Franz Xaver Bronner
Ein Mönchsleben aus der empfindsamen Zeit. Zweiter Band
Franz Xaver Bronner

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Sechzehntes Kapitel

Zweite Flucht nach der Schweiz.

Abschied – Eine Wirtshausszene – Von Bobingen nach Türkheim – Von Mindelheim nach Memmingen – Zu Fuß weiter bis Leutkirch – Postfahrt nach Lindau – Ein widerlicher Spaß – Schiffahrt nach Rorschach – Vorfälle in Augsburg – Aufstieg ins Gebirg – Die Krämersleute – Lebensgefahr- Bergtour auf den Kamor und den hohen Kasten – Fahrt durchs Rohr hinab in den Sennwald – Gang nach Wallenstadt – Endlich in Zürich.

Als ich nun alle meine Angelegenheiten in Ordnung gebracht sah, stand ich auf, sah mich noch einmal in meinem Zimmer um, sann nach, ob ich nichts vergessen hätte, und noch einmal wollten mich Zweifel und Bangigkeit des unternommenen Schrittes wegen anwandeln; endlich wagte ich mit etwas beklemmtem Herzen, obschon ruhig und mutvoll, den letzten Gang über die Treppen hinab. Es mochte abends 7 Uhr sein, als ich ging. Ich legte ein graues Reisekleid an, in dem ich am wenigsten einem katholischen Geistlichen ähnlich sah, steckte ein paar Mohsestäfelchen (zwei weißverbrämte viereckige Lappen, eine Art Priesterkrause) in mein Halstuch, so daß ich diesen Zierat wegnehmen konnte, sobald ich wollte, trug einen Regenschirm in meiner Hand, mit Wachstuch umhüllt, der mich, auf meinen Reisen zu Fuß, vor Hitze und Regen beschützen sollte, führte einen kleinen Kompaß, ein dollondisches Sackperspektiv und einen Elzevirschen Lukrez usw. in der Tasche und hielt in der Hand einen dreieckigen Hut, den man an mir gar nicht gewöhnt war, denn ich erschien sonst nie anders als in einem großen, kaum merklich zu beiden Seiten aufgekrempten Schiffhute, Auf verschiedenen Umwegen suchte ich nun das Haus des lutherischen Fuhrmanns, fand seine Leute mit Aufbinden des Gepäckes beschäftigt und zahlte ihnen einen tüchtigen Trunk, denn ein Genuß von dieser Art macht dergleichen Leute am willigsten. Mein Magen zeigte sich nun als unwiderstehlicher Gebieter, ich hatte ihn heute noch mit keinem Körnchen Speise begrüßt, weil ich mich allzu eifrig mit Packen usw. beschäftigte. Jetzt war es hohe Zeit, auch ihn zu befriedigen, denn ich durfte nicht hoffen, auf dem Wege so spät noch ein gutes Mahl anzutreffen. Notwendig mußte ich die Kutsche leer vor die Stadt hinausfahren lassen, damit mich niemand in den Gassen abreisen sehen, mein Unternehmen mutmaßen und wohl gar den Weg, den ich nahm, erraten möchte. Ich sagte also zu dem Knechte des Lohnkutschers, der mich führen sollte, er möchte, wenn er fertig wäre, nur vor das Gögginger Tor hinausfahren und außerhalb dem Kirchhofe an der Straße meiner warten. Ich hätte noch irgendwo in der Gegend des von Stettenschen Gartens bei einem guten Freunde Abschied zu nehmen und würde nicht lange säumen; dies schien der Knecht gar Wohl zu begreifen. Der gute Freund war der Wirt im Schießgraben, bei dem ich geschwind ein Jägermahl einnehmen wollte. Allein ging ich zum Schweibbogentore hinaus, begegnete zu gutem Abschiede noch – wer hätte es gedacht? – dem schönen Hannchen und ihrem Vater, die von einem Spaziergange nach den Sieben Tischen zurückkamen, ward freundlich gegrüßt und ein wenig examiniert, wohin ich ginge, und mußte – o, wie erschrak ich! – zu meiner nicht geringen Verlegenheit wahrnehmen, daß sich der Alte, aller meiner Protestationen ungeachtet, durchaus nicht abweisen lassen wollte, mit mir noch einen Gang in den Schießgraben zu machen. Im stillen verwünschte ich seine zudringliche Höflichkeit; aber ich durfte meinen Widerwillen nicht laut werden lassen. Hannchen ging neben mir her, war schüchtern und stille, sah mir von Zeit zu Zeit freundlich und wie forschend ins Angesicht und machte keine Bedenklichkeiten, als ich ihr meinen Arm bot, sich von mir führen zu lassen. Es war aber, als wenn mir die Zunge gelähmt wäre, so wenig wußte ich zu reden; auch Hannchen verlor nur einsilbige Worte. Unser gespanntes Benehmen gegeneinander hemmte jeden herzlichen Ausbruch der Gedanken; nur der alte Vater schien keinen Mangel an Unterhaltungsvorrat zu fühlen. So zogen wir unter den dunklen Alleen hin zum Schießgraben. Geschwind ließ ich Wein, Würste und Konfekt bringen und verzehrte mit ihnen, soviel auf einer Seite der Hunger gebot und auf der andern der Anstand litt. Unsre Gespräche waren nichts minder als lebhaft; mir wurmten ganz andre Dinge im Kopfe. »Sie sind so stille,« sagte Haunchen, als ihr Vater auf einen Augenblick wegging, »ich hätte nicht geglaubt, daß Sie eine kleine Dosis Frauenzimmereitelkeit für so lange verstimmen könnte. Wäre mir's eingefallen, daß Sie das Ausstreichen in Ihrem Gedichte mir so hoch anrechnen würden, so hätte ich's wohl bleiben lassen.« Ich erwiderte wie neu versöhnt: »O Hannchen, wenn Sie mir auf mein zweites Gedichtchen diese Antwort gegeben hätten, so wäre es unmöglich gewesen, uns so lange zu mißkennen; aber Ihr Trotz verscheuchte mich. Nun sehen wir uns nur mehr für kurze Zeit; ich werde anderswo meinen Lebensunterhalt gewinnen. Möchten Sie doch bald so glücklich werden, als es Ihr gutes Herz verdient!« Sie schien betroffen, wollte mich ausforschen und rief auch den zurückkommenden Vater zu Hilfe, um mir's abzufragen, wo ich künftig mein Unterkommen zu finden gedächte. Ich antwortete, dies müßte noch ein Geheimnis bleiben, es dürfe jetzt nicht geoffenbart werden, und wich auf diese Art scherzend ihrer Wißbegierde aus. Allmählich rückte die Stunde heran, bei deren Eintritt die Tore geschlossen werden sollten. Wir saßen unter den Bäumen so, daß ich von meinem Platze aus diejenige Stelle der Gögginger Straße überschauen konnte, wo ich dem Knechte meiner zu warten befohlen hatte. Schon klang die Sperrglocke und noch stand die Kutsche nicht dort. »Ist vielleicht ein Unglück vorgefallen?« so dachte ich, »oder hat man etwa gar meine Anstalten bemerkt und die Abfahrt des Wagens gehindert?« Mir ward immer banger, Hannchens Vater schickte sich an, aufzubrechen, um noch vor dem Torschlusse die Stadt zu erreichen. Ich begleitete ihn, Hannchen am Arme führend, bis nahe zum äußern Schlagbaum. Absichtlich hatte ich meinen Regenschirm im Schießgraben liegen lassen; jetzt stellte ich mich, als käme mir dies eben zu Sinne. »Adieu!« sagte ich eilig, »kommen Sie gut nach Hause und schlafen Sie wohl! Ich muß noch erst meinen Schirm holen; und nun kein Säumen, damit wir nicht alle miteinander herausgesperrt werden!« »Ach, der häßliche Schirm!« rief mir Hannchen nach, »warum mußten Sie ihn auch an einem so schönen Abend mitschleppen? Sie sind doch versöhnt?« – »Von ganzem Herzen!« antwortete ich und lief flink davon. Es schmerzte mich doch, das gute Mädchen unter solchen Umständen auf gewisse Art betrügen und verlassen zu müssen.

Ich holte den Schirm und eilte zur Stelle, wo der Fuhrmann meiner harren sollte; aber niemand war zugegen. Schon fürchtete ich getäuscht zu sein, denn die Sperrglocke schwieg; verdrießlich blickte ich umher. Sieh! da hielt die Lohnkutsche weiter draußen bei einer Feldkapelle, und der Knecht war ungeduldig, daß ich so lange nicht erschien, denn er hatte mich bereits mehr als eine halbe Stunde erwartet. Es war eben der junge Mensch, der meine Kiste die Stiege hinuntergeworfen hatte. »Der ist nicht der Geschickteste,« dachte ich, »nimm dich in acht, es wird wahrscheinlich allerlei Anstände geben.« Nun besah ich das Gepäck, ob auch alles fest aufgebunden sei, stieg ein und begann mit leichtem Herzen meine Reise. Es war mir lieb, daß die Nacht eben einbrach; dadurch gewann ich den Vorteil, durch das Dorf Göggingen, wo man mich kannte, unbemerkt hinfahren zu können und auch nicht fürchten zu müssen, daß mich ein Bekannter zur Unzeit auf der Straße erblicken, anhalten oder verraten würde. Sogleich riß ich mein Priesterkrägelchen ab, steckte es in die Tasche und drückte mich in eine Ecke des Wagens. Bis zum nächsten Mittag durfte ich hoffen, in Memmingen einzutreffen. Ich hatte einen Vorrat an Geld in der Tasche und dünkte mich ziemlich reich, denn ich besaß jetzt mehr als jemals und berechnete, daß ich wenigstens ein ganzes Jahr lang bequem vom Ersparten allein zehren könnte. »Kommt Zeit, kommt Rat!« sagte ich dann voll Zuversicht und phantasierte bald von meiner künftigen Lebensart, bald von den Wirkungen meiner Entweichung sowohl auf meine Obern und Bekannten in Augsburg, als auf mich selbst. Wir fuhren an einem Erbsenacker vorüber, den ein armer Mann hütete. Er saß mit seinem Weibe vor der niedrigen Strohhütte, die er sich auf einer höhern Stelle des Ackers zunächst an der Straße erbaut hatte. Wenn ich auf meinen Spaziergängen nach Göggingen zu seiner Hütte kam, ließ ich mich gewöhnlich mit ihm in ein trauliches Gespräch ein und hatte meine Freude daran, dem Natursohne naive Antworten abzulocken, an denen es ihm nie gebrach. Ich traf ihn einst an, als er eben ein recht abgeschmacktes Liedchen sang, und erkundigte mich, ob er kein besseres wüßte. »Nein,« sagte er, »Sie könnten mir wohl ein artigeres lehren!« »Sehr gern,« erwiderte ich und lehrte ihn das schöne Lied:

Was frag' ich viel nach Geld und Gut,
Wenn ich zufrieden bin?
Gibt Gott mir nur gesundes Blut,
So hab' ich frohen Sinn;
Und sing mit dankbarem Gemüt
Mein Morgen- und mein Abendlied usw.

Öfters hatte ich's versucht, diesen Gesang den Landleuten zu lehren, aber vergebens; die meisten sagten mir geradezu, ohne einen Sack voll Geld könne man nicht recht zufrieden, noch weniger glücklich sein. Nur dieser arme Ackerhirt fand in seiner Einfalt Geschmack an den Grundsätzen der Genügsamkeit, die in diesem Gedichte herrschen. So oft ich nun an seinem Felde vorüberging, fragte ich ihn, ob er sein neugelerntes Lied noch auswendig wisse? Und er sang es mir in seiner kunstlosen Manier treuherzig vor. – Eben jetzt sang er es wieder, und sein Weib sekundierte ihm mit einem Kind im Arme. Kaum vermochte ich die Gegenstände mehr zu unterscheiden, aber ich vernahm deutlich die Worte:

Dann preis' ich Gott und lobe Gott,
Und schweb' in hohem Mut,
Und denk', es ist ein lieber Gott
Und meint's mit Menschen gut.

Geflissentlich schien er diese Verse öfters zu wiederholen, und ich dachte gerührt: »O Vater der Welt, wer lobt dich wohl mit so reinem Sinne, wie dieser Arme! Und wer ist glücklicher als er in seinen Andachtsgefühlen! Möchte ich nun auch eine Hütte finden, wo ich so einfältig froh dein Lob singen und mich glücklich fühlen könnte!« Es freute mich recht, daß ich ihm das Lied gelehrt hatte.

Unter abwechselnden Phantasien fuhren wir unbemerkt durch Göggingen und Iningen und nahten uns dem Dorfe Bobingen. Je näher wir dem Flecken Bobingen kamen, desto mehr betrunkene Bauern begegneten uns. Sie hatten ein Juchhein und Geschwätze, daß ich Lust bekam, ehe wir aus dem Dorfe fuhren, ein wenig einzukehren und mich zu erkundigen, welch ein Fest gefeiert worden sei. Mein Magen war ohnehin unzufrieden, daß er heute noch gar nicht mit Warmem bedient worden war, und mein Gaumen forderte Labung, denn im Schießgraben zu Augsburg hatte ich nur etwas Brot und eine kalte Wurst gegessen und etwas Wein getrunken.

Es war halb elf Uhr, und die hellerleuchteten Fensterscheiben im untern Zimmer des Wirtshauses zum Obern Wirt glänzten mir einladend entgegen, und ein freudiger Lärm zahlreicher Zecher tönte aus der dampfenden Stube herüber an die Straße. Die Pferde wurden an den Zaun gebunden und wir traten hinein, fanden aber nichts mehr zu essen, denn es war schon zu spät. Ruhig saß ich neben meinem Fuhrmann und bot ihm zu trinken an. Der Wirt erkundigte sich, wer ich wäre und wohin ich noch so spät gedächte. Unbefangen antwortete ich: »Ich heiße Felix Liber und reise nach Memmingen. Diesen Namen behielt ich bis nach Wallenstatt bei. Da nahte sich uns ein halbbetrunkener Mensch, der wie ein Handwerksbursch aussah und sagte: »Sie könnten mich wohl mitnehmen, ich muß auch nach Memmingen.« Ich betrachtete ihn genauer; seine Kleider schienen zum Teil aus dem schmutzigen Tischteppich einer Garküche gemacht, sein Anstand war plump, seine Redensart barsch und seine Betrunkenheit unleugbar. Mein Knecht neigte sich und raunte mir ins Ohr: »Wir haben ohnehin schwer geladen, nehmen Sie den Lumpen nicht mit!« Ich erwiderte also nach einigem Besinnen: »Guter Freund, ich kann Sein Verlangen nicht wohl erfüllen. Wir haben schwer geladen, unsre Pferde sind müde und müssen noch eine große Strecke Weges laufen. Verzeih' Er, daß ich diesmal nicht so gefällig sein darf, als ich gern wollte.« Wer sollte denken, daß diese Antwort den Stoff zu einem heftigen Gezanke enthielte? Aber es war nicht anders. Der aufbrausende Mensch setzte beide Fäuste in die Hüften, stellte sich patzig vor mich hin und rief zornig aus: »Du hoffährtiger Sprecher! Meinst du, ich lasse mich Er von dir schelten? Wer bist du denn, daß du mit Er mich anreden darfst? Ich gebe keinem Menschen einen Er ab. Ich bin ein ehrlicher Kerl, und wenn ich schon einen schlechten Rock anhabe, so bin ich doch keines Menschen Er. Zu Hause habe ich wohl schönere Röcke als du.« So kramte er noch lange in einem Atem fort einen Reichtum hübscher Floskeln aus. Ich mußte anfangs lachen, denn sein Stolz, bei einem solchen Betragen und Aufzug, dünkte mich lustig. Geduldig ließ ich ihn reden, trank mein Gläschen, verzehrte mein Brot und kümmerte mich wenig um sein Gekrächze. Er ging von Zeit zu Zeit an seinen Tisch, schüttete von neuem ein Glas hinein, klagte seine Not einem handfesten Mühlknecht, mit dem er angekommen war und dessen Wagen noch vor dem Hause stand, und suchte auf alle Art Partei gegen mich zu machen. Dann lief er wieder zum Tische, an dem ich saß, schlug mit geballter Faust darauf, daß die Gläser hüpften und sagte: »Sieh, du mußt mich mitfahren lassen, du magst wollen oder nicht! Ich will dich wohl zwingen, komm nur hinaus! Sollst du mich soweit mitnehmen können, du liebloser Kerl, und es doch nicht tun?« – »Es ist wahr,« polterte jetzt der Mühlknecht, der das Ansehen hatte, sich seines lästigen Gefährten entledigen zu wollen, hinter dem Tische hervor: »Der Herr könnte den Reisenden wohl mitfahren lassen, er hat ja einen ledigen Platz in seiner Kutsche. Es gehört ein hartes Herz dazu, einem Bittenden so etwas abzuschlagen!« »Willst du mich mitfahren lassen?« rief jetzt der Betrunkene wieder, durch den Beifall des Mühlknechts herzhafter gemacht, »du steinerner Götz! warum redest du nicht? Sorgst du, ich würde dir das Maul zerschlagen, wenn dir ein Wort entkäme? Ich hätte gute Lust dazu!« Der Mühlknecht ging hinaus. Ich besorgte, er möchte an unsrer Kutsche etwas beschädigen und folgte ihm nach. Aber er spannte die Pferde an seinen schwer geladenen Wagen und nahm nichts als das Gepäck der Kutsche in Augenschein; brummend ging er dann wieder in die Stube, um seinen Krug vollends zu leeren. Ich beschloß, meinem Kutscher zu winken und vor dem Mühlknechte wegzufahren. Aber sobald ich in die Haustenne trat, sagte mir der Wirt leise: »Lassen Sie den Mühlknecht erst fortfahren, so werden Sie des Burschen los, er fährt mit ihm. Sonst bekommen Sie gewiß beim Einsteigen Verdruß, denn er drohte bereits, er wolle mit Gewalt hineinspringen oder hinten aufsitzen.« Ich ging in die Stube, unschlüssig, was ich tun sollte, da lief der Betrunkene auf mich zu, warf mir den Hut vom Kopf und rief: »Muß doch sehen, ob du wirklich ein Pfaff bist, wie ich vermute.« Jetzt stieg mir die Galle. Beinahe konnte ich mich nicht mehr halten; ich meinte, ich müßte den Kerl bei der Gurgel ergreifen und ihn zur Tür hinauswerfen. Es war eine elende ohnmächtige Kröte. Trotzig stand ich neben dem Ungezogenen, knirschte mit den Zähnen und sah bald ihn mit flammenden Blicken an, bald den liegenden Hut auf dem Boden. Aber der Gedanke hielt mich zurück: »Zerstöre nicht das Glück deiner Reise durch unzeitige Hitze! Strafst du den Boshaften, so gibt es Schlägereien, und wer weiß, welch ein Ende sie nehmen und ob du nicht am Ende selbst mit der Obrigkeit ins Gemenge kämest. Wie fatal, wenn dich die Polizei arretieren ließe!« Noch stand ich und blickte schweigend um mich, als wenn ich sehen wollte, ob denn niemand das Unrecht fühlte, das mir geschähe. Endlich bückte ich mich nieder und hob meinen Hut auf. Der Grobian rief: »Da seht nur, seht! er hat ja ein Spundloch! Er meinte die Tonsur. Ich hatte mir in Augsburg schon lange keine förmliche scheren lassen: aber mein Hinterhaupt begann kahl zu werden und bildete so ziemlich eine runde Tonsur. ein Pfaff ist's, drum ist er so hartherzig und hoffärtig!« Jetzt schlug er ein schallendes Gelächter auf. Der Mühlknecht lachte mit, trat zu mir und fragte mit frechem Tone: »Darf der Fremde nicht mit Ihnen fahren?« Entschlossen sagte ich »Nein!« Der Mühlknecht erwiderte drohend: »Pfaff, du mußt auf dem Wege an uns vorüberfahren, es soll dich gereuen!« und trabte zur Tür hinaus. »Bleibt es also dabei?« fragte der Handwerksbursche und stellte sich höhnend an meine Seite, »bist du zu hoffärtig, mich mitreisen zu lassen, Schwarzkittel?« Kalt antwortete ich: »Er fährt nicht mit mir!« Fluchend rief der Polterer: »So brich den Hals allein! Aber lerne, vorher, daß man niemand grob begegnen soll! Von dir, du Stock, laß ich mich nicht Er schelten! Merke dir's!« Da warf er mir den Hut zum zweiten Male vom Kopf. Plötzlich sprangen ein paar handfeste Bauernkerle, die dem Spektakel bis jetzt zugesehen hatten, von ihren Sitzen auf, einer fiel über den Unverschämten her, faßte ihn bei der Drossel, zog ihm rechts und links einige derbe Ohrfeigen und fuhr mit ihm zum offenen Fenster hin. Der Bezechte schlug um sich und stampfte. Allein die beiden Kerls schoben ihn unterm Gelächter aller Anwesenden zum Kreuzstock hinaus. Er drohte draußen, die Scheiben einzuschlagen. Aber der Wirt kam herbeigelaufen und bat den Mühlknecht, mit seinem Gefährten schleunig abzuziehen. Der Mühlknecht faßte nun denselben in der Mitte und warf ihn, wie einen seiner Säcke auf den Wagen hinauf. Dort schrie der Tolle häßliche Flüche, bis wir ihn, der Entfernung halber, nicht mehr hören konnten. Ich dankte den beiden jungen Bauersmännern, daß sie mich an dem ungezogenen Gaste gerächt hätten, zahlte ihnen zur Belohnung ein paar Gläser Schnaps, wonach sie verlangten, und schickte mich an, meine Reise fortzusetzen. Alle sprachen uns zu, wenn wir angegriffen würden, sollten wir uns tapfer wehren. Der Wirt gab mir zu diesem Ende einen tüchtigen Dornknüttel in den Wagen und legte ein paar große Kiesel zu meinen Füßen. Es war eine schöne sternenhelle Nacht. Wir fuhren nicht lange, so bemerkte mein Kutscher, daß der Mühlwagen nicht weit vor uns her langsam fortrollte. Ich ließ die Pferde anhalten, füllte meine linke Hand mit Sand, um ihn im Falle eines Angriffs meinem Feinde in die Augen zu streuen, und ermahnte den Fuhrmann, ohne ein Wort zu verlieren an dem Wagen vorüberzufahren, sollte er aber angehalten werden, sich tapfer zu wehren. Schnell kamen wir näher; ich legte meinen Knüttel zurecht. Mein Regenschirm lehnte neben mir in der Kutsche; das Wachstuch, mit dem er straff umhüllt war, glänzte wie ein Flintenlauf; es fiel mir ein, ich wollte den Schirm in den Arm nehmen, als wenn ich ein Gewehr zum Abdrücken bereit hielte. So nahten wir uns dem Mühlwagen, aufmerksam auf jede Bewegung der Fahrenden. Aber der Knecht blieb ruhig auf seinem Pferde sitzen, und der Handwerksbursche regte sich nicht auf seinen Säcken. Nur als ich in der Kutsche an ihm vorüberschwebte, rief er mir zu: »Haha, Pfaff! ich dacht' es wohl, du habest ein Geschoß bei dir!« Ich mußte lachen, und wir fuhren stillschweigend an ihnen vorüber. Keiner ließ sich's einfallen, uns zu verfolgen. Ein wenig nach zwölf Uhr langten wir in Schwabmünchingen an und mußten den Pferden Brot geben. Lange klopfte der Knecht an der Haustür des Gasthofes zur Post, ehe uns jemand hören wollte. Polternd, daß wir so spät anlangten, öffnete uns der Hausknecht, halb angekleidet, die Tür. Bald ließ sich auch ein Mädchen sehen, das mir die Haushälterin schien, und erkundigte sich um unsern Appetit. Ich weigerte mich gar nicht, als sie uns von einem Paar gebratenen Hühnern sagte, ihr Anerbieten gefällig anzunehmen. Mein Magen, den ich seit vorgestern abend nicht mehr mit warmer Speise bedacht hatte, machte gar keine Einwendungen dagegen, so wenig als mein Fuhrmann, der sichtbar auf den guten Bissen sich freute. Hier drang sich mir recht einleuchtend die Bemerkung auf, daß es einem Fliehenden nur schwer gelingen könne, die Spuren seiner Flucht zu verbergen, wenn er in einem Wagen sich retten will. Sogleich kannte das Mädchen meinen Fuhrmann, und der Hausknecht die Kutsche und die Pferde. Hätte ich's nun nicht so angelegt, daß man meine Abwesenheit erst spät bemerken mußte, so wäre es ja einem Nacheilenden leicht geworden, die Straße, die ich einschlug, und die Zeit, die ich voraus hatte, genau zu erfragen und so die sichersten Maßregeln, mich einzuholen, zu ergreifen. Wieviel sicherer reist dagegen derjenige, der zu Fuße, allein und unbemerkt, durchs Land schleichen kann und bei niemand sich weder von seinem Kutscher noch von der Spur seines Wagens verraten sieht! Unbekümmert geht er aus seinem Ägypten, wie aus einem Mittelpunkte, setzt seinen Weg auf einem der unzähligen Strahlen des Kreises fort und läßt seinen Verfolgern das schwere Rätsel zu lösen übrig, auf welcher Linie des ganzen Umkreises er seine Sicherheit gesucht habe.

So wandelte mich einige Bangigkeit an, als mich die dienstfertige Haushälterin mit ihren scharfen Augen so genau beschaute und sich um den Zweck meiner Reise neugierig erkundigte. »Ihre Geschäfte müssen recht dringend sein,« sagte sie schlau genug, »daß Sie von Augsburg erst so spät abgereist sind.« »Und Sie haben schwer aufgepackt,« fiel der Hausknecht darein, »Sie sind gewiß ein Geistlicher, der bei einer Herrschaft Hofmeister wird und schnell daselbst eintreffen muß.« Um mich von dergleichen zudringlichen Fragen auf einmal zu befreien, entschloß ich mich, die Forschenden durch ihre eigene Fabel in ihren Vermutungen zu bestärken. »Man sieht wohl,« sprach ich, »daß Sie schon viele Fremde gesehen und viel erfahren haben, sonst könnten Sie nicht so gut raten. Wirklich gehe ich als Erzieher zu einer Herrschaft, soll zur bestimmten Zeit bei ihr eintreffen und ward erst letzten Abend mit Packen fertig. Die Sommernacht ist schön und helle. Es dünkt mich nicht unangenehm, im kühlen Dunkel zu reisen. Dies ist das ganze Geheimnis, warum Sie jetzt so zur Unzeit im Schlafe gestört werden.« Sie gaben sich hierauf zufrieden, und das Mädchen holte Wein herbei, um uns, bis die Hühner kämen, mit gutem Getränke zu laben. Als sie hastig zur Tür hereintrat, blieb sie mit dem Kleide an der Schnalle hängen, die Hafte brach entzwei, das Röckchen fiel und sie stand einen Augenblick im kurzen Hemdchen da. Mit einem lauten Schrei lief sie geschwind zur Tür hinaus, stellte dort Gläser und Leuchter auf den Boden, raffte ihr Röckchen nach und ließ sich nicht wieder sehen. Der Hausknecht, der des Lachens und Spottens über den lustigen Zufall kein Ende fand, mußte uns von nun an allein bedienen. Wir ließen uns die Hühner wacker schmecken und reisten lustig und wohlgenährt nach Türkheim ab. In der Gegend von Hiltefingen begann der Tag bereits ein wenig zu dämmern. Die Lerchen riefen auf dem Felde und einzelne Vögel und Eulen im Walde, an dem wir hinfuhren. Die Hasen sprangen aus den Kornäckern und stutzten, wenn sie das Rollen des Wagens vernahmen. Ein weißer Nebel, kaum so hoch, als die Füllen auf der Weide den Kopf trugen, lag ausgebreitet über dem flachen Wiesengrunde, die Mutterpferde wateten in den liegenden Wolken gleichsam wie in einem See voll lockerer Wolle und hoben die schwarzbraunen Mähnen und Rücken wie aus der Schwemme empor. Die Frische des Morgens durchschauerte mich. Ich hielt mich lange stehend im Wagen, um alles recht beschauen zu können. Noch war die Sonne nicht herauf, als wir in Türkheim eintrafen. Hier mußten wir die Pferde in den Stall ziehen und füttern lassen. Ich verlangte ein Zimmerchen und legte mich indes ein paar Stunden lang zu Bette, denn das Bedürfnis zu schlafen meldete sich mit aller Kraft. Ich schlief von halb vier bis sechs Uhr; da weckte mich das Geläute, womit das Volk zur Frühmesse gerufen ward. Nun mußten wir, so sehr wir auch Eile hatten, geduldig warten, bis das Hausgesinde aus der Kirche zurückkäme (das beschwerliche Geschick mancher Reisenden, die morgens in einem katholischen Gasthofe einzusprechen genötigt sind), dann reichte man uns mit Zeit und Weile unsre Schale Kaffee und ließ uns erst um halb acht Uhr, nicht ohne neues Examen, woher ich käme und wohin ich wollte, weiter ziehen.

Wir fuhren durch einen Wald; ich erquickte mich an den Schönheiten der einsamen Gegend. Wo sich die Straße durch ein tiefes Tal emporwandte, stand ein artiges Häuschen vor mir mit einem Strohdache. Ein armes, aber reinliches Weib saß mit ein paar Kindern, die im Sande tändelten, auf einem Baumstrunke vor der Tür und nähte, und in einiger Entfernung hackte ihr Mann kleine Hügel um die Erdäpfelstöcke in seinem Gärtchen. Die kleine Wirtschaft in dieser Einöde gefiel mir so wohl, daß ich mich nicht erwehren konnte, zu seufzen und zu wünschen: »O Gott! hätte ich auch ein solches Fleckchen auf deiner schönen Erde und säße mit einem liebenden Wesen darin!« Dann sagte ich mir mit einiger Zuversicht: »Was wünschest du und hoffest nicht? es wird ja wohl noch möglich zu machen sein, daß dir ein kleines Gütchen zuteil wird und eine sanfte Seele, die dein Glück, wie du, zu fühlen versteht! Guten Muts! Wer weiß, was dir der Himmel noch beschert hat! Es wird an Frankreichs Grenze wohl noch ein wildes Fleckchen geben, das urbar zu machen ist.« Da verirrte ich mich in geographische, ökonomische, schwärmerische Phantasien und malte mir ein ganzes Elysium voll Freude. Ohne Anstand gelangten wir nun gegen halb elf Uhr über ein weites Ried, auf dem kleine, magere Kühe grasten, nach Mindelheim, einem schwäbisch-bayrischen Städtchen, wo wir den Pferden Brot geben lassen mußten. Mittags begannen wir durch schöne Gegenden unsere Fahrt nach Memmingen. Fort und fort fand ich Gegenstände die Fülle, an denen ich meine Augen, in der offenen Kutsche sitzend, weidete. Bald zogen mich ein dunkler Wald, auf Bergrücken sich fern verbreitend, oder einzelne kleine Haine mit ihrem einladenden Schatten auf der Ebene an, bald fixierte ein altes zerfallenes oder ein neues Gebäude, bald ein romantisch gelegenes Dorf oder ein einsames Landhaus meine Blicke; bald sah ich einen kleinen Hügel mit Bäumen oder ein heimliches Tälchen mit funkelnden Bachgeschlingen, wo ich mir gern eine Wohnhütte gebaut und in arkadischer Ruhe meine Tage hingebracht hätte. Bei soviel Genuß, den sich meine Seele aus dem Anblick jeder Gegend schöpft, durch die ich hinwanderte, nahm es mich schon oft wunder, wie es möglich sei, daß sich jemand, wenn er nicht bereits durch eine langwierige Reise ermüdet ward, in seinem Wagen sogleich beim Einsteigen zum Einschlafen zurechtsetzen und alle Freuden, die ihm der Wechsel immer neuer Aussichten so reichlich darbeut, ganz und gar verschnarchen mag.

Um halb vier Uhr abends traf ich wohlbehalten in Memmingen ein und nahm bei Herrn Rheineck, dem Gastwirt zum Weißen Ochsen, mein Absteigquartier. Ich wußte aus den Erzählungen meiner Freunde, daß Herr Rheineck ein sehr gefälliger Mann, ein angenehmer Sänger und guter Komponist sei und kannte sechs Sammlungen seiner schönen Lieder zum Klavier aus dem Gebrauche, den ich schon lange selbst davon gemacht hatte. Er bequemte sich auch ohne Ziererei gar gern dazu, mir einige seiner neuesten Kompositionen vorzusingen. Es war für mich eine rechte Herzenserquickung, nach dem lange anhaltenden Rollen und Klirren des Wagens, meine Ohren durch so angenehme Lieder wieder geschmeichelt zu fühlen und die schönsten Melodien mit dem richtigsten Ausdruck vortragen zu hören. Der liebe Mann gewann mein Zutrauen durch die Offenheit seines Betragens so sehr, daß ich kein Bedenken trug, ihm den Endzweck meiner Reise, um den er sich erkundigte, unverhohlen anzugeben und seinen Rat zu erbitten. Aufrichtig riet er mir auch und belohnte durch Äußerungen geraden Biedersinns das Zutrauen, welches ich zu ihm gefaßt hatte. Vor allem erkundigte ich mich um einen sichern Spediteur, dem ich meine Sachen ohne Gefahr anvertrauen dürfte. Sogleich ging ich zu demselben, brachte alles in Richtigkeit und ließ mein Gepäck in sein Haus bringen. Dann kaufte ich mir ein Siegel, um eine ungewöhnliche Figur auf diejenigen Briefe drücken zu können, die über Augsburg liefen. Es war die gestochene Devise: Je me porte bien. Dadurch glaubte ich meine Briefe einigermaßen vor dem Eröffnen auf dem Postamte zu sichern. Dann schrieb ich an meinen Vater und meinen Bruder Franz Joseph und legte jedem Brief ein Geschenk an Gelde bei, um meinem Trost einige Realität zu geben. Lange war der Schmerz, den ich meinem Vater machen würde, das Hauptbedenken, welches mich abhielt, meine Fesseln zu sprengen. Da er aber erst vor einigen Wochen unser halbes Häuschen verkauft hatte (ohne es meinem Bruder, der eben von seiner Wanderschaft zurückkommen und sich in Höchstädt ansässig machen wollte, meiner Bitte und Vorstellung zuliebe, aufzusparen), so durfte ich hoffen, er würde durch die für ihn beträchtliche Summe des Kaufschillings in den Stand gesetzt sein, sich indessen vor andringender Not zu sichern und sogar einige Bequemlichkeiten des Lebens zu verschaffen, denn er nahm von nun an unentgeltlich im Spitale seinen Aufenthalt, der ihm wegen der halben Pfründe, die er genoß, nicht wohl versagt werden konnte. Ich wandte allen möglichen Fleiß an, um keinen Trostgrund, der in seinem Herzen haften konnte, zu vergessen und befand mich, als ich den Brief schloß, so gerührt, daß mir häufige Tränen über die Wangen rannen. Auch meinen Bruder tröstete ich so gut ich konnte und vergaß nichts, was dazu beitragen konnte, seine Liebe unverändert zu erhalten. Zuletzt schrieb ich auch an meinen vertrauten Freund in Augsburg, dem ich zuerst mein Vorhaben geoffenbart hatte, und bat ihn, alle Anstalten, die man wegen meiner Flucht treffen könnte, Wohl auszukundschaften und mir so schleunig als möglich Nachricht davon in die Schweiz zu senden. Zur Vorsicht hatten wir die Abrede getroffen, er sollte sich immer als Notus Mayer, ich aber mich als Vetter Müller in unsern Briefen unterzeichnen, denn so hatten wir uns längst genannt, wenn wir badend im Lechstrome saßen und Leute ans Ufer kamen, vor denen wir unkenntlich bleiben wollten, und wir durften versichert sein, daß uns jetzt unter diesen Pseudonymen ebensowenig als damals ein Briefeklitterer erraten würde. Nachdem ich nun ehrenhalber etwas Speise und Trank genossen und mit meinem jungen Fuhrmanne zu seiner völligen Zufriedenheit Rechnung gepflogen hatte, begann ich meinen Wanderstab aus den oben angeführten Gründen zu Fuß weiter zu setzen.

In behaglicher Sorglosigkeit spazierte ich zwischen den Hopfengärten außer dem Tore, die für mich ihre eigenen Annehmlichkeiten hatten, auf der Straße nach Leutkirch hin. Unter dem Arme trug ich meinen Regenschirm, in der Hand eine zusammengefaltete, sehr genaue Spezialkarte von Schwaben, auf der ich von Zeit zu Zeit die Orte nachsuchte, durch die der Weg mich führen würde. Überhaupt ist Reisen für mich nur ein halbes Vergnügen, wenn ich nicht gleichsam jeden Schritt, den ich tue, auf der Karte bestimmen kann. Mit diesem Hilfsmittel versehen, hab' ich des ewigen Fragens nicht nötig, wie der Ort heiße, durch den ich wandre? wohin ich gelangen werde? wie weit es bis dahin noch sei? welches Wasser hier ströme? welch ein Schloß, Kloster oder Gebirge dort sichtbar werde? Alles dies und noch mehr zeigt mir eine gute Karte. Mit einem Worte: wenn ich ohne Karte reise, so ist's mir immer, als irre ich in einem düstern Walde, mit einer Karte aber bin ich überall orientiert. –

Meine Gedanken schwebten zuweilen nach Augsburg, denn nun hatte die Stunde geschlagen, da die Hausfrau mein Zimmer betreten und das leere Nest finden mußte.

Ruhig schlenderte ich meines Weges und kam bis an die Anhöhe, wo das Feld sich gegen die Iller hinabneigt. Am grünen Straßenbord sitzend, labte ich mich durch ein Weilchen Ruhe und beobachtete mit Wohlgefallen die untergehende Sonne und das liebliche Licht, das sie über die Gegenden ausgoß.

Es war schon sehr dunkel, als ich an die Brücke über die Iller unweit Aitrach gelangte und nun über die Grenze des Bischöflich-Augsburgischen Kirchensprengels schritt. Weil es in der Abendkühle sehr angenehm zu gehen war und meine Karte das Dorf Ahstetten nicht sehr fern vorgestellt hatte, so entschloß ich mich, Aitrach zur Seite liegen zu lassen und noch eine Strecke Weges im Dunkeln zu marschieren. Lange lief ich zwischen Feldern hin. Rechts und links tönte das Brüllen der Kühe und das Bellen der Hunde aus der Ferne herüber; tiefes Dunkel verhüllte jede Aussicht vor meinen Blicken. Jetzt kam ich an eine Stelle, wo sich der Weg teilte; ich wählte denjenigen, der dem Anschein nach der betretenste war. Schon wandelte ich eine ziemliche Strecke darauf hin, da hörte ich das Klirren eines herankommenden Wagens und freute mich, nun Gewißheit zu erhalten, wohin ich gelangen würde. Sowie der Wagen näherkam, tönten mir lustige Stimmen entgegen; es deuchte mir, ein paar Betrunkene sängen ein Lied. Endlich entdeckte ich den Zug. Was war's? Eine Bettlerfamilie hatte eine Mähre vor ihr Wägelchen gespannt. Ein Weib und ein paar Kinder saßen darauf, tief in Bettlumpen verhüllt, und ein paar Männer, wovon einer den Fuhrmann machte, gingen nebenher und sangen; das Weib sekundierte. Ich wußte nicht recht, sollte ich fragen oder nicht. Eben schritt ich auf einem kleinen Fußwege, der etwas höher als die Straße lag, hinter einem Gesträuche hin, das am abhängigen Rande wucherte, und stand still, um den Zug zu betrachten. »Mutter, sieh!« sagte ein Knabe auf dem Magen, »dort steht jemand hinter den Stauden und lauschet.« Geschwinde rief ich mit keckem Tone: »Wie heißt der Ort, wohin ich komme? Ist er noch fern?« Einer der Bettler antwortete stutzend: »Der Herr ist spät auf der Straße, wo will Er hin?« Ich: »Weit und nicht weit, wie man's nimmt. Heißt der nächste Ort nicht Aystetten?« Er: »Ja. Der Herr geht gewiß wallfahrten? Wir kommen eben auch von Maria-Einsiedeln.« Er wollte noch mehr fragen, aber ich ging meines Weges.

Endlich kam ich in ein Dorf und suchte allenthalben ein Wirtshaus. Aber nirgends konnte ich in der tiefen Finsternis ein hängendes Schild gewahr werden, und in den übrigen Häusern schien bereits alles tief zu schnarchen. Die Hofhunde kläfften mich an, immer mußte ich mich mit meinem Zusammengerollten Regenschirm gegen sie verteidigen. Nirgends war ein Licht zu erblicken; ein Bach lief mitten durch das Dorf. In der Dunkelheit glaubte ich einen Steg wahrzunehmen, schritt kühn darauf los und stürzte in den Bach; eine Stange, die quer hinübergelegt war und mir nachher ein paar Weiße Felle ins Wasser zu halten schien, hatte mich betrogen. Ich tat im Fallen einen lauten Schrei, und als ich mich triefend herauswand, ein paar kräftige Flüche; das zog endlich einen alten Mann aus dem nächsten Hause herbei, der mich an die Straße hinaus zu einem Wirtshaus wies. Er warnte mich aber, ich sollte mich im engen Fahrweg durch's Dorf immer hart an die Zäune halten, sonst würde ich noch einmal und zwar in stinkender Jauche, die im Wege eine Pfütze bildete, gebadet werden. Es war für einen Fremden unmöglich, im Finstern an der stechenden Dornhecke vorüber zu kommen, ohne einen Fehltritt in die Pfütze zu tun. Ich mußte mich entschließen, eine gute Strecke weit durch dick und dünn zu waten und wohl acht haben, daß ich meine Schuhe nicht zurückließ, ehe ich wieder auf ein trockenes Plätzchen geriet. Tropfnaß und häßlich besudelt gelangte ich endlich zur Tür des Wirtshauses an der Straße, aber ein großer Hund lag davor, der mich anknurrte, sobald ich pochen oder läuten wollte. Endlich wagte ich's doch mit meinem Schirme an einem Fensterladen zu klopfen, durch dessen Ritzen ich Licht entdeckte. Man öffnete sogleich und hörte meine Bitte um eine Nachtherberge nicht ohne Zeichen des Mißfallens an. »So spät?« hieß es, »es ist schon alles zu Bette, wir haben nichts mehr zu essen.« Der Wirt kam heraus, beleuchtete mich mit seiner Laterne und schloß die Tür wieder zu, indem er sagte: »Übernacht' Er, wo Er will! Ich habe kein Lager für ein solches Schwein!« Zu meinem Glücke war der große Hund mit ihm ins Haus geschlüpft. Ich machte mich also wieder an das Fenster, dessen Laden noch offen stand, und wandte mich mit meiner Bitte an die Wirtin, die noch herausschaute und zu horchen schien. Eindringlich erzählte ich mein Schicksal und versprach, mit Milch und Brot recht wohl zufrieden zu sein, wenn sie mir nur ein Obdach gestatten wollte. Sie fragte: »Wer ich denn sei?« Schon hatte ich's auf der Zunge zu sagen: »Ein Geistlicher.« Das hätte mir freilich ganz gewiß eine gute Aufnahme versichert. Aber in eben dem Augenblicke fiel mir's ein, man könnte dadurch beim Nacheilen auf die Spur geführt werden, und ich antwortete flink: »Ein Student.« »0 wehe!« rief der Wirt, »das ist gewiß ein rechter Gaudieb; die Studenten reisen erst im Herbst, er ist gewiß davongejagt worden.« – »Nicht ungerecht, mein Herr! Ich habe ein Attestat bei mir,« so erwiderte ich mit kühnem Tone und holte mein Portefeuille aus der Tasche, in welchem ich meine Formaten nebst andern Dokumenten verwahrte. Sie waren ganz in lateinischer Sprache abgefaßt und ich verließ mich darauf, der Wirt würde kein Latein verstehen. Um jedoch nicht irre zu gehen, fragte ich: »Herr Wirt! ich habe ein Testimonium bei mir; Sie verstehen doch Latein?« »Nicht recht,« sagte er stockend, »doch lass' Er mal sehen.« Ich reichte ihm nun getrost den lateinischen Zettel hinein. Er sah ihn durch, buchstabierte mit Mühe meinen Namen und gab sich zufrieden, als er das große Siegel erblickte. Mir war bange, er möchte sein Augenmerk auch auf die Jahreszahl richten, die 1783 lautete, aber ich sorgte vergebens. Die Wirtin fand, ihr Mann sei überwiesen, und kam an die Haustür, um sie mir nicht ohne Mitleid zu öffnen. Eine Magd mußte ein Schaff voll Wasser hereinbringen, ich stellte mich mitten drein, tauchte mich nieder, so weit es gehen wollte, badete tapfer darin umher und wusch mich so rein als möglich. Die Wirtsleute und ich scherzten dann sehr munter. Mein Baden kam ihnen allen und mir selbst sehr lustig vor. Aber so warm auch die Jahreszeit war, so fing es mich doch an, in meinen nassen Kleidern ein wenig zu frieren. Bald verlangte ich mich schlafen zu legen, man führte mich in eine Kammer, die nicht unartig aussah. Ich hing meine Kleider zum Trocknen auf und mußte mich, zum ersten Mal in meinem Leben, ganz ohne alle Bekleidung zu Bette legen. Die Müdigkeit machte mich einige Stunden wie ein Murmeltier schlafen, die ungewohnte Nacktheit aber weckte mich schon frühe bei anbrechendem Tage. Ich fand meine Kleider größtenteils trocken und schrieb das Nötige in mein Reisejournal.

Heiter und vergnügt trat ich den 16. Juli meine Reise nach Leutkirch an. Lieblich beglänzte die Sonne den Weg, den ich zu nehmen hatte. Das altfränkische Schloß zu Altmannshofen zeigte sich recht romantisch im Morgenglanze. Am mannigfaltig verschlungenen Ufer der Aitrach hin kam ich, über ein angenehmes Ried spazierend, nach Niederhofen und weidete meine Blicke an dem schönen Bergschloß Zeil, das mich den ganzen Weg über so prächtig von seiner Höhe herab anschaute. Wer kann sich beim Anblicke eines so großen weitläufigen Palastes, im Gegensatze mit den ärmlichen Wohnungen des Landmanns, des Gedankens an Gewalt und Herrscherwillkür erwehren? Mich wunderte es nicht, daß beim Ausbruche der Revolution in Frankreich der Bauer mit soviel Schadenfreude die Schlösser verbrannte. Jeden Augenblick ist ein zu prächtiges Gebäude eine Beleidigung für die Blicke des Armen, und er sagt sich, so oft er daran vorübergeht: »Auf des Landes und meine Kosten, durch meiner Vorfahren oder zum Teil meinen eigenen Schweiß ward diese Zwingfeste aufgeführt. Wenn es keinen jüngsten Tag und keine bessre Zukunft gibt, so sind wir Bauern in der Hölle und unsre Herren im Himmel, und doch führen sie sich ganz und gar nicht als Heilige auf.« Dies sind die Worte, die mir einst ein Bauer beim Anblicke des schönen Schlosses Wellenburg sagte, als ich mit ihm, vertraulich plaudernd, vom Kobel nach Augsburg ging. Er war eben keiner der Gutgesinnten, aber auch keiner der Dummen.

Lange dachte ich auf meiner einsamen Wanderung der Frage nach: »Warum sind alle unsre großen Gebäude mehr prächtig als schön? warum sind sie nicht, so wie bei den Griechen, mehr schön als prächtig?« Nach mancherlei versuchten Auflösungen schien mir diese die richtigste: »Weil in unserm kaufmännischen Jahrhundert, wo jeder nur erwerben will, Gewinnsucht den moralischen Sinn, der so enge mit dem ästhetischen verschwistert ist, daß keiner ohne den andern existieren kann, abgestumpft hat und sich ihrer Natur nach lieber in schimmernden als in schönen Formen zeigen mag; oder, weil man lieber prangen als vergnügen will, weil nicht Harmonie des Wohlwollens, sondern Schellenklang der Eitelkeit die Bauenden begeistert, weil sich Reichtum ohne Menschengefühl lieber in Trotz verratenden, als in Gefälligkeit atmenden Zügen äußert, weil mit Lieblosigkeit wohl Pracht, aber nicht Schönheit bestehen kann.« Unter dergleichen Betrachtungen gelangte ich nach Leutkirch, einem Reichsstädtchen, das die Tiefe eines angenehmen Tales einnimmt.

Hier suchte ich das Posthaus auf und fuhr mit Extrapost nach Wangen. Dadurch gewann ich den Vorteil, ohne müde Füße schnell vom Lande zu kommen, noch heute abend in Lindau einzutreffen und morgen sogleich in die Schweiz abreisen zu können. Hiermit war alle Möglichkeit, eingeholt zu werden, gänzlich aufgehoben.

Je näher ich Wangen kam, desto hügeliger und rauher ward das Land. Als sich das Tal der Argen öffnete und wir das Reichsstädtchen vor unsern Augen hatten, wehte uns ein unangenehmer Geruch, wie von einem großen Brande entgegen. Wir fuhren durch die Tore und erblickten sogleich jammernde Menschen in Gruppen beisammenstehen und andre, die Betten und allerlei Hausgeräte hin und her schleppten. Im Gasthofe zum Adler stieg ich ab. Eingerissene, schwarzgeräucherte Häuser ohne Fenster und Dächer und dampfende Schutthaufen fielen mir am Ende der Gasse, unweit der Kirche in die Augen. Im Gasthofe selbst war nichts an seinem rechten Orte; alles hatte man in ein Gartenhaus vor der Stadt geflüchtet, und nun standen noch die Geräte, welche man zurückgeholt hatte, in trauriger Verwirrung umher. Nur ein einziges Zimmer war zum Empfange der Gäste einigermaßen zubereitet. Der Wirt hatte selbst durch den Brand ein Haus verloren und erzählte uns von diesem traurigen Ereignisse, und die Wirtin, welche ihm bei einigen Umständen nachhelfen wollte, brach öfters in Tränen aus. Alle Einwohner des Hauses liefen wie verstört und noch halb betäubt umher. Alle hatte das Unglück fromm gemacht, und sie sprachen entweder von Strafen oder von Schonung des Himmels. Der Wirt führte mich hin zur großen Brandstätte, indem man uns ein Mittagessen zurechtmachte, und zeigte mir von der Höhe an der Kirchhofmauer die weitverbreiteten Ruinen im Tale! Fast lauter kleine Häuschen der Armut waren niedergebrannt; gegen 70 Firsten lagen im Schutte. Weinend und wehklagend, oder in stummen Schmerz versenkt, wühlten Kinder, Väter und Mütter, mit Lumpen behangen, in den heißen Brandhaufen, aus denen oft lechzende Flammen emporprasselten, und suchten die Überbleibsel ihrer elenden Habe hervor. Es war ein sehr schmerzlicher Anblick! Man sagte mir, die Hauptbemühung der Löschenden sei dahin gegangen, die auf der Höhe stehende Kirche zu retten. Beinahe hätte ich mich aus Unverstand vermessen, zu klagen, daß man nicht lieber die Häuser der Armut, als eine Kirche, zu retten strebte, aber der Gedanke fiel mir noch zur rechten Zeit ein: »Vielleicht wäre durch den Brand der Kirche auch der übrige Teil der Stadt in Flammen geraten.« Unverhohlen gestand ich jedoch dem Wirt meinen törichten Einfall und sagte ihm, daß ich mir deshalb selbst einen Verweis gegeben hätte; er bestätigte meine bessre Vermutung und setzte bei: »Es wäre doch unmöglich gewesen, die hölzernen Hütten zu löschen; ohne Rettung der Kirche aber würde auch der übrige Teil der Stadt mit verbrannt sein.«

Der Postillon, der mich von Wangen nach Lindau führte, hatte alle seine Kleider in den Flammen verloren. Traurig saß er auf dem Bocke, von Zeit zu Zeit erzählte er mir einen Zug der Löschenden oder Beschädigten, und wenn er eine Weile stille saß und dann sich umsah, bebte ihm manchmal eine große Träne im Auge. Er dauerte mich recht sehr; ich suchte ihn, so gut ich konnte, zu trösten, aber er blieb in düstre Trauer versenkt und wollte zu Neu-Ravensburg nicht einmal ein Glas Wein genießen, das ich ihm anbot; nur mit Mühe konnte ich ihn dazu bereden.

Meinem Grundsatze getreu, auf Reisen immer den besten Gasthof zum Übernachten zu wählen, weil man da gewiß am wohlfeilsten und zugleich am bequemsten zehrt, stieg ich in Lindau zur Goldenen Krone ab und erkundigte mich sogleich, ob nicht etwa noch heute ein Schiff nach Rorschach abginge, denn ich hätte gar zu gern, je eher je lieber, in völliger Sicherheit geschlafen. Allein es war bereits abends fünf Uhr, und niemand wollte mit mir so spät die Fahrt unternehmen. Ich lief an die Schifflände und zog selbst Nachrichten ein, so zuverlässig als möglich. Es hieß, morgen in aller Frühe würde ohnehin ein Schiff dahin absegeln, ich sollte mich also die Nacht über gedulden. Um nicht durch allzu dringendes und ungestümes Fordern, heute noch in die Schweiz gebracht zu werden, mich selbst als einen Flüchtling zu verraten und etwa zu unangenehmen Auftritten Anlaß zu geben, beschloß ich, in Lindau zu übernachten, mein Journal fortzusetzen und die noch übrige Zeit anzuwenden, mich in eigner Person bei Herrn Spediteur S. zu erkundigen, was aus meinen Kisten geworden sei, und zugleich die Stadt zu schauen. Aber auf dem Wege fiel mir ein, meine Gegenwart und überflüssige Sorgfalt könnte bei dem Spediteur allerlei Bedenklichkeiten erregen und wohl gar die Versendung des Gepäckes verzögern, ich begnügte mich also, die merkwürdigsten Gegenden der Stadt zu sehen, nach Art der Handwerksburschen zur großen Linde zu Wallfahrten, an die Schifflände zu schlendern und besonders den Galgen um sein allerliebstes Plätzchen auf einer kleinen Halbinsel zu beneiden, denn ich dachte, ein niedliches Häuschen, in dem ich wohnen könnte, stünde dort viel besser. Dem fürstlichen Damenstift mochte ich durchaus nicht zu nahe kommen, denn hier wohnte eine Schwester des Herrn von Ungelter als Stiftsdame; sie kannte mich von einem Besuche her, den sie im vorigen Sommer bei ihrem Herrn Bruder in Augsburg abgelegt hatte, und würde nicht unterlassen haben, mich auf meiner Flucht durch lauter Höflichkeit und Gefälligkeit aufzuhalten, denn sie hatte mich längst eingeladen und mit zuvorkommender Artigkeit versprochen, mir alle Kostbarkeiten des Stifts und alle schönen Damen darin zu zeigen. Zuweilen fiel mir doch der Gedanke ein, ich sollte mir den Spaß machen, sie zu besuchen und eine Wallfahrt nach Einsiedeln vorschützen; es dünkte mich lustig, ihr bei einer so bedenklichen Gelegenheit in der Eile eine kurze Visite zu machen. Aber der Umstand, die Visite könnte wider meinen Willen zu lange dauern und also meine Sicherheit, einer Schalkheit zuliebe, auf's Spiel gesetzt werden, hielt mich wieder ab und bestärkte mich in dem Vorhaben, bei einer Unternehmung von solcher Wichtigkeit so wenig als möglich dem Zufalle anzuvertrauen.

Den 17. Juli, morgens, frühe um 4 Uhr, weckte mich ein Bedienter und brachte zugleich den Bericht, daß ein Schiff mit dem Schlage 5 Uhr ganz gewiß nach Rorschach absegeln würde. Er bereitete mir ein Frühstück und vergaß nicht, seinen scheidenden Gast für die Wasserfahrt recht wohl zu verproviantieren. Seine Munterkeit nahm mich sehr für ihn ein; ich gab ihm ein reichliches Trinkgeld. Ehe er die Türe des Gasthofes öffnete, sprach er mir sehr ernsthaft zu, ich möchte mich doch vor der Reise noch leichter machen, denn im Schiffe finde man dergleichen Bequemlichkeit nicht usw. Ich gehorchte willig und schlug einen Seitengang im Haus« ein, wohin er mich wies. Am Ende des Ganges fand ich eine nachlässig angelehnte Tür, trat hinein und sah – ein abscheulich schmutziges Bett und – eine Eva darauf, sogar ohne Feigenblatt, welche tüchtig schnarchte. Das erstemal in meinem Leben erblickte ich hier ganz ohne Hülle eine weibliche Gestalt in der Nähe, die aber nichts minder als eine Phryne war; die Neuheit der Erscheinung fesselte zwar einen Moment mein Auge, aber die Magd, gewiß der niedrigsten eine, oder was das arme Geschöpf sonst sein mochte, war so schwarz an Händen, Füßen, Hals und Haupt, und hatte übrigens einen so groben, wanstigen und dicken Bau, daß ich statt des Wohlgefallens nur Ekel empfand und schleunig aus Maritornens Kammer zurücktrat, um in ein lautes Lachen auszubrechen. Der schalkhafte Bediente, der vorne am Gange meiner wartete und zum voraus wohl wußte, was ich finden würde (denn es war im ganzen Gange nicht, was ich suchte), platzte auch los und konnte der lustigen Einfälle über mein furchtsames Betragen, wie er's nannte, kein Ende finden. Im Grunde hätte ich die Armselige, die nicht einmal ein Hemde zu haben schien, um nachts darin ihre Blöße zu verhüllen, lieber gar nicht gesehen, denn meine Phantasie konnte nachher des sonderbaren häßlichen Bildes lange nicht mehr loswerden. Es erschien mir sogar zur Unzeit im Traume.

Die Schiffer zögerten lange, bis sie abfuhren. Endlich, nachdem sich eine große Anzahl Reisender von allen Sorten eingefunden hatten, stießen sie vom Lande. Es war bereits 5 Uhr vorüber, und ich hatte mir bis dahin die Langeweile teils durch Betrachtung der schönen Aussicht ins Rheintal und ins St. Gallische Gebiet, teils mit Beobachtung der ankommenden Reisenden vertrieben. Wallfahrer nach Einsiedeln, Viehhändler, Kaufmannsdiener, Fabrikantenmädchen von St. Gallen und allerlei andre Personen kamen allmählich an die Schifflände. Es fand sich auch ein verliebtes Pärchen ein, das alle Augenblicke hinter hohen Tonnen und Lasten am Ufer verschwand, um geschwind einander zu küssen und sich wieder zu zeigen. Beide schienen stets überzeugt zu sein, daß sie niemand bemerkt hätte, und lockten doch jedem ein Lächeln ab. Aber so sind die Liebenden; sie denken, niemand habe Augen für ihre Zärtlichkeiten, solange sie kein Lauschender im Taumel ihres süßen Genusses ins Angesicht verhöhnt, hierin gleichen sie gewissen kleinen Kindern, die, wenn sie dorthin schleichen wollen, wohin sie nicht sollen, so lange die Augen zudrücken, bis sie an ihren Aufsehern vorübergeschlüpft sind, in der tröstlichen Voraussetzung, weil sie niemanden angeblickt hätten, seien auch sie den Blicken der Aufseher entgangen. Der hohe Felsenberg, der hinter Bregenz so steil und majestätisch emporsteigt, zog unter den Schönheiten der Natur meine Blicke am längsten auf sich. Der Wind legte sich, sowie sich unser Schiff vom Lande entfernte, die Schiffer prophezeiten uns eine langwierige Fahrt, denn nur die Ruder stießen uns weiter. Allmählich zeigte sich das schöne Ufer gegen Buchhorn hin mit seinen Schlössern und schönen Gebäuden, die in den See herauszutreten schienen. Wasserburg und Längenargen glänzten im Morgenglanze. Die Pilger fingen an ihren Rosenkranz monotonisch zu plappern. Die Mitfahrenden, welche nicht von der andächtigen Partei waren, machten darüber ihre Anmerkungen oder fluchten, und ich saß vorne am Schnabel auf einem vollen Kornsack, schrieb in meine Reisetabletten oder begaffte die Ufer umher. Die jungen Burschen machten sich an die lustigen St. Galler Mädchen, schäkerten mit ihnen und bedeckten sich manchmal mit dem nachlässig hängenden Segel, um darunter Küsse zu tauschen. Ein lustiger Metzgerknecht trieb den Spatz zu wiederholten Walen und störte in seiner rohern Frohmütigkeit die Andacht der Betenden einigemal mit einem herzhaften Fluche; das eintönige Geleier schien in die Länge seine Geduld völlig zu ermüden. Der Oberschiffer, ein gar christlicher und dabei handfester Mann, verbat sich feierlich das Fluchen mit der Äußerung, er könne es nicht zugeben, daß allen Schiffenden, eines einzigen Auswürflings wegen, etwa ein Unglück begegnete. Als sich der luftige Metzger wenig um seine Erinnerungen bekümmerte und kindisch genug, in gewichtigen, nichts bedeutenden Ausrufungen, die man für Flüche nahm, seine Stärke zu zeigen fortfuhr, drohte der aufgebrachte Schiffmann: »Hörst du nicht auf, so werd' ich dich tunken (ins Wasser tauchen)!« Der Metzger achtete die Drohung nicht und feierte nicht, seine Scherze mit Fuhrmannsphrasen zu würzen; auf einmal ergriff ihn der Schiffmann, der Bursche war aber auf diesen Fall gefaßt und wehrte sich wie ein gehetzter Dachs. Sie rangen miteinander. Im Zorne entfuhren auch dem Schiffmann ein paar kräftige Flüche, und ein Rudernder rief: »Bruder! laß ihn los, du fluchst ja selber!« warf sich zwischen beide und brachte sie auseinander. Ein allgemeines Gelächter schloß die alberne Szene.

Als wir uns dem Schweizer Gebiete näherten, hielt ich in meiner Seele ein Dankfest, daß ich nun das Land der Freiheit so glücklich und wohlbehalten wieder betreten dürfte. Der Anblick des schönen Berges, der sich zwischen Rheineck und Rorschach erhebt, erquickte mich doppelt durch die Mannigfaltigkeit seiner angenehmen Dörfer, Landhäuser, Schlösser, Wäldchen und Bäche, wenn ich diese Gegend mit den einförmigen, weitgestreckten Ebenen verglich, in denen ich letzthin gewohnt hatte. Die niedrige Erdzunge, mit Weidenbäumen und Erlen bewachsen, welche der Rhein bei seinem Eintritt in den See nach und nach angeschwemmt hat, im Rohr genannt, zog lange meine Blicke auf sich. Unser Schiffmann steuerte so nahe an die Rheinmündung hin, um den Bedienten einiger Emigranten, der allerlei Waren von Lindau herüberbrachte und nun mit dem verliebten Pärchen nach dem Schloß Wartensee wandern wollte, das seine Herrschaft gemietet hatte, weiter oben ans Land zu setzen. Wir schifften dann an dem schönen, mit Mauerwerk bekleideten Ufer des Sees fort in den Hafen von Rorschach. Angenehm wechselten kleine beschränkte Prospekte in ländliche Gärten, unter Fruchtbäumen hin, und auf artig gruppierte Bauernhäuser, mit größern Aussichten den Berg hinauf ab.

Die Seeluft hatte mich hungrig gemacht. Ich speiste im Adler zu Rorschach schon um 10 Uhr zu Mittag, saß mit der besten Überzeugung hinterm Tische, daß ich mich bereits in einem reformierten Orte der Schweiz befinde, und lieh mir Essen und Trinken zur Ehre der Freiheit doppelt wohlschmecken. Plötzlich erklang nahe am Wirtshause ein Geläute, ich streckte, davon überrascht, den Kopf zum Fenster hinaus und erblickte eine Kapelle und einen Mönch darin, der sich zur Messe ankleidete. »O wehe!« dachte ich, »so stehe ich auch hier noch unter Pfaffengewalt?« Mit erkünstelter Miene der Nutze fragte ich die Wirtin: »Unter wessen Botmäßigkeit steht der hiesige Ort?« Sie antwortete: »Unter dem Fürsten von St. Gallen.« Eiliger leerte ich nun mein Glas und spazierte, meinen Regenschirm unter dem Arm, den Berg hinauf, um in die äußeren Rhoden zu kommen. O, wie sehr mangelte mir da eine gute Karte der Schweiz! Was hätte ich darum gegeben, diejenige wieder zu haben, die ich wahrscheinlich in der Postchaise von Wangen bis Lindau mit dem Schnupftuch aus der Tasche gezogen und im Fahren verloren hatte. –

Meine Hausleute in Augsburg hatten indes (wie ich nachher aus Briefen und mündlichen Erzählungen erfuhr) zur vermuteten Stunde mein Zimmer leer gefunden, Herr Gantherr brachte die zurückgelassenen beiden Schreiben samt den Registraturschlüsseln mit großem Leidwesen zu Herrn Provikar de Haiden und bat um Verhaltungsregeln. Provikar hörte die Erzählung staunend an und rief mehr als einmal aus: »Das ist ein verwünschter Streich! ein schlauer Kerl! er hält die ganze Welt zum Narren!« Seinen Freunden sagte er: »Lauf ihm nun nach, wer will! Den holt niemand mehr ein! Ich will wetten, Bronner schreibt mir alles (er hätte die Wette verloren) und klagt über Kögls letzte Begegnung! Es ist aber auch wahr! Kögl hat ihn ohne hinreichenden Grund zu bübisch behandelt; mit solchen Leuten darf man nicht so eigenmächtig verfahren. Da ist nun die schöne Frucht!« Er kleidete sich sogleich an, ging mit dem Hausherrn in meine Wohnung, nahm Schriften, Bibliothek und Möbel in Augenschein und befahl seinem Sekretär, Herrn Görtner, die Titel der Bücherrücken zum Protokoll zu nehmen. Beim Durchgehen derselben konnte er sich des Lachens nicht enthalten und äußerte, als er sie einigen Bekannten vorzeigte, die Besorgnis, ich würde nun über dergleichen Materien Bücher schreiben. Mein Hausherr ward ersucht, um alles unnötige Aufsehen zu vermeiden, sogleich selbst als Kurier mit meinen beiden Schreiben an Herrn Statthalter nach München abzureisen. Um den leidigen Vorfall noch eine Weile geheim zu halten, sagte man den Leuten, die auf der «Registratur nach mir verlangten, ich sei auf kurze Zeit verreist und verwies sie zur Geduld. Der Hausmeister in der Dompropstei lachte laut auf, als er die Nachricht meiner Entweichung erhielt. Das gnädige Fräulein Joseph« jammerte erbärmlich, daß ich eben in der Abwesenheit ihres Herrn Bruders fort wäre. »Ach, er wird doch nicht meinetwegen fort sein,« klagte sie, »ich habe ihm ja nichts zu Leide getan! Ach! wenn jetzt nur mein Herr Bruder nicht glaubt, ich habe Bronnern erzürnt und er sei aus Verdruß darüber davon gelaufen! Ich will fleißig beten, daß der Verlorne wieder in sich selber geht und wieder ins Kloster zurückkehrt!« Meine Bekannten waren überrascht, als sie nach einigen Tagen vernahmen, ich habe Augsburg verlassen, um nicht wieder zu kommen. Einer derselben schrieb mir:

»Den 27. Juli, morgens, kam mein Freund dahergerannt und sagte mir ganz außer Atem: Bronner ist fort nach Zürich, die ganze Stadt ist in Alarm, eben begegnete mir Herr Statthalter, der von München kommt! Man sagt, Bronner wolle kalvinisch werden und habe aus der Registratur, weiß nicht was, mitgenommen usw. Aber den Statthalter fahren die Domherren mit Vorwürfen her, daß er sich mit einem solchen Illuminaten abgeben mochte usw. O, wie schmerzt es mich, daß Sie fort sind, lieber Freund, so unvermutet – und ohne Abschied zu nehmen! Ans Nacheilen ward nicht gedacht. Man verzweifelte, Sie einzuholen, und alle sagten: »Weiß der Himmel, wo er hin ist, aus dem wird niemand klug genug!« Ihr schönes Tischlein und das Klavier erhielt der Geistliche Herr Witschka in Ihrer Nachbarschaft zum Geschenk, er hat Herrn Statthalter sogleich nach Ankunft desselben aus München darum gebeten. – Man erzählte mir auch, Herr Dompropst, als er Ihr Schreiben erhielt, sei bei Durchlesung desselben sehr betroffen gewesen und blaß geworden, habe aber ausgerufen: »Er ist doch nicht undankbar!«

Weil ich vermutete, die Augsburgische Geistlichkeit würde mich, wenn sie mir nachstellte, in Zürich suchen, so hatte ich mir vorgenommen, das Gewitter erst verrauschen zu lassen, alle Versuche, etwas gegen mich zu unternehmen, am kürzesten durch Abwesenheit zu vereiteln und meinen Freunden Zeit zu lassen, sich von mancherlei Zumutungen, die ihnen gemacht werden könnten, durch unbefangene Anführung ihrer Unwissenheit, wo ich mich aufhielte, zu entledigen. Zu diesem Ende beschloß ich, meinen Freund in Wallenstadt, den ich bisher nur aus Briefen kannte, auch persönlich kennen zu lernen. Zugleich wollte ich mich in dem reizenden Appenzeller Gelände umsehen, eine kleine Bergreise machen und die Schönheiten der Natur in der Schweiz wieder einmal nach Herzenslust genießen. Sehr genau hatte ich mir den Weg vorgezeichnet, den ich zu nehmen willens war, aber jetzt, da ich meine Karte verloren sah, schwebte nur mehr ein undeutliches Bild vom Hauptumrisse der Gegenden vor den Augen meiner Phantasie, und ich mußte auf Geratewohl die Reise antreten.

Nicht lange stieg ich am Abhänge empor, so kam ich zum Rorschacher Kloster, das in der schönsten Lage die herrlichste Aussicht über den Bodensee und seine fruchtbaren Ufer hat. Seitdem ich mich aus Donauwörth geflüchtet hatte, war mir niemals recht heimlich zumute, wenn ich ein dergleichen Gebäude sah. Auch hier streiften meine Blicke nur mit einer Art Scheu über den hübschen Aufenthalt, und ich ging ungesäumt daran vorüber, etwa wie ein entwischter Galeerensklave an dem Hause eines Amsterdamer Seelenverkäufers vorüberschleichen mag. – Kaum hatte ich das Kloster hinter mir, so wandte ich mich rechts auf kleine Fußpfade zwischen Hecken und Wiesen den Berg hinauf. Hier fühlte ich nun recht, daß ich wieder auf Schweizergrund wandelte. Vollerer Graswuchs bekleidete die Anger, Quellen rieselten am Wege, mitten in den Gütern auf der angemessensten Stelle standen einsame Häuser mit ihren Scheunen und Hütten, Fruchtbäume streuten angenehme Schatten über die Häuser und Matten, aus den grünenden Zäunen hoben sich hohe Kirschen- und Walnußbäume, die ganze Natur schien hier mit kräftigerm Triebe zu walten. Oft setzte ich mich, um auszuruhen und mich an der reichen und weitgedehnten Aussicht über den See und nach Schwaben hinaus zu laben, auf Brunnentröge oder schöne Hügelchen am Wege und sah mich bald von Kindern umringt, bald von Schnittern und Mädchen gegrüßt und freundlich befragt. Hier konnte ich wieder sagen: »Wir ist recht wohl!«

In der größten Mittagshitze erstieg ich den Rücken des Berges und lechzte nach einem Trunke Wasser. Verschiedene kleine Häuser, die ich antraf, standen offen und leer, nirgends ein Bewohner, alle schienen zur Arbeit auf's Feld gegangen zu sein. Ich schlenderte meines Weges und war eben im Begriffe, aus einer kleinen Quelle zu trinken, die ich an der Ecke einer Wiese fand, da rief mir ein junger Mann, so ängstlich und laut als er vermochte, aus der Ferne zu: »Halt! Halt! Trinke nicht!« Ich hielt ein und erwartete seine Ankunft. Er beteuerte, wer aus der Quelle tränke, bekäme Würmer im Gedärme und müßte lange leiden, bis er wieder davon befreit würde. Dienstfertig wies er mir eine bessre Quelle in der Nähe und holte eine hölzerne Schale herbei, um mir das Schöpfen bequemer zu machen. Soviel Gefälligkeit verdiente eine Belohnung; ich reichte ihm ein Stück Geld dar. Aber er wandte sich weg, ging wie mürrisch davon und sagte: »Ich habe dem Herrn nichts verkauft, Wasser ist uns umsonst feil!« Ich lief ihm nach und bat: »Nehm' Er mir die Kleinigkeit ab, lieber Mann, als einen Dank für Seine Gefälligkeit, ich hab' Ihm Mühe gemacht.« Trocken erwiderte er: »Es ist gern geschehen! Unser Herr hat gesagt: Wer einem Dürstenden einen Trunk Wasser reicht, wahrlich, dem wird's nicht unbelohnt bleiben. Darauf verlaß ich mich.« Und damit ging er fort. Gerührt rief ich ihm zu: »Nun, so mag dich der Himmel besser belohnen, als ich es kann! Lebe Wohl! gütiger Mann!« Lange sah ich ihm nach. Er wandte sich um und winkte mir seinen freundlichen Abschied. Dies Ereignis erquickte recht innig mein Herz. »Welch ein Volk,« dacht' ich, »wenn alle so sind! Wie glücklich, wer unter ihnen wohnen kann! hätte ich eine Hütte hier und wäre dein Nachbar, edler Mann, wie wohl müßte mir sein!« Vergnügt schritt ich weiter, in der frohesten Stimmung, mit süßen Gefühlen in der Brust. »Sagt mir nicht,« rief ich öfters aus, »die Idyllenwelt sei nur im Kopfe des Dichters, sie ist wirklich außer ihm! Ach, es fehlt nur an reinem Sinne, jede schöne Äußerung mit offener unverstimmter Seele aufzufassen.« So kam ich glücklich in das Dorf Grub hinab und labte mich recht bei einem frischen Brunnen, wo ein angenehmes Weib einen Kupferkessel füllte. Ich fragte sie, ob sie Milch hätte. Sogleich lud sie mich in ihr Haus ein, rief zu meiner Unterhaltung ihren Mann herbei und setzte mir Brot und ein reinliches volles Milchgefäß hin. Ich ließ es mir trefflich schmecken und fragte um allerlei Umstände des Orts. Sie zeigten mir einen kleinen, fast ausgetrockneten Bach, der das Tal in zwei Teile scheidet: »Hier,« sagte er, »sehen Sie die Grenze, der Teil des Dorfes, welcher diesseits des Baches liegt, ist katholisch und dem Fürsten von St. Gallen untertan; was jenseits liegt, ist reformiert und gehört schon zu den äußern Rhoden.« »Also,« dachte ich, »könnte mich auch hier noch die Gewalt der Pfaffen erreichen!« »Sie scheinen mir ein Geistlicher,« fuhr mein Wirt fort, »sind Sie etwa so ein Schottentrinker, der nach Gais geht?« Unverhohlen antwortete ich: »Ja«. Denn ich hatte wirklich im Sinne, über Trogen, wo ich die Schwester meines Freundes Heinrich Geßner an einen Herrn Zellweger verheiratet wußte, dann über Gais, Appenzell und den hohen Meßmer nach St. Johann im Toggenburg und von da nach Wallenstadt zu wandern. Mein Wirt fragte weiter, ob ich nicht mit seinem Herrn Pfarrer bekannt werden möchte, er sei eben zu einem Besuche in seines Nachbars Haus getreten; wenn ich ein wenig warten wollte, würde er wahrscheinlich auch bei ihm einsprechen, da hätte ich denn die schönste Gelegenheit, mit demselben zu sprechen. Ich dankte für sein gefälliges Anerbieten, hatte Eile und nahm Abschied. Als ich über den Grenzbach geschritten war, sagte ich: »Gott Lob, daß ich nun endlich das Land der Freiheit wirklich erreicht habe. Beinahe hätte mich noch zuguterletzt ein Geistlicher in Untersuchung genommen. « Es war mir wie einem Deserteur, der bereits in Sicherheit zu sein wähnt, guten Mutes in ein Wirtshaus an der Grenze tritt und nun aus den Reden der Gäste auf einmal vernimmt, er befinde sich noch im Gebiete des Herrn, dem er entlaufen wollte; flink bricht er auf, eilt aus der fatalen Gegend hinweg und jubelt vor Freude, wenn ihm die Grenzsteine sagen, er habe nun glücklich ein fremdes Land betreten.

Der Weg führte mich über eine Art hochliegende Ebene hin, die von sehr tiefen Tobeln und Bachbetten durchschnitten und von höhern Bergen ringsumher überblickt ward. Überall fanden sich Zeugnisse von Tätigkeit, Fleiß und Betriebsamkeit der Einwohner. Noch war es keine Seltenheit, hier Ackerfelder zu sehen. Die Wohnungen der Menschen standen in kleinen Gruppen oder in größern Dörfern beisammen. So lagen Trogen, Rehtobel und der Speicher vor mir. Als ich Trogen näherkam, stiegen mit mir eine Menge Arbeiter männlichen und weiblichen Geschlechts in die tiefe Schlucht hinab, die seit Jahrtausenden ein wildes Bergwasser ausgegraben hat. Sie trugen Gewebe zu den Herren Zellweger oder nach dem Speicher. Im Hinaufsteigen am Hügel erzählten sie mir von dem Reichtum und dem weit ausgebreiteten Handel der Zellwegerschen Familie und machten mir ein so glänzendes Gemälde von derselben, daß ich glaubte, sie sei zu reich, um mich gut aufzunehmen, und deshalb im Wirtshaus zu übernachten beschloß. Zugleich erfuhr ich, daß die Schwester meines Freundes wirklich nicht in Trogen, sondern in Genua sich befände, wo die Herren Zellweger ein Haus etabliert haben. Nicht lange saß ich in der Wirtsstube, so beschloß ich, wenigstens die Wohnung zu sehen, welche diese berühmten Kaufleute innehätten. Auf dem Hauptplatze des Orts stehen zwei schöne Häuser einander gegenüber, sie fallen eben nicht unangenehm in die Augen, sind ganz von Stein aufgeführt, zeugen, obschon sie nicht eben prächtig aussehen, von dem Wohlstande ihrer Besitzer und stechen gegen die übrigen ganz aus Holz zusammengefügten Hütten des Dorfes sehr ab. Beim ersten Anblicke fühlt man, daß hier Herren unter den Hirten wohnen. Wie staunte ich, als abends ein Landmann mit mir zu Tische saß, der mit einem Reisenden aus Glarus über kaufmännische Angelegenheiten sprach! Es zeigte sich, daß der einfache, anspruchslose Mann in Messina, Livorno, Genua und Bordeaux seine eigenen Warenlager hatte und hiermit einen sehr weit ausgedehnten Handel trieb. Wie groß war meine Achtung für das Land, das so betriebsame Männer hervorbringt, und für das Glück der Freiheit, unter deren Schutz allein soviel Arbeitsamkeit und Kunstfleiß gedeiht!

Mit einem Landkrämer und seiner Frau, die beide sehr schwer mit Tragbuden beladen waren, legte ich morgens, den 18. Juli, eine große Strecke Weges nach Gais zurück. Ich scheute mich anfangs mit ihnen zu gehen, weil ich dergleichen Leuten wenig Zutrauen schenken konnte, seitdem ich aus Akten und gedruckten Schriften gelernt hatte, daß sich sehr viele Diebe unter dieser Maske verkappen. Was mir noch mehr Abscheu vor diesem Paare beibrachte, war folgender Umstand: der Wirt hatte versprochen, er wollte mir ein Schlafzimmer allein anweisen, aber er hielt sein Wort nicht, sondern legte die Krämersleute zu mir in die Kammer, wo neben dem meinigen noch ein großes Bett stand. Morgens, als ich erwachte, erblickte ich die Krämerin vor mir, die etwas bei meinem Kopfkissen suchte. Ich bin gewöhnt, meine Beinkleider unter die Kissen zu verstecken. Nun schien es mir, die freche Frau habe sich nur darum etwas an meinem Bette zu schaffen gemacht, um sich meines Geldes zu bemächtigen, und ich fragte zornig auffahrend: »Was macht Sie da?« Ruhig antwortete sie: »Ich habe heute nacht ein Halstuch zum Bette herausgeworfen und finde es nicht, ist's nicht etwa da herüber gekommen?« Mit bloßem Busen suchte sie umher und schien es recht darauf anzulegen, mich wollüstig zu machen. Aber Unverschämtheit verfehlt gewiß allzeit das Ziel bei mir und schreckt mich zurück, statt daß Sittsamkeit mein Herz gewönne. Ich wandte der Unwürdigen das Stiefgesicht zu. Um mich ihrer Begleitung zu entziehen, machte ich mir, als sie abreisten, noch allerlei zu tun und ging erst später aus dem Flecken. Aber es war, als hätten sie und ihr Mann mich erwartet; ich fand sie nicht weit von Trogen auf einer Anhöhe, wo der Weg sich schied, am grünen Bord sitzen und ausruhen. »Es wäre doch lustiger,« sagte der Mann, »wenn wir miteinander gingen, so hätten wir eine Ansprache und der Herr weiß doch den Weg nicht recht!« Ich wollte eben nicht furchtsam scheinen und entschloß mich, eine Strecke mit ihnen zu gehen. Überall fanden wir Mädchen unter den Bäumen vor den hölzernen Häusern sitzen, die Musseline über die Trommel gespannt hatten und unter Morgengesängen entweder weiße oder goldene Blumen darein stickten. Wenn wir fragten, für wen sie arbeiteten, so war die Antwort: für einen Kaufherrn von St. Gallen oder von Herisau oder im Speicher usw. Die Männer gaben sich größtenteils mit der Wartung ihres Viehes oder mit dem Feldbau ab, aber die Äcker wurden hier immer seltener. Künstlicher Wiesenbau, Obst- und Kohlgärtnerei schienen dem Klima zufolge besser betrieben zu werden. Je näher wir dem Berge Gäbris kamen, desto rauher und höher ward das Gelände, desto seltener die Häuser, und endlich verschwanden sie ganz. Der Krämer redete mit seiner Frau eine mir unverständliche kauderwelsche Sprache. Ich schlenderte vorsichtig neben oder hinter meinem Geleite her, lief manchmal auf eine kleine Höhe, um mich in der Gegend umzusehen, und labte mich am Anblicke der mannigfaltigen Schönheit der vielen Hügel und der herrlichen Aussichten. Mein kleines englisches Sackperspektiv schien den beiden Mitreisenden in die Augen zu stechen. Sie betrachteten es einmal, auf einem Ruheplatz sitzend, mit habsüchtigen Blicken, nahmen es mir aus der Hand und wollten hindurchschauen. Aber keines von ihnen konnte den rechten Sehpunkt finden. »So ein Ding ist teuer,« sagte der Mann, »aber ich kann's nicht brauchen, es dünkt mich, der Herr hat mehr Geld im Sack, als er sich ansehen läßt!« »Ei,« fiel die Frau darein, »wie möchte er sonst auch so müßig im Lande herumziehen?« Diese Meinung war auf der wilden, einsamen Stelle, wo wir uns befanden, für mich eben nicht die vorteilhafteste. Geschwinde sagte ich also: »Das kleine Fernrohr ist ein Überbleibsel aus meinen bessern Tagen, da ich als Registrator gute Einkünfte genoß. Nun bin ich ein Abgedankter und muß erst anderswo mein Unterkommen suchen; dies ist eben der Endzweck meiner Reise.« Geschwind nahm ich aus den Händen der Frau das Perspektiv zurück und stieg eine kleine Anhöhe hinauf, angeblich um in die Runde zu schauen, eigentlich aber, um mich in einiger Entfernung von ihnen zu halten. Indem ich wegging und wiederkam, sprachen sie ihr Rotwelsch. Ich verlangte, sie sollten mich diese Sprache lehren, aber der Krämer beteuerte, dazu bedürfte es einer längern Zeit und Übung, in so wenigen Stunden, als wir beisammen wären, könnte das nicht angehen. Ehe wir aufbrachen, beklagte sich die Frau, daß ihr die Bürde zu schwer würde, der Mann band also ein Päckchen, mit Wachstuch überzogen, das über ihrer Tragbude befestigt war, auf das seinige und steckte ein Stilett, mit einem Hefte von Hirschhorn, das darunter verborgen war, in seine Hosentasche, indem er sprach: »Auf Reisen sind manchmal dergleichen Waffen sehr nützliche Werkzeuge.«

Ich mochte den Nutzen derselben eben nicht an mir bewähren lassen und hielt mich immer unter mancherlei Vorwänden eine Strecke hinter ihnen. Gern wäre ich allein gegangen, aber ich wußte in der Wildnis keinen rechten Weg. Jetzt hatten wir rechter Hand eine steile Höhe, mit Holz bewachsen, zur Linken eine öde Heide, die sich weit den Berg hinabzog. Nirgends ließ sich außer uns ein Mensch erblicken. Es ward ein wenig weiterhin ein kleines Vorholz sichtbar, durch das der Weg zu führen schien. Eine Verzäunung von Stangen umschloß es. »Dort kommt ein Gatter,« sagte der Krämer, »Sie könnten wohl ein wenig vorausgehen und uns aufmachen.« Geschwind lief ich an ihm vorüber, öffnete das Gatter und harrte ihrer. Der Krämer blieb zu eben der Zeit eine gute Strecke zurück, um etwas an seiner Bude zu binden; es schien mir, der nachlässig aufgebundene Pack, den er der Frau abgenommen hatte, wollte sich losmachen. Die Frau trat ins Vorholz. Ein kleines Bächlein kam von der Höhe herab, sie schritt darüber weg und sank mit ihrer Bürde zur Erde, als wenn sie einen Fehltritt getan hätte, und ich eilte, ihr empor zu helfen. Sie schlüpfte aus den Tragbändern ihrer Last, hob sich an mir auf und setzte sich an den nahen Rain. Dann klagte sie, ihr schmerzte vom Fallen das Knie und schaute ohne Umstände zu dem Schaden. Ich wandte mich weg, um sie nicht in Verlegenheit zu setzen. Aber sie sagte: »Wie einfältig! haben Sie denn noch nie ein Knie gesehen?« und bedeckte sich. Der Mann knüpfte noch immer an seinem Gepäcke. Ich setzte mich der Frau gegenüber an den Abhang, sie erhob sich nach einer Weile, sah nach ihrem Manne und nahm Platz zu meiner Rechten. Die Zeit ward mir lange. Ich äußerte eine Klage, daß wir alle Augenblicke aufgehalten würden und sagte: »Es ist besser, ich gehe allein, den Weg werd' ich wohl finden.« Aber als ich aufstehen wollte, hielt sie mich beim Rocke fest und bat mich zu bleiben und zog solange, bis ich neben sie auf den Rasen fiel. Da umklammerte sie mich, wie ein Bär, mit ihren rauhen Tatzen und fing mich Sträubenden derb zu küssen an, indem sie flüsterte: »Bleib, bleib, du leichter Springinsfeld! Ich will dich herzen, bis du bei mir zu bleiben versprichst. Mein Mann sieht's nicht.« Ich wußte nicht, wie mir geschah und wehrte mich aus allen Kräften gegen dergleichen unzärtliche Karessen, aber ich kam nicht sogleich los. Sie schrie und drückte mich doch immer heftiger. Da rannte der Mann herbei (er mußte diesen Augenblick erwartet haben), fluchte, sprang auf mich zu und rief: »Geiler Hund! Was? du willst mein Weib schänden?« Nur mit der höchsten Anstrengung gelang es mir, aus den Armen der Boshaften mich loszuwinden. Kaum hatte ich mich aufgerafft, um zu fliehen, so warf der Krämer seinen dicken Knotenstock, mit dem er die Tragbude zu unterstützen pflegte, mit Wut mir nach, um mich zu fällen. Allein die eiserne Spitze fuhr nahe bei mir unschädlich in die Erde. Zu spät fiel mir ein, den Stock zu ergreifen. Als ich mich umsah, liefen mir beide wie Rasende nach, er mit dem bloßen Stilett in der Faust, sie laut rufend, als wollte sie ihm Einhalt tun. Da ich Unbewaffneter der Farce nicht trauen konnte, spannte ich alle Kräfte an, um mein Heil in der Flucht zu suchen. Meinem Heldenmut mag das freilich wenig Ehre machen, aber es war nicht anders, ich wußte meiner Seele keinen bessern Rat, als zu fliehen. Es gelang mir bald, mit der Schnelligkeit eines Rehes mich ihrer Wut zu entreißen. In einiger Entfernung sah ich um und blieb stehen, da warf mir der Verfolgende Steine und was ihm in den Weg kam nach. Ich erwiderte seine Würfe mit Wut, traf ihn aber ebensowenig, als er mich. Manchmal rückte er näher gegen mich an. Ich befleißigte mich dann doppelt, ihn zu treffen, aber immer wußte er auszuweichen. Dann zog ich mich wieder eine Strecke zurück, um seinem Stilett nicht zu nahe zu kommen, und er verfolgte mich wieder. So bekriegten wir einander, bis er endlich der vergeblichen Kanonade müde ward. Er drohte mir mit dem Tode, wenn er mich irgendwo fände. Ich rief ihm zu, daß ich ihn im nächsten Orte bei der Obrigkeit anzeigen würde. Auf diese Weise trennten wir uns; er retirierte sich den Berg hinauf, ich wanderte – eben nicht langsam – den Abhang hinab. Ehe ich's dachte, hatte ich ihn aus dem Gesichte verloren und kam nach kurzem an den Fuß des Berges, wo mir Wohnungen und Gärten gar tröstlich entgegenschauten und mir vor dergleichen Angriffen Sicherheit versprachen. Sobald ich Menschen fand, erzählte ich ihnen von meiner überstandenen Gefahr und ermahnte sie, auf das Krämerpaar ein wachsames Auge zu haben. Im Wirtshaufe zu Gais wollte ich mich erholen und laben, die Schottentrinker versammelten sich um mich her und horchten mir Erzählendem zu; ich meinte, man sollte gegen die boshaften Krämersleute Häscher ausschicken und auf den Wegen Wachen aufstellen, um sie aufzufangen. Der Wirt ließ auch sogleich Anstalten machen, daß sie beim Durchziehen durchs Dorf angehalten würden, aber sie kamen nicht zum Vorschein und hatten ganz gewiß nach dem mißlungenen Anfall auf mich einen andern Weg eingeschlagen. Ein Domherr brachte mich sehr auf, er behauptete geradezu, ich hätte die Frau wohl selbst angegriffen, um ihrer im Busche geschwind zu genießen, der Mann sei nur zu frühe dazu gekommen. Entrüstet hörte ich ihn an und erwiderte zornig: »Sie mögen recht haben, wenn ich ein Domherr wäre.« Das brachte die Lacher auf meine Seite, und eine blasse Dame, die dabei stand, flüsterte mir, auch für die übrigen vernehmlich, die Genugtuung zu: »Man mißt gewöhnlich andre nach seinem eigenen Maßstab, und mein Bruder fühlte wohl nur, was er in Ihrem Falle getan hätte; vergeben Sie ihm!« Dies verdroß den Domherrn, er brach gegen seine Schwester und mich in beleidigende Worte aus, und ich beschloß, den Ort früher, als ich mir vorgenommen hatte, zu verlassen. Nachdem ich mit einigen Kurgästen auf dem geräumigen Platz bei der Kirche spazieren gegangen war, rief mich ein Kellner zum Essen. Ich hatte zwar nur ein Frühstück verlangt, es ward aber eine ordentliche Mahlzeit daraus. Da ich auf meiner Wanderung, den ganzen Tag durch, kein Wirtshaus mehr fand, so bekam mir diese Liberalität des Wirtes sehr wohl. Ungeachtet des ausgestandenen Schreckens, schmeckten mir Kost und Wein gar trefflich. Die Freude, glücklich entkommen zu sein, obschon nur ein Hasentriumph, schien wieder gut zu machen, was die kurze Angst etwa verdorben hatte.

Es mochte zehn Uhr sein, als ich mit dem Nachfolger des sogenannten Schotten-Sepps die Reise wieder antrat. Er hatte sich erboten, mich eine Strecke weit mitzunehmen, weil ihn sein Weg in dieselbe Gegend führte, wohin ich verlangte. Täglich brachte er die Schotten (Molken) aus einer Entfernung von ein paar deutschen Meilen nach Gais. Auf einer Karte des Kantons Appenzell, die in dem Speisesaal hing, sah ich, daß man, um durch die Grafschaft Toggenburg nach Wallenstadt zu gelangen, sehr lange durch katholische Orte wandern müßte. Dies gefiel mir nicht, weil ich aufgehalten zu werden fürchtete. Deshalb änderte ich meine Reiseroute dahin ab, daß ich über einige Berge hin, in die Züricher Grafschaft Sax, dann das Rheintal hinauf, nach Sargans gehen wollte. Ich versprach mir viel Freude von einer kurzen Bergreise. Eine kleine Gesellschaft von Kurgästen, die eben am Dorfe spazieren gingen, entschlossen sich, auf unsrer Wanderung uns eine Weile zu begleiten. Es waren zwei Herren mit ihren Frauen und ein blasses, hustendes, aber schönes und zartes Fräulein: es dauerte mich oft, wenn ich es ansah und alle Zeichen der Schwindsucht an seinem wohlgebildeten Antlitz bemerkte. Wir botanisierten, suchten die schönsten Standpunkte, aus denen sich die Reize der Gegend am vorteilhaftesten zeigten, und sangen fröhliche Lieder. Der Weg führte uns erst über eine etwas feuchte Wiese, dann über verschiedene kleine Hügel und Bette ausgetrockneter Waldbäche, einen höhern Berg hinan. Auf einem erhabenen Waldanger, in dessen Mitte eine große Eiche stolzierte, unter der wir uns lagern und der schönen Aussicht genießen konnten, saßen wir singend und scherzend beisammen im Schatten und letzten uns noch in frohen Gesprächen, ehe wir voneinander scheiden wollten. Es war uns recht wohl, ich saß zu den Füßen des kränkelnden Fräuleins und sang ein Liedchen von Juliane Benda:

Liebes Mädchen, sage mir,
Denk' ich nun: bald scheiden wir,
Warum fühl' ich diesen Schmerz?
Warum zittert so mein Herz?
Liebes Mädchen, sage mir:
Fühlst du dieses auch in dir?

Fragend blickte ich sie an, es war gewiß etwas Wehmütiges in meinem Blicke. Eine Weile schwieg sie, ihre Augen ruhten voll Freundlichkeit auf mir, als sie die übrigen zerstreut glaubte, reichte sie mir ihre Hand und drückte die meinige, ihre Blicke netzten sich, und sie sang mit schwacher aber geübter Stimme ein Lied aus Rheinecks Sammlung:

Weh mir, es sitzt mir in der Brust,
Und drückt und nagt mich sehr,
Mein Leben ist mir keine Lust
Und keine Freude mehr usw.

Ach, mit welchem Mitleid sah ich die Unglückliche an. »Schönes, junges Blut! und du sollst fort?« Unaufhaltsam drängten sich auch in meine Augen Tränen. Als sie zu der Strophe kam:

Der Ärzte Kunst erquickt mich nicht,
Macht mir nicht frischen Sinn:
Die Blume, die der Wurm zersticht,
Welkt ohne Hilfe hin –

da rannen mir die Tropfen herab; sie bemerkte es und wollte doch fortfahren:

Mein Trost allein bleibt Sarg und Grab,
O sängen an der Tür
Sie schon und senkten mich hinab;
Wie leicht und wohl wär's mir!

aber ein unwillkürliches Schluchzen erstickte mitten darin ihre Stimme. Sie bedeckte mit der einen Hand ihr Antlitz und holte mit der andern geschwind ein weißes Taschentuch hervor, um ihren Schmerz hinter demselben zu bergen und die nassen Wangen zu trocknen. Die Frauenzimmer gaben sich Mühe, der Kummervollen Mut und Hoffnung einzusprechen, die Herren setzten ihr mit Gründen zu, und sie schien sich bald wieder zu fassen. Aber eine Wolke düsterer Trauer lag immer unverkennbar auf ihrer Stirne. Sie behielt mich bei der Hand und schwieg. So saßen wir beisammen, da kamen unten am Abhange der Landkrämer und seine Frau auf einem einsamen Holzwege aus dem Gebüsche. Ich fuhr zusammen, zeigte mit der Hand hin und sagte: »Seht, da sind sie!« Alle Blicke hefteten sich auf die Kommenden. Wir hielten leise Rat, was hier zu tun wäre. Es kam in Frage, ob wir sie nicht sogleich überfallen und binden wollten? Die Frauenzimmer sträubten sich dagegen und ahnten Gefahr. Da rief unser Begleiter, der Schottenträger, welcher sie indes besser ins Auge gefaßt hatte: »Nur ruhig! die kenn' ich, sie gehen nach Appenzell, ich will ihnen nachschleichen und bei der Obrigkeit die Anzeige machen.« Wirklich schien uns sein Rat der beste. Wir warteten also unter dem Baume bis sie vorüber waren, aber niemand mochte mehr sitzen. Das hübsche Paar keuchte indes unter seinen Bürden den Berg herauf, die Krämerin voran. In einer Entfernung von etwa zehn Schritten erhob sie die Augen und erblickte mich neben den übrigen am Wege stehend. Es war mir unmöglich, ganz zu schweigen, »Ha, seid ihr da?« rief ich ihr zu. Sie stutzte, wandte sich plötzlich um, lief, ohne ihrer Bürde zu achten, den Berg wieder hinab und eilte dem Hohlwege zu, woher sie gekommen war. Ihr Mann stand einen Augenblick stille, als sie an ihm vorüberlief, blickte unschlüssig um sich und folgte endlich seiner werten Hälfte laufend nach. Unser Schottenträger rief ihnen zu: »Lauft nur! ihr entlauft doch dem Scharfrichter nicht!« Nachdem wir uns über diesen Vorfall noch eine Weile unterhalten hatten, schickten sich unsre Kurgäste an, wieder nach Gais zurückzukehren. Die Frauenzimmer schienen einige Scheu zu haben, mit ihren beiden Herren allein durchs Gehölze zu gehen. Der Schottenträger und ich begleiteten sie also bis auf die Wiese am Fuße des Berges. Das blasse Fräulein, eine Stiftsdame von S., hing sich unterwegs an meinen Arm und erzählte mir, ihr Zustand schreibe sich von einem Balle her, auf dem sie sich allzu sehr erhitzt hatte. Als ich von der Kranken Abschied nahm, drückte sie mir mehr als freundlich die Hand und sagte mit bedeutendem Nachdruck, wie gerührt: »Ich danke Ihnen, Herr Felix Liber, für Ihr herzliches Mitleid! die kurze Zeit, die ich noch zu leben habe, wird mir Ihr Name nicht mehr aus dem Sinne kommen.« Innig bewegt drückte ich ihre Hand an Herz und Lippen und riß mich los, oft zurückschauend. Als ich tiefsinnig und still mit dem Schottenträger die Anhöhe wieder erstiegen hatte, wandte ich mich um und spähte, ob ich die liebe Gesellschaft nicht noch einmal erblicken könnte. Bald sahen wir sie hinter einer Hecke hervorkommen. Ich beobachtete mit dem Fernrohr, daß auch sie umschauten, und winkte mit geschwungenem Schnupftuche. Sie bemerkten es und winkten mir wieder; beinahe hätte ich darüber das Krämerpaar vergessen. Aber mein Begleiter mahnte mich oft genug daran. »Wo sind sie wohl hin? Wenn sie nun kommen, was tun wir? Wüßte ich nur, welchen Weg sie genommen haben!« Das waren öfters seine Ausrufungen, über die wir uns dann weitläufig ergossen. Ich konnte annehmen, mein Begleiter würde, wenn der Krämer gekommen wäre, nichts Angelegneres gehabt haben, als flüchtig zu werden und vor allem seine Haut in Sicherheit zu bringen. Zum Glücke ist das Laster noch zaghafter als die Schwachheit, und die bösen Gäste ließen sich nicht wieder sehen. So gelangten wir über waldige Höhen und Heiden an einen freien Abhang, wo sich die schönste Aussicht über einen Teil der innern Rhoden öffnete. Hier waren keine Dörfer zu sehen, sondern einzelne, an sanften Hügeln höchst angenehm verteilte Wohnungen. Rings um jedes Haus her breiteten sich schöne Anger aus, mit Bäumen besetzt. Jeder Eigentümer saß recht mitten in seinen Gütern, gerade am schicklichsten Flecke, den sich ein Kenner der schönen Natur gewählt haben würde. Es war mir ein neuer, erquickender Anblick, solch ein Arkadien zu sehen, und ich freute mich recht, dadurch hinzuwandeln.

Mein Begleiter erhielt seine Belohnung und nahm Abschied. Zuerst schlenderte ich ins Tal hinab, wo einige Leute Torf gruben, und beobachtete die Art, wie sie damit zu Werke gingen. Dann stieg ich am gegenüberstehenden Berge, einem Vorgebirge des Fähnern, dem tiefen Einschnitte eines kleinen Baches nach, ohne Weg und Steg, gerade empor und erquickte mich im Schatten eines angenehmen Wäldchens, wo viele Vögel sangen, durch Kühlung und Ruhe. Auf einem weichen Moosplätzchen, von Müdigkeit und Hitze betäubt, schlief ich unbekümmert ein und erwachte erst, als mich die Glocken grasender Kühe umläuteten. Ein Hirtenknabe saß neben mir und tändelte mit meinem Regenschirm. Es war ihm genau so zumute, wie mir, als ich zum erstenmal einen seidenen Schirm erhielt; er wünschte, es möchte augenblicklich tüchtig regnen, damit er die Bequemlichkeit fühlen könnte, unbenetzt darunter zu gehen und die fallenden Tropfen klopfen zu hören. Er zeigte mir den Weg den Berg hinan, trug stets mit besondrem Wohlgefallen den offenen Schirm über sich ausgebreitet und meinte, er wollte in seinem Leben nichts weiter verlangen, wenn er nur einmal ein so köstliches Dach besäße. »Armer Junge!« dachte ich, »würde dir auch dein Wunsch gewährt, so würdest du bald das Gelächter deiner Gespielen, und dein rastloses Herz sehnte sich schnell wieder nach einem neuen Besitz. Ach, selten wissen wir, was wir verlangen! Unser wahres Glück besteht nicht im Vielbesitzen, sondern in der Genügsamkeit, im weisen Gebrauche des Erworbenen und im frohen Streben nach erreichbaren Gütern.«

Nachdem ich eine Weile am unwegsamen Abhange emporgestiegen war, fand ich mich auf einer geräumigen Alpenwiese des Berges Fähnern und lechzte vor Durst, ohne irgendwo ein Wasser finden zu können. In einer nicht sehr großen Entfernung erblickte ich die Wohnung eines Sennhirten, vor welcher zwei Kinder sich jagten. Ich eilte dahin und fand nicht eine gewöhnliche Sennhütte, sondern ein ärmliches Häuschen, dessen erstes Gemach ein freier Raum zum Käsemachen mit dem Herde, großen Kessel und den übrigen Werkzeugen eines Sennen war; nordwärts daran stieß eine Art kleinen Kellers voll Milchgefäße, aus der Käseküche führte eine Tür westlich in das Wohnzimmer des Sennen, das einen Ofen hatte; eine kleine Schlafkammer nahm den südlichen Teil des einfachen hölzernen Gebäudes ein. Ein freundlicher Mann von etwa 45 Jahren und eine Frau von 35 traten mir unter der Tür entgegen, als ich mich dem einsamen Häuschen näherte. Die beiden Knaben, die meine Ankunft bei ihren Spielen zerstreuen mochte, hatten drinnen bereits einen Fremdling angekündigt. Mit patriarchalischer Traulichkeit lud mich das gute Paar in seine Wohnung ein. Hinter den Eltern lächelte ein hübsches Töchterchen von etwa 15 Jahren hervor und bot mir traulich die Hand zum Gruße. Neugierig hüpften die Knaben um mich her und beschauten mich vom Kopf bis zu Fuße. Bald äußerte ich mein Hauptanliegen und bat um frisches Getränk. Sogleich brachte das gefällige Mädchen süße Milch in einem reinlichen hölzernen Gefäße herbei, reichte mir einen hölzernen Löffel dar und setzte sich mit unschuldiger Bereitwilligkeit an meine Seite, sobald ich den Wunsch äußerte, sie möchte mir im Essen Gesellschaft leisten. Es vergnügte mich recht sehr, die Unschuld hier ganz ohne Ziererei, freundlich, offen und gefällig anzutreffen. Alle setzten sich um den Tisch her und horchten auf jedes meiner Worte. Es schien ihnen nicht wenig Freude zu machen, einen Fremden von fremden Dingen erzählen zu hören und neue Begriffe aufzuhaschen. Als die fette Milch verzehrt war, brachte der Hausvater warmen Vorbruch, wie er die sonderbare Käsebrühe nannte, herein, ein schaumiges, flockenartiges, in den Schotten obenauf schwimmendes Ziegergemische, das ich nur mit Ekel kosten und kaum in sehr geringer Quantität genießen konnte. Ebensowenig hatte ich Lust, mich mit Suffi tränken zu lassen. Ich genoß davon, soviel ich vermochte, damit ich die Gaben der Gutherzigkeit nicht zu verschmähen schiene, aber die Wärme des Käsewassers bei dieser heißen Jahreszeit hatte für mich etwas Widerliches, so daß meine freigebigen Wirte mit meiner Eßlust nicht so recht zufrieden sein wollten. Ich zog ein paar Semmeln aus der Tasche, die ich in Gais zu mir gesteckt hatte, um der Überschwemmung meines Magens durch ein festeres Nahrungsmittel abzuhelfen. Kaum erblickte sie das Mädchen, so rief es freudig aus: »Ei, hast du Brot bei dir? Komm! gib her! nun sollst du mir wohl noch etwas Gutes zu essen haben! Nicht wahr, Vater! ich darf?« Der Vater nickte ein gütiges Ja. Hiermit nahm sie die Semmeln, machte Schnitten daraus, ließ in der Käseküche Niedel (Rahm) heiß werden und warf die Schnitten darein. Die Mutter half ihr treulich dazu, und der Vater zeigte mir seine Geräte, deren Namen ich aber sehr bald größtenteils wieder vergessen habe. Wirklich war das neue Gericht viel schmackhafter als die vorigen, und das artige Kind äußerte eine herzliche Freude, daß ich mir's so wohl schmecken ließ. Ohne Wasser konnte ich am Ende meines Durstes doch nicht loswerden. Das Mädchen meinte, Milch schmecke doch besser als Wasser, und brachte wieder kalte Milch herbei. Aber als ich ihr begreiflich machte, ein so fettes Getränk leiste einem noch nicht daran gewöhnten Magen lange nicht soviel als Wasser, da ergriff sie mich schmeichelnd beim Arme, nahm den Schweidnapf (eine Art hölzerne Schaumkelle) mit sich und zog mich in die Alp hinaus an einen Felsenabhang, wo eine schwache Quelle tropfenweise aus dem Gesteine sickerte. Auf Moos sitzend und fröhlich plaudernd harrten wir, bis der Napf gefüllt war. Dann labte ich mich, kehrte vergnügt in die Sennerei zurück, belohnte meine gütigen Wirte und nahm Abschied, nicht ohne Bedauern, eine so arkadische Familie verlassen zu müssen. Der Vater und alle Kinder begleiteten mich eine große Strecke weit, zeigten mir ihr Vieh, erzählten mir von ihrer Lebensart und wiesen mir merkwürdige Stellen, wo ihnen etwa ein Kalb vom Felsen gefallen oder ein verdächtiger Mensch begegnet war und dergl. Als die Kinder schieden, sagte ich dem unbefangenen Mädchen besonders: »Dir, gutes Kind, möchte ich nicht nur ein Stückchen Geld, das du doch bald wieder ausgibst, sondern ein dauerhafteres Geschenk zum Andenken geben, hätte ich nur etwas, das dir Freude machen könnte!« Ich durchsuchte meine Säcke und zog ein Zahnstocherbüchschen und ein Taschenmesser hervor. »Welches willst du?« »Gib mir das Nadelhäuslein!« sagte sie, »ein Messer habe ich schon, wenn ich's ansehe, will ich mir's sein lassen, du sitzest neben mir und erzählst etwas Schönes.« – »Und ich wünschte,« erwiderte ich, wie bittend, »du fragtest dich zuweilen, wenn du es in die Hand nimmst: ›dürfte ich heute wohl auch so heiter dem Fremden in die Augen schauen, als damals, da er mir dies Andenken gab?‹ Lange, hoff' ich, wirst du noch ja antworten können. Lebe wohl, liebes Kind!« Da ging sie mit Anstand hinter ihren hüpfenden Brüderchen her, zu ihrer Alp zurück, ihr Vater aber ließ sich nicht abhalten, er begleitete mich noch eine weite Strecke an dem Gebirge hin. Erst als er mich ganz sicher auf guten Wegen wußte, kehrte er zu seiner Familie nach Hause.

Ein großes fruchtbares Tal breitete sich am Fuße des Gebirges aus, an dessen Seiten ich hinging. Gegen Südwest hin lag am Flüßchen Sitter der Flecken Appenzell mit seinen Kirchen und Bleichen; meinem Standpunkte gerade gegenüber im Süden das Wildkirchlein, welches ich mit dem Fernrohr sehr deutlich, hoch oben im hohlen Felsen, erblicken konnte, etwas weiter zur Linken das Dorf Brüllisau, hinter dem sich reizende Täler eröffneten und wilde Berge erhoben. Ich weidete mich recht am Anblicke so mannigfaltiger Schönheiten der Landschaft. Ein kühlendes Windchen erhob sich, ward aber zusehends zum scharfen, schneidenden Luftstrom, der mir nicht wenig beschwerlich fiel. Ich traf noch manche Sennhütte an und ließ mich mit ihren Bewohnern in Gespräche ein, aber die Herzlichkeit, Unbefangenheit und einnehmende Freundlichkeit der ersten fand ich nirgends mehr.

Als ich zur letzten Sennhütte an der Fähnern kam, die ganz neu aus Balken zusammengefügt war, fuhr ein großer Hund auf mich los, packte meinen Rockschoß und hielt mich murrend fest. Ich wollte ihn wegjagen und stieß mit dem Stiele meines Regenschirms auf ihn zu, aber er biß nur desto grimmiger in den Rock, so daß ich besorgen mußte, er würde mir am Ende noch gar in die Beine fahren. Ich rief dem Sennen, er möchte seinen Hund wegnehmen, sonst würde ich ihn erstechen. Da vernahm ich mehrere Stimmen aus der Hütte, wie von Männern, die sich stritten. Ein roher Kerl sprang heraus und schnauzte mich an, nicht viel freundlicher als sein Hund, was ich hier oben zu tun hätte? Ich sagte, ein jeder Reisender habe seine Absichten. Er fragte trotzig: »Wo willst du hin, so allein?« Ich erwiderte: »Wir machen eine Bergreise, meine Gefährten werden sogleich nachkommen, ich bin nur vorausgelaufen, um ihnen ein Milchgericht zu bestellen. Will Er uns Niedelschnitten zubereiten?« Er blickte umher, ob er meine Reisegefährten nicht ankommen sehe, und sagte trotzig: »Ich hab' hier oben kein Brot.« Die Gegend war zu uneben und waldig, er konnte nicht weit schauen und glaubte mir. Unfreundlich trabte er mit seinem Hunde zur Hütte. Ich blickte durch die offene Tür im Vorübergehen hinein und meinte, die Krämerin leibhaftig darin sitzen zu sehen. Herzlich erschrak ich und eilte, ohne einen Augenblick länger zu warten, davon. Hat mir etwa bei diesem Vorfall die Phantasie einen Streich gespielt? und hielt ich ein andres Weib für die Krämerin? Denn, warum hätten sie mich hier oben unbeschädigt von sich lassen sollen, da sie mich in dieser Einöde so unbemerkt aus der Welt schaffen konnten? Oder führte sie etwa mein Vorgeben irre, daß meine Kameraden bald nachkommen würden, und dachten sie dabei an die Kurgäste, in deren Gesellschaft sie mich gesehen hatten? Vielleicht! – O, von welchen kleinen Fäden hängt oft des Menschen Schicksal ab! Als ich über den tiefen Einschnitt zwischen der Fähnern und dem höhern Kamor gegangen war und nun auf dem kürzesten Pfad am steilen Abhange emporstieg, wandte ich mich oft um, verfolgte mit meinem Fernrohr die Bettelleute und sah sie endlich in die verdächtige Hütte treten. Wie froh war ich, in einer freien Gegend zu wandeln, wo mich dergleichen Gesindel nicht unvorbereitet überraschen konnte. Der Tag war sehr heiß. Der Wind legte sich, und ich kletterte im Schatten meines Regenschirms am Abhang empor. Dennoch erhitzte ich mich so sehr, daß die folgenden Tage die Haut meines ganzen Gesichtes sich schälte.

Angenehm war der Weg aus der waldigen Drossel die Höhe hinan, unter Bäumen, die zusehends immer kleiner und endlich zu wahren Zwergen ihres Geschlechts wurden. Als ich zuhöchst auf dem Berge Oberkamor stand, der gegen Appenzell hin steil und nackt, wie ein alter, ungeheurer Felsturm emporsteigt, gegen Osten aber in ein allmählich sinkendes Alpengelände sich abstuft, da lagen Brüllisau und die zerstreuten Wohnungen der Sennen an Bächen unter mir, wie Insektenzellen an glänzenden Halmen im Moose. Das Vieh auf der Ebenalp, an deren steilster Wand das Wildkirchlein klebt, und auf der Siegletenalp sah man deutlich über grüne Matten gehen, anfangs glaubte ich auch das Geläute ihrer Glocken und ihr Muhen zu hören, so groß übrigens die Entfernung sein mochte. Aber all diese Laute kamen wahrscheinlich nur aus dem nahen Tale herauf, das sich zwischen der Siegleten und dem Hohen Kasten hinzieht und einen kleinen angenehmen See, den Säntissee, einschließt. Nie schien mir ein Gelände romantischer, als dieses Tal am Säntissee, und wenn ich meine Träume von einsiedlerischem Leben ausführen wollte, so wüßte ich mir keinen schöneren Aufenthalt als diese Gegend zu wählen. Meine Schuhsohlen waren vom Gehen über magere Gräser so glatt geschliffen, daß ich mich auf etwas unebenem Grunde kaum aufrecht halten konnte. Auf dem höchsten Rücken des Berges stand ich immer in Gefahr, auszugleiten und von der Felsenwand zu stürzen. Ich mußte mich also entschließen, eine Weile, wie Rousseaus glücklicher Waldmensch, auf allen Vieren zu gehen, bis ich den Gipfel erreichte, wo ich mich zwischen hohes Farnkraut hinsetzte und meinen Betrachtungen nachhängen konnte. Als ich so saß, vernahm ich, nicht ohne Wohlgefallen, ein echtes Hirtenhorn, eine Art Trompete aus Birkenrinde künstlich verfertigt; es war eine ganz regellose, bizarre und doch nicht unangenehme Verbindung von Tönen ohne Takt und Kadenz, wie sie ein kunstgelehrter Tonsetzer oder Spieler unmöglich zusammenfügen könnte. Nicht weit unter mir hörte ich die Stimme eines Knaben, der mit Fertigkeit die seltsamen Weisen des Hirten nachahmte. Ich kroch an eine Stelle, wo ich die Aussicht auf den abschüssigen Teil des runden mächtigen Felsenturms hatte, den lustigen Jungen zu sehen. Da erblickte ich einen Knaben von etwa 11 Jahren, der mit unglaublicher Behendigkeit an der schauerlichen Wand hin und her kletterte. Seine Ziegen weideten auf Stellen, wo man bequemer fußen konnte, nur eine einzige hatte sich's in ihr Bocksköpfchen gesetzt, ihrem Spielgesellen an die gefährlichsten Stellen nachzuklettern. Ein Heer von Dohlen, deren Nester der Knabe aufzusuchen schien, umkrächzte den Felsen. In einer kleinen Höhle, hart am grünen Rasenabhang, in den sich die nackte Steinmasse Zurückzieht, entdeckte ich ein weißes Schaf, das an den Felsen gebunden, in Kräutern naschte. Der Weg in die Höhle war so schmal, daß ich kaum begriff, wie ein Hirt das Schaf hinüberbringen konnte. Kaum fielen die Blicke des jungen Ziegenhirten auf mich, so stieg er an den nackten Klippen herauf zu mir, seine Tiere sammelten sich neugierig um mich und schnupperten um meine Taschen. Einige Krümchen Brot, die ich noch darin fand, schmeckten ihnen nicht übel. Ich ließ mich mit dem braunen, von der Sonne ganz versengten Knaben in ein Gespräch ein und fragte ihn um manches, was mir aufgefallen war. Das Schaf, sagte er, gehöre einem Sennen, seinem Meister; an den Felsen zu klettern sei ihm ein Spiel, er sei nur selten noch gefallen und niemals gefährlich; sein Leben dünke ihn lustig, nur seine Ziegen wären manchmal starrsinnig genug und möchten ihm durchaus nicht gehorchen, dann müsse er sich schier aus dem Atem laufen, um sie zusammenzutreiben und dergl. Als ich ihm etwas schenkte, hatte er nicht einmal eine Tasche, um das Geld darin zu verwahren, er sagte aber, er wolle es in der Höhle unten in eine Ritze legen und es seinem Meister geben, daß er ihm etwas Gutes mitbringe, wenn er einmal nach Altstätten hinabgehe.

Nicht weit unter seinem höchsten Grat verbreitet sich der Kamor in eine etwas eingesenkte Fläche, die damals größtenteils mit Farnkraut bewachsen war. Mitten in dieser nicht unbeträchtlichen Ebene liegen hart aneinander zwei lange Reihen Sennhütten und Schweineställe. Ein Senn labte mich mit Milch und Brot, das ihm eben sein Mädchen von Rüthi heraufgebracht hatte. Als ich mich um einen Paß in den Sennwald hinab erkundigte, unterrichtete er mich, daß ich von der Höhe des Hohen Kastens erst wieder zum Kamor herabsteigen, dann am westlichen Fuße des ersten auf einem ziemlich gefährlichen Wege hinklettern und über den Grat des Roßbergs in eine weite Schlucht voll Bergruinen hinübersteigen, und so nicht ohne Gefahr zu stürzen oder zu verirren weit abwärts wandeln müßte, bis ich endlich zu einer Sennhütte kommen würde und dort in den ordentlichen Weg einlenken könnte. Ein andrer gebahnter Weg führe aber von hier gerade nach Rüthi hinab, sein Mädchen würde mich begleiten, wenn ich sogleich mit ihm gehen wollte. Das Mädchen hatte aber nicht Lust, zu warten, bis ich vom Hohen Kasten zurückkäme, und ich hatte nicht Lust, ohne den höchsten Gipfel dieser Gegend erstiegen zu haben, ins Tal zurückzukehren. Also entschloß ich mich, den gefährlichen Weg durchs Rohr hinab (so nannte man die Schlucht) einzuschlagen, zum Teil auch aus diesem Grunde, weil ich in den wildesten Gegenden den angenehmsten Genuß für meine Phantasie erwartete.

Das erste, was mir in die Augen fiel, als ich mich dem Hohen Kasten näherte, waren ein paar große Schneehaufen, die ich hier im heißesten Sommer gar nicht vermutet hätte. Sogleich lief ich darauf zu und trabte darauf umher. Der Schnee schien in etwas tiefen Felsengruben zu liegen. Eine Grube hatte zur Seite ein tiefes Loch, aus dem beständig ein eiskalter Schneewind hervorwehte. Sorglos nahte ich mich, auf dem Schnee wandelnd, dem Loche, um nachzuforschen, woher die scharfe Eisluft komme, da rief der Ziegenknabe, der auf dem nahen Grate stand, mir ängstlich zu: »Geh' nicht so nahe hin! Geh' weg, geh' weg! Wenn der Schnee bricht, so bist du tot!« Ich erschrak und sprang auf die Felsen hinaus. Der Knabe lief herbei und sagte mir: »Beileibe geh' nicht mehr über den Schnee! Das sind Wetterlöcher, unermeßlich tief, der Blitz hat hineingeschlagen; es ist einmal eine Kuh darein gefallen, kein Mensch sah mehr etwas von ihr.« Mir schauderte, wenn ich an meine Unvorsichtigkeit dachte.

Nun bestieg ich den Hohen Kasten, setzte mich an der höchsten Stelle nieder und blickte weit in die Runde umher. Die Aussicht gegen Westen blieb beinahe ebendieselbe wie auf dem Kamor, aber gegen Osten eröffnete sich die reichste Perspektive. Das ganze Rheintal mit allen seinen Städtchen und Flecken und Dörfern lag zu meinen Füßen, und der Rhein schlängelte sich dadurch hin, bis zum Bodensee, wie ein gesticktes Silberband durch einen grünen Teppich. Ein großer Teil von Schwaben schien dem Auge nähergerückt. Die ganze, weit ausgedehnte Landschaft breitete sich, gleich einer Karte, vor mir aus. Die hohen Tirolergebirge im Osten, die Bündneralpen im Süden, machten den Hintergrund des prächtigen Gemäldes. Als ich mich im Anblicke so mannigfaltiger Schönheiten genug erquickt hatte, trat ich meine bedenkliche Wanderung durchs Rohr hinab an.

Solange ich an der westlichen Seite des Hohen Kastens, wie an einer ungeheuren Festungsmauer, zwischen Gesträuchen auf einem kleinen Pfade hingehen konnte, dachte ich mir, es wäre doch größtenteils leere Einbildung, was die Leute von gefährlichen Wegen schwatzten, denn der Weg war wirklich nicht gefährlich. Es ging mir beinahe wie damals, als ich den Mönchsstand angetreten hatte: ich glaubte auch nicht, daß er so viele Beschwerden haben könne, warum? – weil ich sie nicht kannte. Als ich aber am Hohen Kasten vorüber war, da öffnete sich eine ganz andre Szene. Der Berg, an dem ich kletterte, ward immer abschüssiger, der Pfad verlor sich, kaum fand ich ein Plätzchen, um die Spitzen der Schuhe fest einzusetzen, und mit den Händen mußte ich mich an dem zackigen Grate halten. Streckte ich die Nase über den Grat hin, so erblickte ich eine wilde Mischung grauser Bergruinen, die weit in den Wald hinab große Verwüstung angerichtet hatten. Südlich zu meiner Rechten erhob sich ein felsiger Teil des Säntis, der stark unterhöhlt war und alle Augenblicke mit Einsturz drohte. Zwischen den beiden Bergen rechts und links, sehr steil vom scharfen Grate abwärts, lag verwittertes Gestein als Sand und Gries, so schön abgeebnet wie eine wohlbetretene Straße, und lud mich ein, auf diesem Pfade mein Glück zu versuchen. Ich setzte mich also zuvor auf den Grat, wie auf ein Pferd, labte mich noch einmal am Anblicke des Säntis-Sees und der Täler umher, ruhte ein wenig aus und dachte mir dann: »Steig ab von deiner großen Mähre, bei diesem Ritt kommst du nicht weiter!« Ich hoffte, die Absätze fest in den Sand einstoßen und so ohne bedeutende Unbequemlichkeit, höchstens mit etlichen Kieseln in den Schuhen, die lange steile Strecke hinabsteigen zu können. Aber kaum hatte ich einige Schritte getan, so fing der lockere Sand mit mir zu rutschen an, ich sank rückwärts nieder und fuhr mit wachsender Eile unaufhaltbar am steilen Abhang hinunter, daß mir Sehen und Hören verging. Mein armer Rücken, wo er den ehrlichen Namen verliert, wie mein Schullehrer zu sagen pflegte, und die daranstoßenden Teile, die derselbe so oft mit der Ochsensehne durchgerbte, merkten nur gar zu deutlich, daß sie über kein Federbett rollten. »Wenn du nur nicht etwa Arm und Bein zerschlägst!« dachte ich auf der schmerzlichen Fahrt. Aber bald ruhte ich unbeschädigt unten im gröbern Schutt. Mit einem ziemlich empfindlichen Schmerz im Ellbogen, den ich derb angeschlagen hatte, und mit ein paar Löchern in den Beinkleidern, war alles abgetan. O, wie froh sah ich nun in den schrecklichen Ruinen mich um! Unzählige Felsenblöcke lagen in wilder Unordnung umher, viele, die noch oben im Gebirge hingen, drohten den Einsturz. Um mich von meinem Schrecken zu erholen, setzte ich mich auf eine morsche Tanne, die unter dem Felsentrumm hervorstand, von dem sie niedergestürzt ward. Hier zog ich Nadel und Faden aus der Tasche und versuchte, als ein echter Pfuscher, die Wunden meiner Beinkleider zu heilen, so gut es eben anging. Noch war ich mit meiner Arbeit nicht zu Ende, da kletterte zwischen den Trümmern eine kleine Herde von etwa 17 Schafen zu mir empor, sie sahen mich traulich an und blökten mit leiser Stimme. Es war wirklich eine sehr angenehme Empfindung, in dieser Wildnis, wo ich, wenn's hoch kam, Geier oder Dohlen schreien hörte, von so freundlichen Geschöpfen als Schafe sind, mich umringt zu sehen. Aber vergebens durchsuchte ich meine Taschen, es war darin kein Krümchen Brot mehr zu finden. Lebhaft fühlte ich hier die Qual, nichts geben zu können.

Lange mußte ich suchen, um einen Weg aus diesem Bergfalle weiter abwärts zu finden. Ich folgte lange einem anscheinlich gebahnten Fußpfade, der sich immer zickzack von den kahlen Wänden des Hohen Kastens zu jenen des Säntis und wieder zurück durch die breite Schlucht wand, und konnte dennoch keinen Ausgang finden. Die Schafe folgten mir als ein treues Geleit fleißig nach, wohin ich ging. Am Ende zeigte es sich, daß ich in einer großen Verzäunung, wie in einem Irrgarten, umherlief, und, daß der Pfad nichts andres war als der gewöhnliche Gang, den die Schafe täglich wandelten, wenn sie zwischen den Felsentrümmern ihr sparsames Futter suchten.

Entschlossen kletterte ich über einen aus niedergeworfenen Fichten hochaufgehäuften Verhau und gelangte endlich auf einen freien Platz, wo ich Pferde grasen und eine kleine Sennhütte am herabrinnenden Bächlein errichtet sah. Müde setzte ich mich auf einen schönen Stein am Wasser und labte mich nach einiger Ruhe mit einem frischen Trunke. Der Senn, ein kleiner Mann mit einem Zigeunergesicht, erblickte mich, kam herbei und fragte staunend, auf welchem Wege ich hierher gekommen sei. Als ich ihm meine Fahrt erzählte und von der kleinen Schafherde Meldung tat, wandelte ihn sichtbar eine Verlegenheit an. Sein Betragen ließ mich vermuten, er fürchte, ich würde ihn unten im Tale verraten, daß er hier oben im verborgenen Schafe halte, denn er sagte mit bittendem, traulichem Tone: »Nicht wahr, fremder Herr, du hast keine Schafe gesehen, wenn du in den Sennwald hinabkommst?« Ich verstand ihn und sagte, er hätte nichts zu besorgen, ich würde ihn nicht hindern, durch Fleiß und durch das unschädliche Weiden seiner Schafe in diesen Ruinen sich im stillen einen Gewinn zu verschaffen. »Es wäre schade!« sagte er, »wenn ich um diesen kleinen Nebenerwerb käme, ich hüte im Sommer für andre und muß im Winter vom Erworbenen leben und dreschen und Not leiden, um Weib und Kinder zu nähren. Übels genug, daß ich neulich um eins der schönsten Schafe kam!« Mir fuhr der Gedanke durch die Seele: »War etwa das Schaf in der Felsenhöhle des Oberkamors das seinige?« Behutsam teilte ich ihm meine Vermutung mit. Sogleich leuchtete ihm meine Bemerkung ein, und er beschloß, die Höhle am folgenden Tage in Augenschein zu nehmen. Ich setzte mich neben ihn auf den Rasen vor seiner Hütte und bezeigte ihm meine Verwunderung, daß ich hier oben Pferde fände. Er schien etwas betroffen, antwortete aber, es seien junge Tiere, die man noch nicht vorspannen möge. Augenscheinlich waren aber ein paar ältere darunter. Dieser Umstand, die Zigeunerfarbe, seine Verlegenheit und etwas Tückisches in seinem Blicke machten mich etwas mißtrauisch. Es fiel mir ein: »Sollte der Mensch etwa einer von denjenigen Wildsennen sein, von denen ich einst gelesen habe, daß sie auf Grenzgebirgen gestohlene Pferde, Schafe und andres Vieh so lange hüten, bis es sich verwächst und unkenntlich wird, um es dann desto sicherer zu verkaufen?« Ich sah dem Burschen fest in die Augen. Er konnte meinen Blick nicht aushalten, erzählte mir mit kurzen Worten von den Alpenweiden umher, von den Besitzern derselben und ihren Gerechtsamen und lud mich ein, bei ihm zu übernachten. »Denn sieh nur,« sagte er und deutete auf die schwarzen Wolken, die über den Hohen Kasten herüberschwebten, »sieh, du kommst nimmer ins Tal hinab, ehe dich das Gewitter erwischt; es ist ein weiter und schlimmer Weg, denke nur, wenn du dich verirrst und es wird Nacht, so fällst du maustot oder mußt unter freiem Himmel im Regen übernachten!« Ich fragte nicht ohne Ängstlichkeit, die ich aber so gut verbarg als ich konnte: »Wieviel Zeit brauchst du denn, bis du hinabkommst?« Er erwiderte: »Ich weiß den Weg recht gut, und dennoch brauche ich wenigstens anderthalb Stunden!« Ich zog meine Uhr hervor: es war bereits halb acht Uhr vorüber. »Bis neun Uhr,« dachte ich, »dauert die Dämmerung, wage es kühn und eile den Berg hinab! Was willst du hier oben in Gesellschaft dieses Verdächtigen? Morgen, wenn der Regen die Wege verdorben hat, ist's nur noch beschwerlicher hinabzusteigen, und wer weiß, ob es nicht fortregnet?« Der bloße Gedanke, neben diesem Zigeunergesichte mehrere Tage hinbringen zu müssen, bestimmte mich vollends, sogleich aufzubrechen und im Dorfe unten einen sichern Aufenthalt zu suchen. Der Senn verstand sich, nicht ohne einige Weigerung, mir für ein gutes Trinkgeld eine Strecke weit den Weg zu weisen. Als ich ihn verließ, rief er mir noch die Warnung nach: »Wenn du zu dem tosenden Bach kommst, der aus dem Säntissee herüber durch den Berg dringt, so laß dich von seinem Brausen nicht erschrecken, fall mir nicht in den Abgrund und denke dann, du seiest halb Wegs!« Ich lief, so schnell ich konnte, den steilen Pfad hinab. Die Finsternis überraschte mich früher, als ich dachte. Der Wetterwind rauschte in den Föhren, nicht mehr fern schallte der Donner. Bei sehr schwachem Dämmerlichte mußte ich mich über gefährliche Klippen hinabfinden. Es währte lange, bis der Säntisbach zu meiner Rechten toste und weit den Donner übertäubte. Der Senn hatte mich nicht umsonst gewarnt, der Weg ging einige Mal hart am schmalen Bord des tiefen Abgrunds hin. Es war schade, daß Dunkelheit den Ursprung des starken, merkwürdigen Baches und diesen wilden Absturz bedeckte. Bald ward der Weg nun weniger rauh, und endlich zog er sich über ein sanftgeneigtes Gelände hin, das mit Holz, dann allmählich mit Wiesen und Gärten bekleidet war. Das Gewitter rauschte immer drohender heran, schon fielen einzelne Tropfen, da sah ich Licht durchs Gebüsche. Froh eilte ich darauf zu, fand einen alten Mann, der mit seiner Laterne zu einer entfernten Stallung ging, und ließ mich von ihm zurechtweisen. Ohne Anstand gelangte ich ins Dorf, ein Mütterchen führte mich Unkundigen in ein Wirtshaus, das gewiß nicht das beste im Orte war. Aber es war da nicht viel Federlesens zu machen, meine müden Füße forderten Ruhe und mein Magen Labung. Ich pries mich glücklich, noch zu rechter Zeit ein Obdach gefunden zu haben, denn nicht lange saß ich hinterm Tisch, so fing es draußen zu regnen an, daß ein kurzer Gang über den Hofraum für ein Bad gegolten hätte. Das Beste, was mir der Wirt auftischte, waren sehr schmackhafte Forellen, wovon ich mir auch auf morgen ein Gericht zum Frühstück bestellte. Einige Fuhrleute, die von Altstätten kamen, waren meine Tischgesellschaft. Bald ging ich zu Bette.

Den 19. Juli, als ich eine hübsche Portion Forellen zum Frühstück verzehrt hatte, wanderte ich beim schönsten Wetter durch das Dorf Sennwald, das mir wirklich in einem Walde zu liegen schien, über mehrere klare Bäche, durch angenehme Gehölze, am Schlosse Forsteck vorüber, nach Salez hin. Ohne mich im geringsten anzustrengen, schlenderte ich am Ufer des Rheins hinauf, badete mich an einem schönen Plätzchen im Flusse und setzte, im Schatten liegend, mein Tagebuch fort.

Das Gelände umher war eines der anziehendsten. Im Westen zeigte sich das alte Schloß Hohensax auf einer Felsenspitze, im Osten erhob sich Feldkirch, von Süden her glänzte mir das weit sichtbare Werdenberg entgegen. Schön zog sich das Amphitheater steiler kahler Felsenberge um eine Ebene her, auf der ich ging, vom Sennwald bis Werdenberg hin. Nahe an den hohen Bergen des Appenzeller Landes im Hintergrunde dieses Amphitheaters, prangen auf einzelnen in die Ebene hervorspringenden Hügeln die alten Burgfesten Sax, Gambs und Graps mit den Dörfchen zu ihren Füßen. Nachdem ich in Werdenberg zu Mittag gespeist hatte, wanderte ich nach Buchs und Säveln, zwei schönen Dörfern am Rheine, zwischen denen das Schloß Vaduz vom Abhange des schönen Berges jenseits des Rheins einladend über den Strom hinüberblinkt; seine Lage ist eine der vorzüglichsten, und der Wanderer behält es weithin, von Werdenberg bis nach Trübenbach, im Auge. Zwischen Säveln und Warthau zieht sich ein Felsenberg bis an das Rheinufer hinab, man hat den Weg mühsam durch ihn gehauen. Auf den Felsen rechts an der Straße thront ein alter fester Turm, der mir in den Zeiten des Faustrechts hierher gebaut schien, um die Vorüberreisenden nach gewohnter Ritterweise zu plündern oder zu brandschatzen. Nun gewährt er den Eulen eine sichre Heimat. Das große Tal des Rheins verengerte sich von nun an immer mehr. Seine Bewohner schienen mir keine der freundlichsten Menschen. Kaum mochten sie sich die Mühe nehmen, mir die Namen der Orte zu nennen, wenn ich fragte, und ein paarmal hätten sich junge Burschen gern den Spaß gemacht, mich irre zu weisen, wenn es möglich gewesen wäre, in einem Tale, durch das nur ein Hauptweg hinläuft, weit irre zu gehen. Selbst in den Wirtshäusern, wo ich etwa eine Erfrischung nahm, fand ich einen trockenen, unfreundlichen Ton, der mich befremdete. Die Mädchen waren nicht schön. So wie sie sich in den äußern Rhoden des Kantons Appenzell größtenteils mit Sticken beschäftigten, gaben sie sich in dieser Gegend mit Baumwollespinnen ab.

Als ich gegen Halbmeil fortwanderte, zog ein kleiner Bach, der von den hohen Felsenwänden am Fuße des Gonzen herabstürzte, meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Wasserfall schwebte unstet wie ein hängendes Silberband, das der Wind leise bewegt, an den steilen Wänden herab. Lange stand ich und bewunderte das schöne Spiel. Ein Donnerwetter, das schon lange aus der Ferne mit Blitzen drohte, ritz mich aus meinem Entzücken. Plötzlich umstürmte mich der Gewitterwind, und ein Platzregen rauschte herab. Das Schloß Greplang, unter düstern Wolken, glänzte auf seinem einzelnen Hügel, allein von der Abendsonne beschienen, durch den Regen herüber. Die Glarnerberge dahinter verbargen ihre Scheitel in Gewittern.

Es war schon finster, als ich in den Gasthof meines nie gesehenen Freundes, des Barden von Niva, trat. Ich hatte mir vorgenommen, meinen wahren Namen so lange als möglich verborgen zu halten, mit dem gelehrten Gastwirte als ein simpler Reisender unter dem Namen Felix Liber Bekanntschaft zu machen und seines Umganges so lange zu genießen, bis er mich zu seiner geliebten Quelle Tellina führen würde. Dort wollte ich mich ihm zu erkennen geben und ihn, erst wenn wir uns liebgewonnen hätten, mit meinem wahren Namen überraschen. Ich versprach mir eine sehr angenehme Entwicklung der kleinen Komödie, die ich zu spielen vorhatte. Aber was sind unsre tröstlichsten Pläne? Zeichnungen im Sande, die ein Zephyr verwischt. Ich erwartete ein kleines Freudenfest wegen meiner Ankunft und fand – Weiberkälte und Abneigung. Ohne weitläufige Erörterungen, zu denen es der Schwager des Wirtes gern getrieben hätte, setzte ich mich zu einigen Reisenden aus Glarus an den Tisch und ließ mir's unter frohem Geplauder trefflich schmecken. Niemand schien zu vermuten, daß der spät angekommene Fremde jener so lange erwartete Korrespondent des Hausherrn sei. Den andern Tag, morgens, verzehrte ich im gemeinschaftlichen Speisezimmer mein Frühstück und las in einem lateinischen Dichter, den ich bei mir führte; da ging ein junger Mann bedächtig im Zimmer auf und ab, betrachtete mich von Zeit zu Zeit mit forschenden Blicken und wagte es lange nicht, mich anzureden. Er schien mir der Hausherr zu sein. Dem Anscheine nach las ich ruhig fort, lauschte aber heimlich auf jede Bewegung des Wirtes, der unruhig im Zimmer auf und ab schritt. Lange stellte ich mich, als wenn ich seine Blicke nicht bemerkte. Endlich sagte er mir geradezu: »Ich erwarte einen Bekannten aus der Gegend von Augsburg, kommen Sie etwa daher?« Lügen wollte ich nicht, also erwiderte ich »Ja«; – und die Komödie hatte ein Ende. Sogleich vermutete er, daß ich sein Freund sei, umarmte und führte mich in ein besondres Zimmer, wo er mir einen Brief von Herrn Geßner aus Zürich vorwies, der ihm ankündigte, ich würde Wallenstatt besuchen, er möchte mich einige Tage bei sich behalten, damit der Sturm, den meine Freunde befürchteten, indessen unschädlich verrauschen könnte und ich im Schoße der Freundschaft, ungekränkt und unverraten, geborgen wäre. Dieser Brief hatte auch Herrn B. auf den Gedanken gebracht, ich sei etwa um eines Vergehens willen von Augsburg entwichen, ich mußte ihm ein langes und breites von den Gründen meiner Reise erklären und meine Angaben mit lebhaften Beteurungen bekräftigen, bis er die Wahrheit begriff und mir Glauben beimaß. Aufrichtig leerten wir dann die Herzen über unsre Grundsätze, Meinungen, Beschäftigungen usw. aus und schlenderten in herzlicher Vertraulichkeit in seinen Garten und vor's Tor zur Quelle Tellina. Es versteht sich, daß er mir einige von seinen neuesten Gedichten vorlas. Wie könnte es ein Mitbruder im Pegasus über das Herz bringen, seinem Gaste und Konsorten gar nichts von den Eingebungen seiner Muse im Vertrauen mitzuteilen? Reichlich ward ich damit bedacht und befand mich nicht übel dabei, denn die Gedichte waren nicht schlecht, und ich merkte wohl, daß mein williges Zuhorchen dem Vorleser Freude machte. Bei dieser Gelegenheit muß ich mich selbst ein wenig rühmen, daß ich von meinen Arbeiten niemals etwas vorlas, außer in sehr seltenen Fällen, wenn man mich mit einer Art Gewalt dazu anhielt.

Zum Glücke war mein Freund in Wallenstatt über dergleichen eitle Bedenklichkeiten weg und kürzte mir die Zeit nicht unangenehm mit einigen versifizierten Erzählungen aus der Schweizer Geschichte, die er vor kurzem vollendet hatte. Weniger vergnügten mich ein paar gedruckte Gelegenheitsgedichte.

Im häuslichen Kreise meines Freundes hatte ich die seligsten Stunden zu verleben gehofft. Allein kaum war der Augenblick des Erkennens vorüber, so verwelkte eine süße Erwartung nach der andern, wie Laub. Er hatte mir seine Frau als ein sanftes, stillfrohes, gutmütiges, zärtliches Weib geschildert: der Geistliche, welcher in ihrem Hause Informator gewesen war und mich in Augsburg oft besuchte, stimmte in ihr Lob mit ein. Ich wußte also nichts Angelegneres, als die treffliche Frau bald kennen zu lernen, und bat den Barden von Riva, mich ihr vorzuführen. Er wich mir über diesen Punkt mehr als einmal aus, so daß ich endlich ernstlich in ihn dringen mußte. Nun konnte er sich nicht wohl länger weigern und sagte betroffen: »Erlauben Sie, daß ich meine Schwiegermutter, die hier ist, und meine Frau auf Ihren Besuch vorbereite, beide sind über Ihren Freund, den Herrn Informator, weil er auf eine ganz sonderbare Weise von hier entfloh, so aufgebracht, daß sie weder von ihm, noch von irgendeinem seiner Freunde weiter etwas wissen wollen. Kaum sagte ich ihnen von Ihrer Ankunft, so fingen sie zu klagen und zu weinen an.« Nach dieser Vorrede ging er mit grämlichem Gesichte zu seinen Frauenzimmern, um mich denselben zu melden. Bald hörte ich die lauten Herzensergießungen der Frau Schwiegermutter über meinen Bekannten aus Augsburg, und mir ward nicht so recht heimlich zumute. Nach langer Zögerung ward ich den Frauenzimmern vorgestellt, die sich mit sichtbarem Zwang bei unsrer kalten, steifen, abgebrochenen Unterhaltung benahmen. Mir ward das Herz eingeengt, gern wäre ich augenblicklich aufgebrochen, aber mein Freund und die verstimmten Frauen selbst hätten es übel genommen. Also entschloß ich mich, ein paar Tage auszuharren, und kürzte mir die Zeit, in der ich mich allein befand, mit Briefeschreiben und Notieren in mein Tagebuch.

Am Sonntage, den 21. Juli, kam der Barde auf mein Zimmer und stellte mir vor, seine Weiber würden großes Ärgernis an meiner Irreligiosität nehmen, wenn ich, der ihnen nun als ein katholischer Geistlicher bekannt wäre, heute keine Messe lese; ihm würden zur Buße dafür tausend Vorwürfe gemacht werden, daß er mit so unmoralischen Menschen Gemeinschaft pflege, ich sollte mich also entschließen, zur Kirche zu gehen und mich im Meßgewande als katholischer Priester zu zeigen. Was wollte ich so dringenden Vorstellungen entgegensetzen? Sollte ich meinem Vorsatze, dem Priestertum völlig zu entsagen, jetzt halsstarrig getreu bleiben und wirklich die schwachen Weiber ärgern? – So ungern ich mich zum Messelesen bequemte, so entschloß ich mich doch für dieses Mal dazu. Der 22. Juli war ein Feiertag, das Fest der heil. Magdalena, auch an diesem Tage mußte ich mich, aus eben diesen Gründen, zum Messelesen verstehen. Aber, Gott Lob! es war zum letzten Male und soll es auch bleiben, so lange es in meiner Gewalt steht, frei zu handeln. In Religionssachen will ich forthin nur nach meiner besten, innigsten Überzeugung handeln, wer dies mißbilligen kann, werfe den ersten Stein auf mich! Bei diesen Umständen trachtete ich das Haus meines Freundes so schleunig als möglich zu verlassen und die mißvergnügten Weiber von der Plage meiner Gegenwart zu befreien. Abends, den 22. Juli, verließ ich in Begleitung meines lieben Wirtes, der seinerseits alles getan hatte, um mir den Aufenthalt angenehmer zu machen, das halb zur Pfütze verwandelte Wallenstatt und ging auf die malerische Halbinsel Bommerstein zu, wo auf einem runden Hügel das alte Gemäuer einer zerstörten Burg unter üppigen Reben sich birgt und als ein sehr malerischer Gegenstand die Blicke angenehm fesselt.

Dann setzte ich meine Reise am sanftern Abhange des südlichen Ufers, auf schmalem, oft kaum gangbarem Pfade fort und labte mich an den mannigfaltigen Reizen der immer wechselnden Landschaften und an den hohen, senkrecht emporsteigenden Felsenufern gegenüber. Lange stand ich mit Wohlgefallen auf der Brücke über die reißende Murg, die aus den Glarnerbergen brausend herabstürzt.

Unterwegs setzte ich mich an einer schönen Stelle auf den Rasen und schrieb einige Bemerkungen über die Gegend in mein Tagebuch. Von Zeit zu Zeit schaute ich umher. Nicht lange saß ich da, so erblickte ich mit meinem Fernrohr ein paar Reisende, die von Wesen heranschritten. Wer war's? das Krämerpaar, welches mich im Kanton Appenzell so sehr erschreckt hatte. Geschwinde brach ich auf, damit sie mir nicht zu nahe kämen und lief, viel eilfertiger, als ich sonst getan hätte, meines Weges. Über Schännis kam ich nach Kaltenbrunn, wo ich die Wirtin eben beim Mittagessen antraf und ihr sogleich Gesellschaft leistete. Eben ließ ich mir ein Gläschen Wein recht wohlschmecken, da trat ganz unverhofft der Krämer mit seiner Frau in die Stube und verdarb mir alle Lust. Sichtbar war ich ihnen eine so verhaßte Erscheinung, als sie mir. Ihre Blicke glitten an mir ab und streiften doch wieder scheu über mich hin. Sie kamen ohne ihre Krämerbuden herein und wollten wahrscheinlich eine Erfrischung nehmen. Aber jetzt sahen sie einander an, und der Krämer fragte nur, ob die Wirtin keine Bänder brauche. Kaum hatte sie »Nein« gesagt, so schlüpften beide wieder zur Tür hinaus und eilten aus dem Dorfe. Sorgfältig lauschte ich, wohin sie sich wenden würden, und war nicht wenig unzufrieden, als ich sah, daß sie ebendenselben Weg einschlugen, den ich gehen mußte. Im Eifer erzählte ich der Wirtin, was mir mit den Leuten widerfahren war, sie schickte einen Knecht auf die Straße hinaus und ließ nachspähen, wohin sich das schlimme Paar wenden würde. Bald kam der Knecht zurück und berichtete, beide seien rechts gegangen, bergan in den Wald. Also trieb sie die Furcht, durch mich etwa mit der Obrigkeit in unangenehme Bekanntschaft zu geraten, wieder von der gewöhnlichen Straße ab. Die Wirtin bot mir eine artige Sackpistole nebst einem kleinen Pulverhorn und Kugelsacke zum Kaufe an und wußte mir das nette Geschoß so sehr anzupreisen, daß ich mich zum ersten Male in meinem Leben mit einem solchen Gewehre zu waffnen beschloß und dann mit verdoppeltem Mute den Weg nach Rappersweil antrat. Öfters zog ich während des Gehens die Sackpistole hervor, spannte den Hahnen und zielte, wie wenn ein Feind vor mir stünde. Etlichemal hatte ich dies Spiel getrieben: nicht fern von Utznach sagte ich mir endlich: »Wie nun, wenn's Ernst gälte, und der Schuß schlüge nicht los? Ich will's doch einmal versuchen, kann ja wieder laden.« Herzhaft drückte ich, das Zündkraut loderte auf, aber der Schuß versagte. »O weh!« rief ich, »wie übel wär' ich nun beraten, wenn ich mich in der Not auf dich verlassen hätte! Fort mit dir!« Sobald ich in Rappersweil ankam, verkaufte ich die unzuverlässige Waffe sehr wohlfeil einem französischen Emigranten, der sich im Gasthofe zum Pfauen, wo ich einsprach, aufhielt und sogleich beim ersten Anblick Lust zu dem kleinen Puffer bezeigte. »Mögest du,« so dachte ich, als ich ihn dem Emigranten überreichte, »diesen Puffer einst mit eben dem Erfolge, wie ich, auf einen redlichen Patrioten abdrücken!« Mit Vergnügen spazierte ich abends auf der langen Brücke und betrachtete die schönen Inseln Ufnau und Lützelau, die so romantisch aus dem Spiegel des Sees sich heben.

Den 24. Juli, morgens frühe, setzte ich meine Reise nach Zürich fort.

Sowie die Albiskette und der Ütliberg kenntlicher wurden, so regten sich süßere Gefühle der wachsenden Sehnsucht und froher Erwartung in meiner Brust, und ich sagte mir selbst: »Dort ist die schöne Gegend, dort wohnen meine Lieben, bald – o, welche Freude! – bald drücken wir einander ans Herz.« Oft trat ich an Stellen, wo das Ufer ein wenig weiter in den See hinauslief, zu äußerst an den Strand und spähte, ob noch kein Turm der Stadt sichtbar würde. Als ich bei Meilen mit einem Hut voll Kirschen, die ich verzehrte, hinter einem schönen Baume hervortrat, der mit Efeu umschlungen war, sah ich einen Nachen in einer kleinen Bucht, in den eben ein Mädchen mit ihrem Bruder stieg, und der Schiffer rief mir zu: »Der Herr geht gewiß nach Zürich, will er nicht mit uns fahren?« Ich besann mich nicht lange, stieg ein und setzte mich vorne an die Spitze des Schiffs auf eine Kiste, immer mit den Augen Zürichs Erscheinung suchend. Der Wind war uns entgegen, die Fahrt ging langsam. Zum Zeitvertreib zog ich Bleistift und Papier aus der Tasche und fing an, meine Empfindungen aufzuschreiben. Das Mädchen in der bedeckten Laube des Kahns hatte desto mehr Langeweile, denn ihr Bruder ruderte und schien gar kein Freund von vielen Worten. Sie begann mich zu necken, weil ich so unverwandt nach Zürich hinspähte. Ich müßte dort gewiß etwas Liebes haben, meinte sie. Gern bestätigte ich sie in ihrer Vermutung und erzählte ihr in allegorischen Ausdrücken, was mein Verlangen nach lieben Freunden in Zürich so sehr erhöhte. Sie wollte, was ich geschrieben hatte, sehen. Ich zeigte es ihr. »Sei mir gegrüßt,« so hieß der Aufsatz, »du Heimat meiner Lieblinge! seid mir gegrüßt ihr fruchtbaren Hügel usw. Gleite schneller, mein Fahrzeug, über kräuselnde Wellen hin, daß ich früher meinen Treuen in die Arme fliege. O, wie lieblich säuseln eure Binsen mich an, ihr grünenden Ufer! usw. Nun gehabe dich Wohl, du Trübsinn der Verlassenheit! Heiterkeit lacht nun meinen Tagen wieder und Frohsinn breitet sich über mein Leben aus. Freunde find' ich hier und Geliebte! Jeder sanften Empfindung öffnet sich wieder, freier atmend, meine Brust.« Es war wie prophetisches Vorgefühl, was ich da schrieb, alles hat sich erwahrt. Das Mädchen im Nachen rückte näher zu mir und schien zutraulicher zu werden, als sie mein Blättchen durchlesen hatte. Als Zürichs Türme hinter dem Vorlande bei Erlenbach hervorkamen, teilte sie meine Freude und hüpfte mit mir an die Spitze des Kahns. Von diesem Augenblicke an waren meine Gefühle zu lebhaft, ich konnte nicht mehr ans Schreiben denken und steckte mein Papier in die Tasche. Erst nach einigen Tagen vollendete ich mein kleines Gedicht und formte den Aufsatz durch Beifügung der angenehmern Umstände meiner Fahrt und des Empfangs in eine Idylle um. Abends etwa um vier Uhr schifften wir zum Wassertor hinein.


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