Alfred Brust
Der Lächler von Dunnersholm
Alfred Brust

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Der Lächler von Dunnersholm

In Dunnersholm, dem malerischen Fischerdorf, lieblich gelegen zwischen saftigen Wäldern, die ihrerseits von ragenden Dünen gerahmt sind, von deren Hängen man hinausblickt auf das baltische Meer oder auch landwärts auf den belebten Schwanensee von Dunnersholm (eine deutsche Meile im Geviert) – in Dunnersholm lebte ein einsiedelnder Greis, den man nur den Lächler von Dunnersholm nannte. Dieses Lächlers Häuschen stand abseits vom Ort, hinter all den Feldern und Wiesen, auf denen die Fischer Kraut, Rüben und Kartoffeln pflanzten und das schwarzweiße Dunnersholmer Vieh grasete. Es stand, hellblau gestrichen, dicht vor der dunkelgrünen Wand des schmalen Forststreifens, der hier den freien Blick vom Meer zum Schwanensee hin verhinderte. Der kleine zum Häuschen gehörige Garten wies einiges Buschobst auf und dazwischen mehrere Reihen Beerensträucher. Ein wenig seitlich auf blumigem Rasenstück wuchs eine hohe, schwere Edeltanne, 8 deren Fuß zu dem Umfang ihrer Pyramide in gar keinem Verhältnis stand und die auch von dem leisesten Luftzug ständig sanft gewiegt wurde. Aber blies der Sturm in ihre gestuften Fächer, so legte sie sich fast auf die Erde, um von Atem zu Atem immer wieder emporzuschnellen, während die Stieglitze, die darin wohnten, Mühe hatten, nicht aus ihren Nestchen geworfen zu werden.

Früh am Morgen, wenn die Nebel wogten und der Ruf des Wachtelkönigs hart durch die Landschaft schnitt, wenn die Nachtigallen aus den Zweigen am Ufer der Waldgräben immer heißer hämmerten, wenn die scheuen Rehe auf das offene Feld traten, äugten und tranken und sich wieder lautlos ins Gebüsch drängten, zu solcher Stunde trat vor die Tür seines Hauses der einsame Lächler und harrte, reglos den Blick ostwärts gesandt, daß die Sonne ihren liebsten Gott verriet, wie er's zu nennen pflegte. Damit begannen seine lebendigen Tage, daß er sein trunken Gesicht dem blitzenden Auge der Sonne entgegenhob und den vollen Becher der Kraft dieser stärkenden Stunde in gemessenen Zügen leerte. Dann brach er sein Brot und netzte den Gaumen mit wenig Milch oder Wein. Sein körperlich Tagwerk: drei Stunden Arbeit in Garten und Feld: bis zum Mittag bei Büchern und weißem Papier: ein Quentchen Schlummer: das Mahl, ohne Mühe und wie es fiel! Den 9 Nachmittag füllte beschauliches Denken aus, durch die Pflege seiner wenigen Haustiere zuweilen unterbrochen. Oder es kam Besuch, sehr viel Besuch, von nahen und fernen Menschen: von Neugierde gedrängt, den milden Lächler zu sehen, ihn um Rat zu fragen, seine Hand zu berühren, allein mit den Augen Trost zu erbitten, oder auch, um eine seiner Geschichten zu hören, deren er eine ganze Menge wußte, und die immer neu und anders in ihren Beziehungen zur Mitwelt waren. Auch gröbster Neugierde wehrte er nicht, wenn z. B. Menschen zweifelhafter Geistesverfassung, die in Dunnersholm das Badeleben genossen, eine Stunde oder auch zwei an seinem Fenster standen und seiner Hantierung im Hause zuschauten. Ihn schien das alles keineswegs zu stören, denn er lebte Tag und Nacht wie ein Mensch, der einfach nichts zu verbergen hat. Und manchmal hob er in solchen Gelegenheiten sein von schneeigem Haupt- und Barthaar bekränztes Gesicht und nickte mit tiefem Lächeln den Aufdringlichen zu, die dann meistens vor Erstaunen nicht wußten, was sie beginnen sollten und sich mit eiligen Schritten entfernten.

Trotz dieses offenen Lebens vor aller Menschen Augen umgab den Greis ein undurchdringliches Geheimnis, das nicht zu biegen und nicht zu brechen war. Selbst die Bewohner des Fischerdorfes standen vor einem Rätsel, dessen Reiz allerdings im 10 Laufe von Jahrzehnten vollständig abgenutzt war. Sensationsdurstige Fremde versuchten oftmals gewagteste Geständnisse zu erjagen, aber alles brach an der Tatsache zusammen, daß auch die Fischer keinen Schlüssel zum Geheimnis besaßen; ja – mitunter mußte man sich eingestehen, daß man sich nur selber dieses Rätsel ausgedacht hatte – und daß es vielleicht gar kein solches Rätsel gäbe. Man wußte nur dies: das Häuschen des Lächlers mit dem Stückchen Land herum gehörte nicht zu Dunnersholm, sondern zu den großen Gütern jenseits des Forststreifens, die seit Jahrhunderten im Besitz einer sehr alten Familie dieser Provinz waren. Auch fiel das Haus in jeder amtlichen Beziehung jenem Bezirk zu, so daß es ohne alle Verbindlichkeit zu Dunnersholm blieb. Briefschaften hatte der alte Herr in den Jahren seines hiesigen Lebens nie empfangen, und niemand konnte sich erinnern, jemals eine Zeitung bei ihm gesehen zu haben – kurz: man kannte einfach den Namen dieses einsamen Siedlers nicht, wußte nichts von seiner Vergangenheit und Herkunft und was ihn etwa bewogen haben konnte, ein solch absonderliches Dasein an der Seite von Dunnersholm zu führen. Zwar wußte man, daß in den zuständigen Büchern dort hinter der Forst ein Name, ein einfacher, alltäglicher Vor- und Zuname stand, unter dem etwas ganz Nebensächliches verbucht war, aber dieser Name war so 11 entsetzlich belanglos und stand so sehr wenig in Fühlung zu seinem seltsamen Träger, daß es eine Art Entweihung gewesen wäre – eine Entweihung des eigenen Empfindens für den Greis – wenn man ihn auch nur ausgesprochen hätte. Auch spürte man es recht deutlich, daß Gott und Natur in Benennung von menschlichen Wesen weitschauender handeln, daß dieser Mann jedenfalls niemals für den Namen, den man ihm anmutete, gefühlt oder gewirkt hatte. Die Schloßherrschaft selber zeichnete den Einsamen selten, aber doch! mit ihrem Besuch aus, und dabei mußte die entschiedene Ehrfurcht auffallen, mit der diese Ergebenheit gewohnten Menschen dem Besuchten entgegentraten – eine Ehrfurcht, welche der ewige Lächler in dieser einzigen Ausnahme mit ernstester Gelassenheit hinnahm . . .

Die Seeleute – im allgemeinen wenig zu Neugier aufgelegt – ließen es bei kleinerem Mutmaßen bewenden. Es war vielleicht ein Herr von großem Namen, der durch äußere Konflikte gezwungen gewesen, diese Zuflucht aufzusuchen. Aber die sommerlichen Gäste – insonderheit diejenigen weiblichen Geschlechts – fanden Stoff, sich in abenteuerlichen Vermutungen zu ergehen. War dieser milde Mann der abgekämpfte Mörder einer schönen Frau? War er ein Herzog aus dem Hause Oesterreich? Konnte jedoch solch ein stiller Weiser 12 hoher, höchster, allerhöchster Herkunft sein? Mußte man ihn nicht vielmehr unter den großen Namen des Schrifttums suchen? Doch alle diese unmaßgeblichen Fühler konnten nimmermehr das aufreizende Geheimnis zerbrechen. Es blieb wie und was es war, indes die Jahreszeiten kamen und gingen und die Landschaft emporwuchs und unmerklich anders wurde. Schließlich war es den Bewohnern von Dunnersholm wirklich gleichgültig, wer dieser fremde Mensch sein mochte. Er wußte Gaben zu verteilen. Nie ging ein Armer von seinem Hause anders als mit leuchtendem Gesicht. Er verschenkte die selbstgezogenen Früchte aus Acker und Garten. Und die Jungmütter baten ihn niemals vergeblich um die fette Milch seiner prächtigen Ziegen . . . Niemand konnte sich erinnern, ihn jemals im Ort gesehen zu haben. Und er war sicher keinmal in diesem halben Menschenleben am Ufer des Meeres gewesen. Er liebte das Meer nicht, wie er sagte, denn es reize zur Unbeständigkeit. Wohl aber schritt er oftmals durch den Wald und blickte gern lange in das ruhige Wasser des Schwanensees; besonders zur Brutzeit, wenn die Wildschwäne mit singenden Rufen über dem zitternden Spiegel kreisten. – – –

Im Ort wohnte ein Fischer namens Trieß. Er hatte eine Tochter Maria. Seine Frau war bald nach der Geburt des Kindchens gestorben, wohl weil 13 sie das rauhe Klima dieser Provinz nicht vertragen hatte; denn sie stammte aus einem südlichen Lande. Maria wuchs heran und war schon als Kind von großer Schönheit. Ihr Vater ließ sie kaum einen Schritt aus dem Hause, ohne daß er sie begleitet hätte. Es ist dies vielleicht nicht nötig aufzuzeichnen, aber es muß doch gesagt werden, daß sie bereits in jüngsten Jahren von seltsamen Einfällen heimgesucht wurde. Von außen betrachtet schien die Haupteigenschaft der kleinen Maria Neugierde zu sein, denn sie hörte gern zu, wenn die Menschen miteinander sprachen. Wenn Sprechende vorübergingen, konnte sie stehenbleiben und ihnen nachlauschen. Auch schlich sie leise heran, wenn redende Menschen im Freien saßen. Ihr Vater war bitter erzürnt ob dieser Veranlagung. Doch die Sucht war stärker als alle Strafe – und niemand konnte wissen, daß sie bei diesem Gebaren keinesfalls unlautere Gedanken hegte. Urteilslose Menschen würden dem Kinde vielleicht Phantasie zugebilligt haben, während sich in diesem Wesen ganz andere Kräfte Geltung schufen, die nicht sogleich mit Namen zu benennen sind. Maria besaß nämlich die Möglichkeit, sich nach Art, Klang, Stimmung eines gehörten Satzes so in denselben hineinzufühlen, als habe sie diesen Satz selber gesprochen, ja, als wüßte sie damit das ganze Lebensgeheimnis des Menschen, den sie hatte reden hören. Sie 14 vermochte sich so namenlos tief in die Psyche eines Menschen, von dem sie ein gesprochenes Wort kannte, hineinzudenken, daß in ihrem tiefsten Wesen etwas so Nahes, Heißes zu leben begann. Und dieses Nahe und Heiße war es, welches von allem Lebendigen um sie her den Schleier zog und sie hinabschauen ließ in alle Verästelungen fremden Geschicks. Es waren dies keine Erlebnisse, die sie womöglich in Worte kleiden konnte. Es waren Erlebnisse und Ereignisse auf der Oberfläche einer stillen Seele – aus und für Seele geboren – Ereignisse also, mit denen sich – wenn man so will – auf dieser deutlichen Erde nichts anfangen ließ . . . Sie erinnerte sich ganz genau des Abends, als sie zum ersten Male die Fischer von dem Geheimnis des Dunnersholmer Lächlers hatte reden hören. Es war in jenen Augenblicken ein ganz weißer Schreck auf ihr Herz gefallen, ein Schreck, der nicht Furcht und Beklommenheit auslöste, sondern ein Schreck, der einen Vorhang in ihrem Sein zerriß – und einen Wegweiser baute, der von einem fernen Licht beleuchtet wurde. Seit jenem Abend war alles an ihr Wunsch und Wille, des Lächlers Stimme zu hören, einmal nur zu hören, um das größte Geheimnis ihrer Heimat kennenzulernen.

Doch es war seltsam. So häufig sie sich auch auf den Weg machte, das Haus am Waldrand aufzusuchen, immer wurde ihre Absicht vereitelt. 15 Es war ganz unbegreiflich, wie erfindungsreich das Geschick war, ihr kurz vor der Erfüllung ihres Vorhabens einen Strick um die Füße zu werfen. Sie spürte es immer deutlicher, daß das Haus für sie mit einer Wand umgeben war, deren Pforte sie nicht entdecken konnte. Und nur einmal, als sie mit Grimm und Verachtung des Todes die Schranke durchbrach, geschah es, daß ihr die Füße den Dienst nicht versagten und sie auf den ersehnten Hof trugen. Der milde Mann saß vor der Haustür und blickte schweigend auf das Kind. Dies ließ die Augen sinken wie in ertappter Schuld. Und als es seine Blicke bittend zu denen des Lächlers erhob, errötete der, schüttelte ganz langsam das Haupt, stand auf und ging in das Haus, die schwere Tür hinter sich verriegelnd. Maria wußte nicht, wie sie an jenem Tage nach Hause gekommen war. Nie wieder hat sie ihren Versuch wiederholt. Nur abends stand sie am Rande des Dorfes und schaute mit brennender Sehnsucht nach der Einsiedlung hinüber. – – –

Als sie am Morgen ihres sechzehnten Geburtstages aufstand und hineinging, ihren Vater zu wecken, lag dieser entseelt auf dem Bett. Sie besorgte das Nötige und fand sich als Herrin mehrerer Häuser und Boote. Anverwandte hatte sie nicht. Und sie suchte eine Brust für die brennende Stirn.

16 Wie sie wieder am Abend nach dem Waldrand hinüberblickte, lösten sich plötzlich ihre Schritte, und es war ihr, als schwebte sie dem einsamen Hause entgegen. Es war keine Wand mehr, fühlte sie, und der Greis stand unter dem Birnbaum im Hof und nickte ihr lächelnd zu.

»Hier bin ich«, sagte Maria.

»Ich weiß es«, entgegnete der Lächler.

Er küßte sie auf die Stirn, hob sie auf und trug sie in seine Kammer.

Und sie hat diesen Hof nie mehr verlassen. Sie schenkte einem Knäblein das Leben, der ein starker Dichter wurde. Er trug den Decknamen des Lächlers, ihn mit großen Impulsen füllend, bis er Wurzel eines neuen Namensgeschlechtes mit großen Ausmaßen wurde – ohne jene Müdigkeiten, deren Träger und Sender der Name einer Dynastie ist, die sich in ihrer Weite sterbend verliert. 17

 


 


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