

›Ich heiße nicht Kaserrie,‹ antwortete ich schroff.

›Der Trommler sagte es schon unseren Herrschaften,‹ redete sie bitter.

›Nun gut, dann gehe ich jetzt irgendwo in die Nacht hinein! Es bleibt sich gleich!‹

›So gut spielten Sie nie?‹ fragte sie wieder sanft.

›Vielleicht . . . Früher, früher . . .‹ Ich sprach es mit 141 gebrochener, tränenerstickter Stimme, hinter der ich eine große Freude aufstehen fühlte.

›Gelt,‹ rief die Jungfrau, denn sie war eine Süddeutsche, ›so werden Sie jetzt immer spielen, immer, immer . . .‹

›Wenn – wenn Sie dabei sind – – –?‹

Aber diese Frage meinerseits quoll nicht aus dem ganzen Herzen. Es war streng verhüllte Bitterkeit darin, unheimlicher Zorn, der sich schadenfroh versteckte.

›Noch einmal, Kaserrie, wohin gehen Sie jetzt?‹ Kam abermals die erste Frage, sehr genau, eigentümlich genau. Sie kam aus einem verzweifelt entschlossenen Munde.

›Ins Gasthaus,‹ sagte ich. Vielleicht sagte ich es nicht. Ein anderer sprach für mich, denn ich fühlte, daß ich willenlos war. ›Eine Rechnung bezahlen. Und dann gehe ich hinaus in die Nacht. Immer weiter hinein in das Dunkel, wo es ja schließlich doch einmal helle werden muß auf dieser schlimmen Erde. Und ich komme niemals zurück zu den Menschen.‹

›In einer Stunde erwarten Sie mich hier!‹ rief mich die seltsame Jungfrau streng an. Und sie lief. Ich war allein . . .

In dieser Stunde trank ich eine Flasche Burgunder. Das war nicht gut. Obwohl ich sie in meinem Leben nicht missen möchte – diese Flasche Burgunder! Sie machte mich keineswegs betrunken, sondern sie regte mich sehr an. 142 Und wenn ich in dieser Stunde ganz nüchtern gewesen wäre – – ich glaube, daß ich mich starrsinnig an ein dumpfem Geschick verloren hätte . . . Seit jener Zeit mag ich die Superklugen nicht, die jeden Genuß ausschlagen, weil sie dadurch selig zu werden vermeinen; denn eine aufmerksame Stimme ist in allen Menschen, die ein unweigerliches Halt gebietet. Mögen sie alle lernen an dieser Warnungstafel in sich zu gehen oder an ihr schmerz- und schicksalbewußt vorüberzuschweifen . . . An dieser allgemeinen, sehr spezifizierten Warnungstafel ist genau die Sendung jedes einzelnen Menschen abzulesen: er zählt entweder zu den Kalten, oder er zählt zu den Warmen – – oder gar er zählt zu den Lauen, die auf der Zunge scheußlich schmecken . . .«

»Aber die da warm sind werden heiß!« schrie Jutt jetzt auf und erhob sich drohend mit emporgereckten Armen von seinem Lager. »Und die Hitze versengt sie, daß sie des Satans werden!!«

»Die da aus der Wärme sich zur Hitze steigern,« kam sanft und fern die Antwort her, »werden wieder kalt vor Sehnsucht nach der Kühle. Wenn sie in der Kälte sind, werden sie wieder nach der Wärme streben. Und dann werden sie in der Wärme bleiben, da sie in Eis und Hitze endlich nicht zu dauern vermögen. Denn sie wollen das Fruchtbare, das weder kalt, noch heiß, noch lau ist . . . Denn das Fruchtbare ist das milde weiße Feuer . . .«

143 Und nachdem eine große Weile Schweigen geherrscht hatte im milchig erhellten Raum, begann der Innige wieder seine langsamen Sätze zu sagen.

»Als ich mich zur angeregten Zeit dem Schlosse näherte, trat die Schöne plötzlich aus einer Mauernische vor, griff meine Hand und sagte: ›Kommen Sie.‹

Wir gingen rasch die Parkmauer entlang, bis wir an eine kleine Tür kamen, die in der Dunkelheit gar nicht zu sehen war. Die Rätselhafte schloß mit einem kleinen Schlüssel, den sie bei sich trug, auf, aber nur um Pelz und Mütze dahinter hervorzuholen, die sie hier verwahrt hatte.

Meine Freude war sehr grimmig. Denn ich freute mich, daß ich dem hohen Herrn die Tochter wegnahm. Wenn er jetzt noch die Wahl hätte zwischen der Kirche und mir, so würde er sich gern für die Kirche entschließen. Aber ich freute mich auch, daß ich diesen netten Fang der Kirche ausspannte. Ich freute mich über alles mögliche, nur über diese seltsame Frau freute ich mich nicht. Mein Bewußtsein hatte sich ein wenig verlagert. Denn der Augenblick, in dem sie im Musiksaal mir entgegengekommen war, begann mir unklar zu werden. Ich versuchte ihn als eine irre Seite dieser Dame auszulegen. Daß er Anstoß und Ereignis himmlischer Gewalten war, wurde mir erst viel später offenbar – als das nichts mehr nützte.

Wir gingen sehr rasch kleine und schmale Gassen 144 entlang. Es mußte uns wohl anzusehen gewesen sein, daß wir uns auf einer Flucht befanden. Ich hatte nur meine Geige. An das andere dachte ich nicht.

›Wo kommen wir da hin?‹ fragte ich einmal. ›Ich kenne die Stadt nicht.‹

›Das ist doch alles gleichgültig,‹ bekam ich zur Antwort.

Gewiß war das gleichgültig. Dann blieb sie stehen und sah mir im Schimmer einer Lampe ins Gesicht.

›Vielleicht wollen Sie doch noch zurück?‹ fragte sie mich.

Die Schönheit und Reinheit ihrer Züge regten mich auf.

›Nicht zurück!‹ rief ich aus. – – ›Aber wohin?‹

›Immer weiter hinein in das Dunkel, wo es ja schließlich doch einmal irgendwo anfangen muß helle zu werden auf der schlimmen Erde‹ – sagte sie. Und ich erinnerte mich betroffen meiner vorherigen Worte.

Auf einem öden Platz stand eine Droschke mit einem Pferde bespannt. Meine Führerin sagte: ›Befehlen Sie dem Manne uns nach Neuburg zu fahren.‹

Und wir fuhren. Es war ein alter Kutschwagen, fast ganz zu schließen und mit einer riesigen Pelzdecke. Wir kuschelten uns ein, schmiegten uns aneinander und hielten uns bei den Händen. So kamen wir in die große Nacht hinaus. Wolken segelten unterm Monde, schwere dunkle Wolken, und machten die Landschaft in schneller Abwechslung hell und dunkel.

145 Der Fuhrmann konnte uns nicht sehen. Und da haben wir uns sehr geküßt. Dieses Küssen war viel schöner, als es mir früher anderwärts in Erinnerung lag. Ich nahm an, daß es die Herkunft der Geliebten war, oder das Gefühl einen tollen Streich zu begehen, oder weil man so in einem Wagen schaukelte und gerade der erste Schnee des Winters in großen Flocken zu fallen begann. Es war wirklich schön. Vielleicht war das die schönste Stunde meines Lebens. Auch der Schneeflocken wegen. Ich habe eine merkwürdige Liebe für die ersten Schneetage des Winters. Und dann küßte dieser Frauenmund auch so seltsam warm. Er küßte zum ersten Male. Und ich glaube auch seit jener Stunde, daß uns Menschen diese Technik eingeboren ist . . .

Neuburg war der Kreuzpunkt vieler Eisenbahnen. Der Zug, mit dem wir fahren wollten, ging erst in zwei Stunden. Und da wir glücklich waren, gingen wir in ein Kaffeehaus, daraus Musik erklang. Es war gerade der Weinabend, den sich die Spitzen des Städtchens jeden Monat leisteten. Die jungen Damen tanzten mit eben solchen jungen Männern. Es sah klein aber nett aus. Und man verwehrte uns nicht den Zutritt; man ließ sich kaum besonders stören.

Wir saßen und sahen dem Tanz zu. Und nun hatte ich zum ersten Male Gelegenheit, das Gesicht meiner Schönen zu betrachten. Es war von der Blässe des 146 Marmors. Zwischen den dunklen großen Augen, in denen ein zehrendes Feuer glomm, begann die betörend zarte Wurzel einer edlen Nase. Über dem Munde lag jene Vorsicht des Lächelns, die scharfsinnigen Frauen zu eigen ist. Ihr Körper war schlank, aber von gewaltiger Linie. Und dieses große Menschenleben hatte sich in meine Hände gelegt. Ich war erschüttert und drohte verlegen zu werden. Da fragte ich sie, ob sie auch tanzen könne. Sie konnte es. Aber ich hatte nie Gelegenheit gehabt mich mit dieser Kunst oder Kunde zu befassen. Sie bedauerte das, denn sie hätte gerade jetzt so sehr gern getanzt, nachdem sie es seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Ich regte sie an, einem der jungen Leute, die sehr vornehm und zurückhaltend waren, einen kleinen Blick zu schenken. Ich würde hingehen und für sie einen Walzer spielen.

Es geschah. Die Kapelle machte keine Schwierigkeiten. Ich behielt nur den Klavierspieler. Und dann begann ich diesen kleinen, schönen, oberflächlichen Walzer zu spielen, der ›Loin du bal‹ heißt und für den ich seit meinen jungen Jahren eine Schwäche habe. Ich spielte ihn stets in der Dämmerung, wenn der erste Schnee fiel und auf den Straßen die Stiefel und Pferdehufe nicht mehr klapperten. Mir war dann immer so weich und lieblich und lockend zumute. Und gerade das schien mir das einfältige Stückchen zum Ausdruck zu bringen.

Ich spielte. Und es war für mich sehr schön, was ich 147 da spielte. Und auch für die Menschen war das schön. Sie hörten zunächst nur zu und machten freudige und erstaunte Gesichter. Aber dann hatte meine Holde sich einen Prachtkerl geholt. Und das Paar begann zu tanzen. Andere folgten. Noch nie hatte ich so schönem Tanz zugesehen – – –

Es war übrigens das letztemal, daß ich tanzen sah . . .

Dann gingen wir durch den weichen Schnee nach dem Bahnhof und fuhren nach einer fremden Stadt, wo wir uns aufhalten wollten. Praktische Gedanken hatten wir nicht. Es war, als hätten wir uns dem Schicksal in die Hand gegeben. Und ich spürte es in späteren Jahren deutlich, daß wir nur getrieben waren von dem Wunsch, dasjenige, was für dieses unser Erdenleben unentrinnbar war, so rasch wie möglich hinter uns zu haben, um das dumpfe Müssen von der Brust abstoßen zu können und den ferneren Lebensweg endlich vor dem ungehemmten Schritt zu sehen.

Und so kam ein namenloses Glück über uns, das viele Wochen währte. Aber dieses Glück war ein getauschtes Glück. Denn sie, meine Holde, liebte mich und gab mir und beglückte mich. Ich aber liebte nicht, sondern sah nur den schönen Leib und nahm ihn, nahm ihn immerzu, und ich gab nichts zurück. Ich wollte Freude haben, unbändige Freude; aber ich dachte auch nicht einmal daran der Schönen Freude wiederzugeben. Wohl merkte ich, daß sie 148 langsam trauriger wurde. Und als sie mich einmal fragte, warum ich denn mich nie ihr schenke, begriff ich sie gar nicht. Ich begriff es einfach nicht – und wer von allen Ehemännern dieser Erde begreift es überhaupt – daß der Mann nicht nur Nehmer sein darf, sondern genau so Schenker sein muß, wie die Frau Schenkende ist . . . So aber war ich einseitig Nehmer – und also ein Großexemplar abgefeimter Selbstsucht.

So kam es, wie es kommen mußte und wie das unglückliche Weib es vorausgesehen. Als meine Selbstsucht aus der Süßen ausgesogen hatte, was zu saugen war, wollte ich sie selbstverständlich fortwerfen. Und als sie diesen Zeitpunkt erspürte, geschah das Ungeheuerliche.

Sie trat nahe an mich heran. Und ich sah zum ersten Male wirklich in ihren tiefen, unendlich tiefen Blick. Und da erschauerte etwas in mir, das mich auf meinem Stuhl zusammensinken ließ. Ich hatte ›Leben‹ gesehen, ›Leben an sich‹ hatte ich gesehen! Ganz lebendiges Leben!! Und alles, was ich bisher gesehen hatte, war gar nicht Leben gewesen, sondern Schlaf, Taumel hirnlose Bewegung, Rennen und Schreien, aber nicht Leben, Leben an sich war das alles gewesen!

Nun war doch alles gut geworden! Vor dieser hohen Frau konnte ich fürder nur in Demut verharren!

Aber da sprach sie leise und bestimmt: ›Du bist nicht adlig! Du bist vom Pöbel!‹ –

149 Und als ich aufspringen wollte, zwang sie mich mit einer Handbewegung auf den Sitz zurück. Denn diese Handbewegung drückte so ohne alle Einschränkung ihr ganzes Frauenempfinden aus, daß ich hoffnungslos davor zusammenbrach.

Und sie verließ mich mit einer Hoheit, der ich nichts auf Erden zur Seite zu stellen habe.

Das war das Ende.

An jenem Abend in Neuburg hatte ich das letztemal gespielt. Mit meinem Gelde gründete ich auf den großen Mooren einer fremden Provinz Siedlungen. Dort lernte ich auf einer anderen Saite zu spielen. Ich bin kein schlechter Spieler . . . Und Arbeit ist unheimlich süß – wenn man ihren Sinn begriffen hat . . .«

Jutt weinte schon eine ganze Weile. Jetzt zog er sich rasch die Decke über den Kopf, um sich nicht zu verraten. Und es dauerte lange bis er sich beruhigt hatte.

Und er hielt sie nicht aus, die Ungewißheit. Flüsternd und doch mit dem Beben eines wehen Herzens fragte er: »Und kam sie niemals wieder?«

Und die furchtbare Antwort kam: »Ich habe sie nie mehr gesehen . . .«

Alles stürzte über Jutt zusammen. Zweifel ungekannter Größe schlugen auf ihn ein. Er sprang auf, hüllte sich nur in seine Decke und lief hinaus in die Nacht.

Aber diese Nacht war unwirklich und ließ kein Denken 150 und kein Rechten zu. Alles war plötzlich lebendig geworden im Walde. Es lief und huschte von Baum zu Baum, von Busch zu Busch. Seltsame Stimmen kamen getragen vom Flusse her. Das mochten die klagenden Rufe unerlöster Undinen sein. Und aus dem Hügel hinter den Eichen klang es, als ob mit kleinen Hämmerchen auf feinem Metall emsig gepocht würde.

Und auf einmal sah Jutt vor sich einen Wicht stehen. Der war zwei Schuh hoch und von einem Äußeren, das tatsächlich an die Märchenbücher der Jugend erinnerte. Aber dieser Mann hatte einen traurigen Blick.

»Siehst du mich?« fragte der Wicht.

Jutt verneigte sich tief.

»Das ist so selten geworden,« sagte der kleine Mann. »Tag für Tag und Nacht für Nacht fragt man die Menschenkinder seit Jahrhunderten. Aber niemand antwortet – niemand also hört und sieht uns noch. Es wird jeden Tag schlimmer mit den Menschen.«

»Seit wann denn sehen euch die Menschen nicht mehr?« fragte Jutt vorsichtig.

»Seit es dem schwarzen Fürsten gelang den Menschen das Bierbrauen zu zeigen,« war die Antwort.

»Und nun ist euer Werk klein geworden?«

»Oh,« und die Augen des Wichtes funkelten. »Wir sind die Bringer des Glücks und sind die unerbittlichen Strafer ungetreuer Liebe!! Denn auch wir wollen einmal 151 Menschen werden. Und wir sind es müde seit Jahrtausenden diese heiligen Bäume wachsen zu lassen . . .«

Und das böse Männchen lief hinweg. Aber es lief behutsam und im Zickzack und in langen Bogen, als verfolge es einen vorgezeichneten Weg und als sei rechts und links von diesem unsichtbaren Wege alles undurchdringlich für den kleinen Geist verbaut. 152

 


 << zurück weiter >>