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Zwanzigstes Kapitel

Um der angedrohten Gefahr aus dem Wege zu gehen, beauftragte mich Mr. Linton, den Jungen in aller Frühe auf Cathys Pony hinüberzubringen. Und er sagte:

»Da wir nun weder im Guten noch im Bösen Einfluß auf sein Schicksal haben, erzähle meiner Tochter nicht, wohin er gegangen ist. Sie kann künftig doch nicht mit ihm verkehren, daher ist es besser für sie, gar nicht zu wissen, daß er in der Nähe ist. Sonst würde sie nur unruhig werden und ihn in Wuthering Heights besuchen wollen. Erzähle ihr einfach, sein Vater habe mit einem Male nach ihm geschickt und deshalb habe er uns verlassen müssen.«

Der Junge war ärgerlich, daß man ihn schon um fünf Uhr aus dem Bett holte. Er wunderte sich noch mehr, als man ihm erklärte, er müsse schon wieder eine Reise machen. Ich versuchte den Eindruck durch die Mitteilung auszugleichen, er werde einige Zeit bei seinem Vater, also bei Mr. Heathcliff, verweilen. Dieser sehne sich so sehr nach ihm, daß er die Freude des Wiedersehens nicht so lange aufschieben wolle, bis Linton sich von seiner ersten Reise erholt habe.

»Mein Vater?« rief er in äußerster Verwunderung. »Mama hat mir doch niemals gesagt, daß ich einen Vater habe. Wo wohnt er? Ich möchte lieber bei dem Onkel bleiben.«

»Er wohnt ziemlich nahe von hier, hinter den Hügeln dort. Sie können leicht zu Fuß hierher gehen, wenn Sie sich gekräftigt haben. Sie müssen sich freuen, nach Haus zu kommen und Ihren Vater zu sehen! Geben Sie sich nur alle Mühe, ihn lieb zu haben, wie Ihre Mutter, dann wird er Sie auch lieben.«

»Warum habe ich früher nie etwas von ihm gehört? Warum sind Mama und er nicht beieinander gewesen, wie alle anderen?«

»Er hatte im Norden Geschäfte, die ihn beständig dort festhielten. Ihre Mutter dagegen mußte ihrer Gesundheit wegen im Süden leben.«

»Aber sie hat auch niemals von ihm gesprochen! Vom Onkel erzählte sie oft, und so habe ich ihn schon seit langem liebgewonnen. Wie soll ich Papa lieben? Ich kenne ihn nicht.«

»Alle Kinder lieben ihre Eltern. Die Mutter hat vielleicht gedacht, Sie würden zugleich bei ihm leben wollen, wenn sie ihn häufig erwähnt hätte. Jetzt wollen wir uns beeilen. Ein Ritt an einem schönen Morgen ist viel besser, als eine Stunde länger zu schlafen.«

»Kommt sie mit, das kleine Mädchen von gestern?«

»Jetzt nicht.«

»Und der Onkel?«

»Nein, ich begleite Sie hin.«

Er ließ sich auf das Kissen zurückfallen und überlegte angestrengt. »Ich will nicht ohne den Onkel gehen!« rief er dann. »Ich kann nicht wissen, wohin du mich am Ende bringen wirst!« Ich stellte ihm vor Augen, wie ungehörig es sei, daß er nicht zu seinem Vater gehen wolle. Aber er setzte sich gegen alle meine Versuche, ihn anzuziehen, zur Wehr; ich mußte den Herrn zu Hilfe rufen, um ihn nur aus dem Bett herauszubekommen. Dies gelang endlich, indem man dem armen Kerl vorredete, er werde nur kurze Zeit dort sein, und Mr. Edgar und Cathy würden ihn besuchen. Diese und andere schlechtbegründete Versprechungen wiederholte ich während unseres ganzen Weges. Die reine Luft der würzigen Heide, die helle Sonne und der leichte Gang des Ponys milderten nach einer Weile seine Verzweiflung. Er begann mit etwas größerer Teilnahme und Neugier nach seinem neuen Heim und dessen Insassen zu fragen. »Ist es in Wuthering Heights ebenso schön wie in Thrushcross Grange?« Er drehte sich um und warf einen letzten Blick ins Tal, aus dem ein leichter Nebel emporstieg und wie eine flockige Wolke am Saum des Himmels schwebte. Ich antwortete:

»Es liegt nicht so von Bäumen umschattet und ist nicht so groß. Aber Sie können die ganze Gegend beschauen, Sie haben einen wunderschönen Rundblick. Außerdem ist die Luft gesünder für Sie, frischer und trockener. Anfangs werden Sie das Haus vielleicht etwas alt und düster finden. Aber es ist ein ansehnliches Gebäude, das zweitbeste der Gegend. Dann können Sie so prächtige Streifzüge durchs Moor unternehmen! Hareton Earnshaw das ist Miß Cathys anderer Vetter, also gewissermaßen auch der Ihre – wird Ihnen gern die nettesten Stellen zeigen. Bei schönem Wetter nehmen Sie ein Buch mit und machen irgendeine grüne Schlucht zu Ihrer Arbeitsstube. Manchmal kommt auch der Onkel bei Ihren Ausflügen mit; er wandert oft über die Hügel.«

»Wie sieht eigentlich mein Vater aus? Ist er ebenso jung und schön wie Onkel Edgar?«

»Ebenso jung, aber er hat schwarze Haare und Augen. Er hat ein etwas strengeres Aussehen und ist größer und breiter. Zuerst wird er Ihnen wohl nicht so freundlich vorkommen, das ist nicht seine Art. Suchen Sie nur recht aufrichtig und herzlich zu ihm zu sein, dann wird er Sie natürlich noch mehr lieben als ein Onkel, weil Sie zu ihm gehören.«

»Schwarze Haare und Augen! Ich kann ihn mir nicht vorstellen. Also sehe ich ihm gar nicht ähnlich?«

»Nicht sehr«, antwortete ich. Nicht eine Spur, dachte ich und betrachtete ziemlich traurig die weiße Haut und die schmächtige Gestalt des Jungen, seine großen trüben Augen. Es waren die Augen der Mutter, nur ohne ihr schwärmerisches Temperament, wenn sie nicht aus kränklicher Reizbarkeit einmal aufblinkten.

»Merkwürdig, daß er doch niemals Mama und mich besucht hat«, murmelte er. »Hat er mich überhaupt je gesehen? Dann müßte ich noch ganz klein gewesen sein; ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn.«

»Mein Lieber, dreihundert Meilen, das ist weit! Und zehn Jahre erscheinen einem Erwachsenen nicht so lange wie Ihnen. Wahrscheinlich hat Mr. Heathcliff euch in jedem Sommer besuchen wollen und nie eine passende Gelegenheit gefunden. Jetzt ist es zu spät. Quälen Sie ihn nicht mit solchen Fragen, es würde ihn unnötig ärgern.«

Für den Rest des Rittes grübelte er stumm weiter, bis wir an der Gartenpforte hielten. Ich beobachtete seine ersten Eindrücke. Er musterte aufmerksam die verzierte Vorderwand des Hauses, die tief eingeschnittenen Fenster, die üppigen Stachelbeersträucher und verkümmerten Föhren. Dann schüttelte er den Kopf. Das Äußere des neuen Wohnorts schien seinem ganzen Wesen zu mißfallen. Aber vernünftigerweise wollte er seine Beschwerden aufschieben. Es konnte ja sein, daß ihn das Innere des Hauses entschädigen würde. Bevor er abstieg, öffnete ich die Tür. Es war halb sieben Uhr; die Familie hatte gerade das Frühstück beendet, das Mädchen räumte den Tisch ab und säuberte ihn. Josef stand neben dem Stuhl seines Herrn und erzählte ihm eine Geschichte über ein lahmes Pferd, während Hareton im Begriff war, zum Heuen aufs Feld zu gehen.

»Hallo, Nelly«, rief Mr. Heathcliff, als er mich erblickte. »Ich dachte schon, ich müßte selbst hinkommen und mir mein Eigentum holen! Er ist doch draußen? Wir wollen einmal sehen, was wir damit anfangen können.«

Er stellte sich in die Tür. Hareton und Josef folgten und gafften neugierig. Der arme Linton warf einen erschrockenen Blick auf die drei Gesichter.

»Ich bin der Meinung«, bemerkte Josef nach strenger Prüfung, »daß er Ihren Sohn mit seiner Cathy vertauscht und seine Tochter hergeschickt hat.«

Heathcliff, der seinen Sohn durch sein Anstarren in peinliche Verlegenheit versetzte, lachte höhnisch auf: »Herrgott, welch eine Schönheit! Was für ein niedliches liebliches Ding! Der ist wohl mit Schnecken und saurer Milch aufgezogen worden, Nelly? Verdammt, das ist noch schlimmer, als ich erwartet habe, und große Hoffnungen habe ich mir wahrhaftig nicht gemacht.«

Ich ließ das zitternde Kind absteigen und ins Haus treten. Er hatte die Worte seines Vaters nicht recht verstanden oder wußte nicht, ob sie für ihn bestimmt waren und ob dieser grimmige und spöttische Fremde überhaupt sein Vater sei. In steigendem Schrecken klammerte er sich an mich an. Als Mr. Heathcliff sich niederließ und ihm zurief: »Komm her!« drückte er das Gesicht an meine Schulter und weinte.

»Ach was«, sagte Heathcliff, streckte die Hand nach ihm aus, zog ihn mit rohem Griff zwischen seine Knie und hob ihm das Kinn hoch. »Laß den Unsinn. Wir tun dir nichts, Linton – so heißt du doch, was? Du bist ja ganz das Kind deiner Mutter. Wo ist mein Anteil an dir, du piependes Küken?«

Er nahm dem Jungen die Mütze ab, strich seine dichten flachsblonden Locken zurück und befühlte die schmächtigen Arme und feinen Finger. Während dieser Untersuchung hörte Linton zu weinen auf und erhob die großen blauen Augen, um den Prüfenden gleichfalls zu prüfen.

»Kennst du mich?« fragte Heathcliff, nachdem er festgestellt hatte, daß die Gliedmaßen alle gleich zerbrechlich und zart waren.

»Nein«, sagte Linton mit unverstellter Angst.

»Ich nehme an, du hast wenigstens von mir gehört.«

»Nein«, antwortete er wieder.

»Nein! Deine Mutter hätte sich schämen sollen, daß sie deine kindlichen Gefühle für mich überhaupt nicht geweckt hat! Du bist mein Sohn, verstehst du? Die Mama war eine böse Frau, da sie dich in Unwissenheit darüber ließ, daß du einen solchen Vater hast. Du brauchst nicht rot zu werden, wenn es auch sehenswert ist, daß du nicht etwa weißes Blut hast. Also sei ein guter Junge, und ich werde für dich sorgen. Nelly, wenn du müde bist, darfst du dich hinsetzen; wenn nicht, geh heim. Ich vermute, du wirst in Grange buchstabengetreu berichten, was du gehört und gesehen hast. Und so schnell wird diese Angelegenheit doch nicht erledigt werden, daß du hier darauf warten könntest.«

»Ich hoffe«, erwiderte ich, »daß Sie freundlich zu dem Jungen sind, Mr. Heathcliff. Sonst behalten Sie ihn nicht lange. Vergessen Sie nicht, er ist immerhin das einzige blutsverwandte Wesen, das Sie auf der ganzen Welt haben.«

»Ich werde sogar sehr gut zu ihm sein, keine Angst!« entgegnete er lachend. »Nur darf niemand sonst außer mir gut zu ihm sein wollen. Ich bin eifersüchtig und beanspruche ein Monopol auf seine Liebe. Um mit meiner Freundlichkeit sogleich zu beginnen: Josef, bring dem Jungen Frühstück. Hareton, du Schafskopf, verfüge dich an deine Arbeit. Ja, Nelly«, sprach er weiter, als sie weggegangen waren, »mein Sohn ist schließlich der künftige Eigentümer eures Gutes! Ich wünsche nicht, daß er stirbt, ehe ich sicher bin, sein Nachfolger zu werden. Im übrigen gehört er mir, und ich will den Triumph genießen, meinen Sohn als regelrechten Herrn der Besitztümer jener Leute zu sehen. Mein Sohn soll einmal ihre Kinder dazu anstellen, daß sie ihres Vaters Land gegen Lohn bearbeiten müssen. Dies ist der einzige Grund, der mir das Dasein dieses Sprößlings tröstlich und erträglich macht. Ich verachte ihn um seiner eigenen Art willen und hasse ihn der Erinnerungen halber, die er in mir hervorruft. Aber jene Erwartung, von der ich sprach, genügt: Darum ist er bei mir so sicher und wird so sorgsam geschont und gehütet werden, wie dein Herr sein Kind hütet. Oben habe ich ein Zimmer aufs hübscheste eingerichtet, ich habe einen Lehrer für ihn genommen, der dreimal wöchentlich zwanzig Meilen weit hierherkommt und ihm beibringen wird, was er nur lernen möchte. Ich habe Hareton befohlen, ihm zu gehorchen. Alles ist vorbereitet worden, damit er sich eines Tages als Edelmann über seine Standesgenossen erhebt. Schade, daß er diese Mühe so wenig verdient. Wenn ich mir ein Glück auf der Welt gewünscht habe, so war es dies, ihn meines Stolzes würdig zu finden. Ich bin bitter enttäuscht von diesem weinerlichen Milchgesicht.«

Inzwischen kam Josef mit einer Schüssel Hafermilchbrei zurück, die er vor Linton hinstellte. Der Junge rührte widerwillig in dem Gericht, guter Hausmannskost, herum und sagte, er könne das nicht essen. Der Alte, der die Mißachtung seines Herrn für den Jungen ausgiebig teilte, mußte sich Mühe geben, diese Meinung zu verstecken: Heathcliff wollte seinen Untergebenen immerhin nicht erlauben, gegen seinen Sohn unehrerbietig zu sein.

»Das kann man nicht essen?« Josef stierte dem Kinde ins Gesicht und dämpfte die Stimme, um von Heathcliff nicht gehört zu werden. »Aber der Hareton hat nichts anderes gegessen, als er klein war, und was für ihn gut genug gewesen ist, genügt für Sie auch, sollte ich meinen.«

»Ich werde es nicht essen«, erwiderte Linton schnippisch.

»Nimm es weg.«

Erzürnt trug Josef die Speise zu uns herüber und hielt Heathcliff die Schüssel unter die Nase: »Fehlt dem Brei etwas?«

»Was soll ihm fehlen?«

»Ihr verwöhntes Söhnchen behauptet, er könne das nicht essen. Aber es ist schon richtig, die Mutter war ebenso. Es schien doch immer, als ob wir ihr zu dreckig waren, um das Korn zu säen, aus dem ihr Brot gebacken wurde.«

»Du hast mir nicht von seiner Mutter zu sprechen!« schrie der Herr wütend. »Gib ihm etwas, was er essen kann, und fertig. Woran ist er gewöhnt, Nelly?«

Ich schlug gekochte Milch oder Tee vor. Die Haushälterin erhielt den entsprechenden Auftrag. – Eigenartig, dachte ich, gerade die Selbstsucht seines Vaters sichert ihm eine erträgliche Behandlung, und in diesem Zusammenhang wird ihm seine zarte Gesundheit erst recht zugute kommen. Jedenfalls wird es Mr. Edgar ein wenig trösten, wenn ich ihm erkläre, welche Wendung Heathcliffs Verhalten nimmt.

Da ich keinen Grund hatte, länger zu bleiben, schlüpfte ich hinaus, als Linton gerade die Annäherungsversuche eines gutmütigen Schäferhundes schüchtern abwehrte. Aber er war in seiner Erregung zu aufmerksam, und während ich die Tür schloß, hörte ich, wie er in wahnsinniger Angst immer wieder schrie:

»Geh nicht weg! Ich will nicht hierbleiben! Ich will nicht hierbleiben!«

Dann wurde der Riegel vorgeschoben. Sie erlaubten ihm nicht mehr, herauszukommen. Ich bestieg Minny und trieb sie rascher an. So endete meine kurze Betreuung des Jungen.


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