Franz Xaver Bronner
Ein Mönchsleben aus der empfindsamen Zeit. Zweiter Band
Franz Xaver Bronner

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Achtzehntes Kapitel

Als Patriot in Frankreich.

Abreise nach Frankreich – Reise nach Basel – Ich werde den Pfaffen nicht los – Eintritt in Frankreich – Der Paß – Kriegszustände – Allgemeine Verwilderung – Gang nach Colmar – Besuch beim Bischof – Die Guillotine – Das Comité des Distrikts – Meine Rechtfertigung – Der National-Agent – Das Comité de Surveillance – Gefahr unter die Guillotine zu kommen – Gründliche Enttäuschung – Der »Tempel der Vernunft« – Jakobiner – Rückreise ins Hauptquartier – Schuhflicker – Gang nach Basel – Visitation – Rückreise nach Zürich – Neue und jetzige Lebensart.

An meinem 35. Geburtstage, den 23. Dezember 1793, nachmittags hatte ich alle meine Geschäfte in Ordnung gebracht, bei meinen Freunden und Bekannten Abschied genommen und ihre Segenswünsche (bei mehreren nicht ohne wechselseitige Tränen) abgeholt. Meine Sachen ließ ich in die Buchhandlung bringen, damit sie mir, sobald ich's verlangen würde, nachgeschickt werden könnten. Ich hatte die Kaprice im Kopfe, mit meinem Geburtstage auch ein neues Leben anzufangen, das war im Grunde lächerlich, aber dennoch ließ ich mich dadurch bestimmen, noch abends um 4 Uhr meine Wanderung anzutreten und noch an diesem Tage eine Strecke Weges zurückzulegen. Nachdem ich mich in meiner Kammer dem Schutze Gottes empfohlen hatte, dankte ich den ehrlichen Hausleuten, die indes ein kleines Abschiedsmahl bereitet hatten, und schenkte jedem ihrer Kinder etwas zum Andenken. Weinend begleiteten sie mich unter die Tür und sagten: »Einen ehrlicheren Kostgänger hatten wir noch nie! Gott wird Ihnen Glück und Segen verleihen!« O, wie wohl tat mir diese Rede! Mein Herz gab mir jetzt das Zeugnis, daß ich mich in diesem Hause nicht unedel betragen habe. Ich küßte mit nassen Augen meinen täglichen Spielkameraden, den kleinen Hans, noch besonders und riß mich los.

Mit einem Regenschirm in der Hand, einem neuen französischen Kalender und einer Elzevirischen Sackausgabe von Catull, Tibull, Properz, Kornelius Gallus und Martialis (die ein artiges Bändchen in Brevierform mit einem Futterale ausmachten) in der Tasche und mit Bryant auf dem Arme marschierte ich gemächlich über Altstetten und Schlieren nach Dietikon. Ich hatte eine Landkarte von der Schweiz und eine vom Elsaß zerschnitten und die nötigen Teile in mein Buch eingelegt, um mich unterwegs genauer in die Gegenden finden zu können.

In Dietikon ward ich wohl bewirtet und morgens sehr frühe geweckt, so wie ich es verlangt hatte; man beschrieb mir den Weg, den ich einschlagen müßte, um mich im Dunkeln über den Heitersberg zu finden. Als ich auf die Höhe kam, ging eben die Sonne auf. Das ganze schöne Limmattal lag im Sonnenglanze zu meinen Füßen, hellweiße Nebel umlagerten die Dörfer, vom Reife mattes Grün der Wiesen durchblickte an vielen Orten die Dünste; Zürich lag in der Ferne, einige Dächer glänzten: »Geliebte Stadt!« rief ich nicht ohne Rührung, »vielleicht seh' ich jetzt deine Türme zum letzten Male. Lebt wohl, ihr Lieben, die ihr dort wohnet! Nie vergesse ich euer; auch der Himmel vergißt nie, was ihr mir Gutes getan habt!«

Als ich dem Dorfe Rordorf näherkam, spazierte mir ein Priester entgegen, der das Venerabile zu einem Kranken trug. Der Mesner, der vor ihm herging, klingelte, sobald er mich sah. »Hier will ich nicht heucheln,« dachte ich, »ich bete dich an, Allmächtiger! Aber was der Priester dort trägt, das ist nur Brot.« Sowie ich dem Geistlichen ins Gesicht sehen konnte, merkte ich, daß er mir freundlich zulächelte, und ich zog aus Höflichkeit den Hut. Er mochte glauben, ich würde niederknien und ans Herz klopfen, aber ich tat es nicht, und seine Miene trübte sich bis zum Trotze. Ruhig ging ich vorüber. Als ich umschaute, da stand er und sah mir nach. »Was ist's,« fragte ich mich selbst, »das ihm auffiel? Hab' ich etwas an mir, das den ehemaligen Geistlichen verrät? Wo mag das liegen? Mein Rock ist von heller Farbe, falbrötlich. Da liegt es nicht! Freilich trag' ich eine schwarze Weste und schwarze Beinkleider, aber so tragen sich ja viele junge Leute, die nichts weniger als Geistliche sind. Die schwarzen Strümpfe vielleicht, das schwarze Halstuch und das kurze Kraushaar – kann sein, daß mich diese verraten. Sobald ich nach Basel komme, will ich farbige Strümpfe und ein buntes Halstuch kaufen.«

Es war noch früh am Tage, als ich in Aarau ankam. Heute wollte ich nicht mehr den weiten Gang über die Schafmatt wagen, sondern entschloß mich, im Gasthof, wo ich eingesprochen hatte, mir die Zeit mit Sittenbeobachtungen der Gäste zu kürzen. Aber da war nichts Interessantes zu bemerken. Ich mußte meine Zuflucht wieder zu Bryants eßbaren Pflanzen nehmen und ging bald zu Bett.

Den andern Tag erwachte ich frühe und war bald reisefertig. Man ließ mich laufen und verhehlte mir's, daß ich das Brückentor noch verschlossen finden würde. Ich fand es so, schämte mich, ins Wirtshaus zurückzukehren und mußte lange im feuchten Nebel auf- und abmarschieren, ehe die erwünschte Laterne erschien und die Brückentore geöffnet wurden. Nun trabte ich im Finstern nach Arlisbach, wandte mich rechts ins Tal hinein und kam, eben da man zur Frühpredigt läutete, in Ober-Arlisbach an. Jedermann beguckte mit wundernden Blicken den Reisenden am Christtage. Als ich auf die Höhe des Berges zum hölzernen Wegweiser kam, in dessen Nachbarschaft ich auf meiner ersten Reise über diesen Berg die Freileute gelagert fand, zeigte sich kein Fußpfad mehr. Nur ein schwaches Wagengeleise, mit Eisgläsern ausgefüllt, zog sich rechts am Berge hin, übrigens keine Spur eines Weges. Ich schaute die Säule mit ihrem Arme und der Aufschrift: Weg nach Basel, gar wohl an, aber bei aller Bereitwilligkeit, ihrer Anweisung zu folgen, blieb ich doch im Ungewissen, wohin ich mich wenden sollte, denn der ausgestreckte Arm wies genau zwischen dem Fahrgeleise und einer Hecke hin, an der ein Weg links den Berg hinab führen konnte. Ich folgte dem Geleise und dachte, so würde ich am sichersten einen bewohnten Ort erreichen. Eine halbe Stunde mochte ich gegangen sein, da verlor sich der Pfad völlig; unten im Tobel erblickte ich aber ein Haus, watete durch den Schnee darauf los, fand aber bald, daß keine Seele zu Hause sei, als Tierseelen. Ein Stall voll Schafe blökte mir zu, sobald sie mich hörten, und ein treuer Hund bewährte seine Wachsamkeit durch Bellen. Guten Mutes stieg ich an einem leeren Bachbette den Berg hinab, ungewiß, wohin ich kommen würde, denn ich erinnerte mich gar wohl, auf meinem ersten Gange von Oltingen auf die Höhe der Schafmatt gar keine Sennerei angetroffen zu haben. Jetzt erblickte ich ein Dorf unter mir, eben läutete man darin zur Kirche. Als ich zum ersten Häuschen am Abhange kam, streckte ein altes Mütterchen den Kopf, mit dem gutherzigsten Gesichte von der Welt, aus dem kleinen Fenster und rief mir freundlich zu: »Ihr kommt gerade recht zur Messe.« – »Wo bin ich denn?« – »Wißt Ihr's denn nicht, Herr? Zu Kirnberg im Solothurner Gebiete.« – Ich schaute in meine Karte und suchte den Ort. O, wie falsch war da alles gezeichnet! Kaum daß ich einen schwachen Begriff erhielt, wohin ich mich verirrt haben mochte. Es konnte nicht weit sein, das sah ich wohl. »Mutter,« sagte ich, »oben auf dem Berge habe ich mich verirrt, ich wollte nach Oltingen.« – »Herr, dort könnt Ihr nicht Messe lesen, es ist reformiert.« – »Verwünscht,« dachte ich, »muß man mich denn überall für einen Geistlichen ansehen?« Laut erwiderte ich: »Mutter, das will ich auch nicht.« – »So ist Er kein Geistlicher? Ich habe Sein Buch für ein Brevier angesehen. Wo will Er denn hin?« – »Nach Basel.« – »O, so ist Er nicht weit irre gelaufen. Er kann über Anweil und Rotenflue nach Gelterkinden gehen, da findet Er immer eine ordentliche Karrenstraße.« Unten im Dorf ließ ich mir den Weg nach Anweil zeigen. Ich mußte eine große Strecke im Nebel über ein Ackerfeld bergan steigen und gelangte endlich nach manchem Zweifel, ob ich nicht wieder in der Irre ginge, zu dem Dorfe. Durch eine enge Schlucht führte der Fahrweg in ein tiefes, ruhiges, ziemlich warmes Tal, wo ich noch kaum den Rand der kleinen Bäche mit dünnen Eisscheiben eingefaßt sah. Über Ormelingen ging ich nach Gelterkinden und ließ mir dort das Mittagmahl trefflich schmecken.

Es war schon ziemlich spät am Tage, als ich nach Liestal kam; ich hatte im Sinne, dort zu übernachten. Aber die vielen Berner Truppen, die ich auf dem Marktplatze versammelt fand, ließen mich wenig Ruhe erwarten, und ich beschloß, vollends nach Basel zu wandern. Kaum war ich bei der Hulftenschanz, so überfiel mich die Nacht. Eilig trabte ich im Finstern bis zum Roten Hause fort. Sehr müde kam ich dort an und dachte, in dieser Schenke zu übernachten. Allein, sobald ich in die Stube trat, sagte mir der Wirt, er dürfe nur bei Tage Wein schenken, nachts aber niemanden beherbergen. Man gab mir um einen bestimmten Preis einen Wegweiser mit, der mir unter ermunterndem Geplauder über die Heide und durch den Wald nach Muttenz leuchtete. Dort fand ich das Wirtshaus voll Soldaten, hielt mich stille, erquickte mich, so gut es anging, und verlangte bald zu Bette.

Sobald ich in Basel einen Laden mit Strümpfen erblickte, dachte ich an mein Vorhaben, mein Aussehen besser zu säkularisieren, und kaufte graue Strümpfe und ein buntes Halstuch. Dann ging ich zu den Drei Königen, um Herrn und Frau Iselin zu grüßen, ihnen für ihre ehemalige Bewirtung zu danken und ihren Rat einzuholen. Die Aufwärter schnurrten mich aber trotzig an, beguckten mich von Kopf bis zu Fuße, rümpften die Nasen ob meinem schmutzigen Fußwerk und gaben mir den Bescheid, weder Herr noch Frau seien zu Hause. Verdrießlich ging ich fort, denn nun war für mich der Rat dieses rechtschaffenen Mannes verloren. Um nicht ganz unberaten zu bleiben, suchte ich Herrn Haas auf, an den ich von meinem Freunde Geßner ein offenes Empfehlungsschreiben hatte. Er empfing mich sehr höflich, zeigte mir seine treffliche Schriftgießerei usw. und riet mir, so gut er konnte. Aber er fürchtete, ich würde keinen Paß erhalten, weil Herr Kanzler Ochs nur geborenen Schweizern Pässe zu erteilen befugt wäre. Das ließ ich mir gesagt sein, ging in die Kanzlei und bat um einen Paß nach Mülhausen. Ein Sekretär fragte mich: »Wer sind Sie, wo kommen Sie her?« Aufrichtig gestand ich das. Er fragte weiter: »Was sind Ihre Geschäfte in Mülhausen?« – »Ich bin bestellt, gewisse Fabrikationsmaschinen zu machen.« – »Wo sind Sie geboren?« – »Zu Brenggerüti im Thurgau.« Ich glaubte, wenn ich ein so kleines Örtchen angäbe, wäre er in dem Falle, weniger Umstände davon zu wissen, als ich selbst. Wenigstens hatte ich dies Nestchen auf seinem Berge während meiner Reise in Toggenburg besucht. »Ihre Aussprache ist deutsch, mein Herr! Sie sind kein Schweizer.« – »Lassen Sie sich dadurch nicht irremachen, Herr Sekretär, ich habe sehr lange in Deutschland, besonders zu Augsburg gelebt.« – »Haben Sie einen Taufschein bei sich?« – »Nein.« – »So können wir Ihnen nicht glauben.« – Ich jammerte, daß ich nun vergebens einen so weiten Weg gemacht hätte und unverrichteter Sache wieder nach Hause kehren müßte. Ein andrer Sekretär fing nun zu reden an: »Sie kommen von Zürich, sind Sie über Baden gegangen?« – »Nein.« – «Das hätten Sie tun sollen, wir dürfen nur denen Pässe ausfertigen, welchen es wegen der Lage ihrer Heimat zu beschwerlich wäre, bis nach Baden zu gehen. Sie berauben sich selbst Ihres Vorteils. Hätten Sie sich nur bei Herrn Barthelemy gestellt.« – »Aber was will ich nun machen? Der Fehler ist geschehen. Lassen Sie sich doch erbitten und helfen Sie mir diesmal aus der Not. Es war Unkunde, daß ich nicht zu Herrn Barthelemy ging.« – »Kennen Sie niemanden hier, der Ihnen das Zeugnis dessen geben könnte, was Ihre Herkunft betrifft?« – »Ach! Niemanden!« – »So müssen wir Sie abweisen.« – Lange blieb ich noch stehen und wiederholte meine Bitten von Zeit zu Zeit. Endlich wurden die Sekretäre ungeduldig: »Pack' Er sich hinaus, ungestümer Mensch!« rief der eine, »wir haben Ihm's deutlich erklärt, warum wir nicht können. Zeig' Er uns Dokumente vor!« Ich hatte die Schalkheit, ein paar französische Laubtaler zwischen die Finger zu nehmen und sie ihnen statt der Dokumente hinzuweisen. »Verfluchter Kerl!« donnerte jetzt der zweite Sekretär und ergriff seinen Stock, »du siehst förmlich einem Pfaffen gleich und gibst dich für einen Maschinisten aus, erst willst du uns betrügen und nun auch bestechen. Wenn du nicht augenblicklich gehst, so prügle ich dich die Stiege hinab!« – Was war da zu machen? Ich steckte meine Taler in die Tasche und verließ die Kanzlei. Meine Lügen usw. hätten diesen Schimpf wirklich verdient. »Ist's mir denn an die Stirne geschrieben, daß ich ein Pfaff war?« fragte ich mich selbst voll Ärgers, »wie mach' ich's doch, daß man dies nimmer errät?« Lange sann ich hin und her und wußte mir doch keinen Rat, ich trug ja schon gefärbte Strümpfe und ein buntes Halstuch, es mußte also nicht im Kleide, sondern im Betragen, im Haare, in den Manieren stecken. Da war nicht leicht zu helfen. Ich verwünschte von neuem meinen ehemaligen Stand.

Auf der Gasse traf mich ein Mann an, der mich in Zürich ein paarmal gesehen hatte, er wollte mit mir sprechen, aber ich hörte nicht; mein Kopf war zu voll, ich dachte nur an die Vergeblichkeit der Reise und an die Mittel, den Zweck derselben auch ohne Paß zu erreichen. »Was ist Ihnen doch?« fragte mein Begleiter, »Sie hören nicht und sehen nicht! Es ist Zeit zu Tische, lassen Sie uns gehen! Stehen Sie nicht jeden Augenblick stille!« So führte er mich zur Krone. Ich war bei Tische mehr mit Grübeln als mit Essen beschäftigt. Endlich hatte ich's gefunden. Eilig zahlte ich und ging zum Tor hinaus, gerade auf Bourglibre (St. Louis) zu, nachdenkend und entschlossen, das Äußerste zu wagen. Da mir das Lügen so übel bekommen war, so nahm ich mir vor, jetzt ganz offen zu handeln.

Als ich hart an der Straße die hölzerne Baracke sah, in welcher die Grenzwache lag, so nahm ich mich zusammen, suchte meinen Züricher Paß aus dem Portefeuille her und wies ihn dem Kontrolleur, der mit einigen Nationalgarden aus der Baracke mir entgegenlief. »Citoyen!« sagte er, »der Paß taugt nichts. Er muß vom Gesandten unterschrieben sein.« Ich hatte meinen Hut abgezogen und antwortete: »Mein Herr! es hat mit mir eine ganz besondere Bewandtnis.« Er fiel mir in die Rede, setzte mir den Hut auf und sagte: »Man sieht wohl, daß Sie ein Fremder sind, der Titel Herr ist bei uns abgeschafft, machen Sie sich nur mit dem republikanischen Citoyen bekannt und denken Sie an Freiheit und Gleichheit!« – Kühner fuhr ich fort: »Ich bewarb mich sowohl bei dem Gesandten der Republik in Baden, als in der Kanzlei zu Basel um einen Paß nach Kolmar, aber beidemal vergebens, denn ich bin ein deutscher Geistlicher und mußte mich unter dem Vorwande abweisen lassen, daß allen Deutschen der Eintritt in Frankreich bei Lebensstrafe untersagt sei. Nun hat mich aber der geschworne Bischof von Kolmar, der meine Gesinnungen kennt, durch eigenhändige Schreiben berufen, und ich bin gezwungen, auch ohne Paß hierher zu kommen und es auf die französische Großmut ankommen zu lassen, ob ein Patriot, der von ganzem Herzen der Republik zugetan ist, sogleich an der Grenze abgewiesen werden soll oder nicht.« Der Kontrolleur ging mit meinem Portefeuille in die Baracke. Es schien mir, man hielt miteinander Rat, was hier zu tun sei. Er kam wieder und sagte: »Citoyen, wenn Sie den Nationalgarden, von denen Sie begleitet werden müssen, ein Trinkgeld geben, so will ich Sie zum Bürger Sousgeneral nach Bourglibre bringen lassen.« Des war ich herzlich zufrieden. Die Garden nahmen mich in die Mitte, und wir gingen zum Zollhause in Bourglibre; sie verstanden kein deutsches Wort, ich radebrechte also mein Französisch, so gut ich konnte, und erhielt ihren Beifall. Der eine schien mir ein sehr artiger Jüngling, er fror sehr, und seine rotblauen Finger, mit denen er das kalte Gewehr hielt, erregten mein Mitleiden. Ich schenkte ihm meine Handschuhe. Im Zollhause mußte ich einige Zeit warten, denn der Bürger Sousgeneral saß noch bei Tische.

Das Stübchen, wo ich harrte, war zur Visitation derjenigen Personen bestimmt, welche über die Grenze gehen wollten. Männer und Weiber saßen auf den Bänken herum und warteten, bis der Visitator käme oder bis der Sousgeneral abgespeist haben würde. Der Visitator (man sagte mir nachher in Basel, er sei ein Jude gewesen) kam und rief jede Person einzeln in ein Kämmerchen beiseite, wenn sie ihm besonders verdächtig war; andre aber durchsuchte er in Gegenwart der übrigen. Alle mußten die Schuhe ausziehen, er befühlte ihnen die Rockknöpfe, die Hüftenbänder und die Knieriemen an den Beinkleidern, griff in alle ihre Säcke, durchknitterte ihre Halsbinden, Hüte, Rockschöße usw. so bedächtiglich, daß ich vor der französischen Genauigkeit großen Respekt bekam. (Man erzählte mir, des Visitators Frau halte es mit dem weiblichen Geschlechte noch strenger, aber ich sah das nicht.) Auch die Weiber befühlte der hagere Mann in jedermanns Gegenwart mit gleicher Sorgfalt und schien sich aus weiblicher Schamhaftigkeit und einer gewissen Dezenz gar wenig zu machen.

Jetzt holte man mich zum Sousgeneral. An einer langen Tafel im Wirtshause saßen Offiziere und allerlei Gäste männlichen und weiblichen Geschlechtes bunt durcheinander. Man forderte mir mein Portefeuille ab, ich gab es hin. »Sprechen Sie Französisch?« fragte ein kleiner verwachsener Mann mit einem feurigen Blicke und faßte mich scharf ins Auge. Ein Diener, der mir zur Seite stand, deutete auf einen der Tischgenossen und sagte: »Dies ist der Bürger Sousgeneral.« Ich wußte nicht, meinte er den kleinen Mann oder einen andern, und weiß es heutigen Tages noch nicht. Unbefangen erklärte ich, daß ich das Französische nur sehr schlecht sprechen könne, meine Muttersprache sei die deutsche. »So sagen Sie nur deutsch, was Ihr Begehren ist!« sprach der kleine Mann, »reden Sie kühn von der Brust weg! Republikaner hassen Heuchelei und Furchtsamkeit.« Seine Zusprüche hoben meinen Mut. Ich geriet ein wenig in Feuer und hielt eine Art Standrede, in der ich mit der größten Offenheit die Gründe darlegte, welche mich bewogen, nach Frankreich zu kommen. So oft ich etwas vortrug, was eines Beweises zu bedürfen schien, griff ich unverhohlen nach meinem Portefeuille, nahm es dem Blätternden aus der Hand, suchte, während ich sprach, das beweisende Aktenstück hervor, faltete es auseinander und legte es den Herren vor. Die Schriften gingen von Hand zu Hand. Als ich glaubte, die Echtheit meines republikanischen Bürgersinns genug erprobt und die Ursachen, warum ich ohne Paß käme, deutlich angegeben zu haben, bat ich den Bürger Sousgeneral, einen Patrioten, der es ganz aus Überzeugung sei, nicht abzuweisen, sondern mir vielmehr selbst einen Paß zu erteilen. Nun fingen die Debatten über mein Gesuch an. Sie waren französisch, wurden schnell vorgetragen, und ich verstand das wenigste davon. Der kleine Herr hielt meinem patriotischen Sinne und zugleich dem seinigen eine Lobrede, gab mir mein Portefeuille mit allen Schriften zurück und fragte, ob ich's zufrieden sei, wenn ich zum General nach Blotzheim geschickt würde? Zwar müßte ich's wagen, einen Gang umsonst zu tun und abgewiesen zu werden, allein ich erhielte dann doch die Gewißheit, ob ich nach Kolmar reisen dürfte oder nicht. – »Ei, was liegt mir an dem kurzen Gange?« rief ich aus, »um das Glück, ein französischer Bürger zu werden, liefe ich Ihnen nach Rußland und wieder zurück.« Man lachte laut auf, klatschte in die Hände, und ein dicker Herr oben an der Tafel schrie mit kreischender Stimme: »Ecoutez, Citoyens! n'est – il pas un enragé?« Da wagte ich's im Ärger, dem schlimmen Tadler auch einen französischen Brocken aus meiner Fabrik zuzuwerfen, »Heureuse la France!« rief ich aus, »si ma rage aurait pris tous les Français!« Man lachte, klatschte noch einmal und entließ mich.

Zwei Nationalgarden führten mich nun, über ein Ackerfeld hin, einem Gehölze zu, das beinahe bis an die Schweizer Grenze sich erstreckt und abwärts weit ins Elsaß sich verläuft. Ich nahm dessen Lage genau in Augenschein und dachte: »Gibt dir der General eine abschlägige Antwort, so schleichst du nachts über die Grenze in dies Gehölze und wanderst auch ohne Paß nach Kolmar.« So eigensinnig beharrte ich auf meinem Vorsatze, mein Glück in Frankreich zu suchen. Zu Blotzheim fand ich den General in einer glänzenden Gesellschaft von Herren und Damen noch an der Tafel und trug, als ich öffentlich um die Ursache meines Hierseins befragt ward, mit eben dem Feuer und eben der Dreistigkeit, wie in Bourglibre, mein Anliegen vor, legte offenherzig meine Gründe dar und begleitete sie mit schriftlichen Beweisen. Auf den General wirkte meine Offenherzigkeit am meisten. »Wie ich merke, Citoyen,« sagte der General, »so ist Sein Sinn echt patriotisch. Laß Er mir die Briefe des Bischofs hier und geh Er indessen in ein andres Zimmer!« Man führte mich in die Kanzlei. Nach einiger Zeit kam ein Sekretär, fragte mich noch einmal sorgfältig aus, durchstöberte mein ganzes Portefeuille, forschte nach, ob ich nicht noch andre Schriften, Schreibtafeln usw. bei mir führte, ließ mich von einem Diener aussuchen und machte mir wegen der neuen Einrichtung, vermöge welcher das geistliche Wesen in Frankreich ganz abgetan wäre, allerlei Einwendungen, um mir die Lust, nach Kolmar zu wandern, allmählich zu benehmen. Er sprach von der Not, in die ich geraten würde, wenn ich keine Besoldung erhielte, beteuerte, daß er nicht begreife, wie mir der Bischof solche Zusagen machen könne, und versicherte, die Hoffnung, als Geistlicher mein Brot zu gewinnen, müßte bei der jetzigen Verfassung des öffentlichen Religionsunterrichts ganz gewiß scheitern. Allein ich berief mich standhaft auf die Berichte des Bischofs, der die Sache doch am besten wissen müßte, und brach im Feuer des Gespräches in die Worte aus: »Und kann ich mein Brot als Geistlicher nicht gewinnen, so will ich wilde Pflanzen essen und gern alles dulden, um ein französischer Bürger zu werden. Daß es mir mit diesem Entschlusse Ernst ist, können Sie aus dem Buche ersehen, das ich hier bei mir trage.« Ich zeigte Bryants Kräuterbuch. Der Sekretär lachte laut auf, rief aus: »Nun in aller Welt! ein solcher Enthusiast ist mir noch nicht vorgekommen!« riß mir das Buch aus der Hand und lief damit zum General. Derselbe kam jetzt selbst herüber, befragte mich über die Landkartenteile, die im Bryant lagen, und war sehr zufrieden, als ich ihm ganz unverhohlen den Gebrauch davon angab und die übrigen Blätter der Karte vorwies. »Wohlan!« sagte er, »weil Er denn ein so gar eifriger Patriot ist, so will ich versuchen, ob ich Ihm zur Erfüllung Seiner Wünsche behilflich sein kann; ein so reiner Bürgersinn und soviel Freiheitsliebe verdienen diese Belohnung. Es soll Ihm ein Paß ausgefertigt werden; aber laß Er sich warnen! bleibe Er genau auf der Straße nach Kolmar! wenn Er irgendwo nach der Seite auslenkt, so ist Er verloren und wird gewiß als ein Fremder unter die Guillotine geraten. Zu Kolmar stellt Er sich sogleich beim Ausschuß der öffentlichen Wachsamkeit. Merk' Er sich das!« Ich hüpfte fast vor Freude; sie schaute mir leuchtend aus den Augen, als ich diese Reden vernahm; die Sekretäre lachten darüber und flüsterten von meiner frohen Miene usw. nicht ohne Teilnahme. Ich versprach dem General heilig, seinen Befehlen pünktlich nachzukommen, und dankte ihm entzückt für seine Güte. Er ging zufrieden lächelnd weg und sagte: »Citoyen, freue Er sich nicht zu sehr! ich fürchte, meines Passes ungeachtet wird Er in Kolmar als Fremder und Geistlicher nicht geduldet werden. Noch begreife ich nicht, wie der Bischof Ihm in diesen Ausdrücken schreiben konnte.« Man fertigte mir nun folgenden Paß aus:

Liberté           Egalité           Fraternité

Laissez passer et repasser librement le Citoyen François Bronner, qui nous a déclaré vouloir aller à Colmar pour se rendre au Comité de Surveillance, qui jugera, si son zêle pour la liberté lui méritera le titre de citoyen français, au Quartier Général de Blotzheim le 6. Nivôse. 1793 l'an 2 de la République Française une et indivisible

L'Adjutant-Général, Leger.

Vu par le Général-Commandant en chef de l'Armée du Haut-Rhin.

Scherer. m.p.

Mit eigener Hand schrieb der General noch folgendes darunter:

Dans le cas contraire le Comité de Surveillance le renverra au quartier général pour le faire repasser à l'étranger. –

Der Paß von Zürich ward mir abgefordert und zurückbehalten, als man mir diesen übergab. Ich fragte, ob ich für die Ausfertigung etwas zu bezahlen hätte. »Nein!« sagte der Sekretär mit nicht unedlem republikanischem Selbstgefühl, »hier im Lande der Freiheit läßt sich der öffentliche Beamte nicht zweimal (vom Staate nämlich und vom Bürger) bezahlen.« Vergnügt, wie nach einem errungenen Siege, und stolz, jetzt nur von so uneigennützigen Obrigkeiten abzuhängen, ging ich aus dem Dorfe nach Sierenz. Es war ein Triumph in meiner Seele, daß ich nun doch, allen Hindernissen zum Trotze, meinem Ziele mich näherte. Nationalgarden, die auf der Straße hin und her marschierten, einzelne reitende Jakobiner mit roten Kappen oder mit Mützen, an denen Fuchsschwänze herabhingen, Bauern, die bald halbleise und furchtsam, bald schreiend und fluchend miteinander von den Gottlosigkeiten und Greueln sprachen, die sich die Nation (so nannten sie die Nationalversammlung) in Religionssachen zuschulden kommen lasse, war alles, was ich auf diesem Wege sah und hörte. Ruhig wanderte ich fort, hing mich an niemanden und beschloß, um morgen recht frühe in Kolmar zu sein, ungeachtet der anbrechenden Nacht, heute noch nach Habsheim zu laufen. Die Entfernung war größer, als ich geglaubt hatte. Dichte Finsternis umgab mich, und es gelang mir nur mit Mühe, auf der Straße fortzutappen und endlich, nach manchem Sturz in den Graben, das ersehnte Dorf zu erreichen.

Wie mir Leute sagten, die über die Gasse gingen, so befanden sich etwa fünf Wirtshäuser im Dorfe, aber fast alle hatten ihre Schilder eingezogen, weil ihnen weder Bedienung noch Lebensmittel um Assignate feil waren. Als ich zum besten Wirtshause kam, das man mir gewiesen hatte, ging ich hinein und bat um Nahrung und Herberge. Die Wirtin entschuldigte sich mit der Menge ihrer Gäste, wankte aber doch, ob sie mich nicht aufnehmen wollte; da erblickte mich der Kondukteur des Basler Postwagens, und raunte ihr ganz vernehmlich zu: »Schicken Sie den Kerl fort, er ist ein abtrünniger Pfaff und ein rasender Jakobiner.« Dieser Kondukteur war eben bei dem Sousgeneral zu Bourglibre im Zimmer gewesen, als ich meinen Patriotismus in vollem Glänze produzierte. Sein Angeben wirkte. Geschwinde sagte die Wirtin: »Citoyen, ich habe weder Essen noch Bett für Sie, suchen Sie eine andre Herberge!« Ich suchte, aber überall ward ich abgewiesen, überall hatte man der Gäste zuviele. Wenn ich nicht unter freiem Himmel übernachten wollte, so mußte ich mich bequemen, an einem elenden Häuschen, vor dem ein Schild hing, und das ich um seiner Armseligkeit willen gleich anfangs vermieden hatte, anzupochen und um Quartier zu bitten. Ich konnte nichts Gutes erwarten, aber Not bricht Eisen. Der Wirt, ein ungeschliffener, handfester Kerl, kam unter die Tür: »Was will Er, guter Freund?« – »Eine Nachtherberge.« – »Hat Er Brot? wir haben keins.« – »Ei Herr Wirt, Er hat wohl noch soviel, als ich brauche.« – »Keinen Bissen weiter, als wir selber bedürfen.« – »Nun denn, so kann ich etwas andres essen! Geb' Er mir, was Er mag!« – »Wir können nichts entbehren, müssen selbst Not leiden.« –

»Seine aristokratische Menschenfreundlichkeit verdiente fast, daß es wahr würde.« – hiermit ging ich aufgebracht fort. Er lief mir nach, ergriff mich beim Arme und sagte: »Nur nicht gleich so hitzig, Citoyen! Ich glaube, Er wäre wohl gar imstande, mir Verdruß zu machen. Wir haben Mangel, aber wenn Er mit dem wenigen vorlieb nehmen will, was wir Ihm vorsetzen, so kann Er hereinkommen.« Ich ging mit ihm in die rauchige Stube, in der an allen Tischen Soldaten saßen, tranken, aßen und schmauchten. Jetzt besah mich der Wirt von Kopf bis zu Fuße und sagte sanfter: »Um Vergebung, Citoyen! Man kann bei dieser Zeit nicht wissen, wen man vor sich hat! Wer sind Sie denn?« – »Ein Reisender, der von Basel nach Kolmar geht.« – «Darf ich fragen, was ist dort Ihre Verrichtung?« – »Ich reise in meinen eigenen Geschäften.« – »Sakrebleu!« rief jetzt ein Soldat, dem Ansehen nach ein Sergeant, hinterm Tisch hervor, »Er ist der Aussprache nach ein Deutscher, holla Spion!« – Ich kümmerte mich wenig um sein Geschrei, suchte einen ledigen Platz an den Tischen umher und setzte mich ohne Zeremonien nieder. Es war mir vom Gehen warm geworden, und die dumpfe Stube war heiß wie ein Schweißbad, ich legte also den Hut neben meinem Regenschirm und dem Bryant auf die Bank. »Bei meiner Seele!« schrie nun der Sergeant wieder, »das ist gar ein deutscher Pfaff! Seht mir nur seine Glatze an!« Hastig stand er auf und trat zu mir: »Den Paß her, wenn Er einen hat!« fuhr er trotzig mich an, »und was ist das dort für ein Buch? her damit!« Ich legte die Hand auf meinen Bryant und antwortete fest und kalt: »Citoyen, das Buch ist mein, nehmen Sie sich in Acht! Noch weiß niemand hier, wen Sie vor sich haben!« Er machte große Augen, der Wirt flüsterte ihm zu: »Ereifern Sie sich nicht, Citoyen! Man kann nicht wissen! Neulich war auch so ein Reisender da! Sie erinnern sich noch.« Der Sergeant blickte indes verächtlich auf mich nieder, warf die Unterlippe auf und sagte endlich mit rauhem Tone: »Seht nur die geschorne Platte an! was kann wohl dahinter stecken? Und hab' ich nicht das Recht, ihm seinen Paß abzufordern; er muß ihn vorweisen, und wenn er der Teufel selber wäre.« – »Citoyen, das müssen Sie!« sagte mir der Wirt kleinlaut und zuckte die Achseln. Ich zog mein Portefeuille hervor, suchte den Paß und legte ihn schweigend auf den Tisch. Der Sergeant nahm ihn auf und las. »Respekt!« sagte er ernsthaft, machte ein langes Gesicht, legte das Blatt weg und setzte sich ruhig an seinen Ort. Der Wirt nahm Platz an meiner Seite und fing an zu klagen, daß man jedem Hausvater die Quantität Getreide, welche er verbrauchen dürfe, bestimmt und alles übrige aufgezeichnet habe, daß man gezwungen sei, um einen gewissen Preis (Maximum) und noch dazu für Assignate sein Eigentum hinzugeben, daß man nicht einmal Bezahlung in Gelde ausbedingen dürfe und dergl. Ich erwiderte: »Zum Besten des Ganzen wäre es höchst nötig, daß mit dem vollen Vorrate des Landes haushälterisch gewirtschaftet würde, und daß zur Verhütung des Mangels die kornreichen Provinzen, wie das Elsaß, ihren Überfluß an Früchten gegen billige Preise an die minder fruchtbaren Länder abträten; was die Assignate beträfe, hätte er bei mir nicht zu befahren, seine Bezahlung in Papiergeld zu erhalten, denn ich besäße dermals noch keine.« Sein Blick ward heiterer, sobald er dies vernahm, er ging in die Küche und befahl geschwinde Brot, Suppe, Braten, Salat und Obst hereinzubringen, so daß ich statt des angedrohten Fasttags plötzlich Überfluß vor mir erblickte.

Nach und nach verloren sich die Gäste. Die einen gingen in ihr Quartier bei den Bauern, die andern verlangten zu Bette; nur wenige blieben. Der Sergeant saß neben einem Mädchen, das ab und zu gegangen war, die Speisen aufgetragen, die Leute bedient und den Wirt »Vater« genannt hatte. Um das Licht zu sparen, setzte man sich an den Tisch zusammen, wo ich saß. Der Sergeant tat sich gar keinen Zwang an, umarmte, küßte und drückte das Mädchen nach Herzenslust, sagte Zoten, die er am meisten belachte und wußte sich viel damit, nun endlich nach der neuen republikanischen Religion die Pfaffen nimmer scheuen und ihnen nicht mehr jeden Spaß mit willigen Mädchen beichten zu müssen. Das Mädchen fing mich zu necken an, nannte mich einen Weiberhasser, drückte mit der Hand meine Knie unterm Tische, so daß ich wegrücken mußte, und sagte mir leise, als der Soldat einmal hinausging: »Ärgern Sie sich nicht, Citoyen! Wir dürfen die Militärs nicht beleidigen, wenn wir ohne Verdruß durchkommen wollen! Man muß Geduld mit ihren Unarten haben. Stünde mir die Wahl offen, so möchte ich lieber bei Ihnen als bei ihm über Nacht bleiben.« – »Viel Ehre,« sprach ich, »sobald er hereinkommt, will ich's ihm zu wissen machen, daß er der Mamsell einen Gefallen täte, wenn er sie mir überließe.« – »Ach nein!« bat sie dringend, »sagen Sie das nicht! Es gäbe die größten Händel! Fast glaub' ich, Sie wären fähig, uns einen solchen Streich zu spielen.« – »Warum nicht?« erwiderte ich, »man muß die Wahrheit rumoren lassen!« – Der Sergeant kam wieder, trat zu dem Wirte und fragte ihn so vernehmlich, daß ich alle Worte verstand: »Kann man nicht in den Alkoven oder in eine leere Kammer?« – »Was wollen Sie darin?« – »Dumme Frage! Mamsell dort und ich –!« Der Wirt taumelte gähnend zu einem hölzernen Verschlage, öffnete ein Türchen und brummte: »Hier, ihr Brunftigen! es ist warm darin!« Der Soldat winkte dem Mädchen, es ging ohne Scheu und verschwand mit ihm. O, wie häßlich dünkte mich das! Ich hätte den abscheulichen Kerl von Hausvater anspeien mögen. »Guter Gott, an welchen Ort bin ich geraten!« dachte ich, hob die Augen empor und rieb die Stirne. Der Wirt beobachtete meine Mienen und bemühte sich, eine Art Entschuldigung vorzubringen. »Citoyen,« sagte er, »was wundern Sie sich? das ist jetzt allgemeine Sitte, seitdem wir keine Kirchen mehr haben.« – »Freilich!« dachte ich, »wo die Sittenlehre nicht durch gründlichen Unterricht zur Herzenssache ward, wo man sie von jeher nur als einen Nebenzweig der dogmatischen Religion behandelte, wo der Gottesdienst selbst größtenteils nur Zeremomentand war, da konnte es nicht anders werden; mit den Zeremonien, die so leicht abzuschaffen sind, mußte auch die Religion und Moral fallen.« Daß der Vater seiner Tochter Gelegenheit machte, dünkte mir doch zu abscheulich, als daß ich meinen Unmut ganz verbergen sollte. »Aber das Mädchen nannte Sie Vater!« wandte ich ein und blickte ihn zornig und verächtlich an. »Im Vertrauen,« so erwiderte er leise, »sie ist nicht meine Tochter, diese habe ich oben eingesperrt, damit sie mir nicht verdorben wird. Aber weil die Soldaten wissen, daß ich eine Tochter habe, so halt' ich ihnen diese Magd, welche sich für meine Tochter ausgibt. Die Kerle müssen ein solches Geflügel haben, wenn sie zufrieden sein sollen.« Dies beruhigte mich ein wenig, seine Tat war denn doch nicht die ganz häßliche Tat, für die ich sie gehalten hatte, obschon es mir noch immer abscheulich dünkte, daß ein Hausvater seine Dienstmagd den Wollüstlingen auf diese Art hingab. Ich verlangte zu Bette, er führte mich in eine offene Kammer, wo einige Bettstellen voll Soldaten lagen. Sorgfältig visitierte ich mein Bett, fand zwar alles reinlich und frisch überzogen, aber es ekelte mich doch ein wenig, deswegen kleidete ich mich nur zur Hälfte aus, verwahrte meine Sachen, so gut ich konnte, zwischen dem Strohsack und Unterbette und streckte mich in Gottes Namen unter die Decke. Die Müdigkeit machte, daß ich besser schlief, als ich gehofft hatte. Gegen Morgen weckte mich ein scharfes Licht aus einer Blendlaterne, mit der jemand vor meinem Bette stand und mir in die Augen zündete. »Wer da?« rief ich betroffen aus und fuhr empor. »Stille, stille!« lispelte eine leise Stimme, die ich sogleich für die Stimme der Buhlerin erkannte. »Was will Sie hier?« »Sehen, ob Sie auch gut schlafen, habe ich Ihnen nicht ein weiches, reinliches Lager bereitet?« – »Wohl! Sie soll dafür ein Trinkgeld haben; – aber gehe Sie nun!« – »Wie unfreundlich! Sind Sie denn ein gar so kalter Kannichts?« Hiermit zog die Freche mir die Decke weg, sah, daß ich mit Beinkleidern und Strümpfen im Bette lag und sagte: »Hätte ich's nur gewußt, daß Sie in Kleidern schlafen wollten, Sie sollten mir den neuen Überzug gewiß nicht bekommen haben. Wären Sie nur gar noch mit den Schuhen hineingelegen!« Sie ging von einer Bettstatt zur andern, leuchtete jedem Schlafenden in die Augen, schäkerte mit jedem und verschwand jetzt in eine Nebenkammer, aus der ich sie nicht mehr hervorkommen hörte.

Sowie ich am Tage aus dem Hause trat, sah ich einen Haufen Nationalgarden bei der Kirche versammelt, um ihre Brotpartionen abzuholen. Das war ein Gewimmel, ein Scherzen, Jagen und Hüpfen durcheinander, daß ich froh war, glücklich an dem Haufen vorübergekommen zu sein. An allen Hüten prangten Nationalkokarden, und fast an jedem Fensterladen hingen bunte Schilder mit dem bekannten Wappen der Republik, einem eiförmigen Eichenkränze, der zusammengebundene Stäbe samt einem darin steckenden Beile, umschließt. Mit großen Buchstaben stand rund umher geschrieben: Liberté, egalité, unité, fraternité ou la mort. Als ich an dem äußersten Wirtshause des Dorfes vorüberging, rief ein hitziger Bauer aus dem Fenster: »Seht ihr den Volksfeind dort? Er trägt nicht einmal eine Kokarde. Willst du die Nationalfarben aufstecken, aristokratische Bestie?« Ich nahm keine Notiz von dem, was er mir zuschrie, schaute nicht um und ging meiner Straße. Bald war ich im Freien. Aber ich nahm mir vor, sobald ich Gelegenheit fände, eine dreifarbige Kokarde zu kaufen.

Ich kam zu dem Städtchen Ensisheim. Nahe dabei, wo sich die Straße schwenkt, war eine Feldkapelle gestanden mit einem Kruzifix. Jetzt war sie eingerissen, der Schutt lag umher, die Statuen der Heiligen schauten darunter hervor, der Gekreuzigte lag darauf. Ich konnte nicht begreifen, wie ein religiöses katholisches Volk diesen Greuel der Verwüstung, ohne in Wut zu geraten, ansehen könnte, und fürchtete wahrlich, am Ende möchte die gute Sache der Vernunft und Freiheit durch übertriebenes, allzu hitziges Losstürmen auf diejenigen Vorurteile des Volks, die ihm am teuersten sind, alles verlieren, statt durch Mäßigung alles zu gewinnen. Um einigermaßen urteilen zu können, wie der gemeine Mann diese Bilderstürmerei aufnehme, setzte ich mich auf eine Bank unweit des Tores, wo ich die Rudera der Kapelle samt den Vorübergehenden im Auge hatte, und beobachtete deren Mienen und Geberden. Niemand kam die Straße, ohne zu seufzen, die Augen zum Himmel zu erheben und mit Bedauern wegzublicken. Sie schienen zu denken: »0, Gott, kannst du's ansehen? ich nicht!« Aber niemand gab einen mißbilligenden Laut von sich, jeder schien sich zu fürchten, unter der Guillotine zu fallen.

Ich ging in die Stadt. Eine Witwe gab mir zu essen und nähte mir eine Kokarde auf den Hut.

Über Rexheim langte ich, langsam dahinschleichend, nach anderthalb Stunden zu Mayenheim an, trat in ein schönes Wirtshaus an der Strahe und fand in der Stube ein paar Kutschen voll Reisender, die mit düstern Mienen einander ihr Bedürfnis zu essen klagten, welches der Wirt durchaus nicht befriedigen wollte. Auch ich trug mein Anliegen vor, denn ich hatte zwei starke Stunden, ohne ein Dorf anzutreffen, bis zum Städtchen Heilig-Kreuz zu marschieren und zwölf Uhr war eben vorüber. Allein ich ward trotzig angeschnurrt: »Hat Er Brot, Citoyen, so kann Er's überall essen, bei uns ist keines zu finden.«

– »Ei, was essen Sie denn?« – »Erdäpfel und Salat.«

– »So will ich mithalten.« – »Wir haben selbst nicht genug.« Diese Antwort, bitter und spottend vorgetragen, machte mich böse, ich sagte auffahrend: »Nun, so wünsche ich, daß wahr werde, was Er lügt.« Damit ging ich zur Tür. Ergrimmend langte der Wirt nach seiner Peitsche und rief mir einige Flüche und Drohungen nach. Es war ein sehr heiterer Wintertag, die Sonne schien warm, die Luft wehte gelinde. In einer ziemlichen Entfernung vom Hause setzte ich mich auf Bauholz, das in der Gasse lag, und schrieb, ausruhend, obiges in meine Schreibtafel, da nahte sich mir eine Frau und fragte mit ängstlichem Tone: »Ach, was schreiben Sie da? Wer Sie auch immer sind, tun Sie uns doch kein Leides! Mein Mann, der Wirt dort, war zu hitzig. Kommen Sie mit mir, wir wollen das Geschehene vergüten.« – »Sorgen Sie nicht,« erwiderte ich, »daß ich Ihnen schlimme Streiche spiele. Ich bin froh, wenn mir nicht schlimm mitgespielt wird.« – »Wer weiß,« fuhr sie fort, »wer weiß, was Ihr Vorhaben ist? Sie schreiben da unter freiem Himmel, im Winter, sind von uns beleidigt und schauen unser Haus von Zeit zu Zeit so bedenklich an. Wir wissen wohl, daß Beobachter im Lande herumreisen. Ach, schonen Sie unser!«

– »Frau, Sie können ruhig sein, ich bin gewiß kein Beobachter, aber begegnen Sie künftig jedem Reisenden besser als mir, etwa so, wie wenn er ein Beobachter wäre.

Adieu!« Sie wünschte mir sehr höflich eine glückliche Reise und ich ging durch das Dorf hinab. Als ich ein zweites Wirtshaus fand, trat ich hinein und bat um etwas zu essen. Landvolk und Soldaten saßen im Zimmer. Die Wirtin entschuldigte sich, daß sie nur wenig Lebensmittel besäße, legte mir aber Brot vor und sagte leise: »Lieber Herr! Sie sind ein Geistlicher, ich seh' es wohl; gedulden Sie sich nur ein wenig, bis einige von jenen unbändigen Gästen weggehen, die mir eben mit Gewalt andre Speisen abgefordert haben. Mein Vorrat ist zwar klein, aber Sie sollen doch genug zu essen bekommen.« So wurden die Unannehmlichkeiten, die mir mein pfäffisches Aussehen zuzog, doch hin und wieder durch einige Vorteile vergütet.

Sowie ich aus dem Walde trat und die Türme Kolmars vor Augen hatte, ward mir wärmer ums Herz, und ich glaubte, der Entscheidung meines Schicksals entgegen zu gehen. Die Bürgerwache am Tore rief mich nicht an; ungehindert trat ich in die Stadt. Ein Knabe führte mich zur Wohnung des Bischofs. Ich fand in einer ziemlich engen Gasse ein artiges aber nicht prächtiges Haus, die Gänge und Treppenwände mit Heiligenbildern behangen und alles sehr reinlich gehalten. Eine Haushälterin trat mir entgegen, der man es ansah, daß sie weder Hunger noch Mangel litt. Sie war, wie ich nachher erfuhr, die Verwandte des Bischofs. »Wen soll ich melden?« – »Bronner, den deutschen Geistlichen.« – Sie ging. Ich mußte lange auf dem Söller warten, sehr viele kleine Umständchen, der Rauchdunst, die Gemälde umher, die Stille des Hauses usw. erinnerten mich an mein oftmaliges Harren im Vorsaale des Herrn v. Ungelter. »0 Gott!« dachte ich, »soll ich etwa wieder unter solche Hände geraten?« Endlich rief man mich hinein. Ein ältlicher Mann mit etwas grauen Haaren, von frischem, aber eben nicht Ehrfurcht gebietendem Ansehen erhob sich von seinem Sofa und kam mir freundlich entgegen. »Sind Sie endlich da, mein lieber Bronner? Willkommen in Kolmar! Fast fing ich zu fürchten an, Ihr Entschluß habe Sie gereut, so lange zögerten Sie.« Er zog mich auf das Sofa, ich entschuldigte mein langes Ausbleiben und erzählte ihm, wie viele Schwierigkeiten besiegt werden mußten, bis das Vergnügen, neben ihm zu sitzen, von mir errungen ward. Einmal ums andere rief er aus: »Was? Man wollte Sie an der Grenze nicht einlassen? Der Gesandte wollte Ihnen keinen Paß erteilen? Das ist eine Wirtschaft! Soll ich nicht die Freiheit haben, mir einen Mitgehilfen zu wählen, welchen ich will?« Ich zeigte ihm meinen Paß. Er schien darüber in Verlegenheit zu geraten. »Lassen Sie das!« sprach er mit hoher Miene und gab sich ein Ansehen, »was sollen Sie erst zum Komitee de Surveillance laufen? Sie sind einmal hier unter meinem Schutze, das ist genug. Ich bin konstitutioneller Bischof des Oberrheins und will den sehen, der mir's verwehren wird, meine Mitarbeiter im Weinberg des Herrn zu wählen, wie ich kann.« – Unmöglich war's, mich des Urteils zu erwehren: »Schwacher eitler Mann!« Aber ich ließ nichts merken, machte nur meine Einwendungen und Gegenvorstellungen und bewog ihn endlich, daß er versprach, morgen wollte er selbst mich zum Präsidenten des Komitees begleiten. Nun erkundigte ich mich um den neuesten Zustand des Religionswesens in Frankreich. Er behauptete geradezu, die Verfassung der beeidigten Geistlichkeit sei noch ebendieselbe, wie beim Anfange der Revolution; ihm werde seine Besoldung vom Staate, jedem Landpfarrer aber von seiner Gemeinde ausbezahlt; die Kirchen seien zwar größtenteils in Tempel der Vernunft umgeändert, aber dennoch habe man noch einige derselben dem Gottesdienste gewidmet, er müsse eine große Gemeinde besorgen, übernehme selber alle bischöflichen Verrichtungen, weihe Geistliche, predige, sitze zur Beichte, halte das Hochamt, besuche die Kranken und unterrichte die Kinder usw. Es sei ihm sehr lieb, nun an mir einen Gehilfen zu haben; ich dürfe ihm nur in die Hand arbeiten und sein Vikar sein. Auch ich solle predigen, zur Beichte sitzen, katechisieren, Messe lesen und Kranke besuchen. Er wolle mir dafür zu einem hinlänglichen Einkommen verhelfen und, würde meine Besoldung nicht ergiebig genug ausfallen, so wisse er einen Freund beim Departementsarchive, der mir gern etwas zu verdienen gebe, wenn ich die alten Schriften, welche man aus allen aufgehobenen Klöstern nach Kolmar geschafft habe, entziffern möge, wozu mir als ehemaligem Registrator gewiß weder Geschick noch Lust mangeln werde. Bereits habe er dem Archivar von mir gesagt. Ich war ganz willig, mir alles gefallen zu lassen, und erhielt das Versprechen, er wolle mich morgen sogleich nach dem Frühstück zu dem Archivar führen, teils um mir vorläufig einigen Verdienst auszumitteln, teils um nähere Erkundigung einzuziehen, wie ich mich vor dem Komitee de Surveillance zu verhalten habe.

Indes war die Nacht angebrochen und er ließ mich, nicht ohne einiges Bedenken, in das lutherische Wirtshaus zum Bocke führen. Allein es war sonst nirgends ein Gasthof für Reisende geöffnet. Also ergriff er die klügste Partie, spielte den Toleranten und sandte mich zum Bocke. Nach langem Pochen und Bitten ward ich endlich eingelassen. Unter vielen Protestationen, daß nichts Bessres zu haben sei, setzte man mir ein kleines Abendessen von Erbsensuppe, Ragout und Salat, mit einem Nachtische von Walnüssen und Käse vor. Ich führe den Küchenzettel deswegen hier an, damit es jedem klar werde, was ich eigentlich mittags und abends für den Preis eines französischen Laubtalers zu essen erhielt. Ich begriff wohl, daß dieser Preis im Grunde nur wegen des Papiergeldes so hoch stand und versuchte die Wirtsleute zu überzeugen, daß ich keine Assignate besäße, um sie zu bewegen, mir eine billigere Zeche zu machen. Aber da half nichts, der Wirt brummte: »Es ist bei Lebensstrafe verboten, zweierlei Preise zu machen, und der Teufel möchte wirtschaften, wenn man nicht an andern Gästen gewänne, was man an Soldaten verliert.« So oft ich zu Bette ging, forderte man mir die Bezahlung für den vorigen Tag ab, aus Besorgnis, ich möchte während der Nacht verschwinden.

Als ich hier zum erstenmal übernachtete, fühlte ich in der Einsamkeit der Nacht recht lebhaft, daß hier, allem Anscheine nach, meine Hoffnung, unabhängig leben zu dürfen, scheitern würde, und daß ich wieder das elende Handwerk eines Amanuensis und Bischofsknechtes treiben müßte. Schon der Gedanke an eine solche Sklaverei erregte Schauer und Ekel in mir. Dennoch war ich entschlossen, eine Weile auszuharren und die Zeit abzuwarten, bis man mich kennen würde, dann hoffte ich, sollte es mir an Freiheit und besserm Fortkommen nicht fehlen.

Den 28. Dezember schlenderte ich, ehe ich den Bischof besuchte, durch einige Gassen der Stadt, lüstern, etwas Interessantes zu beobachten. Am hohen, buntgeschmückten Freiheitsbaum vorüber kam ich zur Münsterkirche, über deren Hauptportal mir eine sehr große schwarze Tafel in die Augenfiel, auf der mit goldenen, kolossalen Buchstaben die Inschrift glänzte: Temple de la raison, Tempel der Vernunft. »O, möchtest du ihr im Ernste geweiht sein,« dachte ich, »möchte die Vernunft wirklich irgendwo einen Tempel haben und Menschen, die ihr gehorchen! Aber hier ist nicht alles so richtig. Ich fürchte, nur Zwang oder Neugierde führt zu diesem Gebäude.« So gern ich's gesehen hätte, wenn das Volk die Religion der Vernunft, das Naturgesetz allein, so wie es mehrere der besten Schriftsteller darstellen und die meisten denkenden Menschen erkennen, allgemein angenommen hätte, so wenig konnte ich glauben, daß es sich durch einen Machtstreich seine liebsten Vorurteile entreißen lassen würde, und daß mit diesen Vorurteilen, wenn sie auch sänken (wegen des Mangels an besserm Unterricht), nicht auch die Stützen der Moralität mit einsinken würden. Immer betrachtete ich also den Tempel der Vernunft mit einer Art Scheu.

Ich ging auf die andre Seite des Münsters, da sah ich eine Herde Sanskulotten, die sich lustig um eine rotbemalte Bühne jagten; sie war mit einem ebenso gefärbten Geländer eingefaßt, und eine breite Treppe führte hinauf. Eine gute Weile zerbrach ich mir den Kopf, was das vorstellen möchte, endlich fragte ich einen ehrlichen Taglöhner, der mir zur Seite stand: »Das ist gewiß ein Rednerstuhl, um darauf Haranguen ans Volk zu halten?« Der Arbeiter beguckte mich von Kopf bis zu Fuß, schlug ein lautes Gelächter auf und sagte: »Citoyen, Er ist gewiß ein Fremder! Sieht Er denn nicht? Das ist die Guillotine; die beiden aufrechtstehenden Säulen mit dem Beile dazwischen hat man vor ein paar Tagen nach Ruffach geführt, um dort ein paar Aufrührern die Köpfe abzureißen.« – Ich schauerte zusammen, als er so trocken und kalt von der grausamen Maschine sprach, faßte aber doch den Mut, ihn zu fragen: »Hat man auch hier schon jemanden guillotiniert?« Er antwortete barsch: »Nicht viele, etwa drei, ein paar Spitzbuben und ein Weib.« – Nie ging ich ohne widrige Empfindung an der häßlichen Maschine vorüber.

Ich trabte durch mehrere Gassen, ohne etwas Auffallendes anzutreffen; endlich öffnete sich ein geräumiger Platz vor einer Kirche, auf welchem ich, bunt durcheinander in großen Haufen, Altäre, Säulen, Kirchenbänke, Statuen, große Bilderrahmen, Beichtstühle, Gitter usw. usw., alles zerschlagen und verdorben, umherliegen sah; ein paar Sanskulotten hielten Wache dabei, der eine hatte sich gar bequem einen Beichtstuhl zum Schilderhause gewählt und rief den Mädchen lächerliche Einladungen zur Beicht und Buße zu, arme Juden klaubten im vergoldeten Holzwerke, einige Karren wurden von Lutheranern scherzend mit Heiligenbildern beladen, ein Kommissar handelte mit einigen Kauflustigen um allerlei Geräte, Katholiken gingen vorüber, knirschten mit den Zähnen und bissen in die Lippen mit grimmigen abgewandten Blicken. Ich fragte einen Vorübergehenden, der eine ziemlich ruhige Miene machte: »Citoyen, was hat denn dieser Trödelmarkt zu bedeuten?« – »Merken Sie's denn nicht?« antwortete er verdrießlich, aber nur halblaut, »hier wirft man das Heiligtum unter die Schweine. Es ist die wahre Zerstörung Jerusalems.« Immer höher stieg meine Verwunderung, wie sich ein Volk, ohne aufrührerisch zu werden und so stillschweigend, seine Heiligtümer nehmen lassen könnte, und ich hielt es für übertriebene Kühnheit, für eine Art Grausamkeit, Katholiken durch den öffentlichen Anblick einer solchen Verwüstung täglich zu neuem Mißvergnügen aufzureizen und hiermit gleichsam ihrer allerheiligsten Begriffe zu spotten.

Nun ging ich zum Bischofe und frühstückte mit ihm. Um mehr ins klare zu kommen, fragte ich ihn, wie es denn am Christtage mit dem Gottesdienste gehalten wurde? Da erzählte er mir, die Obrigkeit habe nach langem Bitten der Geistlichen die ehemalige Jesuitentkirche an diesem Tage zum Gebrauche sowohl für Katholiken als Protestanten zu eröffnen erlaubt und es beiden Teilen überlassen, einander auszuweichen und wegen Einteilung der Zeit überein zu kommen. Er habe die Morgenstunden von 4 bis 10 Uhr gewählt und vorgestellt, die Katholiken bedürften, um ihrer Beicht und Kommunion ordentlich abzuwarten, wenigstens dieser Stunden. Es sei ihm an sich selbst zuwider gewesen, Lutheranern den Zutritt in eine Kirche zu lassen, die immer ausschließlich nur von Katholiken besucht worden wäre, und er habe gehofft, man würde ihnen am Ende wohl eine andre leere Kirche einräumen. Allein dies sei nicht geschehen, die Protestanten hätten, weil er sich mit ihnen nicht freiwillig vertragen wollte, die Hälfte des Vormittags, nämlich die Stunden von 8 bis 12 Uhr in Anspruch genommen und ihn, der sich an ihre Prätensionen nicht kehrte, während des Gottesdienstes in der Kirche überfallen, es sei daher ein Auflauf und ein lärmender Streit entstanden, so daß es beinahe zu Schlägereien gekommen wäre, er habe aber die Vorsicht gebraucht, die Katholiken noch zur Not von Tätlichkeiten abzuhalten; zwar hätte es ihm nur einen Wink gekostet, so wäre das Volk über die Lutheraner hergefallen und hätte sie, als die schwächere Partei, tapfer durchgeklopft. Zu einer andern Zeit wäre das wohl angegangen, aber in so kritischen Umständen, als die gegenwärtigen seien, müßte man Klugheit für Recht gehen lassen. Er vertraute mir ferner, sein Benehmen habe dennoch auf die Obrigkeit üblen Eindruck gemacht, er fürchte, in Paris angeklagt und zur Verantwortung gezogen zu werden, und habe eben eine Verteidigungsschrift abgefaßt, die er mir vorlas. Sie war sehr lang und zeugte von einem sehr beschränkten Kopfe, von viel Intoleranz und von noch mehr Eigendünkel und bischöflicher Selbstgenügsamkeit. Ich schüttelte den Kopf und äußerte bescheiden, wenn ich am Christtage zugegen gewesen wäre, so hätte ich ihm zur friedfertigsten Vertragsamkeit gegen die Protestanten geraten, es müßte doch möglich gewesen sein, die Beichtenden am Vorabend und am Feste morgens von 4 bis 6 Uhr abzuhören und dann mit dem Hochamt, der Predigt und Kommunion bis 8 Uhr fertig zu werden. Er wollte mir dagegen begreiflich machen, dies wäre gerade der Weg gewesen, es mit den Katholiken selbst vollends zu verderben, denn sie hielten die beeidigten Priester und Bischöfe ohnehin für halbe Lutheraner. Ich meinte, man müßte dergleichen Beschuldigungen nicht achten, sondern recht tun und die Leute belehren. Allein der Bischof war andern Sinnes, bezeigte mir aber wegen meiner Äußerungen so wenig Mißfallen, daß er mir vielmehr mit vielem Zutrauen von meinen künftigen geistlichen Verrichtungen sprach und mich auf den kommenden Mittag zu Tische lud. Meine Lust, sein Vikar zu werden, hatte sich dagegen völlig verloren. Was wollte ich in Gesellschaft eines so eiteln, intoleranten Mannes beginnen? Wie konnte ich hoffen, nach meiner Überzeugung lehren zu dürfen? Meine Lage war bereits sehr unangenehm. »Die beste Partie, die du ergreifen kannst,« sagte ich mir selbst, »ist die, dich sobald als möglich von ihm los zu machen.« Indessen wollte ich mich von ihm gängeln lassen, bis sich ein Seitenweg fände, seiner bischöflichen Gewalt zu entwischen.

Nun führte er mich zu seinem Freunde dem Archivar. Er war nicht mehr zu Hause. Im ehemaligen Jesuitenkollegium, wo wir ihn finden sollten, hieß es, er habe sich eben ins Comité du District verfügt, und Martin entschloß sich, ihn auch dort aufzusuchen.

Als wir durch ein Bogengewölbe gegangen waren, streckten uns ein paar Kanonen die drohenden Öffnungen entgegen. Neben den Kanonen waren rechts und links zwei Türen. Auf jener Zur «Rechten stand die Aufschrift: Comité du District, auf der andern: District de Colmar. Mein Führer trat zweifelhaft, ob er sollte, zur ersten hinein. Es wunderte mich, daß er nicht bessern Bescheid wußte, und ich folgte ihm mit erschrockenem Herzen. Der gesuchte Archivar war da, kam dem Bischöfe entgegen und trug alle Anzeichen von Verlegenheit auf dem Gesichte. Der Bischof sagte einiges von dem, was er mit mir vorhabe, bat ihn leise um Rat, wie es einzuleiten sei, um bei dem Komitee de Surveillance keine Hindernisse zu finden, und geriet bald ins Stocken, denn zwei Mitglieder der Distriktsverwaltung, die im Komitee arbeiteten, verwandten kein Auge von ihm und horchten genau auf seine Worte. Der eine war ein wohlgebildeter, schlanker, ernster, anstelliger Arbeiter, der seine Geschäfte mit Leichtigkeit zu machen schien, der andre ein starker, etwas beleibter, ungeschlachter polternder Mann. Dieser näherte sich mit einer höhnischen Miene und sagte spottend: »Eh voilà, Citoyen Martin! wie geraten Sie hierher?« Der Bischof erklärte ihm, furchtsam und betroffen, die Ursache seines Hierseins. Das Distriktsmitglied lachte laut auf und erwiderte: »Haha! Sie rekrutieren in Deutschland, wenn es im Elsaß an Gehilfen fehlt!« Er wandte sich an mich: »Citoyen, Sie kommen zur Unzeit, bei uns hat die Pfafferei ihr Ende erreicht, hier werden Sie Ihr Heil nicht finden.« – Der Bischof sagte, er könnte mich sehr wohl brauchen. – »Könnten Sie das?« antwortete der spottende Mann mit schalkhaftem Tone, »sehr gut also, Citoyen Martin, daß Sie sich hierher verirrten! Es scheint, Sie haben im Komitee de Surveillance Ihre Freunde (mit einem stechenden Seitenblicke auf den Archivar sprach er das) und möchten das Heer unsrer geistlichen Schmarotzer gern auch noch mit einem Ausländer vermehren. Aber dafür soll gesorgt werden, verlassen Sie sich darauf, Citoyen,« sprach er zu mir, »Er setzt sein Gesuch schriftlich auf und bringt es nachmittags in eigener Person hierher!« – Martin nahm Abschied; der Archivar begleitete uns und sagte mir leise: »Kommen Sie frühe nach Tische, so treffen Sie mich allein!« und ging schüchtern wieder zurück. Der Bischof erzählte mir sogleich, als wir allein waren, der Spötter sei ein Geistlicher gewesen, welcher vor einiger Zeit wegen schlechter Aufführung von ihm bestraft ward, habe das Priestertum abgeschworen und öffentlich seine Formaten (Zeugnis der Weihe) verbrannt. Nun spiele er den patriotischen Eiferer und suche sich für die erlittene Strafe zu rächen. Ich sollte mich nur an den Archivar halten und übrigens keiner Furcht Raum geben. Er wollte es so gewiß lenken, daß ich bleiben dürfte.

Kleinmütig begleitete ich ihn nach Hause, ging in meine Herberge und verfaßte die verlangte Bittschrift.

Alle meine Angaben belegte ich mit schriftlichen Beweisen, deren etwa acht Stück sein mochten. Auch die Briefe des Bischofs und meine Formaten befanden sich darunter. Die ganze Bittschrift füllte einen halben Bogen in Folio und war an das Komitee de Surveillance des ersten Kantons der Gemeinde Kolmar adressiert.

Sogleich nach Tische eilte ich, das Comité du District wieder zu finden. Lange lief ich vergebens durch die Gassen. Endlich gelang es mir doch. Der Archivar, des Bischofs Vertrauter, wartete meiner schon lange. Sogleich übergab ich ihm meine Bittschrift. »Ach schade,« rief er aus, »daß Sie der Bischof im Ungestüm seines Eifers irregeführt hat! Ihr Paß und Ihre Bittschrift lauten ja an das Komitee de Surveillance, und nun verschlägt Sie das Schicksal hierher, wo lauter Feinde des Bischofs sitzen! Alles wäre gut gegangen, wenn sich Martin die Unvorsichtigkeit nicht hätte zuschulden kommen lassen, Sie zu mir zu bringen und sogleich von Ihrer Bestimmung zu schwatzen. Nun ist schwerlich zu helfen. Man ist einmal aufmerksam auf Sie und wird dem Komitee de Surveillance kaum gestatten, unbefangen über die Entscheidung Ihres Schicksals zu deliberieren. Machen Sie sich nur gefaßt, wieder nach Deutschland zurückgeschickt zu werden, dies ist noch das beste, was Ihnen widerfahren kann.« Indem der Archivar dergleichen Klagelieder anstimmte, trat der abgeschworene Geistliche, ein Mitarbeiter im Komitee, herein und begrüßte mich sogleich mit den Worten: »Ha! schon da, Citoyen Bischofsknecht?« Und zum Archivar sprach er: »Was haben Sie doch mit dem Bischof zu schaffen, Citoyen? Sind Sie sein Nikodemus, der nachts zu ihm ins Haus schleicht?« Der Archivar stammelte eine Art Entschuldigung, nahm nach einer Weile seinen Stock und Hut und schlich davon. Der Exgeistliche blätterte erst in einigen Schriften und wandte sich dann wieder an mich: »Hör' Er, Citoyen, kannte Er das Gesetz, dass jeder Deutsche, der sich nach Frankreich wagt, guillotiniert werden soll?« Unverhohlen antwortete ich: »Von dem Gesetze wußte ich und fragte ausdrücklich an, ob es auf mich anwendbar sei. Man gab mir die deutlichste Versicherung, dass ich nichts zu befürchten hätte, so kam ich.« Indes trat der jüngere und stillere Arbeiter des Komitees herein. Der Exgeistliche trug ihm meinen Kasus von der ungünstigsten Seite vor und wollte mich durchaus guillotiniert wissen. Der andre forderte mir ein gültiges Zeugnis ab, dass man mir die Verheißung getan habe, ich sei von dem Gesetze ausgenommen. Ich zog meine Bittschrift aus der Tasche und wies die beiden Briefe des Bischofs vor, die ich als Belege der Bittschrift beigefügt hatte. Sie lasen und brachen beide in ein lautes Gelächter aus, als sie auf die Äußerungen desselben über die Fortdauer seiner Besoldung und die wundertätige Versorgung der Arbeiter im Weinberge des Herrn stießen. »Es zeigt sich,« rief der Exgeistliche aus, »daß der gute Citoyen da ein Betrogener ist, der Bischof hat Ihn hinter's Licht geführt, dieser muß bestraft werden. Citoyen, wieviel kostete Ihn die Reise? Gebe Er die Summe nur vollständig an, der Bischof soll Ihm alles, bis auf den letzten Heller vergüten.« – »Um Vergebung, Citoyen!« sagte ich, »der Bischof hat mir zwar die Wahrheit, wie ich merke, nicht berichtet, aber ich will den Schaden, der mir dadurch zuging, gern selbst tragen, denn es ist mir widerlich, einen andern meinetwegen in Verlegenheit gesetzt zu sehen!« Zornig antwortete er: »Ei nun, so gehe Er ohne Vergütung zum T...! – Doch laß Er sehen, was hat Er da für eine Bittschrift? – O pfui! das ist ja eine ganze Predigt! Wer wird das Zeug alles lesen? Und die Belege hier – haha! Formaten! Will Er die öffentlich verbrennen lassen?« – »Ich liebe den Lärm nicht,« erwiderte ich, »den eine solche auffallende Handlung macht, und glaube, sie fruchte nichts, schade aber dem Geistlichen bei allen Schwachen. Meine Sache wäre, stilltätig durch Belehrung an Verbreitung der Aufklärung und des wahren Patriotismus zu arbeiten.« – Der Exgeistliche lachte laut auf und rief: »Da seht mir einmal den ganzen Kerl an! Er spricht von Aufklärung und ist in seiner Kleidung, in seinem Benehmen und allen seinen Manieren ein Pfaff. Er hängt sich an den närrischen Bischof und will von Belehrung des Volkes sprechen, das möchte mir eine hübsche Belehrung sein!« – Beschämt stand ich da und sagte nichts als: »Citoyen, Sie kennen mich nicht und wollen mich nicht einmal kennen lernen, sonst hätten Sie wenigstens meine Bittschrift gelesen.« – »Die mag lesen, wer mehr Muße hat als ich,« erwiderte er spottend, »man kennt den Vogel bald am Gesänge! Wer möchte wohl leeren Worten trauen? Komm' Er nur mit mir zum Präsidenten des Distrikts, wir wollen sehen, ob der mehr Geduld hat, als ich!«

Er führte mich zur Tür, auf welcher die Aufschrift paradierte: District de Colmar. Wir stiegen eine Treppe in ein großes Zimmer hinauf, wo an einer langen Tafel die Mitglieder der Distriktsverwaltung saßen, von einer Menge Bürger und Bauern umringt. Wir drängten uns durch zum Präsidenten. Mein Begleiter legte ihm spottend meine Bittschrift vor und belehrte ihn kurz über meine Erscheinung. Der Präsident durchblätterte die Belege und sprach: »Der närrische Pfaff tut sich, wie es scheint, auf seine pfäffischen Zeugnisse etwas zugute.« – »Nichts mindres,« sagte ich, »aber ich wollte Ihnen beweisen, daß meine Angaben richtig sind, und daß ich ein ehrlicher Mann bin.« – »Ein Narr mag Er sein,« erwiderte der Jakobiner mit seiner roten Mütze, »daß Er sich von dem aberwitzigen Bischof so äffen läßt. Der hat uns am Christtag schöne Streiche gemacht. Nun beruft er gar noch Helfershelfer aus einem feindlichen Lande. Er soll seinen Lohn dafür erhalten. Hört Er, Citoyen! Mit diesen beiden Bischofsbriefen kommt Er uns ganz zur gelegenen Zeit, die erhält Er auf allen Fall nicht wieder zurück. Sein frommer seeleneifriger Bischof soll erfahren, welchen Gebrauch wir davon zu machen wissen.« Er reichte jetzt die Bittschrift samt den Belegen einem Mitgliede des Distrikts hin und trug ihm auf, sie durchzulesen. Das Mitglied rief mich zu sich und fing an, eine kleine Stelle zu lesen, aber plötzlich warf er alles auf den Tisch und rief aus: »Wer hätte Geduld genug, das lange Gewäsch zu durchlaufen? Wir können die Zeit nicht so verderben. Scher' Er sich mit seinem Quark zum Komitee de Surveillance, an das er adressiert ist!« Hiermit gab er mir meine Schriften in die Hand, mein Begleiter nahm mich wieder in Empfang und führte mich ins Komiteezimmer zurück. »Hier sitz Er auf den Stuhl,« sprach er trotzig, »bis eine Wache kommt und Ihn zum Nationalagenten führt, der Ihn wohl verwahren wird.« Das Verwahren gefiel mir gar schlecht, aber was wollte ich machen? Ich stand einmal in Feindes Gewalt und mußte mit mir anfangen lassen, was man eben wollte.

Lange saß ich da und beobachtete, wie die Herren ihre Geschäfte behandelten. Endlich, als die Sonne hinabsank, erschien ein Nationalgardist, dem man befahl, mich zum Nationalagenten zu führen. Meine Bittschrift mit allen ihren Belegen wurde mir in einem versiegelten Päckchen zugestellt, um sie dem Nationalagenten zu übergeben. Auf dem Wege plauderten wir ziemlich vertraut über die neue Ordnung der Dinge, mit welcher der Gardist gar nicht zufrieden schien. Ein gutes Trinkgeld beim Eintritt ins Haus des Nationalagenten machte den Mann so treuherzig, daß er mir sagte: »Citoyen, wenn Sie in Gefahr sind, hier unglücklich zu werden, so sagen Sie mir's, ich begleite Sie vor's Tor, und Sie sollen frei hingehen, wohin es Ihnen beliebt. Wegen einer Ausrede lassen Sie mich sorgen!« – »Ich danke Ihm, lieber Mann,« erwiderte ich, »für Seine Bereitwilligkeit, mir los zu helfen, aber ich kann keinen Gebrauch davon machen und sehe die Gefahr, in der ich schwebe, eben nicht für wichtig an.« Unter freundlichem Händedruck schieden wir voneinander.

Es war ein sehr unansehnliches Bürgerhaus in der Vorstadt, wo der Nationalagent wohnte. Als ich ins Wohnzimmer trat, hieß mich eine nicht unartige Frau mit ein paar Kindern willkommen. Dieser Umstand gab mir gute Hoffnung, denn ich dachte: »Ein Mann, der Gatte und Vater ist, kann unmöglich so grausam und gefühllos sein, als ein hagestolzer Pfaff.« – »Haben Sie Geduld, Citoyen,« sagte die wackere Frau, »bis mein Mann aus dem Spital zurückkommt! Es ist eine Menge Verwundeter dort angelangt, die alle von neuem verbunden werden müssen.« Also ist der Mann ein Wundarzt, schloß ich und machte mich von seiner Seite auf wenig Schonung gefaßt. Bis er kam, las ich im Martial, den ich bei mir führte und beantwortete die seltenen Fragen der Hauswirtin, die fleißig nähend mir gegenüber saß. Endlich langte Herr Deps, der Nationalagent an. Seine Frau ging ihm vor die Tür entgegen, sobald sie seine Tritte auf der Treppe vernahm. Ich hörte sie halblaut sagen: »Es erwartet dich drinnen ein Fremder, er scheint mir ein stiller ordentlicher Mensch. Schon lange sitzt er am Tische und liest.« Ein junger, frischer Mann in Jakobinerkleidung trat herein und grüßte mich sehr freundlich. Sogleich übergab ich ihm mein Päckchen, erzählte mit Eifer, wie sonderbar ich bei der Distriktsverwaltung behandelt worden sei, setzte meinen Patriotismus ins gehörige Licht und bat ihn um Schutz und Hilfe. »Die Herren haben sich übereilt,« sagte er, »sobald sie den närrischen Bischof sahen, so glaubten sie, in Ihnen nichts weiter als einen Pfaffenknecht vor sich zu haben, und beurteilten Sie sofort nach diesem Vorurteile.« Er las meine Bittschrift mit ihren Belegen ganz durch, klopfte mir freundlich auf die Schulter und sagte: »Guten Mutes, Citoyen, ich sehe, Sie wollten sich nur vermittels des Bischofs hereinschwärzen. Sie haben wahre Liebe für Freiheit und Aufklärung. Solche Leute brauchen wir! Geben Sie keinem trüben Gedanken Raum! Das Komitee des Distrikts schreibt mir zwar, ich soll Sie in Verwahrung nehmen, aber ich finde das nicht nötig. Geben Sie mir Handschlag und Wort, daß Sie von hier nicht weggehen wollen, ohne Abschied bei mir genommen zu haben, so bin ich's zufrieden (ich versprach mit Handschlag was er verlangte). Ihr Schicksal,« fuhr er fort, »soll bald eine ganz andre Wendung erhalten, verlassen Sie sich darauf! Ich nehme Sie in meinen Schutz, fürchten Sie nichts! Ohne meine Beistimmung kann Ihnen kein Haar gekrümmt werden. Ich sehe, Sie sind ein erfahrener Schriftsteller, wir bedürfen bei unsrer Munizipalität eines geschickten Übersetzers französischer Verordnungen, wer weiß, ob ich Ihnen diese Stelle nicht zuwenden kann? Morgen kommen Sie, frühe um acht Uhr, in die Munizipalität, wir wollen sehen, ob Sie dort nicht zu gebrauchen sind! Abends um 4 Uhr aber erscheinen Sie vor dem Komitee de Surveillance, das im ehemaligen Jesuitenkollegium seine Sitzungen hält. Mein Vater präsidiert, ich will ihn im voraus zu Ihren Gunsten stimmen. Sprechen Sie herzhaft und kühn, dann wird alles gut gehen!«

Den 29. Dezember erschien ich zur bestimmten Stunde in der Munizipalität. Citoyen Deps stand unter dem Tore, als ich kam. Ich zog meinen Hut. »Pfui!« rief er, »lassen Sie das pfäffische Zeremonienwesen! Im Lande der Freiheit sind wir alle gleich.« Hiermit riß er mir den Hut aus der Hand und drückte ihn fest und derb auf meinen Kopf. Die Beamten bei der Munizipalität fanden freilich, dass sie eines Konzipisten und Abersetzers bedurften. »Aber,« sagten sie, »der Citoyen erhält doch nicht soviel Besoldung, als er zu seinem Lebensunterhalt nötig hat, wie will er sich denn fortbringen? Es kann lange anstehen, bis er verdient, was er braucht!« Auf diese Weise lehnten sie es ganz gelinde ab, mich anzustellen. Aber Deps verlor den Mut nicht. »Bleiben Sie nur noch eine Weile hier,« sprach er, »es wird sich alles geben!«

Abends stellte ich mich vor dem Komitee de Surveillance. Man setzte mich neben dem Präsidenten an einen runden Tisch, um welchen die Mitglieder, etwa zwölf an der Zahl, ihre Plätze einnahmen. Ich mußte die Begegnung, die ich bei der Distriktsverwaltung des bischöflichen Geleites wegen erfahren hatte, ausführlich erzählen, meine Bittschrift Punkt um Punkt vorlesen und mit denjenigen Erläuterungen begleiten, welche die Mitglieder bei jeder Stelle mir abfragten. Allmählich geriet ich in Feuer und ließ meinen Freiheitssinn in vollem Glanze strahlen. Einige Mitglieder riefen aus: »Schade, wenn wir solch einen Mann wieder ins Ausland schickten! Er ist ein wahrer Patriot!« – »Citoyen,« rief ein andrer, »wir könnten einen Redner im Tempel der Vernunft brauchen, Sie scheinen mir die echten Grundsätze der Vernunftreligion zu haben; möchten Sie sich wohl dazu verstehen, dem Volke die Grundsätze der Moral zu erklären?« – »Gar gern,« antwortete ich, »nur besorg' ich, meine Vorlesungen möchten nicht immer ganz mit dem Sinne derjenigen harmonieren, welchen gegenwärtig die Belehrung des Volkes anvertraut ist.« – »Lassen Sie diese Sorge!« erwiderte der Mann, »wir wollen Ihnen schon sagen, was Sie vortragen sollen oder nicht!« Ich zuckte die Achseln und dachte: »Hier wärst du also wieder auf dem Punkte predigen zu müssen, was andern gefiele! Das ist vielleicht noch schlimmer, als die Zensur des Herrn Dompropsts!« Ein dritter im Jakobinerkostüm rief: »Der ganze Vorschlag ist ein toller Einfall! Wie könnt ihr glauben, daß ein Pfaff in einem andern als im pfäffischen Tone öffentliche Reden halten werde? Seine Vorlesungen würden Predigten werden, Futter für Einfältige, wie man es vor kurzem noch von allen Kanzeln den christlichen Schafen vorschüttete! Ich behaupte, die Distriktsmitglieder hatten recht, als sie den eingedrungenen Bischofsknecht wieder über die Grenze zu befördern befahlen.« Der Präsident erwiderte: »Der Distrikt hat uns nichts zu befehlen; wir selbst haben die Köpfe noch nicht verloren.« – »Wer sich von einem Bischof aufführen läßt,« fuhr der Jakobiner fort, »und in all seinem Wesen so ganz Pfaff ist, wie der Citoyen da, braucht nicht lange geprüft zu werden; der erste Anblick verrät, was man an ihm hat. Er soll wieder über die Grenze! Das ist noch Gnade! Denn er wußte das Gesetz gegen die feindlichen Ausländer und drängte sich doch ins Land! Schonung genug, wenn er noch mit dem Leben davonkommt!« – »Ich behaupte,« begann jetzt ein andrer Mann mit seiner roten Fuchsrutenmütze, »die Ursachen, welche den Fremden hier bewogen haben, ins Land zu schleichen, müssen erst näher geprüft werden. Man nehme ihn vorerst in engere Verwahrung und untersuche genau, ob sein Patriotensinn nicht eine künstliche Maske und seine Korrespondenz mit dem verdächtigen Bischofe nicht eine List war, um ungescheuter den Spionen machen zu können.« Noch ein andrer rief: »Der Citoyen dort gesteht, er habe das strenge Gesetz gegen die Auswärtigen gekannt. Wie konnte er glauben, daß ein einfältiger Bischof in Verordnungen, die der Nationalkonvent feierlich erlassen hat, zu dispensieren vermöge? Unmöglich konnte er einen so einfältigen Gedanken hegen. Er hat sich also geradezu gegen das Gesetz vergangen und verdient, den Kopf unter der Guillotine zu verlieren.« – »Gegen dieses Räsonnement ist nichts einzuwenden!« sprachen ein paar Beisitzer. »Ich hätte viel dagegen einzuwenden,« erwiderte ich, »freilich glaubte ich nie, daß mich der Bischof vom Gesetze dispensieren könne, aber ich fragte ihn schriftlich, ob es auf mich, als aufrichtigen Patrioten, anwendbar sei, und er beteuerte mir feierlich, es sei nicht anwendbar. Ehe man jemanden verdammt, muß man doch vorläufig einen Blick auf sein Betragen werfen und sehen, ob aus demselben eine böse Absicht hervorleuchtet. Niemals kam in mein Herz nur der geringste schlimme, der Republik nachteilige Gedanke; wäre ich ein Spion, so hätte ich mich nicht so treuherzig und genau nach der Vorschrift des Generals vor diesem Komitee gestellt; es wäre mir ja freigestanden, erst nach Belieben zu spionieren, meine Absichten auszuführen und dann an die Grenze zu laufen, um dem General zu sagen, man habe mich in Kolmar nicht aufgenommen, so wäre ich glücklich entkommen. Alles dies tat ich nicht, und ich muß mich sehr wundern, daß einige Citoyens hier den Ton der Wahrheit vom Tone des Betrugs nicht besser zu unterscheiden wissen.« – »Bittsteller,« polterte ein hagerer langer Mann, »vergesse Er nicht, daß Er mit einer Obrigkeit spricht!« – »Citoyen,« sagte ich sanft, »ich weiß nicht, was Sie beleidigen konnte, aber ich habe ein gutes Gewissen!« – »Bei meiner Seele!« rief Johann Kübler der ältere, ein ehrlicher Handwerker, aus, »der Citoyen scheint mir ein rechtschaffener Patriot und ein braver Mann zu sein. Ich habe drei Kinder; wenn er anfangs wegen seines Unterhalts verlegen wäre und wollte sich entschließen, meine Kinder zu unterrichten, so gebe ich ihm gern Wohnung und Kost.« – »Das war eine recht einfältige Beteurung,« sagte jetzt Citoyen Burghard, ein junger Arzt, »bei meiner Seele! was soll denn das heißen? Das klingt ja nichts minder als republikanisch! Seele! Seele! Der Mensch ist Materie!« – »So hast du keine Seele?« rief wörtlich ein dritter, »bist du also ein Hund?« Hierüber fing ein hitziger Streit unter den Beisitzern an; der Präsident sagte mir, wahrscheinlich um die Pudenda der ungezogenen Citoyens sobald möglich meinem Anblicke zu entziehen: »Treten Sie nun ab ins Nebenzimmer, bis wir Ihretwegen einen Entschluß gefaßt haben!« Ich ging während der Debatten davon, setzte mich im Nebenzimmer ans Licht, zog meinen Martial, der nebst andern Dichtern wie ein Diurnal (kleines Brevier) gebunden war, aus der Tasche und las darin, um keinen Grillen Raum zu geben. Dennoch mußte ich mir sagen: »Offenbar hat sich das Komitee des Distrikts mit den Jakobinern im Komitee de Surveillance verstanden, um dich zu entfernen. Sie sind noch dazu die mehrern, wahrscheinlich wirst du wieder an die Grenze geschickt. Doch das ist immer besser, als hier gefangen zu sitzen und dein Geld unnütz zu verzehren.« Ein Mitglied des Komitees trat nach einer Weile herein, schlich hinter mich und lauschte über die Schultern in mein Büchlein. »O wehe!« rief er aus, »Sie beten das Brevier! Ist das Ihre Aufklärung?« – Ehe ich zum Wort kommen konnte, war er wieder fort. Bald rief man mich wieder hinüber ins Komitee, und die erste Frage des Präsidenten lautete: »Ist es wahr, Citoyen, haben Sie das Brevier gebetet?« – Ich lächelte: »Sogleich, Citoyens, sollen Sie mein Brevier sehen!« Ich zog meine Dichter aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Der Präsident öffnete das Futteral, man sah hinein und brach in ein lautes Gelächter aus. »Beim Teufel, Bruder, was hast du gesehen?« rief Citoyen Burghard. – »Horcht, horcht!« rief ein andrer, »Burghard glaubt nicht, daß wir Seelen haben, aber er glaubt an den Teufel.« – Der Präsident sprach ernsthaft: »Citoyens, fangen Sie nicht wieder davon an!« – »Verwünscht!« sagte derjenige, der mich als einen Brevierbeter angegeben hatte, »ich sah die Verse für Psalmenverse an. Da hab' ich mich garstig betrogen.« – »Ach!« rief Johann Kübler aus, »Bronner wär' es wert, daß wir ihn behielten!« – »Wäre der Distrikt nicht dagegen, so wünschte ich es auch,« sagte Burghard, »ich habe ein Kind und wäre froh, wenn der Citoyen sein Lehrer würde. Kost, Wohnung und ein Stück Geld für Kleidung wollte ich ihm gern geben. Er versteht auch Botanik, das wäre für mich eine angenehme Gelegenheit, diese Wissenschaft zu studieren.« – »Ich sehe, es wird mir nicht an Unterhalt fehlen,« sagte ich, »verschaffen Sie mir also nur die Erlaubnis hier zu bleiben, so werd' ich ein glücklicher Mensch sein!« – »Die Mehrheit der Stimmen fiel gegen Sie aus,« sprach jetzt der Präsident, »aber noch ist nicht alle Hoffnung verloren, vielleicht lassen sich die Mitglieder des Distrikts noch umstimmen. Ohne das Widerstreben derselben fänden wir kein Bedenken, Sie hier zu behalten. Haben Sie also noch ein paar Tage Geduld! Vielleicht ändert sich alles zu Ihrem Vorteile! Morgen abend erscheinen Sie wieder hier in diesem Zimmer!«

Man ging auseinander. Johann Kübler begleitete mich eine große Strecke weit und lud mich auf den folgenden Tag zum Mittagessen ein. Da ich seine Wohnung nicht wußte, so versprach er, mich abzuholen.

Am nächsten Tage führte er mich in ein Kaffeehaus, wo eine Menge Bürger und Soldaten bei ihren Tassen, französisch oder deutsch, kannegießerten. Wir tranken eben unsre Schale Schokolade, da stürzte plötzlich Citoyen Burghard zur Tür herein: »Wo ist der Fremde? der deutsche Geistliche?« Er erblickte mich und winkte mir in eine Ecke. Johann Kübler ging nicht von meiner Seite. »Citoyen!« sagte Burghard, »der Distrikt ist sehr aufgebracht, daß Sie noch hier sind. Wenn ich Ihnen zu Ihrem Besten raten darf, so nehmen Sie Ihren Paß und Ihre Schriften zurück und gehen sogleich an die Grenze. Wir haben zwar gestern die Expedition des Passes zurückbehalten, weil der Nationalagent äußerte, er könnte Sie brauchen, aber der Distrikt ist ganz wider Sie und hat nun einmal fest beschlossen, Sie hier nicht zu dulden. Der Bischof ist Ihr Unglück, Sie sehen, alle Ihre Schriften erhalten Sie zurück, nur seine Briefe nicht. Folgen Sie mir, um Verdruß zu verhüten, und gehen Sie, je eher je lieber, über die Grenze!« Unter dem Paß des Generals stand geschrieben:

Renvoyé au Quartier Général de Blotzeim par la Comité de Surveillance de Colmar ce nonidi de la I. décade de Nivôse de l'an 2 de la République Française.

Vu Burghard.

Neukirch Secret.

»Wer wird auch so ängstlich tun?« sagte Kübler, »Citoyen Burghard, Bronner bleibt hier, bis es beim Komitee de Surveillance völlig entschieden ist. Gestern blieb der Abschluß eigentlich in suspenso, und was will man dagegen machen, wenn ich ihn zu meinem Hauslehrer anstelle?« – »Citoyen Bronner,« erwiderte Burghard frostig, »ich habe Ihnen treulich gesagt, was zu sagen war. Nun tun Sie auf eigene Gefahr alles, was Ihnen beliebt!« Hiermit führte er sich eiligst ab. Ich ward nachdenkend. Kübler ermunterte mich und sagte: »Kümmern Sie sich nicht! Solange Ihnen der Nationalagent gut ist, haben Sie nichts zu fürchten, mag die Partei des Distrikts lärmen, solange sie will. Wer kann Ihnen was anhaben? Er allein darf Sie festsetzen. Nachmittags wollen wir ihn besuchen. Kommen Sie nun getrost mit mir in den Tempel der Vernunft!«

Ich folgte ihm. Als ich in den Tempel trat, aus dem alle Kirchenstühle und Altäre weggeräumt waren, fiel mir sogleich an dem Platze, wo sonst der Hochaltar prangte, ein Theater in die Augen, auf dem sich ein hoher, feuerspeiender Berg erhob. Am Abhang des Berges standen, wenn mein Führer mich recht berichtete, Freiheit und Wahrheit, weiter unten aber Tapferkeit und Industrie einander gegenüber. Es waren Figuren auf Bretter gemalt und ausgeschnitten. »Als man den Tempel zum erstenmal öffnete,« sagte Kübler, «hatte man oben ein natürliches Feuer angebracht. O, das war schön! Aber beinahe hätte sich ein Unglück ereignet. Die Flamme ergriff das Gestelle, auf dem die grünen Tücher ruhen, welche die Seiten des Berges bilden, und man hatte nicht wenig Mühe, das Feuer zu löschen.« Zu ebener Erde rechts und links standen gemalte Pyramiden mit Aufschriften, die ich verloren habe, ebenfalls aus Brettern geschnitten. Die Munizipalität setzte sich des ephemerischen Spielwerks wegen in keine großen Kosten. Das Ganze konnte mir unmöglich gefallen. »Was will man mit dieser armseligen Vorstellung?« dachte ich, »wie einfältig, daß sich die Jakobinerpartei, der Berg, selbst vergöttert! Meint man etwa, dies elende Spielwerk könne dem Volke seine Altäre ersetzen? Hier ist ja gar nichts, was auf den Verstand wirken, nichts, was das Herz befriedigen, erheben oder rühren kann, nicht einmal eine Vorstellung, die gefällig den Sinnen schmeichelt. Einfältige Erfindung! Du bist unmöglich für die Dauer!«

Ein lautes Gerassel vieler Trommeln kündigte nun die Ankunft der Obrigkeiten an. Eine Menge Tambours, denen eine zahlreiche Wache folgte, rückten in die Kirche ein, die Gewölbe dröhnten vom erschütternden Trommelgelärme. Die Departementsverwalter und die übrigen Beamten, größtenteils in jakobinischer Kleidung, mit ihren dreifarbigen Schärpen und breiten Bändern geschmückt, die sie wie Ordensbänder quer über die Brust trugen, bestiegen eine Bühne zwischen zwei Kirchenpfeilern und winkten den Tambours Stillschweigen. Sogleich begann auf dem hohen Musikchore feierlicher Trompeten- und Paukenschall, die Orgel fiel darein, und das ganze Volk sang unter Begleitung vieler Blasinstrumente die Marseiller Hymne in einem ziemlich lebhaften Zeitmaße. Jede Strophe ward mit einem fröhlichen ça ira beschlossen. Dann begann ein Beamter seinen Vortrag, kündigte mit Jubel die Eroberung von Toulon an, ließ weitläufige Berichte in französischer und deutscher Sprache vorlesen und streute gedruckte Lieder von der Bühne unter das Volk. Einige Diener gingen herum und teilten ebendieselben Blätter unter die Anwesenden aus. Alle Augenblicke rief man: Vive la République! oder Ça va! und klatschte in die Hände. Dann sang man die ausgeteilten Lieder in ihrer eigenen Melodie. Ich war nicht zudringlich genug und erhielt also keines. Kübler schien jede meiner Mienen zu beobachten und fragte mich von Zeit zu Zeit: »Wie gefällt es Ihnen?« Das Singen und die Nachrichten von der Einnahme Toulons gefielen mir, ich konnte also mit gutem Gewissen so antworten, wie er es wünschen mochte. Ein Beamter, dessen Rednergaben eben nicht vorzüglich waren, hielt dann eine lange Rede von den Pflichten eines Bürgers, worauf man die Feierlichkeiten mit Gesängen und Instrumentalmusik beschloß. Die Tambours, die Wache und die Beamten in ihrer Mitte zogen ab, wie sie gekommen waren. Während der langen Rede hatte ich bemerkt, daß die Frauenzimmer gerade so unruhig, wie bei katholischen Predigten, durch den Tempel klappten, die meisten trugen nur hölzerne Schuhe, die sie aber gar zierlich mit Bändern und allerlei glänzendem Überzug vermummt hatten.

Vor und nach Tische mußten Küblers Kinder nach guter alter Sitte beten. Alles zeigte mir, daß ich bei einem redlichen Christen und Handwerker eingesprochen hatte. Nach dem Mittagessen führte er mich zum Nationalagenten Deps, der von neuem meine Partei ergriff. »Bleiben Sie hier, Citoyen!« sagte er, »und lassen Sie sich nichts anfechten! Ich verpfände mein Wort (zugleich reichte er mir die Hand), es soll Ihnen kein Leid widerfahren, wenn ich nicht positiven Befehl erhalte, Sie festzusetzen. Erhalte ich den, so verlassen Sie sich darauf, ich gebe Ihnen vorläufig einen Wink; dann ist es aber hohe Zeit, daß Sie gehen! dann säumen Sie keinen Augenblick!«

Man plauderte von allerlei Neuigkeiten des Tages und unterhielt sich, als mehrere Gäste kamen, auch mit lustigen Einfällen und – Spott über Volksreligion. Ich will nur einen Zug anführen, damit man sich einen Begriff von dem damals herrschenden Tone machen kann. Ein Gast deutete auf ein Gemälde über der Zimmertür, welches den heil. Joseph vorstellte, wie er den Esel führt, auf dem Maria mit dem Kinde sitzt, eine sogenannte Flucht nach Ägypten. »Bruder, wie magst du das einfältige Bild da hängen lassen? Das ist nicht für einen denkenden Republikaner.« – »Ärgere dich nicht!« antwortete der Wirt, »meine Frau läßt mich's nicht wegwerfen, da machte ich mir aber neulich einen rechten Spaß, ich ließ den Maler kommen, du kennst den alten, bigotten Kerl, und fragte ihn, ob er dem Joseph da oben nicht ein Paar hübsche rote Hörner über die Stirne malen wollte? – Nein! antwortete er sehr nachdrücklich und bestimmt und schaute mich betroffen aus großen Augen an. Ich beharrte darauf, er sollte rote Farbe holen, aber er weigerte sich standhaft. Ich spottete und fragte: ob er vielleicht gar keine Hörner malen könne? Da antwortete der Schalk: Auf jedes Porträt, selbst auf mein eigenes, wolle er Hörner malen, wenn ich's verlange, nur auf keinen Heiligenkopf. Was konnte ich machen? Ich mußte den alten Kerl ziehen lassen, denn selbst die Drohung, daß ich ihn einsperren lassen würde, fruchtete nichts. Er sagte dreist: Einsperren können Sie mich wohl, aber malen werde ich nicht. Der Narr wäre in der Laune gewesen, sich die Märtyrerkrone zu erwerben, aber ich hatte nicht Lust, sein Nero zu sein, und ließ ihn laufen.«

Es kam mir vor, dergleichen Ausfälle gehörten zum Modeton der Jakobiner, mit dem sie sich vor dem Pöbel groß machten, und ich vermute noch heute, sowohl Deps als Burghard, welche am meisten die Atheisten affektierten, hatten im Herzen beinahe eben den Glauben, den ihre gutmütigen Weiber hatten. Denn sie kramten ihre Meinungen allzu geflissen aus und suchten offenbar mit ihrer freien Denkungsart nur zu glänzen. Dies ist die Art aller Neulinge und Moderitter, und man weiß, wie schnell dergleichen Philosophen in den Ton ihrer Ammen zurückfallen, sobald bei der neuen Lehre nichts mehr zu gewinnen ist. Der wirklich tiefdenkende Mann, der aus Überzeugung spricht, benimmt sich ganz anders, als der Faseler, der kaum weiß, was er will.

Wir gingen auseinander. Als ich in mein Zimmer zum Bocke zurückkam, überlegte ich ernstlich, ob ich in die Schweiz zurückkehren oder versuchen sollte, in Kolmar zu bleiben. Je genauer ich aber die Sache untersuchte, desto ungewisser ward ich. Ich seufzte in diesen Tagen oft zum Himmel um Erleuchtung. Zuletzt fiel mir ein, ich wollte den redlichen Pfeffel aufsuchen und ohne ferneres Grübeln seinen Rat befolgen. Sogleich setzte ich meinen Entschluß ins Werk. Als ich in sein Haus trat, tönten mir angenehme Harmonien entgegen. Ein Frauenzimmer spielte den Flügel, ich sah sie sitzen, sobald sich die Zimmertür öffnete. Kaum hatte mich ein Diener gemeldet, so kam sie selbst heraus und führte mich zu Pfeffeln. Der edle, blinde Mann bedauerte, daß ich eben in diesem Augenblicke, zu dieser Zeit der Zerstörung zu ihm käme, und meinte, in den heitern bessern Tagen vor den Revolutionsunruhen hätte er mir gar leicht Unterhalt verschaffen können. Ich trug ihm kurz und mit Feuer mein Anliegen vor und bat ihn um Rat. Da sagte er ganz unverhohlen: »Lieber Bronner! Sie sind ein Fremder, wenn es Ihnen auch gelingen sollte, bei der Munizipalität angestellt zu werden, so erregen Sie doch den Neid gegen sich und sind stets in Gefahr, verfolgt und unterdrückt zu werden. Werfen Sie nur einen Blick auf das Chaos, in das wir versunken sind! Wer ist seiner Existenz mehr sicher? Wissen Sie in der Schweiz Ihr Brot irgendwo zu betteln, so tun Sie besser, dahin zurückzukehren.« – »Weiter bedarf ich nichts,« antwortete ich mit festem Entschlusse, »ich gehe nach Zürich zurück; dort soll ich einen Katalog über ein Naturalienkabinett verfassen, das wird mich hinlänglich vor Mangel sichern.« – »Tun Sie das, lieber Bronner,« sagte er mit eindringlichem Tone, »und besuchen Sie mich einst in bessern Zeiten! Jedes Glück begleite Sie!« – Gerührt schied ich von dem edlen philosophischen Dichter und ging ins Komitee de Surveillance, wohin mich bereits die Stunde rief. Bis meine Sache vorgenommen wurde, hieß mich Kübler zur Unterhaltung in die Jakobinersitzung gehen, die eben in einem Nebengebäude eröffnet war. Im Parterre eines ziemlich großen Saals saßen die Amis réunis oder die Jakobiner. Hinter ihnen und an den Wänden hin erhoben sich amphitheatralische Bänke und Stühle für die Zuhörer. Auf einer Bühne im Vordergrunde paradierten der Präsident und die Sekretäre an einem Tische. Rechts an der Bühne war der Rednerstuhl angebracht. Eben war die Nachricht eingetroffen, die Deutschen seien geschlagen und aus dem Elsaß vertrieben worden, aber noch walteten einige Zweifel ob, man debattierte darüber sehr hitzig, der Streit artete in ein wildes Getümmel aus. Endlich forderte man Zeugen auf. Da trat ein Kurier auf die Bühne und rezitierte sehr schnell eine französische Rede her, von der ich nichts verstand, allein man beklatschte ihn laut und rief: »Es ist richtig, die Deutschen sind besiegt!« Alles jubelte: Vive la République, und schwang Hüte und Nasentücher. Allerlei Debatten folgten sich. Ein Exgeistlicher hielt dann eine sehr wässerige Predigt vom Segen, den der Himmel den Waffen freier Völker von jeher verliehen habe; ein andrer las eine Ode voll Bombast auf die Einnahme von Toulon vor. So verstrich die Zeit. Ich wollte wieder ins Komitee zurück, fand aber, daß es bereits auseinandergegangen sei. Johannes Kübler, den ich auf dem Wege antraf, sagte mit kleinlautem Tone: »Er habe nur wenig Hoffnung mehr, daß ich hier bleiben dürfe, die Sache sei einmal durch den Bischof verdorben und die Mitglieder des Distrikts würden nicht ruhen, bis ich abgereist wäre.« Ohne Betrübnis hörte ich seine Äußerungen an, dankte ihm für seine Freundlichkeit und nahm von ihm Abschied.

Als ich auf den Platz beim Tempel der Vernunft kam, wo die Guillotine stand, sah ich ein großes Feuer flammen, ein Freudenfeuer wegen der Einnahme Toulons. Die Sanskulotten tanzten in doppelten Kreisen um dasselbe her. Sie ergriffen Mädchen und Weiber, die in der Nähe standen, rissen sie mit sich zum Feuer, reihten sich in einen der beweglichen Kreise und hüpften so unter lautem Freudengeschrei in die Runde. Ich konnte mich unmöglich des Gedankens an die kanadischen Wilden erwehren. Die Bühne der Guillotine stand gedrängt voll Zuschauer und Zuschauerinnen, die gar kein Grauen vor der fatalen Maschine hatten. In der Nähe tönte Feldmusik, die ça ira und andre patriotische Lieder spielte. Das Volk sang die Lieder mit. Der Exgeistliche aus dem Komitee des Distrikts traf mich hier an, er schlich, wie ich, beobachtend um den Haufen her.

»Noch hier, Citoyen?« fragte er, wie staunend, »das ist kühn! Sehen Sie nicht die Maschine dort?« Er deutete auf die Guillotine. »Die ist hoffentlich nur für Verräter, nicht für Patrioten errichtet,« erwiderte ich, »warum sollt' ich sie also fürchten?« – »Im Ernste,« fuhr der Geistliche fort, »wenn ich Ihnen wohlmeinend raten darf, so reisen Sie morgen früh von hier ab! Wir dürfen Sie nicht behalten, weil Sie ein Deutscher sind! Lassen Sie aber Ihren Paß erst von irgendeiner Obrigkeit neu unterschreiben, weil Sie schon am Nonidi abgewiesen wurden, und doch erst am 11. Nivôse abreisen, damit Sie auf dem Wege keine Unannehmlichkeiten zu befürchten haben. Nehmen Sie meinen Rat an, das beste, was Sie in Ihrer Lage tun können, ist, daß Sie so bald als möglich gehen.«

»Verlassen Sie sich darauf!« antwortete ich, »morgen in der Frühe reise ich ganz gewiß ab!«

Den letzten Dezember, als der Tag anbrach, nahm ich Abschied vom Bischofe Martin, der mich ziemlich kalt entließ. Sobald ich hoffen konnte, ich würde irgendeine Obrigkeit antreffen, machte ich mich auf, um meinen Paß unterschreiben zu lassen. Aber niemand von den Mitgliedern des Komitee de Surveillance, nicht einmal der Sekretär Neukirch wagte es, seinen Namen und den Tag meiner Abreise darauf zu setzen, jeder sagte, er besorge, dadurch in Verdruß zu geraten. Endlich erbarmte sich meiner ein Beamter der Munizipalität und schrieb folgendes auf den Paß des Generals: »Vu partir de Colmar cejourd'hui onze Nivôse, l'an second. – Aittelmeyer Secr. Greffier.« Das Umherlaufen und Warten, dieser zwei Zeilchen halber, hielt mich fast bis 10 Uhr auf. Geschwind verzehrte ich beim Bocke ein kleines Abschiedsmahl und trat meine Rückreise an, auf der ich an diesem Tage keine andre Widerwärtigkeiten zu befahren hatte, als etwa in den Herbergen, wo ich einsprach, das Anschnurren eines argwöhnischen Unteroffiziers, der mir herrisch meinen Paß abforderte, oder die Weigerung der Wirte, mir irgendeine Erfrischung zu reichen. Abends traf ich in Habsheim ein und verschwendete in jedem bessern Wirtshause Bitten, Vorstellungen, Versprechen und alle möglichen guten Worte, um aufgenommen zu werden. Aber völlig vergebens! Ich sah mich gezwungen, wieder in dem verwünschten Neste, wo ich das erstemal übernachtet hatte, eine Herberge zu suchen. Mit Freuden nahm mich diesmal der Wirt auf und setzte mir alles Gute vor, was er in seinem Vermögen hatte. – Eine Menge Sanskulotten waren eben ins Dorf einquartiert worden, sie hatten sich mitten in der Stube einen Herd aus Backsteinen errichtet, Kohlen darunter gebracht und einen Kessel darüber gehängt, um ihre Abendmahlzeit zu kochen; kaum war das Fleisch gesotten, so stach jeder in den Kessel, langte seine Portion heraus, setzte sich auf den Boden und verzehrte sie aus freier Hand. Neben dem Herde stand eine hölzerne Gelte voll Wein und ein Glas daneben; wer nun trinken wollte, füllte das Glas in der Gelte und goß es herzhaft durch die Kehle. Diese drollige Haushaltung belustigte mich. – Das liederliche Mädchen feierte nicht, mich oft und frech genug als einen Unvermögenden zu necken, und drohte mir, ich sollte gewiß ein Nachtlager erhalten, das meiner Keuschheit zuträglich wäre. Als mich der Wirt in die Schlafkammer führte, hob ich in seiner Gegenwart die Bettdecke weg und sah sogleich, daß die Betten nicht reinlich überzogen waren. Bei der Menge Soldaten, die hier täglich übernachteten, und wovon einige ganz unverhohlen gestanden, daß sie in ihren Hemden gar unangenehme Einquartierungen hätten, ward mir bange, ich möchte hier ebendieselbe Plage erben. Die Bosheit der frechen Magd ließ mich befürchten, sie könnte mich absichtlich zum Nachfolger eines so reichbegabten Sanskulotten gemacht haben. Ich bat also den Wirt: »Lassen Sie mir das Bett frisch überziehen, ich gebe Ihnen gern über die Zeche hinaus noch einen halben Gulden zum Besten.« – Das Angebot gefiel ihm, er rief die Magd herauf und befahl ihr, das ganze Bett frisch zu überziehen. Murrend, spottend und zankend tat sie es. Mich kümmerte das wenig. Sorgfältig verbarg ich meine Kleider zwischen dem Strohsack und dem Unterbette und schlief ruhig die ganze Nacht durch.

Am neuen Jahrestage 1795 eilte ich Sierenz und Blotzheim zu. Als ich den letzten Ort erblickte, schickte ich mich an, meine Barschaft in Sicherheit zu bringen. Ich hatte ja gesehen, wie genau man in Bourglibre jeden, der aus dem Lande ging, durchsuchte, und mußte fürchten, aus dem Hauptquartier mit einer Wache an die Grenze geführt zu werden. Das Geld mußte also jetzt verborgen werden, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, es zu verlieren. Während meines ganzen Rückmarsches hatte ich mich darauf verlassen, ich würde meine Louisd'ors ganz sicher dort verstecken können, wo immer eine ganze verdaute Mahlzeit Raum findet, ehe sie zur Beförderung der vegetabilischen Welt geboren wird. Sowie ich mich allein sah, kroch ich deshalb in den Straßengraben und begann die schmerzliche Operation. Die doppelten Louisd'ors machten die meisten Schwierigkeiten, und es lief ohne Blut nicht ab. Endlich glaubte ich am Ziele zu sein und trabte eine kleine Strecke Weges dahin! O weh! da fühlte ich sogleich die Unmöglichkeit, an dem vermeintlichen Sicherheitsorte mein Gold zu verwahren. Alles fiel heraus, und ich glich wahrlich der Henne, die goldene Eier legte. Sorgfältig suchte ich die Louisd'ors aus den Beinkleidern hervor. Als ich am besten an der Arbeit war, sprengte ein Reiter daher. O, wie erschrak ich! Aber er merkte nichts, sondern rief mir zu: »Laß Er Seine Gäste nur sitzen!« Ach! mir war bange, wie ich nun meine kleine Habe den Augen und Händen der Grenzvisitatoren ohne Gefahr entziehen könnte. Ungeachtet der vielen Leute, die hin und her gingen, gelang es mir doch, unbemerkt in ein Wäldchen zu schlüpfen, durchs Gebüsch hinter einen dicken Baum auf einer Anhöhe zu kriechen und auf frisch abgehauenen dünnen Reisern einen Platz zu finden, auf dem ich, des Schnees ungeachtet, trocken sitzen konnte. Ich wartete eine gute Weile, ob niemand nachgeschlichen käme, aber keine Seele störte mich. Sorgfältig spähte ich in den Wipfeln und Gesträuchen umher, ob mich niemand beobachtete. Erst als ich mich recht sicher wußte, zog ich meine Louisd'ors hervor und überlegte, wo ich sie denn eigentlich am besten verbergen könnte. Vom Kopf bis zu Fuß durchlief ich in Gedanken alle Teile meiner Kleider, um die tauglichste Stelle aufzufinden. Aber in allen biegsamen und weichen Teilen war das Verbergen unsicher, ich wußte ja, wie sorgfältig man jeden durchgriff. Die Schuhe allein boten mir feste Teile an, hinter denen das Gefühl die versteckten Louisd'ors nicht entdecken konnte. In die Schuhe also mußte mein Schatz verborgen werden. Ich zog sie ab und beschaute sie genau. Da es umgewandte Schuhe waren, so konnte ich die innere Sohle herausziehen und sehen, daß eine dicke Lederzunge aus den Absätzen in die Vorderschuhe hervorragte. Sogleich schnitt ich dieselbe mit dem Federmesser sorgfältig aus und gestaltete also in beiden Absätzen geräumige Höhlen, in die mancher hübsche Louisd'or gesteckt werden konnte. Wirklich steckte ich soviele hinein, als der Raum fassen mochte, und sah bald, daß der größte Teil meiner Barschaft darin geborgen werden konnte. Aber es fiel mir ein: »Wie wäre es, wenn die Goldstücke im Gehen aneinanderklappern würden? Das könnte dich verraten.« Ich klopfte mit dem Schuhe sanft auf die Erde. O wehe! Sie klapperten wirklich. Also riß ich sie wieder heraus, umwand jedes mit ein wenig Papier und preßte sie wieder in ihre Höhlungen. Nun hatte aber nur die Hälfte derselben Raum darin. Die andre Hälfte wickelte ich in ebenso kleine Papierchen und nähte jedes Stück neben das andre mit ein paar Kreuzstichen unter die herausgezogene Brandsohle; dabei brauchte ich die Vorsicht, daß ich die Sohle mit der Nadel nie durchstach, sondern die Fäden nur leicht an die Oberfläche des Leders heftete. Nun glaubte ich, meine Sachen vortrefflich gemacht zu haben. Aber als ich die Brandsohlen wieder hinabschob, sah ich sogleich, daß sie an den Seitenrändern emporstanden und wohl gar da und dort ein Papierchen sichtbar werden ließen. »Ja, wenn ich die Sohle festnähte, daß sie anläge und nicht herausgezogen werden könnte, dann wäre ich geborgen.« So sprach ich zu mir selbst und sann nach, wie ich das machen wollte. Jetzt fiel mir zu rechter Zeit ein, daß ich eine große Packnadel in meinem Zahnstocherbüchschen hätte und Bindfaden im Unterfutter meines Rockes. Wie gut kamen mir nun diese beiden Erfordernisse zustatten! Wahrlich, ohne den kleinen Umstand, daß ich sie bei meiner Abreise aus dem Oberhofe auf jeden Fall zu mir steckte, hätte ich, allem Anscheine nach, meine ganze Barschaft verloren! Und wer weiß, ob ich nicht als ein Verräter, der Geld aus dem Lande schwärzen wollte, behandelt und lange in Gefängnissen herumgezogen worden wäre, ehe man meinen Beweis, daß ich alles aus Zürich mitbrachte, hätte gelten lassen? Zu guter Letzt färbte ich mit der Schwärze, die ich in den kleinen Vertiefungen der Schuhe fand, die weißlichen Bindfaden so schwarz, daß man keinen einzigen Stich bemerkte. Getrost ging ich nach einem Aufenthalt von ein paar Stunden aus dem Wäldchen nach Blotzheim und sah unter dem Vorwand, Steinchen aus den Schuhen zu schütteln, oft nach meinen Nähten. Alles blieb im besten Stand. Damit aber niemand meine List am Gewichte bemerken könnte, watete ich durch einige kleine Lachen auf der Straße, welche an der Mittagssonne bereits aufgetaut waren, hütete mich jedoch, diese Art Schwerevermehrung zu übertreiben, damit nicht etwa eben deshalb Argwohn entstünde.

Dem General mußte ich mein ganzes Schicksal erzählen. Er bedauerte mich und rief aus: »Dachte ich's doch, der eitle Bischof betrüge sich und Ihn! Fast ist es schade, daß Er die Ihm angebotene Vergütung ausgeschlagen hat. Der Bischof hätte es verschuldet, Ihm das Reisegeld bezahlen zu müssen, denn wahrscheinlich führt Er nicht viel Geld bei sich. Wieviel hat Er?« – Ich zog meine ganze Barschaft, etwa anderthalb Louisd'ors die ich nicht eingenäht hatte, aus der Tasche und wies sie ihm hin. – »Das ist nicht viel,« sagte er, »man wird Ihm die Kleinigkeit an der Grenze wohl lassen, doch zeig' Er sein Geld redlich vor, damit Er in kein Unglück gerät!« Sein Sekretär schrieb auf meinen Paß: Laissez passer pour retourner en Suisse ce 12. Nivôse de l'an' 2 de la République Française. Vu par moi Général de Brigade, Commandant de la Division du Haut-Rhin; und der General unterzeichnete seinen Namen. Man ließ mich allein wandern, und ich beschloß, damit ich dem Durchsuchen ausweichen möchte, gerade auf die Baracke an der äußersten Grenze loszugehen. Aber die Wache ließ mich durchaus nicht passieren, sondern sandte mich wieder an den Grenzzoll zurück. Das war ein harter Gang! Je näher ich dem fatalen Visitatorenhäuschen kam, desto banger ward mir ums Herz. Weil der Zollbeamte noch nicht abgespeist hatte, mußte ich eine Weile warten. Der Visitator (wahrscheinlich ein Jude) wartete, bis wir allein waren, machte sich an mich und fragte, ob ich viel Geld bei mir hätte? Ich wies es ihm vor wie dem General und sagte: »Es ist ein weiter Weg bis Zürich; machen Sie doch, daß mir das wenige Reisegeld gelassen wird, ich will Ihnen gern ein hübsches Trinkgeld geben.« – »Sorgen Sie nicht, Citoyen!« sagte er, »Sie haben meinem Freunde, dem Nationalgarden, welcher Sie nach Blotzheim führte, Ihre Handschuhe gegeben, nichts soll Ihnen genommen werden!« Er führte mich zum Zollbeamten, dem ich mein Taschengeld wieder vorzeigen mußte. Der Visitator war mein Fürsprecher und man schrieb auf meinen Paß: Exporté avec lui vingt une Livre numéraire (etwas weniger, als ich vorwies, aber man zählte die Kleinigkeit gar nicht), qu'il a importées. Bureau de Bourglibre ce 12. Nivôse de l'an 2 de la Rép. Fr. – Rumhueber. Hierauf befahl er dem Visitator, mich erst genau zu durchsuchen, ehe er mich entließ. Dieser führte mich in sein Stübchen, ich drückte ihm auf dem Wege ein 30 Sousstück in die Hand, mit dem er sehr zufrieden schien. »Nun, Citoyen,« sagte er, »muß ich meine Pflicht tun.« Er suchte zuerst alle meine Taschen aus, dann durchknitterte er den Hut, die Rockschöße, die Halsbinde, den Hüftenbund der Beinkleider usw. und befahl mir endlich, die Schuhe auszuziehen. O, wie ward mir da zumute! Aber ich hütete jede Miene, löste ruhig die Riemen auf und streifte die Schuhe, wie gleichgültig, von den Füßen. Kaum wagte ich's, hinzublicken, als er mit Ekel sie aufhob, hineinsah und sie nachlässig wieder fallen ließ. »Citoyen, Sie können frei Ihres Weges gehen, leben Sie wohl!« Ha, wie lieblich schallten diese Worte in meinen Ohren! Geschwind zog ich meine Schuhe wieder an, nahm dankend Abschied und eilte über die Grenze. Die Wache, sobald sie meinen Paß sah, ließ mich unangefochten ziehen. Ich hätte, wie Ulysses bei seiner Rückkehr nach Ithaka, mich zur Erde werfen und den friedlichen Schweizerboden küssen mögen, so froh war ich, glücklich entkommen zu sein.

Der Wirt zur Krone, bei dem ich letzthin gespeist hatte, stand eben als wachthabender Offizier an dem St. Johannestore zu Basel, lud mich in seinen Gasthof ein und fertigte mir einen Torschein aus.

Der gute Erfolg meines Geldverbergens brachte mich auf den Gedanken, während der Reise meine Louisd'ors in den Schuhen zu lassen, denn da schienen sie mir auf allen Fall am besten gesichert. Allein auf dem Wege nach dem Roten Hause fiel mir ein, die Absätze könnten des vielen Aufschneidens halber allzusehr geschwächt sein und mir den Unfall zuziehen, sie samt dem Golde zu verlieren. Sobald ich im Roten Haus niemanden in der Stube erblickte, als einen alten Mann und ein paar Kinder, schnitt ich meine Nähte los und nahm das Geld heraus. Der Greis machte große Augen und meinte, ich hätte teure Schuhe getragen. Dabei wünschte er mir Glück, daß ich mein Eigentum so schlau gerettet hatte.

Im Baselischen Dorfe Menslingen, wo ich nach einem langsamen Marsche übernachtete, traf ich eine Stube voll eidgenössischer Zuzüger (Landmiliz) an, die, durch andre abgelöst, von Basel nach Hause kehrten. Hier hatte ich die schönste Gelegenheit, die Sitten der französischen und der Schweizer Soldaten zu vergleichen. Unter den Sanskulotten herrschte offenbar mehr Lebhaftigkeit, Unruhe, Streitsucht, Impudenz gegen das schöne Geschlecht, aber die Schweizer schnitten weniger Zoten, tranken, einiger und ruhiger scherzend, ihren Wein, sangen harmonischer ihre vaterländischen Lieder, neckten zwar die Mädchen im Hause, blieben jedoch züchtiger und schonten, wenigstens vor den Augen der Gäste, ihrer Schamhaftigkeit.

Als ich den 3. Januar in Wellingen übernachtete, fand ich eine Menge Emigranten, mit Orden und Kreuzen geziert, Bischöfe, Marquis und Ludwigsritter, die alle, lächerlich genug, nach Rang und Würde zur Tafel aufmarschierten und unter den gewöhnlichen Zeremonien ihre Plätze wählten. Man hätte glauben sollen, eine Hoftafel zu sehen, soviel Steifheit herrschte hier neben aller französischen Gewandheit. Und ihre Gespräche – doch wer hörte noch nie von Emigranten-Radotagen? – Armes Frankreich! Wärest du auch nur von dem tausendsten Teile des Unglücks, das sie in der Vergessenheit, du seist ihr Vaterland, mit prophetischer Miene dir verkündigten oder wohl gar anwünschten, betroffen worden, so hätten Zwietracht, Mord, Krieg, Hunger, Pest und wie die Übel alle heißen usw., dich längst zur Einöde gemacht.

Den 4. Januar näherte ich mich der Gegend von Zürich. Je näher ich kam, desto enger ward mir ums Herz. Was konnte ich anders erwarten, als daß mich die Muntern unter meinen Bekannten und Freunden tüchtig auslachen, die Ernstern mit dem Vorwurfe: Hab' ich's dir nicht vorgesagt? empfangen und die Mutwilligen mit Spott und Neckereien ermüden würden? Doch ich faßte Mut und dachte: »Auch das wird vorübergehen! Laß sie lachen, spotten, scherzen und ihrer Vorsehungsgabe eine Lobrede halten! Was schadet dir das? Beginne du nur eine Lebensart, bei der du ein ehrlicher Mann bleiben und ohne jemandem lästig zu fallen, deinen Unterhalt gewinnen kannst!«

Ich dachte reiflich nach, wie ich es mit meiner Kost und Wohnung einrichten wollte, und beschloß, meine Träume von einem einsiedlerischen Leben mitten in Zürich auszuführen.

Herr Schultheß in der Limmatburg, bei dem ich mich bald nach meiner Ankunft zeigte, empfing mich sehr freundschaftlich, scherzte zwar, mutwillig genug, über meine vergebliche Wallfahrt ins gelobte Land der Freiheit, äußerte sich aber sogleich, es würde ihm lieb sein, wenn ich nun ein Verzeichnis über das Geßnersche Naturalienkabinett verfertigen wollte. Natürlich ließ ich mich hierzu sehr bereitwillig finden, und unser Kontrakt war bald geschlossen.

Meine treuen, gefälligen Freunde im Geßnerschen Hause bewirteten mich mehrere Tage, bis ich einen Hintersäßschein erhielt und bei Herrn Erni eine eigene Wohnung beziehen konnte. Ich erklärte ihnen bei dieser Gelegenheit ganz offen, wie ich von nun an meine kleine Wirtschaft einrichten wollte, und sie billigten meinen Plan, so romantisch sie ihn auch fanden. Die gütige Schwester des Dichters der Natur erbot sich sogleich, meine Küche mit einigem Geräte zu versehen, und schickte mir, sobald ich mein Wohngemach bezogen hatte, Pfannen und Küchenschürzen usw. zu. Ich packte jetzt meine Kisten aus, fand wider Vermuten alles unversehrt und richtete mich ordentlich ein. Wenn ich nicht im Naturalienkabinett arbeitete und also mittags nicht in der Limmatburg aß, kochte ich mir selbst bei fröhlichem Gesang mein nüchternes Mahl.

An Spott über mein mißlungenes Vorhaben, in Frankreich die Erfüllung meiner Wünsche zu suchen, fehlte es nicht. In allen gesellschaftlichen Zirkeln, in die ich eintrat, hieß es: »Gib deine Reisegeschichte zum besten!« Immer tat ich's mit meiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit und Offenherzigkeit. Da ging es nie ohne Lachen auf meine Kosten ab. Ich mußte allmählich so oft ebendasselbe erzählen, daß ich am Ende alle Aufmerksamkeit verlor und in meiner eigenen Geschichte stockte, wie ein Prediger, der seine Rede sich zu oft auswendig vorgesagt hat.

Bald gewann ich meine neue Lebensart lieb. Mineralogie und Conchyliologie beschäftigten meine Seele und gaben ihr neue Begriffe, die sogleich durch den Anblick der Naturalien selbst vollständig berichtigt wurden. So ergriff ich mit vollem Eifer die Gelegenheit, diese Wissenschaften mir von Grund aus zu eigen zu machen.

Bei Abgang meines Freundes Herrn P. P. Wolf nach Leipzig übernahm ich dann die Redaktion der Züricher Zeitung, welche die Orellische Buchhandlung ausgibt. Dies und einige literarische Arbeiten waren hinlänglich, mir meinen Unterhalt nebst mancherlei Bequemlichkeiten zu verschaffen. Ich lebe nun vergnügt, – ich darf sagen, glücklich, von niemandem gehaßt, von vielen geliebt und völlig überzeugt, daß es mir bei Sparsamkeit und Tätigkeit niemals an Brot fehlen wird.


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