Alfred Brust
Der Lächler von Dunnersholm
Alfred Brust

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Der Präsident.

Er trat ins Freie. Die Gäste im Kurhaus schliefen noch alle. Nur die Scheuerfrauen verrichteten ihr frühes Tagwerk. Der Portier stand unschlüssig in seinem Kabinett und gähnte verstohlen. Der Kaffeekellner, frisch rasiert und gebügelt, faltete Servietten.

Der Präsident schritt durch den Park über Wege, deren blauer Sand von einem Burschen sauber geharkt wurde. Nun drückte der Präsident die ersten störenden Fußtapfen in die einfältigen Muster des jungen Menschen. Am Ende des langen Ganges blieb der Präsident stehen und blickte ein wenig peinlich zurück auf die gerade Schnur seiner einsamen Schritte. Und der Gärtnerbursche stand am anderen Ende des Ganges, besah sich mit schiefem Kopf den Angriff auf sein Morgenwerk, kratzte sich hinter den Ohren und begann dann rückwärtsschreitend seine Harklektion noch einmal.

Der Seestrand lag leer. Denn es war Spätsommer. Und die Menge der umgestürzten 18 Strandkörbe, mit dem Rücken nach oben, sah aus, als ob sie schliefe. Die Sonne hatte den Horizont verlassen. Es war ganz windstill. Die See erglänzte unendlich. Auch nicht der leiseste Hauch rührte ein Wellchen auf. Am Fischerplatz träumten die Boote mit schlaffen Segeln. Im Bad schwamm ein Mensch prüfend die Leinen und Pfähle ab. Es war der Bademeister.

Der Präsident war sich nicht unschlüssig darüber, wohin er zu gehen hatte. Ein Präsident ist sich niemals unschlüssig. Und dieser Präsident war es sich ganz besonders nicht. Und das hatte seine Laufbahn gemacht! Und so hatte er in verhältnismäßig jungen Jahren in seinem Beruf das Ziel erreicht. Es war ein eigenartiger Schreck gewesen, als er eines Tages in seinem Arbeitsraum mit neuem Streben ans Werk gehen wollte und plötzlich fühlte: das Ziel ist erreicht; höher geht's nimmer. Es war kein Platz mehr da, der ihm vorstand. Sein bester Ansporn, der Ehrgeiz, war überflüssig geworden; politische Ambitionen waren ihm fremd und verhaßt. Es schwebte ihm dunkel vor, daß er zum Wohl der Menschheit zu arbeiten hatte. Er griff die Formel auf und füllte sie mit schematischem Tun. Aber sein Name wurde überall mit Ehrfurcht genannt, als eine der gewissenhaftesten Stützen der Nation. Das Gefühl einer inneren Leere jedoch, das er ständig mit sich 19 herumtrug, konnte er nicht ausfüllen. Er begann zum erstenmal im Leben sich umzusehen. Er beschloß, eine Familie zu gründen und heiratete eine unerhörte Schönheit. Jetzt war er sehr glücklich, was auch dadurch zum Ausdruck kam, daß er die Formel »zum Wohl der Menschheit arbeiten« mit einem Einschlag von Freude, Milde und Segensgüte ausführte. Er empfand darob ein Vollerwerden seiner Persönlichkeit, und seinen Handlungen eignete bald das Merkmal gelassener Ruhe.

Und doch geschah es in dieser kleinen Seestadt, die zugleich ein anspruchsvoller Badeort war, daß diese persönliche Ruhe auf das entscheidendste gestört wurde.

Schon bei seiner Ankunft mußte er eine unbegründete, unerklärliche Unruhe in seinem Wesen wahrnehmen, die ihn mit einem Male ergriff, und der eine leise aber deutliche Steigerung eignete. Das seltsame Gefühl kam unbestimmbar aus der Brust, doch es war ihm unmöglich, festzustellen, wie sich solch eine Stimmung aus diesem reinen Körperteil ringen konnte. Es verwunderte ihn nur, daß ihm dieses spannende Gefühl durchaus nicht unbekannt war. Und als er auf einem einsamen Wege ganz tief und scharf in sich blickte, gewahrte er mit Staunen, daß diese klopfende Unrast seit je in seiner Brust gewesen war, aber nur als sanftes Zittern, das sehr selten zu einer 20 schwachen mahnenden Stimme wurde, die sich durch eine Handbewegung oder durch ein Glas Wein verscheuchen ließ. Jetzt aber war es aufgestanden in ihm und drückte ihn stickend an der Kehle. Und so sehr er auch sann und grübelte: die Ursache dieser Unruhe, die er als Lebensbegleiter feststellen mußte, konnte er nicht finden. Es war ihm nicht möglich, bis auf den Anfang jenes Zitterns zurückzudenken. Er konnte nicht ergründen, zu welcher Zeit sich sein Lebensbegleiter ihm beigesellt hatte. Es mußte dies wohl unsagbar heimlich geschehen sein.

Sein Aufenthalt in dieser Seestadt war nur auf einen Tag berechnet gewesen, weil er in beruflicher Eigenschaft den Hafen und seine Möglichkeiten sowie das Eisenbahngelände zu besichtigen hatte. Aber er fühlte gegen Abend eine Schwäche in sich, die ihm geraten erscheinen ließ, die Rückreise auf den nächsten Tag zu verschieben. Er bestellte sich ein Zimmer im Kurhaus und suchte es frühzeitig auf. Und als er den kleinen üppigen Luxusraum betrat, öffnete sich der Vorhang zu der Verborgenheit seines Daseins und ließ ihn die Blendung eines vergessenen Augenblicks ins Hirn gleißen.

An der Wand über seinem Bett, in dem er heute nacht schlafen sollte, hing unter Glas und in dünnem anspruchslosem Rahmen eine 21 Photographie größeren Formats und stellte eine Dame dar, die etwa fünfundzwanzig Jahre zählen mochte und sehr geschmackvoll gekleidet war. Zunächst glaubte er von einer Sinnestäuschung befallen zu sein, mußte jedoch sogleich die Tatsache anerkennen, als ihm offenbar wurde, daß seine Begegnung mit diesem Weibwesen, die nur ein paar Minuten gedauert hatte, die Ursache seiner Unruhe gewesen war, die er zeitlebens unbewußt mit sich herumgetragen hatte und heute morgen so willkürlich und heftig aus ihm herausgestürzt war. Vollkommen fassungslos aber gebärdete er sich, als er das Bild vorsichtig vom Haken hob, um es genauer zu betrachten und dabei auf der Rückseite eine handschriftliche Widmung fand: »Meiner einzigen Freundin Linden von ihrer dankbaren Ella Riemon (Elise Ley).«

Der Präsident ließ sich in einen Sessel sinken und legte das Bild aus seinen bebenden Händen vor sich auf den Tisch. Sein Blick gähnte ins Leere, denn mit den Augen der Seele sah er weit zurück in seine jungen Jahre und hielt das kleine Erlebnis umfangen, das er völlig vergessen hatte, und das doch irgendwie ganz wesenhaft in jedem Augenblick seines Lebens in ihm verborgen gestanden war.

Er hatte die Schule mit dem Reifezeugnis verlassen und befand sich zur Erholung bei 22 Verwandten auf dem Lande. In dieser Ortschaft gab es einen schweren Trinker namens Riemon, der schon infolge Schlägereien und Randalierungen mehr als fünfzigmal im Gefängnis gesessen hatte. Er war ein tüchtiger, gewissenhafter Arbeiter. Aber sobald der Dämon über ihn kam, war er verloren. – Eines Tages ging der junge Student durch den Wald und hörte abseits des Weges ein banges Schluchzen. Er brach durch die Büsche und fand ein Mädchen sitzen, das die Tochter Ella des erwähnten Riemon war. Ein paar Schritte weiter lag ihr Vater in besinnungslosem Zustande. Der junge Mann wurde sogleich von Mitleid geschüttelt, setzte sich zu dem Mädchen und begann errötend Trostworte zu stammeln. Er sprach sehr viel und redete innig auf die Weinende ein. Es waren sicher schöne Worte gewesen, denen er mit einem leidenschaftlichen Versprechen die Krone aufsetzte.

»Und wenn ich studiert habe, dann komme ich Sie holen. Und dann werden Sie eine große Dame werden!«

Da hatte ihm das Mädchen voll ins Gesicht gesehen. Und der Jüngling hatte wahrnehmen gemußt, daß in diesen tiefen Augen etwas ihm so unerhört Nahes und Bekanntes lebte. Und dieses Nahe und Bekannte hatte die beiden jungen Leute zu einem erstaunten, zitternden Kuß gezwungen. 23 Dann war der Wagen gekommen, der den Betrunkenen ins Gefängnis bringen sollte, worin er kurz darauf verstorben ist.

Der Präsident sprang auf und ging mehrmals im Zimmer auf und ab. Er schellte nach der Bedienung und ließ sich eine Flasche Wein bringen. Er würgte zwei Glas davon hinunter, setzte sich und nahm wieder das Bild zur Hand.

Er hatte die Episode vergessen gehabt; wenn auch nicht ganz vergessen, so hatte er sich doch ihrer nicht erinnern können. Oder er hatte sich im Anfang ihrer nicht erinnern wollen – solange bis der Pfad verschüttet war. Jetzt fand er ihr Bild, und es war mit »Elise Ley« unterzeichnet. Und Elise Ley war die größte Tragödin des Vaterlandes. Wie war das möglich gewesen, daß er nie erfahren hatte, wer sich hinter diesem allbekannten Namen verbarg? Mit dem Theater hatte er sich erst beschäftigt, als er verheiratet war. Vordem hatte er nichts dafür übrig gehabt. Wohl hatte er Bilder der großen Tragödin gesehen, aber es waren nur Masken gewesen, hinter die zu dringen ihm kein Genuß war. Solch ein persönliches Bild wie dieses, das dazu aus den jungen Jahren der Berühmten stammte, war ihm nie zu Gesicht gekommen. Und gerade an diesem Abend spielte sie in der Stadt seiner Präsidenz. Es sollte ihr letztes Auftreten sein, wie die Blätter gemeldet 24 hatten. Sie würde sich jetzt auf ein einsames Landhaus zurückziehen!

Und er war nicht im Theater! Sie spielte vielleicht für ihn! Sie wartete gewiß noch immer, daß er sie holen käme!! Oh – schnell dahin! Schnell dahin!!!

Es schrie etwas in ihm auf, etwas zeitlebens Gepeinigtes, Gefoltertes. Es wollte etwas in ihm freiwerden, etwas Grenzenloses, vor dem er sich fürchtete!

Aber er legte sich zu Bett, nachdem er allen Wein getrunken, und schlief mit schweren Träumen bis zum Morgen . . .

Jetzt ging er die Strandstraße entlang. Auch für Ella Riemon oder Elise Ley mochte die Nacht vorüber sein. Sie würde im »Reichsadler« übernachtet haben und vielleicht hinausblicken auf den Platz am Dom. Er aber ging jetzt in ein Haus am Strande. Es war der Lesesaal. Er wußte genau, welche Zeitschrift er zu greifen hatte, und setzte sich ans Fenster. Da war seine unbewußte Geliebte abgebildet in einer Reihe von Rollen, die sie diesseits und jenseits des Ozeans verkörpert hatte. Und es waren alles große, schöne, starke Frauenwesen, die sie darstellte.

Der Präsident sah hinaus auf das Meer. Und er sah wieder ins Heft hinein, in die Augen, die ihn kannten und die seine ganze Persönlichkeit 25 hochhoben, daß ihn schwindelte und er sich am Stuhlsitz festhielt, um nicht abzustürzen! Dann erhob er sich und ging ins Freie, stieg hinab an den Strand, sah auf die Möwen, auf die Fischer und ihre Segelboote, trat fest und sicher auf, denn der Sand war feucht. Er dachte an seine schöne Frau und an seine blühenden Kinder. Er erinnerte sich einmal gelesen zu haben, daß die höchste aller Tugenden die Pflicht sei. Wen es braucht, den läßt das Leben nicht umkommen. Auch wenn sie wollen – die menschlichen Arme sind schwach. Aber die Pflicht des Mannes gehört der Familie, die er gegründet! Seine Gefühle haben zu schweigen! Denn sie sind hinderlich und nichts nütze!

Und er rückte sich das Einglas vors Auge und empfand sogleich, wie er seine Persönlichkeit außerhalb der ihn umgebenden Dinge und Menschen stellte. Er fühlte, daß der gestrige Tag eine notwendige Klärung in sein Dasein gebracht hatte. Jetzt aber war das alles beziehungslos, war vorbei . . .

Er schritt zurück. Er stieg in den Zug. Er kam heim in seine Stadt: durchaus ein Präsident! Und niemand sah ihm an, niemand erkannte, daß der Liebe reißender Strudel über ihn hingebraust war. 26

 


 


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