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III

Tags darauf hatte sich Bertrand beim gemeinsamen Frühstück entschuldigen lassen, suchte dann Joachim auf und meldete, daß er zu seinem aufrichtigen Bedauern abberufen worden sei; er müsse schon am nächsten Morgen abreisen. Im ersten Augenblick fühlte sich Joachim erleichtert: »Ich reise mit Ihnen«, sagte er und blickte Bertrand, der doch offenbar auf Elisabeth verzichtet hatte, dankbar an. Und um ihm zu zeigen, daß er auch seinerseits verzichtete, fügte er tröstend hinzu: »Ich wüßte nicht, was mich hier zurückhalten sollte.«

Joachim ging zum Vater, ihm den Entschluß mitzuteilen. Aber als Herr v. Pasenow stutzte und in gewohnter Indiskretion mißtrauisch fragte: »Wie ist das möglich? er hat doch seit vorgestern keine Post erhalten«, stutzte auch er: ja, wie war es möglich? was mochte Bertrand zu dem Verzicht bewogen haben? Und mit der Bitternis, durch solche Fragen an der Indiskretion des Vaters teilzunehmen, stieg die Vision eines freundlichen Sieges auf: weil Elisabeth ihn, Joachim v. Pasenow, liebte, hatte Bertrand sich einen Korb geholt. Allerdings war es geradezu unausdenkbar, daß jemand es wagen sollte, so rasch, man könnte sagen im Handumdrehen, sich einer Dame zu deklarieren. Freilich, bei einem Geschäftsmann, welcher die Aussicht auf eine reiche Erbin zu haben glaubt, ist wohl alles möglich. Aber er gelangte nicht zu weiteren Überlegungen, denn der Alte hatte plötzlich ein sonderbares Aussehen bekommen: er war auf dem Sessel beim Schreibtisch zusammengesunken, stierte vor sich hin und murmelte: »Der Hund, der Hund … er bricht sein Wort.« Dann sah er Joachim und schrie ihn an: »Pack dich, du mit deinem sauberen Freund …, konspirierst mit ihm.« – »Aber, Vater!« – »Hinaus mit euch, pack dich.« Er war aufgesprungen und ging dem zurückweichenden Sohn in kleinen Abständen zur Türe nach. Und jedesmal wenn er stehen blieb, streckte er den Kopf vor und zischte: »Packt euch.« Als Joachim im Korridor war, zog der Alte die Tür zu, öffnete sie aber gleich wieder und steckte den Kopf hinaus: »Und sag ihm, daß er nicht wagen soll, mir zu schreiben. Sag ihm, daß ich keinen Wert mehr darauf lege.« Die Tür schlug ins Schloß und Joachim hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde.

Er fand die Mutter im Garten; sie war nicht übermäßig bestürzt: »Er ist ja immer recht wortkarg, aber in den letzten Tagen schien er gegen dich aufgebracht. Ich glaube, er verübelt es dir, daß du den Dienst noch nicht quittiert hast. Sonderbar ist es trotzdem.« Als sie zum Hause kamen, fügte sie hinzu: »Vielleicht war er auch gekränkt, daß du dir sofort einen Gast mitgebracht hast; ich denke, es ist wohl besser, wenn ich vorerst mal allein nach ihm sehe.« Er begleitete sie hinauf: die Tür zum Korridor war verschlossen und auf ihr Klopfen blieb es still. Es war nicht ganz geheuer, und sie gingen zum großen Salon, da es immerhin möglich war, daß der Vater von dort aus sein Zimmer verlassen haben könnte. Durch die leere Flucht der Räume kamen sie zum Arbeitszimmer und fanden es unversperrt; Frau v. Pasenow öffnete und Joachim sah den Vater unbeweglich am Schreibtisch sitzen, die Feder in der Hand. Er rührte sich auch nicht, als Frau v. Pasenow nähertrat und sich über ihn beugte. Die Feder hatte er so scharf aufs Papier gepreßt, daß sie zerbrochen war; und auf dem Papier stand: ich enterbe wegen Unehrenhaftigkeit mei …, und dann kam der verspritzte Tintenfleck der zerbrochenen Feder. »Um Gottes willen, was ist denn geschehen?«, aber er gab keine Antwort. Hilflos blickte sie ihn an; als sie bemerkte, daß auch das Tintenfaß umgeworfen war, ergriff sie eilfertig die Löschwiege und versuchte, die vergossene Flüssigkeit damit aufzusaugen. Er stieß sie mit dem Ellbogen fort und dann sah er Joachim in der Türe, grinste ein wenig und versuchte, mit der zerbrochenen Feder weiterzuschreiben. Als er wieder am Papier hängenblieb und ein Loch hineinriß, stöhnte er auf, streckte den Zeigefinger gegen den Sohn und schrie: »Hinaus mit dem dort.« Dabei versuchte er sich zu erheben, vermochte es aber anscheinend nicht, denn er sank gleich wieder in sich zusammen und während er, der verschütteten Tinte nicht achtend, über den Schreibtisch fiel, vergrub er den Kopf zwischen die Arme, als wäre er ein weinendes Kind. Joachim flüsterte der Mutter zu: »Ich lasse den Arzt holen«, und eilte hinunter, um einen Boten ins Dorf zu schicken.

Der Arzt war gekommen und hatte Herrn v. Pasenow zu Bette gebracht. Er hatte ihm Brom gegeben und sprach von einer Kaltwasserkur; sicherlich habe der Tod des Sohnes nun doch einen Nervenzusammenbruch zur Folge gehabt. Ja, das war die banale Erklärung des Arztes. Aber das war keine Erklärung. Da steckte mehr dahinter und es konnte kein Zufall sein: wie eine erste Mahnung war es gewesen, daß Helmuths Pferd gestürzt war, und jetzt, da sich trotzdem ein Triumph über Bertrand vorbereiten wollte, jetzt, da Elisabeth um seinetwillen Bertrand verschmäht hatte, und er sich anschickte, Untreue an Bertrand und Ruzena zu begehen, scheinbar damit den Willen des Vaters zu erfüllen, jetzt mußte das Unheil hereinbrechen. Ein Komplice, der den Komplicen verrät und vom Vater mit Recht beschuldigt, daß er mit Bertrand konspiriere! Mußte nun das ganze Gewebe nicht wieder auseinanderfallen, Verrat in Gegenverrat sich auflösen? und Bertrand mußte sich Ruzena wieder aneignen, solcherart dem Vater beweisend, daß er nicht mehr des Sohnes Komplice ist, Rache übend, weil Elisabeth ihn verschmäht hat! Und in all dem unsaubern und häßlichen Verdacht, mit dem er Bertrands Reise nach Berlin ansah, sah Joachim bloß die eigene ins Unabsehbare gerückt, und das quälte ihn mehr als die Sorge um den kranken Vater. Das Verwirrte löste sich, um zu neuer Verwirrung sich zu schließen. War dies der Wille des Vaters gewesen, da er ihn zu dem Besuch in Lestow gedrängt hatte? unerfindlich blieb bei all dem, was zwischen dem Vater und Bertrand vorgefallen war. Vielleicht hätte es sich geklärt, wenn er Bertrand von den wirren Anspielungen des Vaters etwas hätte sagen dürfen, so aber mußte er sich darauf beschränken, ihm von der plötzlichen Erkrankung Mitteilung zu machen. Er bat ihn, Ruzena die Sachlage zu schildern; im übrigen werde er jedenfalls bald auf einige Tage nach Berlin kommen, Urlaubsverlängerung und ähnliches. Ja, sagte Bertrand, als ihn Joachim zur Bahn begleitete, ja, was soll nun eigentlich mit Ruzena geschehen? natürlich sei auf die baldige Genesung Herrn v. Pasenows zu hoffen, aber die Anwesenheit Joachims in Stolpin werde nichtsdestoweniger immer mehr und mehr vonnöten werden. »Man müßte ihr«, meinte er, »irgendeine geordnete Beschäftigung verschaffen, die ihr Freude macht: das würde ihr über die kommenden Schwierigkeiten etwas hinweghelfen.« Joachim war gekränkt, schließlich war das seine Angelegenheit; er sagte zögernd: »Das Theater, in das Sie sie gebracht haben, bereitet ihr doch Freude.« Bertrand machte eine wegwerfende Handbewegung, so daß Joachim ihn verständnislos anstarrte. »Aber seien Sie unbesorgt, Pasenow, wir werden schon etwas finden.« Und obwohl für Joachim diese Sorge erst jetzt Gestalt angenommen hatte, war er nun tatsächlich froh, daß sie ihm mit so leichter Hand von Bertrand abgenommen worden war.

 

Seitdem der Vater krank war und noch immer den größten Teil des Tages im Bett verbrachte, war das Leben seltsam vereinfacht; man konnte jetzt über manches ruhiger nachdenken und manche Fragen zeigten sich durchsichtiger, oder es schien wenigstens, daß man sich an sie heranwagen könne. Doch hier lag ein fast unlösbares Problem vor und es nützte nichts, im Antlitz Elisabeths nach der Lösung zu fahnden; im Gesichte selber war das Rätsel gelegen. In ihrem Stuhl zurückgelehnt, blinzelte sie auf die herbstliche Landschaft, und das zurückgeworfene Gesicht, rechtwinklig fast gegen den gespannten Hals abgebogen, war wie ein unebenes Dach auf diesen Hals aufgesetzt. Vielleicht mochte man auch sagen, daß es auf dem Kelch des Halses schwamm wie ein Blatt oder ihn abschloß wie ein flacher Deckel, denn eigentlich war es kein richtiges Gesicht mehr, sondern bloß ein Teil des Halses, sah aus dem Hals hervor, sehr entfernt an das Gesicht einer Schlange erinnernd. Joachim folgte der Linie des Halses; hügelartig sprang das Kinn vor und dahinter lag die Landschaft des Gesichtes. Weich lagen die Ränder des Mundkraters, dunkel die Höhle der Nase, geteilt durch eine weiße Säule. Wie ein kleiner Bart sproß der Hain der Augenbrauen und hinter der Lichtung der Stirne, die durch dünne Ackerfurchen geteilt war, war Waldesrand. Joachim mußte wieder an die Frage denken, warum eine Frau begehrenswert sein könne, aber nichts gab Antwort; es blieb ungelöst und verwirrt. Er schloß ein wenig die Augen und schaute durch den Spalt über die Landschaft des hingebreiteten Gesichtes. Da verfloß es mit dem Gesicht der Landschaft selber, der Waldessaum der Haare setzte sich fort in dem gelblichen Gelaube des Forstes und die Glaskugeln, die die Rosenstöcke des Vorgartens zierten, glitzerten gemeinsam mit dem Stein, der im Schatten der Wange – ach, war es noch eine Wange – als Ohrgehänge sonst blitzte. Es war erschreckend und beruhigend zugleich und wenn der Blick das Getrennte in so seltsam Einheitliches und nicht mehr Unterscheidbares verschmolz, fühlte man sich sonderbar an irgend etwas gemahnt, in irgend etwas versetzt, das außerhalb aller Konvention fernab im Kindlichen lag, und die ungelöste Frage war wie etwas, das aus der Erinnerung emporgetaucht war wie eine Mahnung.

Sie saßen im schattigen Vorgarten des kleinen Wirtshauses; der Reitbursche war mit den Pferden rückwärts im Hof. Im Rauschen der Blätter über ihnen hörte man den September. Denn es war nicht mehr das klare, weiche Getön des Frühlingslaubes und auch nicht mehr der Klang des Sommers: rauschen im Sommer die Bäume schlechthin, sozusagen nuancenlos, so mischt sich an den frühen Herbsttagen bereits silbrig-metallische Schärfe hinein, als ob ein breiter, einheitlicher Ton in Geäder aufgelöst werden sollte. Wenn der Herbst beginnt, sind die Mittagsstunden ganz still: sommerlich glüht noch die Sonne, und wenn von irgendwo dann ein leichterer, kühlerer Wind durch das Geäst geht, so ist es wie ein schmaler Streifen Frühling in der Luft. Die Blätter, die von den Baumkronen auf den rohen Wirtshaustisch fallen, sind noch nicht vergilbt, aber brüchig und trocken trotz ihrer Grüne und die sommerliche Sonnigkeit des Tages erscheint dann doppelt wertvoll. Mit stromaufwärts gerichtetem Bug liegt das Boot des Fischers im Strome; wellenlos gleitet das Wasser, als würde es in großen Tafeln geschoben. Solche Herbsttage haben nichts von der Schläfrigkeit des Sommermittags; eine weiche, wachsame Ruhe lagert überall.

Elisabeth sagte: »Warum lebt man hier? Im Süden gäbe es das ganze Jahr solche Tage.« Joachim sah das südliche Gesicht des Italieners mit dem schwarzen Bärtchen vor sich. In dem Antlitz Elisabeths aber konnte man nicht einmal mehr das eines Italieners oder sonst eines Bruders finden, so fern-menschlich und landschaftlich waren ihre Züge geworden. Er versuchte, die gewohnte Form wiederzufinden, und als sie jählings im Gesicht wiedererschien, Nase wieder Nase ward, Mund wieder Mund, Auge wieder Auge, da war der Wechsel neuerlich erschreckend und es beruhigte ihn bloß, daß ihr Haar glatt gestrichen war und nicht allzusehr gewellt. »Warum? Mögen Sie den Winter nicht?« – »Ihr Freund hat recht; man muß reisen«, war die Antwort. »Er will nach Indien«, sagte Joachim und dachte an den olivenfarbigen Volksstamm und an Ruzena. Warum war es ihm eigentlich nie eingefallen, mit Ruzena fortzureisen? Er spürte den Blick Elisabeths auf seinem Gesicht, fühlte sich ertappt und wandte sich ab. Doch wenn jemand an der Reiselust schuld trug, so war es Bertrand. Weil er für den Verlust seines geordneten Lebens sich durch Geschäfte und exotische Reisen entschädigen und betäuben mußte, wirkte er ansteckend, und wenn Elisabeth vom Süden sprach, so bedauerte sie es vielleicht doch, – mochte sie Bertrand auch abgewiesen haben –, daß sie nicht mit ihm reiste. Er hörte Elisabeths Stimme: »Wie lange kennen wir uns eigentlich schon?« Er rechnete nach; das ließe sich nicht so genau sagen: wenn er als zwölfjähriger Junge auf Ferien zu Hause war, wurde er von den Eltern manchmal nach Lestow mitgenommen. Und damals war Elisabeth doch kaum geboren. »Ich habe Sie also eigentlich immer gekannt, mein ganzes Leben lang«, stellte Elisabeth fest, »aber ich habe Sie wohl nie zur Kenntnis genommen; Sie haben für mich zu den Erwachsenen gezählt.« Joachim schwieg. »Mich hatten Sie wohl auch nie zur Kenntnis genommen«, fuhr sie fort. O doch, meinte er, doch, damals, als sie auf einmal eine junge Dame geworden war, plötzlich und überraschend. Elisabeth sagte: »Aber jetzt sind wir fast gleichaltrig geworden, … wann haben Sie eigentlich Geburtstag?« und ohne die Antwort abzuwarten, setzte sie hinzu: »Wissen Sie noch, wie ich als Kind ausgeschaut habe?« Joachim mußte nachdenken; im Salon der Baronin hing ein Kinderporträt Elisabeths und das schob sich hartnäckig vor die lebende Erinnerung. »Es ist merkwürdig«, sagte er, »ich weiß sehr wohl, wie Sie ausgesehen haben, indes …«, er wollte sagen, daß er das Kinderantlitz in ihrem Gesicht nicht auffinden konnte, obwohl es sicherlich darin sein mußte, aber wie er jetzt zu ihr hinüberblickt, war das Gesicht in ihrem Gesicht überhaupt wieder verschwunden und es war nur mehr Hügel und Tal, überzogen mit etwas, das man Haut nennt. Als ob sie seinen Gedanken aufnehmen wollte, sagte sie: »Wenn ich mich anstrenge, kann ich Ihr Knabengesicht trotz des Schnurrbarts erkennen«, sie lachte, »eigentlich ist es lustig; ich muß das einmal auch bei meinem Vater versuchen.« – »Können Sie mich auch als alten Mann sehen?« Elisabeth forschte scharf: »Komisch, das kann ich nicht … oder halt, ich kann es: Sie werden Ihrer Mutter noch mehr ähneln, ein gutes rundes Gesicht haben und der Schnurrbart wird buschig und weiß sein … und ich als alte Frau? Werde ich einen sehr würdigen Eindruck machen?« Joachim erklärte sich dieser Vorstellung unfähig. »Seien Sie nicht galant und sagen Sie es doch.« – »Verzeihen Sie, aber ich mag das nicht. Es ist doch unangenehm, plötzlich wie seine Eltern oder sein Bruder oder wie etwas anderes auszusehen, … es wird dann so vieles sinnlos.« – »Sagt das auch Ihr Freund Bertrand?« – »Nein, meines Wissens nicht: warum glauben Sie es?« – »Ach nur so, es könnte ihm liegen.« – »Ich weiß es nicht, aber mir scheint Bertrand mit den äußeren Dingen seines bewegten Lebens so sehr beschäftigt, daß er auf derlei überhaupt nicht acht hat. Er ist niemals ganz er selbst.« Elisabeth lächelte. »Sie meinen, daß er alles aus großer Entfernung sieht? Gewissermaßen mit den Augen eines Fremden?« Was wollte sie damit sagen? Auf was spielte sie an? Er verachtete sich ob dieser Neugierde, fühlte sich unritterlich, sah plötzlich auch wieder ein, daß es eine unritterliche Geste war, eine Frau einem andern zu überlassen, statt sie zu schützen, vor jedem andern zu schützen. Eigentlich wäre er verpflichtet, Elisabeth doch zu heiraten. Elisabeth hingegen machte durchaus keinen unglücklichen Eindruck, da sie sagte: »Schön war es, aber jetzt müssen wir zu Tische, die Eltern warten.«

Als sie heimritten und der Turm des Lestower Hauses schon vor ihnen auftauchte, schien sie ihr Gespräch überdacht zu haben, denn sie sagte: »Sonderbar ist es doch, wie Vertrautheit und Fremdheit nicht auseinanderzuhalten sind. Vielleicht haben Sie recht, wenn Sie vom Altern nichts wissen wollen.« Joachim, mit Ruzena beschäftigt, verstand zwar nicht, machte sich aber dieses Mal keine Gedanken darüber.

 

Wenn etwas zur Gesundung Herrn v. Pasenows beitrug, so war es die Post. Eines Morgens, er lag noch im Bette, fiel es ihm ein: »Wer übernimmt die Posttasche? Etwa gar Joachim?« Nein, Joachim kümmere sich nicht darum. Er brummte, daß Joachim sich überhaupt um nichts bekümmere, schien aber befriedigt, verlangte aufzustehen und ging langsam auf sein Zimmer. Als der Bote erschien, fand das gewohnte Ritual statt, das sich nun wieder täglich abspielte. Und war Frau v. Pasenow gerade anwesend, mußte sie die Klage anhören, daß niemand schreibe. Er erkundigte sich auch öfter, ob Joachim auf dem Gute sei, aber er wollte ihn nicht sehen. Und als er hörte, daß Joachim auf einige Zeit nach Berlin müsse, sagte er: »Bestelle ihm, daß ich es verbiete.« Manchmal vergaß er daran und beklagte sich, daß ihm nicht einmal die eigenen Kinder schrieben und da kam Frau v. Pasenow auf den Gedanken, daß Joachim dem Vater zur Versöhnung einen Brief schreiben könnte. Joachim erinnerte sich der Wünsche, die er und sein Bruder zu den Geburtstagsfesten seiner Eltern auf rosenumranktes Papier hatten malen müssen; es war eine fürchterliche Plage gewesen. Er weigerte sich, dies zu wiederholen und erklärte, daß er abreise. Möge man es dem Vater verheimlichen.

Er fuhr ohne Sehnsucht; hatte er sich einst aufgelehnt, daß man ihn zu einer Heirat befehlen wollte, so war es nun in der gleichen Weise rebellierend, daß der dreitägige Aufenthalt in Berlin ihn zu drei Liebesnächten mit Ruzena verpflichtete. Er fand es auch für Ruzena entwürdigend. Am liebsten hätte er das Wiedersehen hinausgezögert, und damit sie wenigstens nicht an die Bahn käme, hatte er unterlassen, sie von der Stunde seiner Ankunft zu verständigen. Auf der Fahrt fiel ihm ein, daß er ihr doch ein Geschenk mitbringen müßte; aber da sich weder Rebhühner noch sonst ein Wildpret dazu geeignet hätten, wäre ohnehin nichts anderes übriggeblieben, als es in Berlin zu besorgen; gut also, daß Ruzena nicht zur Bahn kommen konnte. Er bemühte sich, eine passende Gabe auszudenken, aber seine Phantasie war gebunden, er konnte nichts ausfindig machen und pendelte zwischen Parfüm und Handschuhen hin und her; nun, in Berlin würde sich schon irgend etwas finden.

In seiner Wohnung angelangt, schrieb er vor allem ein Billett an Bertrand, der sicherlich froh sein würde, die unheimlichen Vorfälle des letzten Tages in Stolpin mit ihm besprechen zu können. Er schrieb auch an Ruzena, und mit dem Auftrag auf Antwort zu warten, ließ er die beiden Karten durch einen Dienstmann befördern. Er war von seiner Wohnung angeheimelt. Der Sommer brütete noch immer eingesperrt hinter den geschlossenen Fenstern. Joachim öffnete einen Flügel und freute sich der ruhigen Straße; es war später Nachmittag. Regen war für die Nacht zu erwarten, im Westen stand eine graue Wolkenwand. Das Weinlaub an den Zäunen der Vorgärten war rot, auf dem Gehsteig lagen gelbe Kastanienblätter und die Pferde vor den vier Droschken an der Straßenecke drüben hatten traurig und friedlich gebeugte Vorderbeine. Joachim lehnte sich zum Fenster hinaus und sah zu, wie der Bursche die andern öffnete; hätte sich dieser dabei gleichfalls hinausgelehnt, Joachim hätte ihm längs der Hauswand zugelächelt und zugenickt. Und während der Bursche auspackte, blieb Joachim beim Fenster und betrachtete die dunkelnde ruhige Straße. Dann trat er zurück; die Zimmer waren kühl geworden, und nur mehr an manchen Stellen hing noch ein Stückchen Sommer in der Luft, erfüllte Joachim mit angenehmer Wehmut. Aber es tat wohl, endlich wieder die Uniform auf sich zu spüren; er ging zwischen seinem engeren Eigentum umher und besah die Dinge und seine Bücher. Ja, er wollte in diesem Winter mehr lesen. Dann erschrak er, in drei Tagen sollte er ja all dies wieder verlassen. Er setzte sich, als könnte er sich damit Seßhaftigkeit beweisen, ließ die Fenster schließen und Tee kochen. Es dauerte eine Weile; der Dienstmann, den er vergessen hatte, kam zurück: Herr v. Bertrand sei nicht in Berlin, werde aber in den nächsten Tagen erwartet, und die Dame habe keine Antwort gegeben, sondern bloß gesagt, sie komme sofort. Joachim war es, als sei nun irgendeine kleine Hoffnung zerronnen; fast hätte er gewünscht, daß es umgekehrt gewesen und Bertrand sofort gekommen wäre. Zudem hatte er doch noch ein Geschenk besorgen wollen. Aber schon nach wenigen Minuten läutete es; Ruzena war da.

Beim Schwimmunterricht in der Kadettenschule hatte er sich vor dem Springen gefürchtet, bis er einmal vom Schwimmlehrer kurzerhand ins Wasser gestoßen worden war; und da war es im Wasser bloß angenehm gewesen und er hatte gelacht. Ruzena kam hereingestürmt und war ihm an den Hals geflogen. Es war angenehm im Wasser und sie saßen Hand in Hand, tauschten Küsse und Ruzena erzählte unaufhörlich Dinge, deren Zusammenhang er nicht kannte. Nichts von dem Unbehagen war übriggeblieben und es wäre ein fast ungetrübtes Glück gewesen, wenn der Ärger über das vergessene Geschenk sich nicht plötzlich mit erneuter Schärfe eingestellt hätte. Aber da nun Gott alles zum Besten oder doch mindestens zum Guten fügte, leitete er Joachim zum Schranke, in dem die seit Monaten unbeachteten Spitzentaschentücher ruhten. Und während Ruzena in gewohnter Weise das Abendbrot richtete, suchte Joachim ein hellblaues Bändchen und Seidenpapier und legte das Paket unter Ruzenas Teller. Und ehe sie sich dessen versahen, waren sie schlafen gegangen.

Erst am nächsten Tage fiel ihm ein, daß er ja bald abreisen müßte. Nun teilte er es Ruzena zögernd mit. Aber der erwartete Ausbruch von Unglück oder Zorn erfolgte nicht, vielmehr sagte Ruzena bloß einfach: »Gibt nicht; bleibst da.« Joachim stutzte; sie hatte doch recht, warum sollte er nicht wirklich hier bleiben? Unter welchem Bann war er doch gestanden, daß er zwecklos auf dem Hofe herumgegangen war und sich vor dem Vater versteckte. Überdies schien es unbedingt notwendig, Bertrand in Berlin abzuwarten. Vielleicht war es eine Inkorrektheit, eine Art zivilistischer Unpünktlichkeit, in die er von Ruzena gezogen wurde, aber es gab ihm ein kleines Freiheitsgefühl. Er beschloß, die Sache zu überschlafen und da er dies mit Ruzena tat, schrieb er tags darauf an seine Mutter, daß ihn die Dienstverhältnisse etwas länger als in Aussicht genommen in Berlin zurückhielten; einen ähnlichen Brief, den er beilegte, sollte sie, falls sie es für richtig hielt, dem Vater übergeben. Später besann er sich, daß dieses Vorgehen wenig Sinn hätte, da der Vater ohnehin die Post in die Hände bekäme; aber jetzt war es schon zu spät; der Brief war aufgegeben.

 

Er hatte sich zum Dienst gemeldet; stand in der Reitschule. Ein Wachtmeister und ein Unteroffizier, beide mit langen Peitschen in der Hand, führten den Unterricht und längs der Wände bewegte sich die Kette der Pferde mit den Rekruten in den Zwilchjacken. Es roch kellerig und der weiche Sand, in dem die Füße versanken, ließ ihn mit einem kleinen Heimweh an Helmuth denken und an den Sand, den er ihm nachgeschüttet hatte. Der Wachtmeister knallte mit der Peitsche und kommandierte Trab. Rhythmisch begannen die Zwilchgestalten an den Wänden auf und ab zu wippen. Nun müßte Elisabeth bald zum Herbstséjour nach Berlin kommen. Aber das stimmte doch nicht: sie waren noch nie vor Oktober gekommen und auch das Haus konnte unmöglich schon fertig sein. Und eigentlich erwartete er auch nicht Elisabeth, sondern Bertrand; natürlich, den hatte er gemeint. Er sah ihn mit Elisabeth vor sich her im Trab reiten, beide in den Bügeln sich hebend und senkend. Verwunderlich war es, wie damals Elisabeths Gesicht in die Landschaft geglitten war und wie er sich gequält hatte, es herauszulösen. Er versuchte, ob ihm das nämliche mit Bertrands Gesicht hätte widerfahren können, versuchte sich vorzustellen, daß Bertrand, in den Bügeln sich hebend und senkend, längs der Wand reite, gab es aber wieder auf; es war irgendwie gotteslästerlich und er war froh, daß er Helmuths Gesicht nicht mehr gesehen hatte. Nun kommandierte der Wachtmeister Schritt und man brachte die weißen Sprungbäume und Hürden in die Manege. Er mußte an Clowns denken und verstand plötzlich, daß Bertrand einst sagen konnte: das Vaterland wird durch einen Zirkus verteidigt. Unbegreiflich noch immer, daß er damals über den Baumstamm gestürzt war.

Er fuhr wieder bei Borsigs Maschinenfabrik vorbei. Wieder standen Arbeiter dort. Eigentlich wollte er all dies nicht mehr sehen. Er gehörte nicht dazu und es war überflüssig, sich durch eine bunte Uniform abzugrenzen. Gewiß, Bertrand gehörte dazu, vielleicht mit Widerstreben, aber der hatte sich eben eingelebt; indes auch von Bertrand wollte er nichts mehr wissen; das beste wäre es ja doch, sich nach Stolpin zurückzuziehen. Trotzdem ließ er den Wagen bei Bertrands Wohnung halten und freute sich zu hören, daß Herr v. Bertrand abends eintreffen werde. Gut, er wolle auf alle Fälle abends vorsprechen, und er hinterließ ein Billett, das diese Absicht kundtat.

Sie gingen in das Theater, auf dessen Bühne Ruzena stand und armselige Choristinnengesten exekutierte. Im Zwischenakt sagte Bertrand: »Das ist doch nichts für sie; wir werden etwas anderes finden«, und Joachim hatte wieder das Gefühl der Geborgenheit. Als sie beim Abendbrot saßen, wandte sich Bertrand an Ruzena: »Sagen Sie, Ruzena, Sie werden doch jetzt eine berühmte und großartige Schauspielerin?« Natürlich würde sie das werden, und ob sie das werden würde! »Na, aber was geschieht, wenn Sie sich's überlegen und uns ausspringen? jetzt haben wir uns so geplagt, damit Sie uns berühmt und großartig werden und auf einmal lassen Sie uns stehen und wir sind blamiert. Was sollen wir dann machen?« Ruzena wurde nachdenklich, meinte: »No, das Jägerkasino.« – »Aber nein, Ruzena, man soll nie wieder zurück, wenn man schon höher gestanden ist. Also etwas, das mehr ist als das Theater.« Ruzena begann zu weinen: »Für unsereiner gibt's doch nix. Joachim, er ist schlechter Freund.« Joachim sagte: »Bertrand macht doch Spaß, Ruzena.« Aber er hatte selber ein unbehagliches Gefühl und fand, daß Bertrand nicht in den Grenzen des Taktes bleibe. Bertrand hingegen lachte: »Da gibt es doch nichts zu weinen, weil wir darüber nachdenken, wie wir Ruzena berühmt und reich machen. Sie muß uns dann alle aushalten.« Joachim war schockiert; man merkte doch, wie das Geschäftsleben das Gemüt eines Menschen verrohte.

Später sagte er zu Bertrand: »Warum quälen Sie sie?« Bertrand antwortete: »Man muß doch vorsorgen und man kann nur im Gesunden operieren. Jetzt ist noch Zeit dazu.« Wie ein Arzt sprach er.

 

Was er halb befürchtet hatte, war eingetroffen. Der Brief war dem Vater in die Hände gefallen und der hatte offenbar wieder zu toben begonnen, denn die Mutter schrieb, daß ein neuer Rückschlag eingetreten sei. Joachim wunderte sich, wie gleichgültig ihn dies eigentlich ließ. Er fühlte nicht die Verpflichtung heimzureisen, er würde immer noch zeitig genug kommen. Helmuth hatte ihm aufgetragen, der Mutter beizustehen, ach, man konnte ihr doch kaum helfen; sie mußte das Los, das sie auf sich genommen hatte, wohl alleine tragen. Er antwortete, daß er ehestens kommen werde und blieb, beließ alles, wie es war, tat seinen Dienst, traf keinerlei Anstalten zu einer Veränderung und schob jeden Gedanken, der sich damit befassen wollte, mit einer unerklärlichen Furcht beiseite. Denn es bedurfte manchmal geradezu einer gewissen Anstrengung, an den Dingen ihr gewohntes Aussehen festzuhalten, und das konnte so arg werden, daß ihm die Menschen, die weiter mit den Dingen hantierten, als sei alles in Ordnung geblieben, oftmals eng, verblendet und fast närrisch erschienen. Erst war es ihm nicht aufgefallen; doch als ihm das Zirkusmäßige des Dienstes wieder einmal zum Bewußtsein kam, machte er Bertrand dafür verantwortlich. Ja, sogar die Uniform wollte sich nicht mehr wie früher anlegen lassen: plötzlich störten ihn die Epauletten auf den Achseln, störten ihn die Manschetten seines Hemdes, und eines Morgens vor dem Spiegel fragte er sich, warum er den Säbel eigentlich links tragen müsse. Er flüchtete mit seinen Gedanken zu Ruzena, sagte sich, daß die Liebe zu ihr, ihre Liebe zu ihm etwas sei, das aller anzweifelbaren Konvention enthoben war. Wenn er ihr dann lang in die Augen schaute und mit sanft tastendem Finger über ihre Lider strich und sie es für Liebe nahm, so versank er oftmals in ein angstvolles Spiel und er ließ dieses Antlitz ins Unbestimmte verdämmern, bis hart an die Grenze, wo es ins Unmenschliche umzukippen drohte und das Gesicht gesichtlos wurde. Vieles war wie eine Melodie geworden, die man nicht vergessen zu können meint, und aus der man doch herausgleitet, um sie stets aufs neue schmerzlich suchen zu müssen. Das war ein unheimliches und hoffnungsloses Spiel und man wünschte gereizt und ärgerlich, daß Bertrand auch für diesen befremdlichen Zustand verantwortlich gemacht werden könnte. Hatte er denn nicht von seinem Dämon gesprochen? Ruzena spürte Joachims Gereiztheit und aus dem Mißtrauen, das sie seit jenem Abend gegen Bertrand hegte, brach es nach langem dumpfem Schweigen jäh und ungeschickt heraus: »Hast mich nicht mehr lieb … oder mußt erst Freund fragen ob darfst … oder hat schon verboten Bertrand?« und obwohl dies böse und zankende Worte waren, hörte Joachim sie gerne, denn sie waren wie eine erleichternde Bestätigung des eigenen Verdachtes, daß allen Unheils dämonischer Ursprung in Bertrand liege. Und es schien ihm sogar wie ein letzter Ausfluß solch unheilvollen mephistophelischen und heuchlerischen Wirkens, wenn trotz der gemeinsamen Abneigung Ruzena ihm nicht näher verbunden wurde, sondern mit ihren rüden unbeherrschten Ausbrüchen eher zu Bertrand rückte und zu dessen nicht minder verletzenden Scherzen: zwischen dem Freund und der Geliebten, unzuverlässig sie beide, zwischen diesen beiden Zivilisten, fühlte er sich wie zwischen zwei Mühlsteine der Taktlosigkeit geraten und hilflos vermählen. Es roch nach schlechter Gesellschaft, und manchmal wußte er nicht, ob Bertrand ihm Ruzena zugeführt hatte oder ob er durch Ruzena zu Bertrand gelangt war, bis er erschrocken gewahr wurde, daß er der verschwimmenden und verfließenden Masse des Lebens nicht mehr habhaft zu werden vermochte und daß er immer rascher und immer tiefer in irre Hirngespinste glitt, und alles war unsicher geworden. Doch als er daran dachte, daß er in der Religion den Ausweg aus solcher Wirrnis suchen müsse, tat sich neuerdings der Abgrund auf, der ihn von den Zivilisten trennte, denn jenseits dieses Abgrundes stand der Zivilist Bertrand, ein Freigeist, stand die Katholikin Ruzena, beide für ihn unerreichbar, und es schien fast, als wollten sie sich seiner Vereinsamung freuen.

Es war ihm recht, daß er am Sonntag Kirchendienst hatte. Aber selbst bis in die militärische Kulthandlung verfolgte ihn das Zivilistische. Denn die Gesichter der Mannschaften, die befehlsgemäß in zwei parallelen Kolonnen in das Gotteshaus einmarschiert waren, sahen nicht anders aus als jene, die sie beim Exerzieren und beim Reitunterricht aufsetzten; keines der Gesichter war fromm, keines ergriffen. Es mußten wohl Arbeiter aus Borsigs Maschinenfabrik sein; echte Bauernsöhne aus der Heimat wären nicht so unbeteiligt dagestanden. Außer den Unteroffizieren, die dienstlich fromm dreinschauten, horchte wohl keiner auf die Predigt. Die Verlockung, auch dies einen Zirkus zu nennen, stand in furchterregender Nähe. Joachim schloß die Augen und versuchte zu beten, wie er in der Dorfkirche zu beten versucht hatte. Vielleicht betete er auch nicht, doch als die Soldaten den Choral anstimmten, da erhob sich seine Stimme, mitsingend, ohne daß er es wußte, denn mit dem Liede, das er als Kind gesungen, war die Erinnerung an ein Bild aufgestiegen, Erinnerung an ein kleines buntes Heiligenbild, und da das Bild ihm nun deutlich wurde, erinnerte er sich auch, daß es die schwarzhaarige polnische Köchin gewesen war, die es ihm gebracht hatte, hörte ihre dunkle singende Stimme und sah ihren runzligen Finger mit der rissigen Spitze, hinstreichend über all die Buntheit, aufzeigend, daß hier die Erde war, auf der die Menschen leben, und wie darüber, nicht allzu hoch darüber, auf silbriger Regenwolke die Heilige Familie gar friedlich beieinander saß, abkonterfeit in sehr bunter Kleidung, und das Gold, mit dem die Gewänder verziert waren, wetteiferte mit dem Glanz der goldenen Heiligenscheine. Heute noch wagte er nicht daran zu denken, wie selig er gewesen war, sich auszumalen, daß man selber Teil dieser katholischen Heiligen Familie wäre, selber auf jener silbrigen Wolke in den Armen der jungfräulichen Gottesmutter zu ruhen oder im Schoße der schwarzhaarigen Polin … das konnte man jetzt nicht mehr entscheiden, wohl aber, daß das Entzücken durchsetzt war von Zittern ob der gotteslästerlichen Anmaßung und ob der Ketzerei, die ein geborener Protestant mit solchem Wunsche und solcher Seligkeit sich zuschulden kommen ließ, und daß er es nicht gewagt hatte, dem zürnenden Vater einen Platz auf dem Bilde einzuräumen; aber er wollte ihn auch gar nicht darauf haben. Und während er mit großer Aufmerksamkeit und angespanntem Willen sich das Bild näher zu vergegenwärtigen suchte, war es, als höbe sich die versilberte Wolke ein wenig höher, ja als begänne sie nach oben zu verfließen, mit ihr die Gestalten, die auf ihr ruhten, sie schienen sich leicht aufzulösen, verschwimmend in der Melodie des Chorals, ein sanftes Verfließen, das aber keineswegs ein Erlöschen des Erinnerungsbildes war, vielmehr eine gewisse Erhellung und Verschärfung, so daß er einen Augenblick sogar daran denken konnte, es wäre damit die notwendige evangelische Auflösung des katholischen Heiligenbildes erreicht worden: schien doch auch das Haar der Gottesmutter nicht mehr dunkel, und sie war kaum mehr die Polin, noch war sie Ruzena, sondern heller und vergoldeter wurden die Locken, und ebensowohl hätte es das jungfräuliche Blond Elisabeths sein können. Das war alles ein wenig merkwürdig und doch befreiend, Lichtstrahl und Ahnung kommender Gnade inmitten der Wirrnis; denn war es nicht schon Gnade zu nennen, daß ein katholisches Bild evangelisch sich auflösen durfte? Und in dem Verfließen der Formen, Verfließen, das so sanft war wie das Rieseln des Wassers und der Nebel an einem regnerischen Frühlingsabend, wurde ihm klar, daß der so sehr gefürchtete Zerfall des menschlichen Antlitzes zu einem Nichts von bewegten Erhöhungen und Vertiefungen die Vorstufe sein soll für eine neue und lichtere Einheit im seligen, wolkigen Verband, nicht Abklatsch mehr des irdischen Gesichtes, sondern zur Verheißung des Ebenbildes, kristallener Tropfen, der singend aus der Wolke fällt. Und selbst wenn dieses höhere Antlitz nicht von irdischer Schönheit und Vertrautheit sein würde, fürs erste wohl fremd und erschreckend, vielleicht noch erschreckender als das Verlöschen der Gesichter in der Landschaft, so war eben dies der erste Schritt gewesen, Vorahnung des göttlichen Grausens, dennoch Gewißheit des göttlichen Lebens, in dem das Irdische vergeht, versinkend wie das Gesicht Ruzenas und wie das Gesicht Elisabeths, vielleicht auch versinkend wie die Gestalt Bertrands. So war es eigentlich nicht das kindische Bild von einst, mit Vater und Mutter, das wieder sich auftat: wohl schwebte es noch an dem gleichen Orte, schwebte in der gleichen Silberwolke, und immer noch in der gleichen Weise zu Füßen des Bildes saß er selber wie einst zu Füßen der Mutter, er selber ein Jesusknabe, aber das Bild war reifer geworden, kein Wunsch des Knaben mehr, sondern Zuversicht des Zieles, und er wußte, daß er den ersten schmerzlichen Schritt zum Ziele getan hatte, zugelassen zur Prüfung, wenn auch erst am Anfang der Prüfungsreihe stehend. Fast war es ein stolzes Gefühl. Doch da verblaßte das beglückende Bild, versiegte wie ein erlöschender Regen, und daß Elisabeth daran teil hatte, war wie ein letzter Tropfen aus dem Nebelschleier. Vielleicht war dies der Fingerzeig Gottes. Er öffnete die Augen; der Choral ging zu Ende und Joachim glaubte zu erkennen, daß manche der jungen Männer gleich ihm zuversichtlich und mit entschlossener Inbrunst zum Himmel schauten.

Nachmittags traf er Ruzena. Er sagte: »Bertrand hat recht; das Theater ist doch nichts Geeignetes für dich. Würde es dir nicht Spaß machen, einen Laden zu besitzen, nette Sachen zu verkaufen, etwa Spitzen und hübsche Stickereien?« Und er sah eine Glastüre vor sich, hinter der eine trauliche Lampe brannte. Doch Ruzena blickte ihn still an und, wie jetzt so häufig, stiegen Tränen in die dunklen Augen. »Schlechte Männer seid ihr«, sagte sie und hielt seine Hand.

 

Angesichts des neuerlichen Rückfalls hatte der Arzt ein Konsilium verlangt und für Joachim ergab sich die selbstverständliche Verpflichtung, mit dem Nervenspezialisten nach Stolpin zu reisen. Er sah es als Teil der Buße an, die er auf sich zu nehmen hatte, und wurde in dieser Vorstellung noch bestärkt, als während der Fahrt der Arzt mit freundlicher Unbeteiligtheit Fragen über die Art der Krankheit, über die Vorgeschichte und über das Familienmilieu stellte. Denn diese Fragen schienen Joachim eine zwar sanfte, aber deshalb nicht weniger eindringliche und scharfe Inquisition und er erwartete, daß plötzlich der Inquisitor mit strengem Blick durch die Augengläser und ausgestrecktem Finger auf ihn deuten werde, hörte bereits anklagend und verdammend das fürchterliche Wort: Mörder. Aber der freundliche alte Herr mit den Brillen war nicht dazu zu bewegen, dieses fürchterliche und doch befreiende Wort auszusprechen, sondern meinte bloß, daß die durch den Tod des Sohnes ausgelösten Erschütterungen gewißlich jene beklagenswerten Erscheinungen verursacht hätten, unter denen Herr v. Pasenow nun leide, wenn auch die ursprünglichen Wurzeln tiefer liegen dürften. Joachim begann den Nervenspezialisten mit Mißtrauen und doch mit einiger Befriedigung zu betrachten, überzeugt, daß ein Mann, der solche Ansichten äußerte, dem Kranken nicht werde helfen können.

Dann erstarb ihr Gespräch und Joachim sah die altbekannten Felder und Bäume vorübergleiten. Der Nervenspezialist war unter dem Rhythmus der Fahrt eingeschlummert, das Kinn zwischen den Ecken des Steifkragens, und der weiße Bart lag auf dem Westenausschnitt und verdeckte ihn. Es war Joachim unvorstellbar, daß auch er selber einst so alt werden könnte, unvorstellbar auch, daß jener einst jung gewesen und daß in diesem Bart eine Frau den Kuß gesucht haben mochte; irgend etwas müßte doch noch davon bemerkbar sein, in dem Bart hängengeblieben sein wie eine Feder oder ein Halm. Er fuhr sich über das Gesicht; es war betrügerisch gegen Elisabeth, daß von den Küssen, mit denen ihn Ruzena entlassen hatte, nichts haftengeblieben war: Gott segnet den Menschen, indem er ihm die Zukunft verhüllt, er verdammt ihn, indem er ihm die Vergangenheit unsichtbar macht; wäre es nicht Gnade, wenn er den Menschen für alles brandmarken würde? aber Gott senkte das Brandmal bloß in das Gewissen und selbst der Nervenspezialist vermag es nicht zu erkennen. Helmuth hat sein Brandmal erhalten; darum durfte man ihn im Sarge nicht sehen. Aber auch der Vater ist ein Gebrandmarkter; einer, der so einhergeht wie der Vater, der müßte eigentlich schielen.

Herr v. Pasenow war außer Bett, aber im Zustand völliger Apathie; dennoch verheimlichte man ihm Joachims Anwesenheit, da man neuerliche Zornausbrüche fürchtete. Dem fremden Arzte begegnete er zuerst mit Gleichgültigkeit, hielt ihn aber bald darauf für einen Notar und verlangte, sein Testament neu aufzusetzen. Ja, Joachim sollte wegen Ehrlosigkeit enterbt werden, doch sei er kein harter Vater, er wünsche bloß, daß Joachim mit Elisabeth einen Enkel zeuge. Dieses Kind müsse dann ins Haus gebracht werden und dann alles erben. Nach einigem Überlegen setzte er hinzu, Joachim dürfe das Kind niemals sehen, sonst werde es gleichfalls enterbt. Die Mutter hatte dies hinterher Joachim zögernd erzählt und gegen ihre Gewohnheit war sie ins Jammern gekommen: wohin solle dies noch führen! Joachim zuckte die Achseln; er empfand nur wieder die Schmach, daß da einer war, der davon zu sprechen wagte, er möge mit Elisabeth Kinder zeugen. Auch der Nervenspezialist hatte die Achseln gezuckt; es sei nicht jede Hoffnung aufzugeben, Herr v. Pasenow sei ja noch außerordentlich rüstig, aber vorderhand hieße es eben zuwarten; man möge den Kranken nur nicht zu viel im Bette lassen, das könne bei den vorgeschrittenen Jahren des Patienten doch abträglich sein. Frau v. Pasenow entgegnete, daß ihr Mann aber nun immer wieder nach dem Bett verlange, immer friere ihn und es scheine auch, als sei er von einer geheimen Furcht gequält, die sich erst im Schlafzimmer etwas beruhige. Ja, man müsse sich eben nach dem jeweiligen Gemütszustand richten, meinte der Nervenspezialist, er könne eigentlich nur sagen, daß Herr v. Pasenow in der Behandlung des Herrn Kollegen – der verbeugte sich dankend – sich in den besten Händen befände.

Es war spät geworden, der Pastor hatte sich eingefunden und das Abendessen war aufgetragen. Plötzlich stand Herr v. Pasenow in der Tür: »Man gibt hier also Gesellschaften, ohne mich zu benachrichtigen; wahrscheinlich weil der neue Hausherr schon da ist.« Joachim wollte das Zimmer verlassen. »Dageblieben und auf deinen Platz«, kommandierte Herr v. Pasenow und setzte sich in seinen Hausherrnstuhl, der für ihn, auch wenn er nicht anwesend war, freigelassen wurde; offenbar hatte ihn dies etwas versöhnt. Er verlangte, daß ihm nachserviert werde: »Hier muß wieder Ordnung hereinkommen; Herr Notar, hat man für Sie gesorgt? Hat man Sie gefragt, ob Sie roten oder weißen Wein trinken? Ich sehe bloß roten. Warum ist kein Sekt da; ein Testament muß mit Sekt begossen werden.« Er lachte vor sich hin. »Also was ist's mit dem Sekt?« herrschte er das Mädchen an, »soll ich etwa selber melken gehen?« Der Nervenspezialist war der erste, der sich zurechtfand und die Situation zu retten, sagte er, daß er gerne ein Glas Sekt trinken werde. Triumphierend schaute Herr v. Pasenow im Kreise herum: »Ja, hier muß wieder Ordnung werden. Keiner hat Sinn für Ehre …«, dann leiser zu dem Arzte: »Helmuth ist nämlich für die Ehre gefallen. Aber er schreibt mir nicht. Vielleicht trägt er es mir doch nach …«, er überlegte, »oder dieser Herr Pastor unterschlägt mir die Briefe. Will sein Geheimnis für sich behalten, will nicht, daß unsereiner hinter den Spiegel sieht. Aber bei der ersten Unordnung im Kirchhof fliegt er, der Gottesmann. Dafür stehe ich ein.« – »Aber, Herr v. Pasenow, dort ist doch alles in allerschönster Ordnung.« – »Scheinbar, Herr Notar, scheinbar, lauter Augenauswischerei, wir kommen bloß nicht so leicht drauf, weil wir ihre Sprache nicht verstehen; sie sind sichtbarlich versteckt. Wir anderen hören bloß, wie stumm sie sind, aber immerfort beklagen sie sich zu uns. Deshalb fürchten sich ja alle so sehr und wenn ich einen Gast habe, muß ich selbst ihn hinausführen, ich alter Mann«, ein feindseliger Blick streifte Joachim, »ein Ehrloser kann natürlich nicht den Mut dazu aufbringen, verkriecht sich lieber im Kuhstall.« – »Nun, Herr v. Pasenow, Sie müssen eben selbst öfter nach dem Rechten sehen, die Felder inspizieren, überhaupt hinauskommen.« – »Möchte ich auch, Herr Notar, tue ich ja auch. Aber wenn man vor die Türe tritt, verstellen sie einem oft den Weg, so voll ist die Luft von ihnen, so voll, daß kein Laut durch sie hindurchdringt.« Er schauderte und hatte das Glas des Arztes ergriffen, leerte es, ehe man ihn daran hindern konnte, in einem Zuge. »Sie müssen oft zu mir kommen, Herr Notar, wir werden Testamente machen. Und indessen werden Sie mir schreiben?« flehte er. »Oder werden auch Sie mich enttäuschen?« Er sah ihn mißtrauisch an, »konspirieren vielleicht auch mit denen? … er hat mich schon einmal mit einem betrogen, der dort …« er war aufgesprungen und sein Finger wies auf Joachim. Dann ergriff er einen Teller und drückte, als ob er zielen wollte, ein Auge zu; schrie: »Ich habe ihm befohlen zu heiraten …« Doch der Arzt stand neben ihm, legte die Hand auf seinen Arm: »Kommen Sie, Herr v. Pasenow, wir wollen auf Ihrem Zimmer noch ein wenig miteinander plaudern.« Herr v. Pasenow sah ihn verständnislos an; der andere wich seinem Blick nicht aus: »Kommen Sie, wir wollen ganz allein miteinander plaudern.« – »Wirklich allein? Und ich werde mich nicht mehr fürchten …« Er lächelte jetzt hilflos, tätschelte die Wange des Arztes, »ja, wir wollen es ihnen schon zeigen …« Er machte eine verächtliche Bewegung zum Tische hin und ließ sich wegführen.

Joachim hatte das Gesicht zwischen den Händen vergraben. Ja, der Vater hatte ihn gebrandmarkt; nun war es eingetroffen, und dennoch lehnte er sich auf. Der Pastor war auf ihn zugetreten, und er hörte von ferne banale Trostesworte: ja, der Vater schien auch hierin recht zu haben; dieser Diener der Kirche füllte sein Amt schlecht aus, er müßte doch sonst wissen, daß der Fluch des Vaters unauslöschbar auf den Kindern lastet, müßte wissen, daß es Gottes Stimme selber ist, die durch den Mund des Vaters spricht und die Prüfung verkündet: oh, deshalb war der Vater nun umnachtet, denn niemand ist ungestraft Gottes Sprachrohr. Und natürlich konnte der Pastor bloß ein banaler Mensch sein; auch der müßte ja irre reden, wäre er wirklich ein Werkzeug Gottes auf Erden. Aber Gott hat den Weg zur Gnade ohne Mittlerschaft des Priesters gewiesen; dagegen konnte man sich nicht auflehnen, man mußte die Gnade allein und in eigenem Leid erkämpfen. Joachim sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre guten Worte, Herr Pastor; wir werden jetzt wohl oft Ihres Trostes bedürfen.« Dann kamen die Ärzte; Herr v. Pasenow hatte eine Injektion erhalten und schlummerte jetzt.

Der Nervenspezialist blieb noch zwei Tage auf dem Gute. Und als bald darauf ein höchst beunruhigendes Telegramm Bertrands aus Berlin eintraf und der Zustand des Kranken offenbar stationär blieb, konnte auch Joachim abreisen.

 

Bertrand war nach Berlin zurückgekehrt. Nachmittags wollte er Joachim besuchen, fand aber bloß Ruzena in der Wohnung vor. Sie räumte im Schlafzimmer und als Bertrand eintrat, sagte sie: »Mit Ihnen sprech' ich nicht.« – »Hallo, Ruzena, das ist aber freundlich.« – »Mit Ihnen sprech' ich nicht, weiß was von Ihnen zu halten.« – »Bin ich wieder schlechter Freund, kleine Ruzena?« – »Bin ich nicht Ihre kleine Ruzena.« – »Schön, also was ist geschehen?« – »Was geschehen? Weiß alles, haben ihn weggeschickt. Pfeif auf Ihr Spitzengeschäft.« – »Gut, meinetwegen habe ich ein Spitzengeschäft, warum nicht, aber man kann immerhin noch mit mir sprechen. Was ist's also mit meinem Spitzengeschäft?« Ruzena legte schweigend die Wäsche in die Kommode; Bertrand rückte einen Stuhl heran und freute sich auf die Fortsetzung. »Wenn möcht' sein meine Wohnung, möcht' hinauswerfen, nicht sitzen lassen.« – »Also, Ruzena, jetzt im Ernst, was ist denn los? Geht es dem alten Herrn wieder so schlecht, daß Pasenow hinreisen mußte?« – »Stellen S' sich nicht so, als möchten nicht wissen; bin nicht so dumm.« – »Ich glaube doch, kleine Ruzena.« – Sie drehte sich nicht um und räumte weiter: »Lass' mich nicht lustig machen … von niemand lass' mich lustig machen.« Bertrand trat zu ihr hin, nahm ihren Kopf in die Hände, um ihr ins Gesicht zu schauen. Sie riß sich los. »Rühren S' mich nicht an. Erst haben mir ihn weggeschickt und dann noch lustig machen.« Bertrand begriff, bis auf die Sache mit dem Spitzengeschäft: »Also, Ruzena, Sie glauben nicht, daß der alte Herr v. Pasenow krank ist?« – »Nichts glaub' ich, alle sinds gegen mich.« Bertrand ärgerte sich ein wenig: »Wahrscheinlich wird also der alte Herr auch noch sterben, weil er gegen die kleine Ruzena ist.« – »Wann Sie werden umbringen, wirde sterben.« Bertrand hätte ihr gerne geholfen, aber es war schwer; er wußte, daß gegen diese Geistesverfassung wenig zu machen war, und er schickte sich zum Gehen an. »Ihnen soll man umbringen«, sagte Ruzena abschließend. Bertrand war amüsiert: »Gut«, meinte er, »ich habe nichts dagegen, wird es aber dann besser werden?« – »So, Sie haben nichts dagegen, nichts dagegen«, Ruzena kramte aufgeregt in der Wäschelade, »... aber höhnen noch mich, ja? …«, sie kramte weiter, »... nichts dagegen …« und hatte gefunden, was sie suchte; feindselig, mit dem Armeerevolver Joachims in der Hand, stand sie Bertrand gegenüber. Das ist zu albern, dachte Bertrand: »Ruzena, leg das Zeug sofort weg.« – »Haben S' ja nichts dagegen.« Ein kleiner Zorn und etwas Scham hinderten Bertrand, einfach das Zimmer zu verlassen; er wollte auf Ruzena zutreten, um ihr die Waffe fortzunehmen, da krachte schon ein Schuß, ein zweiter folgte, als der Revolver, von Ruzena fallengelassen auf dem Boden aufschlug. »Das ist doch wirklich zu dumm«, sagte Bertrand und bückte sich danach. Der Bursche war hereingestürzt, doch Bertrand erklärte, das Ding sei zu Boden gefallen und losgegangen. »Sagen Sie dem Herrn Leutnant, daß die Waffen nicht geladen aufbewahrt werden mögen.« Der Bursche ging wieder hinaus. »Also, Ruzena, bist du ein dummes Mädel oder nicht?« Ruzena stand weiß und versteinert, zeigte auf Bertrand und sagte »da«: aus Bertrands Ärmel tropfte Blut. »Lassen mich einsperren«, stammelte sie. Bertrand riß den Rock und das Hemd herunter; er hatte nichts gespürt; es war ein Streifschuß am Arm, aber er mußte doch zu einem Arzt. Er rief dem Burschen zu, daß er eine Droschke besorgen solle. Mit einem Wäschestück Joachims machte er sich einen Notverband und hieß Ruzena die Blutspur wegwaschen; aber sie war so aufgeregt und verwirrt, daß er ihr helfen mußte. »So, Ruzena, und du kommst mit, denn ich lasse dich jetzt nicht allein. Eingesperrt wirst du nicht, wenn du einsiehst, daß du ein dummes Mädel bist.« Sie folgte willenlos. Vor der Türe seines Arztes bat er sie, in der Droschke zu warten.

Er sagte dem Arzte, daß er durch einen ungeschickten Zufall einen Streifschuß abbekommen habe. »Nun, Sie können von Glück reden, aber nehmen Sie die Sache nicht von der leichten Seite und legen Sie sich lieber für ein paar Tage in eine Klinik.« Bertrand hielt es für eine übertriebene Vorsicht, aber als er die Stiege hinunterging, fühlte er sich doch etwas hergenommen. Zu seiner Überraschung fand er Ruzena nicht mehr im Wagen. Nicht schön von ihr, dachte er.

Er fuhr zuerst nach Hause, holte alles, was ein praktischer und standesbewußter Herr für das Krankenlager benötigt, und nachdem er sich in der Klinik eingerichtet hatte, schickte er ein Billett an Ruzena mit der Bitte, sie möge ihn doch besuchen. Der Bote kam mit der Nachricht zurück, daß das Fräulein noch nicht heimgekommen sei. Das war sonderbar, und fast beunruhigend; aber er war nicht in der Verfassung, an diesem Tage noch etwas einzuleiten. Am nächsten Morgen schickte er wieder zu ihr: sie war noch immer nicht daheim gewesen, auch in Joachims Wohnung war sie noch nicht gesehen worden. Da entschloß er sich, nach Stolpin zu telegraphieren, und zwei Tage darauf traf Joachim ein.

 

Bertrand fühlte sich nicht verpflichtet, Joachim den Hergang der Szene wahrheitsgetreu zu erzählen; die Geschichte vom Unfall und von Ruzenas Ungeschicklichkeit klang plausibel genug. Er schloß: »Seither hat sie nichts von sich hören lassen. Das dürfte wohl nichts weiter bedeuten, aber so ein aufgeregtes Mädel begeht ja leicht eine Dummheit.« Joachim dachte: was hat er mit ihr gemacht? doch dann stieg es mit plötzlichem Entsetzen auf, daß Ruzena schon öfters, manchmal bloß im Scherz, manchmal aber auch ernsthaft gedroht hatte, sie werde ins Wasser gehen. Er sah die grauen Weiden des Havelufers, den Baum, unter dem sie damals Schutz gesucht hatten, ja, dort mußte sie im Flusse liegen. Einen Herzschlag lang fühlte er sich von dieser romantischen Vorstellung geschmeichelt. Dann aber überschwemmte ihn wieder das Entsetzen. Unabwendbares Geschick, unabwendbare Prüfung! Hatte er vor seiner Abreise noch voll Hoffnung in der Kirche gebetet, des Vaters Krankheit möge nicht Buße sein, ihm dem Sohne auferlegt, sondern einfacher Zufall des Lebens, so zeigte ihm nun Gott, daß dieser Gedanke schon sündhaft gewesen war: man durfte an Gottes Prüfungen nicht zweifeln, es gab keinen Zufall; denn mochte Bertrand auch in scheinbarer Zwietracht vom Vater geschieden sein und mochte er jetzt auch das Mißgeschick mit dem Revolver zu einem albernen Zufall herabwürdigen, er wollte damit doch nur verschleiern, daß er ein Sendling des Bösen war, ausersehen von Gott und dem Vater, dem Büßenden die Buße zu bereiten, ihm verlockend voranzueilen, in die Falle ihn zu führen, damit der Verführte dort ratlos erkenne, daß er ebenso schlecht ist wie der Verführer und daß es ihm auferlegt ist, stets auferlegt war, gleich jenem vernichtendes Schicksal dem Nächsten zu sein und daß es ihm niemals gelingen wird, den Fängen des Verführers die Beute zu entreißen. Ist es für den, der solches erkannt hat, nicht besser, sich selbst auszulöschen? Wäre es nicht besser gewesen, die Kugel hätte ihn statt Helmuth getroffen! Aber nun war es zu spät, nun lag Ruzena auf dem Grunde der Havel, sah mit verglasten Augen auf die Fische, die im grauen Wasser über sie hinwegzogen. Ganz unvermittelt vermengte sich ihr Bild wieder mit dem des Italieners aus der Oper; indes auch dies verwischte sich, da Joachim entdeckte, daß der Mann dort im Wasser er selber war. Ja, in seinen eigenen blauen Augen saß der unheilbringende böse Blick, an welchen die Italiener glauben, und es wäre bloß gerecht, wenn über diesen Augen die Fische schwimmen würden. Bertrand sagte: »Haben Sie irgendeine Vermutung? Wir wollen hoffen, daß sie kurzerhand nach Hause gereist ist. Sie hat doch genügend Geld gehabt?« Joachim fühlte sich von dieser Frage beleidigt, es war etwas von der inquisitorischen Teilnahmslosigkeit eines Arztes darin; was dachte dieser Bertrand wieder von ihm; natürlich hat sie Geld bei sich gehabt. Bertrand bemerkte seine Gereiztheit nicht: »Nichtsdestoweniger werden wir wohl die Polizei verständigen; es ist nicht ausgeschlossen, daß das Mädel irgendwo umherirrt.« Selbstverständlich mußte man die Polizei verständigen, Bertrand hatte recht, aber Joachim empfand Scheu davor; man würde ihn über seine Beziehungen zu Ruzena ausfragen und wenn er sich auch sagte, daß dies ohne Belang wäre, so fürchtete er doch geheimnisvoll unvorstellbare Weiterungen. Das Verhältnis zu Ruzena, allzulange sträflich verborgen, vielleicht wollte Gott im Wege der Polizei sich davon Kenntnis verschaffen, vielleicht gehörte auch dies zu der Reihe der Prüfungen, noch verschärft durch die Lage des Polizeigebäudes auf dem Alexanderplatz, den zu betreten er sich mehr denn je sträubte. Trotzdem stand er auf: »Ich fahre zur Polizei.« – »Nein, Pasenow, ich werde das für Sie erledigen; Sie sind noch zu erregt, außerdem wittern die Herren gleich alle möglichen Dramen.« Joachim war ihm aufrichtig dankbar: »Ja, aber Ihr Arm …« – »Ach, das macht nichts, man wird mich hier schon fortlassen.« – »Aber ich begleite Sie.« – »Gut, hoffentlich werden wenigstens Sie mir noch in der Droschke sitzen, wenn ich herunterkomme.« Bertrand war wieder heiter und Joachim fühlte sich geborgen. Im Wagen bat er Bertrand, bei der Polizei zu veranlassen, daß die Havelufer abgesucht würden. »Nun, Pasenow, aber ich meine, daß Ruzena schon längst in Böhmen steckt; schade, daß Sie den Namen des Nestes dort nicht kennen, aber wir werden es schon herausbekommen.« Joachim wunderte sich nun selber, daß er Ruzenas Heimatsort nicht kannte, kaum ihren Familiennamen. Sie hatte sich öfters den Spaß gemacht, ihn diese Namen aussprechen zu lassen, aber er brachte es kaum zuwege und konnte die fremden Worte nicht behalten. Jetzt fiel es ihm auf, daß er sie eigentlich nie hatte wissen und auch nicht hatte behalten wollen, ja, als hätte er sich vor diesen harmlosen Namen beinahe ein wenig gefürchtet.

Er begleitete Bertrand durch die Gänge des Polizeigebäudes; vor der Türe eines Amtszimmers mußte er warten. Bertrand kam bald zurück: »Wissen es schon«, und er zeigte auf einen Zettel den tschechischen Ortsnamen. »Haben Sie die Leute auf die Havelufer hingewiesen?« Gewiß hatte Bertrand dies getan: »Aber Sie, lieber Pasenow, haben heute abend eine unangenehme Mission, die ich Ihnen leider meines Armes wegen nicht abnehmen kann. Sie werden Zivil anlegen und die Nachtlokale ein wenig durchsuchen. Ich wollte die Polizei nicht darauf hinlenken, dazu haben wir immer noch Zeit; sonst wird uns die gute Ruzena am Ende noch mitten in einem Lokal verhaftet.« An solch banalste und abscheulichste Möglichkeit hatte Joachim nicht gedacht; dieser Bertrand war eben ein widerlicher Zyniker. Er sah Bertrand an: wußte der mehr? Mephisto allein wußte, wofür Margarete zu büßen hatte. Aber Bertrand ließ sich nichts anmerken. Es blieb kein anderer Ausweg, als sich zu unterwerfen und Bertrands Befehl als Prüfung auf sich zu nehmen.

 

Er hatte seinen erniedrigenden Weg angetreten, bei Kellnern und Büffetdamen Nachfrage gehalten und war erleichtert, als man ihm im Jägerkasino sagte, daß Ruzena nicht gesehen worden sei. Auf der Stiege aber begegnete er einer der dicken Animierdamen: »Suchst wohl deine Braut, Kleiner; ist dir ausgerückt? Na, komm mit, kriegst immer noch 'ne andre.« Was wußte die von seinem Verhältnis zu Ruzena? Es war ja möglich, daß sie Ruzena getroffen hatte, aber dennoch ekelte es ihn an sie auszufragen, und er lief an ihr vorbei und in das nächste Lokal; ja, sie sei dagewesen, sagte die Dame am Büffet, gestern oder vorgestern, mehr wisse sie nicht, vielleicht könne die Toilettefrau ihm Auskunft geben. Er mußte seinen Leidensweg fortsetzen, immer wieder schamerfüllt beim Büffet, bei der Toilettefrau nachfragen, erfuhr, daß man sie gesehen oder nicht gesehen habe, daß sie sich gewaschen hatte, einmal mit einem Herrn fortgegangen wäre, daß sie recht herabgekommen ausgesehen hätte: »Wir haben ihr schon alle gut zugeredet, daß sie nach Hause gehen soll; ein Mädchen in einem solchen Zustand macht doch einem Lokal keine Ehre, aber sie hat sich hingesetzt und hat geschwiegen.« Manche dieser Leute hatten Joachim ohne weiteres als »Herr Leutnant« angesprochen, so daß der Verdacht in ihm aufgestiegen war, Ruzena hätte diese alle zu Vertrauten ihrer Liebe gemacht, hätte ihre Liebe an diese Leute verraten, und besonders waren es die Toilettefrauen, an die er immer wieder gewiesen wurde.

Dort fand er sie auch. Schlafend saß sie im Winkel eines Waschraumes unter einer Gasflamme, die Hand mit dem Ring, den sie von ihm bekommen hatte, lag weich auf der feuchten Marmorplatte des Waschtisches. Sie hatte die hohen Schuhe aufgeknöpft und unförmig hing an dem Fuß, der unter dem Kleide hervorschaute, der aufgeknöpfte Schuhteil herab, zeigte ein graues Leinenfutter. Der Hut war ein wenig nach hinten gerutscht und hatte mit seinen Nadeln die Frisur mitgezogen. Joachim wäre am liebsten fortgegangen; sie machte den Eindruck einer Betrunkenen. Er berührte ihre Hand; Ruzena öffnete mühsam die Augen; als sie ihn erkannte, schloß sie sie wieder. »Ruzena, wir müssen gehen.« Sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. Er stand ratlos vor ihr. »Geben Sie ihr 'nen herzhaften Kuß«, ermunterte ihn die Toilettefrau. »Nein«, schrie Ruzena angstvoll, sprang auf und wollte zur Türe hinaus. Sie stolperte über ihre hängenden offenen Schuhe, und Joachim hielt sie zurück. »Fräuleinchen, mit die Schuhe und mit die Frisur können Sie doch nicht auf die Straße«, bat die Toilettefrau, »der Herr Leutnant will Ihnen doch nichts Böses.« – »Lassen, auslassen, sag' ich …«, fauchte Ruzena und Joachim ins Gesicht: »Is aus, daß weißt, aus is.« Ihr Atem roch übernächtig und faulig. Doch Joachim gab ihr den Weg nicht frei; da wandte sich Ruzena um, riß die Tür zur Toilette auf und riegelte sich ein. »Is aus«, brüllte sie heraus, »sagen ihm, soll weggehen, is aus.« Joachim war auf den Stuhl neben dem Waschtisch gesunken; unfähig einen Gedanken zu fassen, wußte er bloß, daß auch dies zu den gottgewollten Prüfungen zählte, und starrte auf die halboffene braune Lade des Waschtisches, in der die Habseligkeiten der Toilettefrau, Handtücher, ein Korkzieher, eine Kleiderbürste kunterbunt durcheinander verstaut waren. »Iste weggegangen?« hörte er die Stimme Ruzenas. »Ruzena, komm heraus«, bat er. »Fräuleinchen, kommen Sie heraus«, bat die Toilettefrau, »hier ist Damentoilette und der Herr Leutnant können ja hier nicht bleiben.« – »Soll weggehen«, war Ruzenas Antwort. »Ruzena, bitte komm doch heraus«, flehte Joachim nochmals, aber Ruzena hinter ihrer verriegelten Tür blieb stumm. Die Toilettefrau zog ihn am Ärmel in den Vorraum, flüsterte ihm zu: »Sie wird herauskommen, wenn sie Herrn Leutnant nicht mehr hört. Herr Leutnant können ja unten warten.« Joachim gehorchte der Toilettefrau und im Schatten des Nebenhauses wartete er wohl eine Stunde. Dann zeigte sich Ruzena; an ihrer Seite watschelte ein dicker, bärtiger, weicher Mann. Sie blickte mit sonderbarem erstarrt-boshaftem Lächeln vorsichtig herum und dann winkte der Mann einer Droschke und sie fuhren davon. Joachim hatte gegen einen Brechreiz zu kämpfen; er schleppte sich nach Hause, wußte kaum, wie er hinkam, und vielleicht am tiefsten quälte es ihn, daß er den Gedanken nicht loswurde, der dicke Mann sei eigentlich zu bedauern, weil Ruzena doch ungewaschen sei und einen übernächtigen Geruch habe. Der Revolver lag noch auf der Kommode; er untersuchte ihn, zwei Schüsse fehlten. Die Waffe in den gefalteten Händen begann er zu beten: »Gott, nimm mich auf wie meinen Bruder, ihm warst du gnädig, sei es auch mir.« Dann aber besann er sich, daß er noch letztwillige Verfügungen zu treffen habe; und Ruzena durfte er nicht unversorgt zurücklassen, sonst hätte sie ja recht mit allem, was sie ihm angetan hatte, so unverständlich es auch war. Er suchte Tinte und Papier. Der Morgen fand ihn über den kaum beschriebenen Bogen eingeschlafen.

 

Er verheimlichte sein Erlebnis mit Ruzena, schämte sich vor Bertrand, wollte ihm den Triumph nicht gönnen, und obwohl er die Lüge verabscheute, erzählte er, er habe sie in ihrer Wohnung angetroffen. »Auch gut«, sagte Bertrand, »haben Sie die Polizei verständigt? Die könnte ihr sonst noch Schwierigkeiten bereiten.« Natürlich hatte Joachim nicht daran gedacht und Bertrand schickte einen Boten mit der entsprechenden Mitteilung zur Polizei. »Wo hat sie denn während der drei Tage gesteckt?« – »Sie sagt es nicht.« – »Auch gut.« Dieser Gleichmut und diese Sachlichkeit waren aufreizend; er hätte sich fast erschossen und jener sagte bloß: Auch gut. Aber er hatte sich nicht erschossen, weil er für Ruzena sorgen mußte, und dazu benötigte er den Rat Bertrands: »Hören Sie, Bertrand, ich werde jetzt wohl das Gut übernehmen müssen; ich habe erst daran gedacht, Ruzena, die doch Erwerb und Beschäftigung braucht, einen Laden oder etwas Ähnliches zu verschaffen …« – »Aha«, sagte Bertrand. – »... aber das geht doch nicht recht. Und da möchte ich ihr eine Geldsumme aussetzen. Wie macht man das?« – »Man überweist ihr das Geld. Aber setzen Sie ihr lieber für eine bestimmte Zeit eine Rente aus; sie bringt sonst das Geld sofort durch.« – »Ja, aber wie macht man das?« – »Wissen Sie, ich würde es Ihnen natürlich gerne durchführen, besser aber, wir lassen es durch meinen Rechtsanwalt besorgen. Ich will für morgen oder übermorgen eine Zusammenkunft vereinbaren. Im übrigen sehen Sie miserabel aus, mein Lieber.« Das sei doch gleichgültig, meinte Joachim. »Nun, was nimmt Sie denn so sehr her? Sie brauchen es sich wirklich nicht so zu Herzen zu nehmen«, sagte Bertrand mit leichter Gutmütigkeit. Seine ironischen Indiskretionen und dieser ironische Zug um den Mund sind hassenswürdig, dachte Joachim, und von ferne stieg wieder der Verdacht auf, hinter dem unerklärlichen Verhalten Ruzenas und ihrer Unzuverlässigkeit stünden Bertrands Intrigen und irgendeine gemeine Verbindung, die Ruzena ins Sinnlose getrieben hätte. Es war eine kleine Befriedigung, daß sie gewissermaßen auch Bertrand mit dem dicken Mann betrog. Der Ekel, der ihn gestern abend überkommen hatte, stellte sich wieder ein. In welchen Pfuhl war er doch geraten. Draußen floß der Herbstregen an den Scheiben herab. Jetzt mußten die Gebäude bei Borsig schwarz vor geschwemmtem Ruß sein, schwarz die Pflastersteine und der Fabrikshof, den man durch das Tor sehen konnte, ein Meer schwarzen, glänzenden Morastes. Er roch den Rauch, den der Regen von den geschwärzten Enden der langen roten Schornsteine herunterdrückte: es roch faulig, übernächtig, schweflig. Das war der Pfuhl; dort gehörten der dicke Mann und Ruzena und Bertrand hin; das war alles das nämliche wie die Nachtlokale mit ihren Gasflammen und ihren Toiletteräumen. Der Tag war zur Nacht geworden, wie die Nacht zum Tage. Ihm fiel das Wort Nachtalben ein, allerdings konnte er sich wenig darunter vorstellen. Gab es auch Lichtalben? Er hörte das Wort »jungfräuliche Lichtgestalt«. Ja, das war das Gegenteil der Nachtalben. Und nun sah er wieder Elisabeth, die anders war als alle anderen, hoch oben auf silbriger Wolke über allem Pfuhle schwebend. Vielleicht hatte er dies schon geahnt, als er die weißen Spitzenwolken in Elisabeths Zimmer gesehen und ihren Schlaf hatte bewachen wollen. Jetzt würde sie mit ihrer Mutter bald kommen, ins neue Haus einziehen. Daß es dort auch Toiletteräume gab, war eigentümlich; er empfand es als gotteslästerlich, daran zu denken. Doch nicht minder gotteslästerlich war es, daß Bertrand hier mit blondgewelltem Haar in einem weißen Zimmer wie ein junges Mädchen lag. So verbirgt Finsternis ihr wahres Wesen, läßt sich ihr Geheimnis nicht entreißen. Allein Bertrand fuhr mit besorgter Freundlichkeit fort: »Sie sehen so elend aus, Pasenow, daß man Sie auf Urlaub schicken sollte, – ein wenig reisen täte auch Ihnen gut. Sie kämen auf andere Gedanken.« Er will mich entfernen, dachte Joachim; bei Ruzena ist es ihm gelungen und jetzt will er auch Elisabeth ins Verderben stürzen. »Nein«, sagte er, »ich darf jetzt nicht fort …« Bertrand schwieg eine Weile und dann war es, als ob er Joachims Verdacht gespürt hätte und nun selber seine bösen Absichten auf Elisabeth verraten müßte, denn erfragte: »Sind die Damen Baddensen bereits in Berlin?« Bertrand lächelte noch immer teilnehmend, ja fast licht, aber Joachim, in einer Schroffheit, die ungewohnt war, erwiderte kurz: »Die Damen werden ihren Séjour in Lestow wohl noch einige Zeit ausdehnen.« Und nun wußte er, daß er am Leben bleiben müsse, daß dies seine ritterliche Pflicht war, damit nicht noch ein Schicksal durch seine Schuld ins Verderben und in die Fänge Bertrands gerate; Bertrand aber sagte bloß heiter zum Abschied: »Ich verständige also meinen Rechtsanwalt … und wenn die Sache mit Ruzena erledigt ist, so gehen Sie mir auf Urlaub. Sie haben es wirklich nötig.« Joachim entgegnete nichts mehr; sein Entschluß war gefaßt und er entfernte sich voll schwerer Gedanken. Immer war es Bertrand, der solche Gedanken erweckte. Und mit dem kleinen sozusagen vorschriftsmäßigen Ruck, den sich Joachim v. Pasenow gab, die Gedanken abzuschütteln, war es ihm plötzlich, als nähme ihn Helmuth an der Hand, als wollte Helmuth ihm wieder den Weg weisen, ihn in die Konvention und zur Pünktlichkeit zurückgeleiten, ihm die Augen wieder öffnen. Daß Bertrand, dem die gestrige Expedition zum Polizeipräsidium wohl nicht gut angeschlagen hatte, an diesem Tage wieder fieberte, bemerkte Joachim v. Pasenow allerdings nicht.

 

Die Nachrichten vom Krankenbette des Vaters lauteten unverändert trübselig. Er erkannte niemanden mehr: vegetierte dahin. Joachim ertappte sich bei der häßlich-angenehmen Vorstellung, daß man jetzt ungefährdet jeden Brief nach Stolpin schicken könne, malte sich aus, wie der Bote mit der Tasche ins Zimmer tritt und wie der Alte Brief für Brief verständnislos fallen läßt, verständnislos, selbst wenn sich eine Verlobungsanzeige darunter befände. Und das war eine Art Erleichterung und eine vage Hoffnung für die Zukunft.

Die Möglichkeit, Ruzena wiederzusehen, erfüllte ihn mit Angst, obwohl es ihm manchmal, kam er vom Dienste, unfaßbar war, sie nicht in seiner Wohnung anzutreffen. Allerdings wartete er nun auch täglich auf eine Nachricht von ihr, denn er hatte die Angelegenheit der Rente mit Bertrands Rechtsanwalt geordnet und mußte annehmen, daß Ruzena bereits verständigt worden sei. Statt dessen kam ein Schreiben des Rechtsanwaltes, mitteilend, daß die Schenkung nicht akzeptiert werde. Das ging nun doch nicht an; er machte sich auf den Weg zu Ruzena: Haus, Stiege und Wohnung erfüllten ihn mit großer Beklemmung, ja mit einer fast angstvollen Sehnsucht. Er fürchtete, wieder vor einer versperrten Türe stehen zu müssen, vielleicht gar von irgendeiner Aufräumefrau weggeschickt zu werden, und so sehr es ihm widerstrebte, in das Zimmer einer Dame einzudringen, fragte er bloß, ob sie daheim sei, klopfte an und trat ein. Das Zimmer und Ruzena waren in unordentlichem, unaufgeräumtem Zustand, sahen tartarisch und verwahrlost aus. Sie lag auf dem Kanapee, machte eine abweisende, müde Geste, als hätte sie gewußt, daß er kommen werde. Schleppend sagte sie: »Nimm von dir nichts geschenkt. Ring behalt' ich, Andenken.« Joachim konnte kein Mitleid empfinden; hatte er auf der Stiege noch die Absicht gehabt, ihr zu erklären, daß er im Grunde nicht verstehe, was sie ihm eigentlich vorwarf, so war er jetzt bloß erbittert; er konnte in alledem nur mehr Verstocktheit sehen. Dennoch sagte er: »Ruzena, ich weiß nicht, was eigentlich vorgefallen ist …« Sie lachte höhnisch auf, und seine Verbitterung über ihre Verstocktheit und Unzuverlässigkeit, die ihm Böses angetan hatte und ihm unrecht tat, stellte sich wieder ein. Nein, es hatte keinen Sinn, sie überzeugen zu wollen, und so sagte er nur, daß es ihm ein unerträglicher Gedanke sei, ihr Schicksal nicht halbwegs gesichert zu wissen, daß er es schon längst getan hätte, gleichgültig, ob sie beisammen geblieben wären oder nicht, und daß es ihm jetzt nur leichter fiele, weil er – dies setzte er mit Absicht hinzu – nun doch das Gut übernehmen müsse und daher bequemer über Geld verfügen werde. »Bist guter Mensch«, sagte Ruzena, »hast nur schlechten Freund.« Das war schließlich auch die tiefere Meinung Joachims, aber da er sie sich nicht eingestehen wollte, sagte er bloß: »Warum soll denn Bertrand ein schlechter Freund sein?« – »Schad' Wort«, entgegnete Ruzena. Verlockend erschien es, mit Ruzena eine gemeinsame Front gegen Bertrand zu bilden, aber war nicht auch dies noch eine Verlockung des Teufels und eine Intrige Bertrands? Offenbar hatte Ruzena dies gefühlt, denn sie sagte: »Mußt dich vor ihm achtgeben.« Joachim sagte: »Ich kenne seine Fehler.« Sie hatte sich auf dem Kanapee aufgerichtet und sie saßen nun dort nebeneinander. »Bist armer guter Kerl, kannst nicht wissen, wie schlecht Mensch sein kann.« Joachim versicherte, daß er das sehr gut wisse und daß man ihn nicht so leicht täuschen könne. Und so sprachen sie eine Weile über Bertrand, ohne seinen Namen zu nennen, und da sie nicht zu sprechen aufhören wollten, ließen sie von dem Thema nicht ab, bis die fade Traurigkeit, die zwischen ihren Worten dahinfloß, immer mehr anschwoll, die Worte in ihr versanken und sich mit den Tränen Ruzenas in einem Strome vereinigten, der immer breiter und langsamer wurde. Auch Joachim hatte Tränen in den Augen. Hilflos waren sie beide der Sinnlosigkeit des Daseins ausgeliefert, da sie inne geworden waren, daß sie beieinander keine Hilfe mehr finden konnten. Sie wagten nicht, sich anzusehen und schließlich sagte Joachims vergrämte Stimme leise: »Ich bitte dich, Ruzena, nimm wenigstens das Geld.« Sie antwortete nichts, doch sie hatte seine Hand ergriffen. Als er sich über sie neigen wollte, um sie zu küssen, beugte sie den Kopf, so daß er mit den Lippen zwischen ihre Haarnadeln geriet. »Geh jetzt«, sagte sie, »rasch geh«, und Joachim verließ leise das Zimmer, in dem es bereits dunkelte. –

Er verständigte den Rechtsanwalt, damit die Schenkungsurkunde neuerlich zugestellt werde; Ruzena würde sie diesmal wohl annehmen. Aber die Sanftheit, mit der Ruzena und er voneinander Abschied genommen hatten, sie bedrückte ihn stärker als die hilflose Erbitterung, in die ihr unbegreifliches Verhalten ihn vorher versetzt hatte. Unverständlich und schrecklich war es auch jetzt noch immer. Seine Gedanken an Ruzena waren voll dumpfer Sehnsucht, voll jenes widerwilligen Heimwehs, mit dem er in der ersten Kadettenzeit an das Vaterhaus und an die Mutter gedacht hatte. War der dicke Mensch jetzt bei ihr? Er mußte der Scherze gedenken, mit denen der Vater Ruzena belästigt hatte und sah nun auch hier den Fluch des Vaters, der, selber krank und hilflos, nun doch seinen Stellvertreter gesandt hatte. Ja, Gott führte den Fluch des Vaters aus; und es galt sich zu beugen.

Manchmal machte er einen schwachen Versuch, Ruzena wiederzufinden; aber wenn er dann ein paar Straßen von ihrer Wohnung entfernt war, so kehrte er stets wieder um oder bog irgendwohin ab, geriet in das Proletarierviertel oder in das Gewimmel beim Alexanderplatz, und einmal sogar bis zum Küstriner Bahnhof. Neuerlich war das Netz unentwirrbar geworden, alle Fäden waren ihm entglitten. Einziger Halt, daß wenigstens die Angelegenheit der Rente nun in Ordnung kam, und Joachim verbrachte viel Zeit bei Bertrands Rechtsanwalt, eigentlich mehr Zeit als sachlich notwendig gewesen wäre. Aber die Stunden, die er dort vertat, waren eine Art Beruhigung, und wenn dem Rechtsanwalt diese langwierigen und etwas inhaltsarmen Besuche auch nicht sehr genehm sein mochten, und wenn auch Joachim nichts von dem erfuhr, was er von Bertrands Vertreter zu erfahren hoffte, so ließ es sich der Rechtsanwalt doch nicht verdrießen, auf die bloß halbsachlichen und beinahe privaten Fragen seines vornehmen Klienten einzugehen, und er brachte ihm auch jene berufliche Besorgtheit entgegen, die zwar ein wenig an die eines Arztes erinnerte, dessenungeachtet aber Joachim wohltat. Der Rechtsanwalt, ein knapper Herr, bartlos, obschon er Bertrands Rechtsvertreter war, sah einem Engländer ähnlich. Als mit reichlicher Verspätung Ruzenas Annahmeerklärung endlich einlangte, sagte der Rechtsanwalt: »Also, das hätten wir jetzt. Aber wenn es nach mir ginge, Herr v. Pasenow, würde ich Ihnen empfehlen, der bezugsberechtigten Dame freizustellen, statt der Rente das entsprechende Kapital zu beziehen.« – »Ja«, warf Joachim ein, »ich habe aber mit Herrn v. Bertrand eben die Rente besprochen, weil …« »Ich kenne Ihre Motive, Herr v. Pasenow, und ich weiß auch – verzeihen Sie den Ausdruck –, daß Sie es nicht sehr lieben, den Stier bei den Hörnern zu packen; aber was ich vorschlage, ist im Interesse beider Parteien gelegen: für die Dame ist es ein hübsches Stück Geld, das ihr gegebenenfalls eine bessere Lebensbasis als die Rente bietet, für Sie dagegen ist es eine radikale Erledigung.« Joachim war etwas hilflos; wollte er denn eine radikale Erledigung? Der Rechtsanwalt merkte seine Hilflosigkeit: »Wenn ich die private Seite der Frage berühren darf, so hat mich meine Erfahrung gelehrt, daß stets eine Lösung vorzuziehen ist, die es ermöglicht, eine gewesene Beziehung als nichtexistent anzusehen«, Joachim schaute auf, »ja, als nichtexistent, Herr v. Pasenow. Die Konvention ist wohl immer noch der beste Leitfaden.« Das Wort des Nicht-Existenten blieb haften. Es war bloß merkwürdig, daß Bertrand durch den Mund seines Vertreters die eigene Meinung abändern ließ und nun sogar die Konvention des Gefühls anerkannte. Warum tat er das? Der Rechtsanwalt sagte noch: »Also überlegen Sie sich die Sache auch nach dieser Richtung, Herr v. Pasenow; zudem spielt ja bei Ihrer Position die Kapitalsentäußerung keine Rolle.« Ja, in seiner Position; Joachims Heimatgefühl stieg wieder warm und beruhigend auf. Er verließ das Büro des Rechtsanwalts diesmal mit einem besonders guten Gefühl, man könnte fast sagen, erhoben und gestärkt. Zwar sah er den Weg noch nicht in voller Klarheit, denn immer noch verwirrte ihn das Netz des Unsichtbaren, das über diese Stadt geworfen schien, all des Unsichtbaren, das nicht zu erfassen war und das die dumpfe unverlorene Sehnsucht nach Ruzena inhaltslos machte, dennoch mit neuem angstvollem Inhalt erfüllte, ihn selber aber auf eine so neue und so unwirkliche Art mit Ruzena und mit der Welt des Städtischen verband, daß das Netz der falschen Helligkeit zu einem Netz der Angst wurde, welches um ihn sich spannte und in dessen großer Verwirrung die Drohung lauerte, es werde nun auch Elisabeth, zurückkehrend in die Welt des Städtischen, die nicht die ihre ist, im Netze verfangen werden, die Unschuldige und Unberührte, verfangen und verknüpft im Teuflischen und Unfaßbaren, verknüpft durch seine Schuld, hineingezogen durch ihn, der sich aus der unsichtbaren Umklammerung des Bösen nicht befreien kann: so drohte noch immer die Vermischung des Hellen mit der Dunkelheit, wenn auch unsichtbar und aus weiter Ferne, wenn auch lose und unbestimmt, so doch unsauber wie das, was der Vater im Hause der Mutter mit den Mägden getrieben hatte. Trotz alledem aber fühlte Joachim die Wendung, da er nun die Kanzlei des Anwalts verließ, denn es war, als hätte sich Bertrand durch den Mund seines eigenen Vertreters Lügen gestraft: Bertrand war es gewesen, Bertrand, der ihn in das Netz des Unsichtbaren, Unfaßbaren hatte ziehen wollen, und nun hatte sein Vertreter selbst zugeben müssen, daß die Position eines Pasenow eine andere sei, außerhalb dieser Stadt und ihres Gewimmels, wenn man bloß all den Spuk als nichtexistent ansehen wollte. Ja, dies hatte ihm Bertrand durch seinen Vertreter gesagt, und so hebt sich das Böse schließlich selber auf, auch das Böse noch Untertan dem Willen Gottes, der durch den Mund des Vaters die Vernichtung und die Nichtexistenz dessen verlangt, was der Vater verflucht hat. Der Böse gibt sich geschlagen, und wenn er auch nicht ausdrücklich auf Elisabeth verzichtet, so weist er ihn doch selber an, dem Befehl des Vaters zu gehorchen. Und ohne den Rat Bertrands eigens einzuholen, beschloß Joachim, dem Rechtsanwalt die Ermächtigung zur Kapitalsauszahlung zu erteilen.

Und gleichfalls ohne Bertrand zu fragen, legte Joachim Paradeuniform und neue Handschuhe an, als er von der Ankunft der freiherrlichen Familie benachrichtigt wurde, und fuhr bei Baddensens zu einer Stunde vor, zu der er den Baron und die Baronin anzutreffen hoffte. Man wollte ihm sofort das neue Haus zeigen, doch er bat den Baron vorerst um eine Privatunterredung, und nachdem der Baron sich mit ihm zurückgezogen hatte, richtete sich Joachim mit kurzem Ruck zu einer vorschriftsmäßigen Haltung auf, stand stramm wie vor einem Vorgesetzten und hielt um die Hand Elisabeths an. Der Baron sagte: »Sehr erfreut, sehr geehrt, mein lieber, lieber Pasenow«, und rief die Baronin ins Zimmer. Die Baronin sagte: »Oh, ich habe es erwartet, eine Mutter sieht gar vieles«, und trocknete tupfend ihre Augen. Ja, er wäre ihnen als lieber Sohn sehr erwünscht, sie könnten sich wohl keinen besseren denken und wären überzeugt, daß er alles daran setzen werde, ihr Kind glücklich zu machen. Ja, er werde es tun, erwiderte er männlich. Der Baron hatte seine Hand erfaßt: aber nun müßten sie vor allem mit dem Kinde sprechen; das wäre nur begreiflich. Joachim erwiderte, daß er begreife; und hierauf verweilten sie noch ein Viertelstündchen in einem halb förmlichen, halb vertraulichen Gespräch, in dessen Verlauf Joachim es nicht hatte unterlassen können, Bertrands Verwundung zu erwähnen; dann verabschiedete er sich kurz und ohne das neue Haus oder Elisabeth gesehen zu haben, aber das hatte jetzt wenig auf sich, da er ja ein ganzes Leben hierfür Zeit haben würde.

 

Es fiel ihm selber auf, daß er ihr Jawort nicht stürmischer ersehnte und daß ihn nichts dazu drängte, die Wartezeit abzukürzen, und manchmal wunderte er sich, daß er sich von dem künftigen Leben keine Vorstellung machen konnte: er sah sich zwar, gestützt auf einen Stock mit weißer Elfenbeinkrücke, in der Mitte des Wirtschaftshofes neben Elisabeth stehen, aber dachte er näher hin, so stellte sich das Bild Bertrands dazu ein. Es wird nicht leicht sein, ihm die Verlobung mitzuteilen; schließlich war es eben Bertrand, gegen den es ging und vor dem Elisabeth bewahrt werden sollte, und streng genommen, sah es ein wenig nach Verrat aus, da er ihm Elisabeth gewissermaßen schon einmal überlassen hatte. Und wenn Bertrand es auch nicht anders verdiente, es war trotzdem unbehaglich, ihm dieses Leid anzutun. Natürlich war das kein Grund, die Verlobung hinauszuzögern; aber nun war es plötzlich, als könnte es zu dieser Verlobung überhaupt nicht kommen, wenn Bertrand nicht vorher in Kenntnis gesetzt würde. Noch war er ja verpflichtet, Bertrand im Auge zu behalten, und Joachim begriff nicht, daß er schon seit Tagen Bertrand so völlig vergessen hatte, als sei er bereits aller Pflicht enthoben. Dabei war Bertrand wahrscheinlich noch krank; er fuhr zur Klinik. Bertrand befand sich tatsächlich noch immer dort; man hatte an ihm herumoperieren müssen; Joachim war aufrichtig bestürzt, daß er den Patienten so sehr hatte vernachlässigen können, und wenn er sich nun anschickte, das bevorstehende große Ereignis zu erzählen, da war es gleichzeitig eine Art Entschuldigung für solch mangelnde Anteilnahme: »Aber ich kann Sie, lieber Bertrand, nicht immerwährend mit meinen Privatangelegenheiten behelligen.« Bertrand lächelte, und es war etwas von ärztlicher oder weiblicher Fürsorge in diesem Lächeln: »Nur zu, Pasenow, so arg ist es nicht; es macht mir Freude, sie zu hören.« Und Joachim erzählte von seiner Werbung um Elisabeth. »Ich weiß nicht, ob ich ihr Jawort erhalten werde. Allein so sehr ich es erhoffe, ich fürchte noch mehr die Absage, weil ich mich dann in all die furchtbaren Wirrnisse der letzten Monate, die Sie ja zum großen Teile miterlebt haben, rettungslos zurückgestoßen fühlen würde, während ich an ihrer Seite den Weg ins Freie wieder zu finden hoffe.« Bertrand lächelte wieder: »Wissen Sie, Pasenow, das ist zwar wunderschön gesagt, nur möchte ich Sie daraufhin nicht heiraten; aber Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bin überzeugt, daß man Ihnen bald wird gratulieren können.« Welch widerlicher Zynismus; dieser Mensch ist tatsächlich ein schlechter Freund, er ist überhaupt kein Freund, wenn man ihm jetzt auch den Milderungsgrund der Eifersucht und der Enttäuschung zubilligen muß. Joachim kehrte sich also nicht an die zynischen Worte, sondern fiel in seinen Gedankengang zurück und bat: »Was soll ich machen, wenn sie nein sagt?« Und Bertrand antwortete, was er hören wollte: »Sie wird nicht nein sagen«, sagte dies mit solcher Bestimmtheit und Sicherheit, daß Joachim wieder jenes Gefühl der Geborgenheit empfand, das ihm so oft schon von Bertrand zugeflossen war. Fast erschien es ihm nun doch ungerecht, daß Elisabeth mit ihm, dem Unsicheren, vorlieb nehmen und auf den sicheren und zuversichtlichen Führer verzichten sollte. Und wie zur eigenen Bestätigung sagte etwas in ihm: »Kameraden in des Königs Rock.« Und plötzlich sah er Bertrand als Major vor sich. Woher aber hatte der seine Zuversicht? Wie konnte der wissen, daß Elisabeth nicht nein sagen würde? Warum lächelte er so ironisch dazu? Was wußte dieser Mensch? Und er bedauerte, ihn eingeweiht zu haben.

Bertrand hätte nun allerdings manche Ursache gehabt, ironisch zu lächeln, oder richtiger vielwissend zu lächeln; aber es war doch nur ein Lächeln des Wohlwollens.

Elisabeth hatte ihn am Vortage kurzerhand besucht. Sie war in die Klinik gefahren und hatte ihn ins Sprechzimmer bitten lassen. Trotz seiner Schmerzen kam er sofort herunter. Das war ein merkwürdiger Besuch und entsprach gewiß nicht der Sitte; doch Elisabeth gab sich gar nicht die Mühe, den gesellschaftlichen Verstoß zu bemänteln; in sichtlicher Aufregung sagte sie ohne Umschweife: »Joachim hat um meine Hand angehalten.«

»Wenn Sie ihn lieben, ist es kein Problem.«

»Ich liebe ihn nicht.«

»Dann ist es ebenfalls kein Problem, denn dann werden Sie ihm einen Korb geben.«

»Sie wollen mir also nicht beistehen?«

»Ich fürchte, Elisabeth, dazu ist keiner imstande.«

»Und ich dachte, Sie könnten es.«

»Ich wollte Sie nicht wiedersehen.«

»Haben Sie keine Freundschaft für mich?«

»Ich weiß es nicht, Elisabeth.«

»Joachim liebt mich.«

»Zur Liebe gehört leider eine gewisse Klugheit, fast Weisheit. Gestatten Sie mir also, an dieser Liebe etwas zu zweifeln. Ich habe Sie schon einmal gewarnt.«

»Sie sind ein schlechter Freund.«

»Nein, aber es gibt Augenblicke, in denen man absolut aufrichtig sein muß.«

»Kann man denn zur Liebe zu dumm sein?«

»Ich sagte es eben.«

»Vielleicht bin auch ich zu dumm dazu …«

»Hören Sie, Elisabeth, mit solchen Erwägungen wollen wir uns nicht befassen, das sind keine Motive, mit denen man über sein Leben entscheidet.«

»Vielleicht liebe ich ihn …, es gab eine Zeit, in der ich nicht ungern an diese Ehe gedacht habe.« Elisabeth saß in dem breiten Krankensessel, den man in dieses kleine Sprechzimmer gestellt hatte, und sah zu Boden.

»Warum sind Sie gekommen, Elisabeth? Doch nicht, weil Sie einen Rat brauchen, den niemand Ihnen geben kann.«

»Sie wollen mir nicht helfen.«

»Sie sind gekommen, weil Sie es nicht dulden, daß jemand Sie flieht.«

»Mir ist sehr ernst zumute … Sie dürfen es nicht bagatellisieren … zu ernst, daß Sie wieder versuchen dürften, mir böse Dinge zu sagen. Ich meinte, bei Ihnen eine Art Fürsorge zu finden …«

»Aber die Wahrheit muß ich Ihnen sagen. Eben deshalb muß ich's Ihnen sagen. Sie sind gekommen, weil Sie fühlen, daß ich gewissermaßen und irgendwo außerhalb Ihrer Welt stehe, weil Sie meinen, daß es in diesem Irgendwo noch eine dritte Instanz geben könne neben der banalen Alternative: ich liebe ihn, ich liebe ihn nicht.«

»Vielleicht ist es so; ich weiß es nicht mehr.«

»Und Sie sind gekommen, weil Sie wissen, daß ich Sie liebe – ich habe es Ihnen doch deutlich genug gesagt –, und weil Sie mir zeigen wollen, wohin mich meine etwas absurde Form der Liebe führt«, er sah sie von der Seite an, »vielleicht um zu erproben, wie rasch Fremdheit in Erkenntnis umschlagen kann …«

»Das ist nicht wahr!«

»Seien wir aufrichtig, Elisabeth, es handelt sich hier für Sie und für mich um die Frage, ob Sie mich heiraten würden. Oder richtiger, ob Sie mich lieben.«

»Herr v. Bertrand, wie dürfen Sie die Situation so ausnützen!«

»Ja, das hätten Sie nicht sagen sollen, denn Sie wissen genau, daß dies nicht der Fall ist. Sie stehen vor einer Lebensentscheidung, dürfen sich also nicht in Konventionalismen verlieren. Natürlich kommt es bloß darauf an, ob eine Frau den Mann als Liebhaber will und nicht darauf, ob sie eine Menage miteinander gründen wollen. Wenn ich diesem Joachim etwas verdenke, so ist es, daß er das einzig Wesentliche nicht offen mit Ihnen ins reine gebracht, sondern Sie mit der sogenannten Werbung bei den Eltern geradezu entwürdigt hat. Passen Sie auf, hinterher gibt es dann noch den Kniefall.«

»Sie wollen mich wieder quälen. Ich hätte nicht herkommen dürfen.«

»Nein, Sie hätten nicht kommen dürfen, weil ich Sie nicht mehr sehen wollte, aber du mußtest kommen, weil du mich …«

Sie hielt sich die Ohren zu.

»Oder richtiger, Sie glauben von ferne, daß Sie mich lieben könnten.«

»Quälen Sie mich doch nicht; bin ich denn nicht schon genügend gequält?« Die Hände an den Schläfen lag sie mit zurückgebeugtem Kopf und geschlossenen Augen im Lehnsessel; so pflegte sie auch in Lestow zu sitzen und dieses Hineingleiten ins Gewohnte machte ihn lächeln und beinahe zärtlich. Er stand hinter ihr. Der Arm in der Schlinge schmerzte und machte ihn unbeholfen. Aber es gelang ihm, sich herabzubücken und ihre Lippen mit den seinen zu berühren. Sie fuhr auf: »Das ist Wahnsinn.«

»Nein, es ist nur ein Abschied.«

Mit einer Stimme, die nicht weniger bleich war als ihr Gesicht, sagte sie:

»Sie durften nicht, Sie nicht …«

»Wer darf Sie küssen, Elisabeth?«

»Sie lieben mich nicht …«

Bertrand ging nun im Zimmer auf und ab. Der Arm schmerzte und er fühlte sich fiebrig. Sie hatte recht, es war ja Wahnsinn. Plötzlich wandte er sich um, stand knapp vor ihr: ohne sein Zutun klang es drohend:

»Ich liebe dich nicht?«

Sie stand unbeweglich mit herabhängenden Armen, ließ es geschehen, daß er ihren Kopf zurückbog. Noch bei ihrem Gesicht wiederholte er drohend: »Ich liebe dich nicht?« und sie hatte das Gefühl, daß er sie in den Mund beißen werde, aber es wurde ein Kuß. Und während unbegreiflich die Erstarrung ihres Mundes zu einem Lächeln schmolz, wich die Gelähmtheit ihrer Hände, die herabgehangen waren und sich nun hoben mit der Gelöstheit ihres Gefühls, an seinen Schultern sich festzuhalten, um nie mehr sie loszulassen. Da sagte er: »Geben Sie acht, Elisabeth, ich bin dort verwundet.«

Entsetzt ließ sie los: »Verzeihen Sie.« Aber dann schwand ihr die Kraft: auf dem Lehnstuhl fiel sie in sich zusammen. Er saß auf der Lehne, zog die Nadeln aus dem Hute, streichelte das blonde Haar. »Wie bist du schön und wie sehr liebe ich dich.« Sie schwieg, ließ es geschehen, daß er ihre Hand hielt, spürte die Fieberhitze der seinen, spürte die Hitze seines Gesichtes, als er sich nochmals ihr näherte. Als er heiser wiederholte, »ich liebe dich«, schüttelte sie den Kopf, überließ ihm aber ihre Lippen. Dann endlich konnte sie weinen.

Bertrand saß auf der Lehne des Stuhles, strich ihr leicht übers Haar; er sagte:

»Ich sehne mich nach dir.« Sie antwortete weich: »Es ist ja nicht wahr.«

»Ich sehne mich nach dir.«

Sie antwortete nicht, schaute ins Leere. Er berührte sie nicht mehr; er war aufgestanden und sagte nochmals: »Unsagbar sehne ich mich nach dir.«

Nun lächelte sie: »Und gehst fort?«

»Ja.«

Sie blickte ungläubig und fragend auf; er wiederholte: »Nein, wir werden uns nicht mehr sehen.«

Sie begriff noch immer nicht. Bertrand lächelte:

»Kannst du dir vorstellen, daß ich jetzt bei deinem Vater um dich anhalten werde? Daß ich alles, was ich gesagt habe, jetzt verleugne? Es wäre eine höchst meskine Komödie gewesen; eine höchst plumpe Bauernfängerei.«

Sie fand sich irgendwie zurecht, konnte doch nicht verstehen.

»Warum aber dann? Warum …?«

»Ich kann dich doch nicht bitten, meine Geliebte zu werden, mit mir zu kommen …, natürlich könnte ich es und du tätest es schließlich auch …, vielleicht aus Romantik …, vielleicht, weil du mich jetzt wirklich gern hast … jetzt natürlich … oh, du …«, sie versanken in einem Kuß, »... aber schließlich kann ich dich nicht in eine schiefe Situation bringen, selbst wenn sie vielleicht für dich wertvoller sein könnte als …, sagen wir es geradeheraus, die Heirat mit diesem Joachim.«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Sie können noch immer daran denken, daß ich ihn heirate?«

»Natürlich; es ist« – und um sich aus der unerträglichen Spannung ins Spaßhafte zu retten, sah er auf die Uhr – »zwanzig Minuten her, daß wir beide daran gedacht haben. Entweder hätte der Gedanke schon vor zwanzig Minuten unerträglich sein müssen oder er ist auch jetzt erträglich.«

»Sie sollen jetzt nicht spaßen …«, angstvoll, »oder ist es dein Ernst?«

»Ich weiß nicht … das weiß niemand von sich.«

»Du weichst aus oder es macht dir Freude, mich zu quälen. Sie sind zynisch.«

Bertrand sagte ernst: »Soll ich dich belügen?«

»Du belügst dich vielleicht selbst … vielleicht weil du … ich weiß nicht warum … aber etwas ist nicht echt … nein, du liebst mich nicht.«

»Ich bin egoistisch.«

»Du liebst mich nicht.«

»Ich liebe dich.«

Sie sah ihn voll und ernsthaft an: »Soll ich also Joachim heiraten?«

»Ich darf dir trotzdem nicht nein sagen.«

Sie löste ihre Hände aus den seinen, saß lange stumm. Dann stand sie auf, suchte ihren Hut, steckte die Nadeln fest: »Leb wohl, ich werde heiraten … vielleicht ist es zynisch, aber das darf dich nicht wundern … wir begehen vielleicht beide das schwerste Verbrechen an uns … leb wohl.«

»Leb wohl, Elisabeth, vergiß diese Stunde nicht; es ist meine einzige Rache an Joachim, … ich werde dich nie mehr vergessen können.«

Sie fuhr mit der Hand über seine Wange. »Du fieberst«, sagte sie und ging rasch aus dem Zimmer.

Solches hatte sich zugetragen und Bertrand hatte es mit einem schweren Fieberanfall bezahlt. Aber das schien ihm richtig und gut, es legte Entfernung zwischen gestern und heute. Und machte es ihm möglich, Joachim, der nun hier, im gleichen Hause – war es das gleiche? – vor ihm saß, wieder mit dem gewohnten Wohlwollen zu betrachten. Nein, es wäre grotesk gewesen. So sagte er: »Haben Sie keine Sorge, Pasenow, Sie landen schon im Hafen der Ehe. Und viel Glück dazu.« Ein unritterlicher und zynischer Mensch, mußte Joachim neuerlich denken und war trotzdem dankbar und beruhigt. Vielleicht war es die Erinnerung an den Vater oder war es bloß der Anblick Bertrands, aber der Gedanke an die Ehe vermischte sich merkwürdig mit dem Bilde eines stillen Krankenzimmers, durch das weißgekleidete Nonnen huschen. Zart und nonnenhaft war Elisabeth, weiß in ihrer Silberwolke, und er entsann sich eines Madonnenbildes, einer Assunta, die er in Dresden gesehen zu haben glaubte. Er nahm seine Mütze vom Haken. Joachim fühlte sich von Bertrand in diese Ehe hineingedrängt und hatte nun den bizarren Einfall, Bertrand wolle ihn damit ins Zivilistische hinabziehen, wolle ihn seiner Uniform und des Platzes beim Regiment berauben, um an seiner Statt zum Major zu avancieren; und als Bertrand ihm die Hand zum Abschied gab, merkte er nicht, wie fieberheiß sie war. Doch er dankte Bertrand für seine guten Worte und steif und viereckig in seinem langen Uniformrock ging er von dannen. Bertrand hörte noch das leise Sporenklirren auf der Stiege und mußte daran denken, daß Joachim jetzt unten beim Sprechzimmer vorüberging.

 

Seine Werbung war angenommen. Allerdings, schrieb der Baron, wolle Elisabeth noch keine offizielle Verlobung feiern. Sie habe eine gewisse Scheu vor dem endgültigen Schritt; aber Joachim werde für den nächsten Abend zum Souper erwartet.

Wenn es auch noch nicht als richtige Verlobung galt, wenn auch Joachim weder von Elisabeth, noch von den künftigen Schwiegereltern das trauliche Du angeboten wurde, ja wenn der Ton bei Tische fast ein steifer war, unverkennbar lag es wie Festeßstimmung in der Luft, insbesondere als der Baron an sein Glas klopfte und mit vielen schönen Worten den Gedanken umschrieb, daß eine Familie ein geschlossenes Ganzes sei und nicht leicht ein neues Mitglied in ihren Kreis einlassen könne; wenn dies aber nach Gottes Fügung doch geschehe, so soll es von ganzem Herzen geschehen und die Liebe, die die Familie zusammenhalte, werde dann auch den Neuankömmling umschließen. Die Baronin hatte Tränen in den Augen und hielt gerührt die Hand ihres Gatten gefaßt, als er von der Liebe sprach, und Joachim hatte das warme Gefühl, daß er es hier gut haben werde; im Schoße der Familie, sagte er sich, und es fiel ihm die Heilige Familie ein. Ja, Bertrand hätte wahrscheinlich gelächelt und sich über die Rede des Barons mokiert, aber wie billig war solcher Spott. Die unverständlichen Witzeleien, aus denen damals Bertrands Tischrede bestanden hatte – wie weit lag dies zurück –, waren sicherlich angreifbarer als das innige Gemüt, das aus den Worten des Barons herauszuhören war. Dann stießen alle mit den Gläsern an, daß es hell erklang und der Baron rief: »Auf die Zukunft!«

Nach dem Souper ließ man die jungen Leute allein, damit sie sich aussprechen könnten. Sie saßen in dem neueingerichteten Musikzimmer mit den schwarzen Seidenmöbeln, auf denen von der Baronin und von Elisabeth angefertigte Spitzenschoner angenadelt waren, und während Joachim nach dem rechten Worte suchte, hörte er Elisabeth fast fröhlich sagen: »Also Sie wollen mich heiraten, Joachim; haben Sie sich das auch richtig überlegt?« Wie undamenhaft, dachte er, beinahe könnte Bertrand so sprechen. Was aber sollte er tun? Sollte er sich jetzt auf ein Knie niederlassen, um seine Werbung anzubringen? Das Glück war ihm hold, denn das Taburett, auf dem er Platz genommen hatte, war so nieder, daß er, wenn er sich zu Elisabeth hinüberwandte, ohnehin mit dem Knie fast den Boden berührte, und, wollte man es so auffassen, dies immerhin als angedeuteter Kniefall genommen werden konnte. In dieser etwas gezwungenen Stellung verblieb er denn auch und sagte: »Werde ich hoffen dürfen?« Elisabeth antwortete nicht; er sah zu ihr hinüber; sie hatte den Kopf zurückgelegt und ihre Lider waren halb geschlossen. Als er jetzt in ihr Gesicht schaute, empfand er es unangenehm, daß man ein Stück Landschaft in ein Haus versetzen könne; ach, es war die Erinnerung, die er gefürchtet hatte, es war der Mittag unter den Herbstbäumen, es war das verfließende Bild, um dessentwillen er beinahe gewünscht hatte, daß die Zustimmung des Barons noch länger ausgeblieben wäre. Denn ärger als der Bruder im Antlitz der Frau ist die Landschaft, die es überwuchert, Landschaft, die Besitz ergreift und die das entmenschlichte Antlitz in sich saugt, so daß selbst Helmuth nicht mehr helfen könnte, des Verschwimmenden und Verfließenden habhaft zu werden. Sie sagte: »Haben Sie den Heiratsplan mit Ihrem Freund Bertrand besprochen?« Er durfte dies, ohne gegen die Wahrheit zu verstoßen, verneinen. »Aber er wußte davon?« Ja, erwiderte Joachim, er habe sein Vorhaben angedeutet. »Und was sagte er?« Er habe ihm bloß Glück gewünscht. »Hängen Sie sehr an ihm, Joachim?« Joachim empfand ihr Sprechen und ihre Stimme als wohltuend; es brachte ihm zu Bewußtsein, daß er einem menschlichen Wesen und nicht einer Landschaft gegenübersaß. Dennoch war es beunruhigend. Was wollte sie mit Bertrand? Wo wollte sie damit hinaus? Es war irgendwie ungehörig, in dieser Stunde von Bertrand zu sprechen, obwohl es Erleichterung war, überhaupt ein Gesprächsthema gefunden zu haben. Und weil er es nicht loslassen konnte und auch weil er die Verpflichtung fühlte, mit seiner künftigen Gattin völlig aufrichtig zu sein, sagte er zögernd: »Ich weiß es nicht; ich habe eigentlich immer das Gefühl, daß er der aktive Teil in unserer Freundschaft ist, aber sehr oft bin ich es, der ihn aufsucht. Ich weiß nicht, ob man dies als An-ihm-Hängen bezeichnen kann.« – »Sie sind von ihm beunruhigt?« – »Ja, das ist das richtige Wort … ich bin immer wieder von ihm beunruhigt.« – »Er ist ein unruhiger und deshalb wohl auch ein beunruhigender Mensch«, sagte Elisabeth. Ja, das sei er, antwortete Joachim und spürte den Blick Elisabeths auf sich, mußte sich neuerdings wundern, daß diese durchsichtigen, gewölbten Sterne, links und rechts neben einer Nase, so etwas wie einen Blick aussenden konnten. Was ist ein Blick? Er griff an die eigenen Augen und nun war Ruzena da und Ruzenas Augen, die er entzückt durch die Lider hindurchgetastet hatte. Unvorstellbar, daß er Elisabeth je über die Augen werde streichen können; vielleicht war es richtig, wie man es in der Schule gelernt hatte und es gab Kälte, von der man Brandwunden davonträgt; Kälte des Weltalls fiel ihm jetzt ein, Kälte der Sterne. Dort schwebte Elisabeth auf silberner Wolke, unberührbar ihr gelöstes, verfließendes Antlitz, und er empfand es wie eine grausame Störung, daß Vater und Mutter sie geküßt hatten, als die Tafel aufgehoben wurde. Doch aus welcher Sphäre stammte jener, dessen Geschöpf und Opfer sie fast geworden wäre? Hatte Gott ihr und ihm den Versucher gesandt, so ist es zu einem Teil der auferlegten Prüfung geworden, Elisabeth von solch irdischer Anfechtung zu erlösen! Gott thront in absoluter Kälte und seine Gebote sind erbarmungslos, sie greifen ineinander wie die Zahnräder an den Maschinen bei Borsig und all dies war so zwingend, daß Joachim beinahe befriedigt war, bloß einen einzigen Weg zur Erlösung zu sehen, den geraden Weg der Pflicht, mochte er auch selber daran verbrennen. »Er wird bald nach Indien reisen«, sagte er. »Ja, Indien«, erwiderte sie. »Ich habe lange gezögert«, sagte er, »denn ich kann Ihnen ja bloß ein einfaches Leben auf dem Lande bieten.« – »Wir sind anders als er«, erwiderte sie. Joachim war gerührt, daß sie »wir« gesagt hatte. »Er ist vielleicht entwurzelt«, sagte er, »und vielleicht sehnt er sich zurück.« Elisabeth sagte: »Jeder ist in sich beschlossen.« – »Doch haben wir nicht das bessere Teil behalten?« fragte Joachim. »Wir wissen es nicht«, sagte Elisabeth. »Ja, doch«, empörte sich Joachim, »denn er lebt für Geschäfte und er muß kalt und gefühllos sein. Denken Sie doch an Ihre Eltern, an die Worte Ihres Herrn Vaters. Er aber nennt es Konvention; ihm fehlt die wahre Innigkeit und Christlichkeit.« Er verstummte: ach, das Gesagte, es war ja nicht echt gewesen, denn was er von Gott und von Elisabeth erwartete, war nicht gleichbedeutend mit dem, was unter christlichem Hausstand zu verstehen man ihn gelehrt hatte; aber eben weil er von Elisabeth mehr erwartete, wollte er seine Worte in die Nähe jener Sphäre des Himmlischen zwingen, in der Elisabeth sich ihm offenbaren sollte als zarteste silberne schwebendste Madonna. Vielleicht müßte sie erst sterben, um so zu ihm sprechen zu können, denn wie sie dort zurückgelehnt saß, sah sie aus wie Schneewittchen im Glassarg und war so sehr von jener höheren wunderbaren Lieblichkeit und himmlischen Lebendigkeit, daß ihr Gesicht kaum mehr jenem ähnelte, das er im Leben gekannt hatte, bevor es erschreckend und unlösbar in die Landschaft verwoben wurde. Der Wunsch, Elisabeth möge tot sein und ihre Stimme möge ihm engelhaft jenseitige Botschaft geben, wurde sehr groß und die außerordentliche Spannung, die durch diesen Wunsch erzeugt wurde, oder die es sogar selber gewesen war, die den Wunsch in ihm hervorgebracht hatte, erlangte solche Stärke, daß wohl auch Elisabeth von der Welle angstvoller Kälte ergriffen ward, als sie sagte: »Er braucht nicht die schützende Wärme des Beisammenseins wie wir.« Doch sie enttäuschte Joachim mit diesen irdischen Worten, und wenn auch das Schutzbedürfnis, das aus ihnen klang, sein Herz bewegte und das Bild der erdenwallenden Maria, ehe sie zum Himmel anstieg, in ihm erweckte, so wußte er doch, daß seine Kräfte zu solchem Schutz kaum ausreichten, und in derlei zwiefacher Enttäuschung wünschte er mit zwiefacher Innigkeit einen zarten und sanften Tod für sie beide. Und weil vor dem Tode, preisgegeben dem Atem des Ewigen, die Maske von dem Antlitz fällt, sagte Joachim: »Er wäre Ihnen stets fremd geblieben«, und dies erschien ihnen beiden von einer großen und bedeutungsvollen Wahrheit zu sein, obwohl sie kaum mehr wußten, daß es Bertrand war, von dem sie sprachen. Gleich gelben Schmetterlingen, schwarze Streifen auf gelbgezackten Flügeln, brannte der Gasflammenkreis im Kranze des Lüsters über schwarzseidenem Katafalk, auf dem Joachim noch immer mit steifgewandtem Oberkörper und gebeugtem Knie unbeweglich saß, und die weißen Spitzendecken auf der schwarzen Seide waren wie die Bilder von Totenköpfen. In die Unbeweglichkeit der Kälte hinein glitten die Worte Elisabeths: »Er ist einsamer als die anderen«, und Joachim erwiderte: »Sein Dämon treibt ihn fort.« Elisabeth aber schüttelte kaum merklich den Kopf: »Er hofft auf Erfüllung …«, und dann sagte sie noch wie aus einem starren Erinnern: »Erfüllung und Erkennen in der Einsamkeit und Fremdheit.« Joachim schwieg; nur widerwillig nahm er den Gedanken auf, der kalt und unverständlich zwischen ihnen hing: »Er ist fremd … er stößt uns alle fort, denn Gott will, daß wir einsam seien.« – »Ja, das will er«, sagte Elisabeth und es war nicht zu entscheiden, ob sie Gott oder Bertrand gemeint hatte; aber darauf kam es jetzt nicht mehr an, denn die Einsamkeit, die über sie und Joachim verhängt war, war ja hereingebrochen, ließ das Gemach trotz seiner traulichen Vornehmheit zu immer größerer angstvoller Regungslosigkeit erstarren; regungslos sie beide, war es ihnen, als ob um sie der Raum sich weitete, und als ob mit den weichenden Wänden die Luft immer dünner und kälter würde, so dünn, daß sie die Stimme kaum mehr trug. Und obwohl alles in Regungslosigkeit erstarrt blieb, schienen die Möbel, schien das Piano, auf dessen schwarzer Lackfläche der Kreis der Gaslichter sich noch spiegelte, nicht mehr an der Stelle zu stehen, wo sie vordem gestanden, sondern weit draußen, und auch die goldenen Drachen und Schmetterlinge auf dem schwarzen chinesischen Paravent in der Ecke waren hinweggehuscht, aufgesaugt gleichsam von den weichenden Wänden, die wie mit schwarzen Tüchern verhängt waren. Die Lichter surrten mit einem kleinen giftigen Pfeifen und neben ihrer winzigen mechanischen Lebendigkeit, die aus unanständig geöffneten schmalen Spalten höhnisch hervorschoß, gab es kein Leben mehr. Nun wird sie bald sterben, dachte Joachim und fast war es Bestätigung, da er ihre Stimme in der Leere vernahm: »Sein Tod wird einsam sein«; es klang nach Todesurteil und nach Verheißung, einer Verheißung, die er bekräftigte: »Er ist krank und es mag bald sein; vielleicht in diesem Augenblick.« – »Ja«, sagte Elisabeth aus dem Jenseits und es war wie ein Tropfen, der im Auffallen zu Eis wird, »ja, in diesem Augenblicke«, und in der starren Unentscheidbarkeit dieser Sekunde, in der der Tod neben ihnen stand, wußte Joachim nicht, ob sie beide es waren, die er berührte, oder Bertrand oder den Vater, wußte nicht, ob die Mutter hier saß, sein Sterben zu überwachen, pünktlich und gelassen wie sie das Melken im Kuhstall und das Sterben des Vaters überwacht, und nun wurde es auch nahe und verständlich und seltsam klar, daß der Vater fror und nach der dunklen Wärme des Kuhstalls sich sehnte. War es nicht besser, jetzt mit Elisabeth zu sterben, von ihr sich in die gläserne Helligkeit geleiten zu lassen, die über dem Dunkeln schwebte! Er sagte: »Eine furchtbare Dunkelheit wird um ihn sein und keiner wird kommen, ihm zu helfen.« Doch Elisabeth sagte hart: »Keiner darf kommen«, und mit der gleichen grauen, tonlos harten Stimme sprach sie weiter in die Leere hinein, schloß im gleichen Atem an, der doch Atem nicht mehr war, »ich werde Ihre Frau werden, Joachim«, und wußte selber nicht mehr, ob sie es gesagt hatte, denn Joachim saß unverändert reglos verdrehten Oberkörpers und antwortete nichts. Nichts ereignete sich, und wenn es auch nicht länger währte als der Augenblick, in dem ein Auge erlischt und starr wird, so war die Spannung dennoch von solcher Leere und Ungewißheit erfüllt, daß Elisabeth es nochmals sagte: »Ja, ich werde Ihre Frau werden.« Joachim aber wollte es nicht hören, denn ihre Stimme zwang ihn, den Weg zurückzugehen, auf dem es kein Zurück mehr gab. Mit großer Anstrengung versuchte er sich ihr zuzuwenden; es gelang kaum, nur das halbgebeugte Knie berührte jetzt wirklich den Boden, seine Stirne, auf der kalter Schweiß stand, neigte sich und seine Lippen trocken und kühl wie Pergament streiften ihre Hand, die so eisig war, daß er ihre Fingerspitzen nicht zu fassen wagte, auch dann noch nicht, als das Zimmer langsam wieder zusammenschrumpfte und die Möbel ihre alten Plätze eingenommen hatten.

So blieben sie, bis sie die Stimme des Barons im Nebenzimmer vernahmen. »Wir müssen hineingehen«, sagte Elisabeth. Dann traten sie in den hellerleuchteten Salon und Elisabeth sagte: »Wir haben uns verlobt.« – »Mein Kind«, rief die Baronin aus und schloß Elisabeth unter Tränen in ihre Arme. Doch der Baron, dessen Augen nicht minder feucht waren, rief: »Nun wollen wir aber fröhlich sein und Gott für diesen glücklichen Tag danken«, und Joachim liebte ihn für diese herzlichen Worte und fühlte sich in seine Hut gestellt.

 

Aus dem apathischen Halbschlaf, in den seine Müdigkeit unter dem Gerassel der Droschkenräder auf der Heimfahrt verfiel, formte sich deutlicher der Gedanke, daß sein Vater und Bertrand heute gestorben seien, und fast wunderte er sich, keinerlei Trauernachricht in seinem Zimmer vorzufinden, denn das hätte zur wiedergewonnenen Pünktlichkeit des Lebens gehört. Immerhin durfte man auch einem toten Freunde die Verlobung nicht verheimlichen. Der Gedanke verließ ihn nicht und am nächsten Morgen steigerte er sich sogar zu einer Art Gewißheit, und wenn schon nicht zu einer Gewißheit des Todes, so doch der Nicht-Existenz: der Vater und Bertrand waren aus diesem Leben geschieden, und wenn er auch selber an solchem Tode mitschuldtragend war, so blieb doch alles in geruhsamer Gleichgültigkeit, und er mußte nicht einmal mehr darüber nachdenken, ob es Elisabeth oder Ruzena war, die er jenem geraubt hatte. Ihm war der Auftrag geworden, hinter jenem herzugehen, ihn im Auge zu behalten, und der Weg, auf dem er ihm hatte folgen müssen, war jetzt zu Ende, das Geheimnis war erloschen; es galt nur mehr, von dem toten Freunde Abschied zu nehmen. »Eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich«, sagte er vor sich hin. Er hatte Zeit; er ließ die Droschke halten, um einen Strauß für seine Braut und für die Baronin zu bestellen, und ohne Eile begab er sich in die Klinik. Aber als er die Klinik betrat, sagte ihm niemand etwas von der Katastrophe; als ob nichts geschehen wäre, wurde er in gewohnter Weise zu Bertrands Zimmer gewiesen: erst von der Schwester, der er auf dem Korridor begegnete, erfuhr er, daß die Nacht zwar schlecht gewesen sei, daß Bertrand sich jetzt aber besser fühle. Joachim wiederholte mechanisch: »Er fühlt sich besser, … ja, das ist erfreulich, sehr erfreulich.« Es war, als hätte Bertrand ihn neuerdings betrogen und hintergangen, und dies steigerte sich zur Überzeugung, da er von ihm mit den heiteren Worten begrüßt wurde: »Also ich schätze, daß man heute gratulieren darf.« Woher weiß er das, fragte sich Joachim und war trotz seines Ärgers beinahe stolz, weil solches Mißtrauen durch seine neue Stellung als Bräutigam gewissermaßen legitimiert wurde: ja, er sei so glücklich, ihm seine Verlobung melden zu dürfen. Bertrand schien doch weich gestimmt. »Sie wissen, daß ich Sie gerne habe, Pasenow«, sagte er – Joachim empfand es als Zudringlichkeit –, »und deshalb wünsche ich Ihnen und Ihrer Braut von ganzem Herzen Glück.« Wieder klang es herzlich und aufrichtig und dennoch wie ein Hohn: er, der alles immer im voraus wußte, er, der es doch gewollt und herbeigeführt hatte, wenn auch bloß als Werkzeug eines höheren Willens, er entglitt nun, da er das Werk vollendet sah, mit einer glatten, herzlichen Gratulation. Joachim war irgendwie erschöpft; er setzte sich zu dem Tisch in der Mitte des Zimmers, sah auf Bertrand, der blond und beinahe mädchenhaft im Bette lag und sagte ernst: »Ich hoffe, daß sich nun doch alles zum Guten wenden wird«, und Bertrand sagte obenhin und mit jener leichten Sicherheit, die Joachim stets aufs neue beruhigend und beunruhigend in ihren Bann zog: »Seien Sie versichert, lieber Pasenow, daß es sich zum Allerbesten wenden wird … zumindest für Sie.« Joachim wiederholte: »Ja, zum Besten …«, doch dann begriff er nicht: »... warum nur für mich?« Bertrand lächelte, und es mit einer ein wenig verächtlichen Handbewegung abtuend: »Nun, wir … wir sind ein verlorenes Geschlecht …«, gab aber keine weitere Erklärung, sondern fügte unvermittelt an: »Und wann wird geheiratet?«, so daß Joachim weiteres Fragen vergaß und sofort antwortete: ja, das hätte noch seine Wege; vor allem sei doch die Krankheit des Vaters zu berücksichtigen. Bertrand betrachtete Joachim, der steif-korrekt ihm zugewendet beim Tische saß: »Um zu heiraten, müssen Sie doch nicht sofort aufs Gut zurück«, sagte Bertrand. Joachim erschrak: es sollte wohl alles vergebens geschehen sein! Immer hatte Bertrand von der Notwendigkeit der Gutsübernahme gesprochen, hatte Ruzena ins Unglück gestürzt, und jetzt sagte er, daß er nicht aufs Gut zurückzukehren brauchte, als wollte er ihm die Freude an seinem Besitze nehmen und ihn auch noch der Heimat berauben! Mit welchen Winkelzügen hatte Bertrand ihn zu alledem gebracht, und jetzt schob er die Verantwortung von sich und verschmähte sogar den Sieg, ihn zu sich ins Zivilistische herabgezogen zu haben, verstieß ihn auch hier noch! Es war das Böse um des Bösen willen, was jener trieb, und Joachim sah ihn mit empörter Verwunderung an. Doch Bertrand bemerkte bloß die Frage in seinem Blick: »Nun«, sagte er, »Sie erwähnten unlängst, daß Sie knapp vor dem Rittmeister stünden, und dieses Avancement werden Sie ja noch abwarten wollen. Rittmeister a. D. klingt wirklich besser als Leutnant a. D.« – jetzt schämt er sich, der Sekondeleutnant, dachte Joachim und gab sich einen kleinen, gleichsam vorschriftsmäßigen Ruck –, »und während dieser wenigen Monate wird sich die Krankheitssituation bei Ihrem Herrn Vater schon geklärt haben.« Joachim hätte gerne gesagt, daß ihm verheiratete Offiziere merkwürdig erschienen, und daß er sich nach seiner Scholle zurücksehne, aber das durfte er nicht sagen, und so meinte er bloß, daß die von Bertrand angeregte Lösung auch einem Herzenswunsch seiner künftigen Schwiegereltern entgegenkäme, die das neue Haus im Westend gerne von Elisabeth bewohnt sehen würden. »Nun also, lieber Pasenow, alles fügt sich zum Besten«, sagte Bertrand und dies war wieder eine recht unangebrachte und häßliche Überheblichkeit, »außerdem könnten Sie Ihr Avancement sicherlich beschleunigen, wenn Sie Ihrem Kommandeur Mitteilung machen, daß Sie nach Erhalt des Patents aus dem aktiven Dienste scheiden wollen.« Auch damit hatte er recht, aber es war ärgerlich, daß Bertrand sich sogar in militärische Dinge hineinmischte. Nachdenklich nahm er Bertrands Stock vom Tische, besah die Krücke, fuhr mit dem Finger über den federnden Wulst der schwarzen Gummikapsel am Ende; ein Rekonvaleszentenstock. Daß jener so zur Heirat drängte, erfüllte ihn mit neuem Mißtrauen. Was steckte hier wieder dahinter? Gestern abend hatten er und Elisabeth den Eltern erklärt, daß sie die Heirat nicht übereilen mochten, hatten alle Hindernisse aufgezählt, und nun wollte dieser Bertrand die Hindernisse einfach wegblasen. »Dennoch werden wir die Hochzeit nicht überstürzen können«, sagte Joachim eigensinnig. »Nun«, meinte Bertrand, »mir tut es nur leid, daß ich Ihnen dann bloß aus weiter Ferne ein Glückwunschtelegramm werde schicken können, irgendwoher aus Indien oder von sonstwo. Denn sobald ich wieder halbwegs auf dem Damme bin, reise ich ab … Die Sache hat mich doch etwas angegriffen.« Welche Sache? Der Streifschuß? Es war richtig, daß Bertrand leidend aussah, Rekonvaleszenten tragen immer Stöcke, aber was war vorher schon geschehen? Was wußte Bertrand von der heutigen Nacht? Eigentlich dürfte Bertrand nicht fortreisen, ehe dies alles geklärt war, und Joachim überlegte, ob Helmuth, der sich seinem Gegner offen gestellt hatte, nicht doch viel ehrenhafter gewesen war als er selber; hieß es nicht auch hier: Klärung oder Tod? Er aber wollte beides und doch zugleich beides nicht. Der Vater hatte recht; er war ehrlos wie dieser Bertrand, ein Freund, der doch kaum mehr Freund zu nennen war. Und das war trotzdem beinahe befriedigend, denn es mußte wohl auch in den Intentionen des Vaters liegen, daß man Bertrand nicht zur Hochzeit zu laden brauchte. Nichtsdestoweniger hörte er Bertrand ruhig an: »Noch eines, Pasenow; ich habe den Eindruck, daß das Gut, soweit nicht Ihre Frau Mutter sich drum kümmert und soweit es nicht automatisch läuft, immerhin recht herrenlos ist. In seinem leidenden Zustand kann Ihr Herr Vater unter Umständen überdies einen beträchtlichen Schaden anrichten. Verzeihen Sie, wenn ich mich verpflichtet fühle, Sie auf die Möglichkeit einer Entmündigung aufmerksam zu machen. Und nehmen Sie einen tüchtigen Verwalter; der macht sich jedenfalls bezahlt. Ich meine, Sie sollten mit Ihrem Schwiegervater darüber sprechen; er ist doch auch Landwirt.« Ja, er redete wie ein niedriger agent provocateur, aber Joachim mußte ihm für den Rat, dessen wohlmeinende Richtigkeit er einsah, trotzdem danken und sogar die Hoffnung aussprechen, ihn bis zu seiner Genesung auch noch öfters zu sehen. »Gerne«, sagte Bertrand, »und legen Sie mich Ihrer Braut zu Füßen.« Dann sank er erschöpft in die Kissen zurück.

Zwei Tage später erhielt Joachim einen Brief, in welchem Bertrand ihm mitteilte, daß sein Zustand sich wesentlich gebessert habe, und daß er in eine Klinik nach Hamburg übersiedle, um dem Sitz seiner Geschäfte näher zu sein. Doch würden sie sich vor seiner Orientreise gewiß noch treffen können. Angesichts dieser anmaßlichen Selbstverständlichkeit, mit der Bertrand die Zusammenkunft in Aussicht nahm, beschloß Joachim, sie unter allen Umständen zu vermeiden. Aber er litt darunter, daß er der Sicherheit und der Leichtigkeit des Freundes und seiner Lebensgewandtheit fortab entraten sollte.

 

Hinter dem Leipziger Platz befindet sich ein Laden, der sich äußerlich kaum von seinen Nachbarn unterscheidet, es sei denn, man stoße sich daran, daß in seinen Fenstern keinerlei Waren zur Schau gestellt sind, sondern daß Mattglasscheiben mit schön eingeätzten pompejanischen und Renaissance-Motiven den Einblick in das Innere verwehren. Aber diese Aufmachung teilt der Laden mit vielen Bankgeschäften und Maklerbüros und auch die Ankündigungen, die an den Scheiben kleben und die Ornamente unliebsam unterbrechen, haben eigentlich nichts Auffallendes. Auf diesen Ankündigungen war das Wort »Indien« zu lesen und ein Blick auf das Firmenschild über der Tür belehrt, daß in dem Laden das »Kaiserpanorama« untergebracht ist.

Tritt man ein, so gelangt man zuerst in einen lichten, freundlich erwärmten Raum, in welchem eine ältere, offenbar gütige Dame hinter einem Tischchen eine Art Kassadienst versieht und Karten für die Besichtigung des Etablissements verkauft. Die meisten Besucher benützen aber diese Kassa bloß, um ihre Abonnements stempeln zu lassen und einige vertraute Worte mit der alten Dame zu wechseln. Wenn der betagte Diener, der lautlos aus der schwarzen Portiere, die den Hintergrund des Raumes abschließt, hervorkommt und mit einer kleinen, bedauernden Geste um ein wenig Geduld bittet, dann nimmt der Besucher mit einem leisen Seufzen auf einem der Rohrstühle Platz und plaudert weiter, beobachtet auch mißtrauisch die Glastüre, die zur Straße führt, und erscheint ein neuer Gast, so betrachtet er ihn mit eifersüchtig-beschämter Feindschaft. Dann hört man gedämpftes Rücken von Stühlen hinter der Portiere und der Mensch, der heraustritt, blinzelt ein wenig ins Licht und entfernt sich mit einem kurzen Gruß zu der alten Dame hin, rasch, betreten und ohne einen Blick auf die Wartenden zu werfen, als ob auch er sich schämte. Der Harrende aber erhebt sich eilig, damit kein anderer ihm zuvorkomme, bricht das Gespräch unvermittelt ab und verschwindet hinter dem schützenden Vorhang. Selten geschieht es, daß Besucher miteinander sprechen, obwohl sich doch viele im Laufe der Jahre vom Sehen her kennen müßten, und bloß einige schamlose Greise bringen es über sich, nicht nur mit der Dame an der Kassa, sondern auch mit anderen Wartenden zu reden und die Darbietungen zu loben; doch erhalten sie zumeist bloß einsilbige Antworten.

Drinnen aber ist Dunkelheit und man könnte meinen, daß es eine alte und schwere Dunkelheit ist, die schon viele Jahre hier aufgestapelt liegt. Der Diener nimmt dich zart bei der Hand und führt dich behutsam zu einem Sitz, der rund und lehnenlos deiner harrt. Vor dir siehst du zwei helle Augen, die etwas unheimlich aus einer schwarzen Wand dir entgegenschauen und unter diesen Augen ist ein Mund, dessen hartes Viereck durch das matte Licht, das in ihm liegt, gemildert ist. Nun bemerkst du allmählich, daß du vor einem polygonen tempelartigen Gebilde stehst, dem die Wand angehört, vor die man dich hingeführt hat und vor der dein Stuhl sich befindet, siehst auch, daß links und rechts von dir ein Andächtiger sitzt, der seine Augen an die Augen der Wand gelegt hat und du tust nun desgleichen, nachdem du einen Blick auf die lichte viereckige Scheibe geworfen und dir eingeprägt hast, daß sie »Regierungsgebäude in Kalkutta« sagt. Doch da du nun hineinsiehst in die dir entgegengeöffneten Augen, verschwindet soeben das Regierungsgebäude unter dem Anschlag einer zarten Glocke und mit einem mechanischen Schnarren: noch siehst du es vorbeigleiten, doch schon gleitet eine andere Landschaft nach, so daß du dich fast betrogen fühlst, aber dann tönt ein neues Klingelzeichen, die Landschaft gibt sich noch einen winzigen Ruck, als wollte sie sich vorteilhaft zurechtrücken, um von dir betrachtet zu werden, und erstarrt. Es sind Palmen, die du siehst und ein gepflegter Weg; im Hintergrund, wo es schattig ist, sitzt ein Mann in einem hellen Anzug auf einer Bank; ein Springbrunnen streckt einen steifen, peitschenförmigen Strahl in die Luft, doch du bist erst befriedigt, bis dich der Blick auf die matte Lichtscheibe belehrt hat: »Partie aus dem Königspark in Kalkutta.« Dann folgt wieder ein Klingelzeichen, ein Gleiten von Palmen, Bänken, Gebäuden, Masten, ein Zurechtrütteln, ein Klingelzeichen und sonnenüberglänzt: »Hafenpartie in Bombay.« Der Mann, der eben im Königspark auf der Bank gesessen hatte, steht nun im Tropenhelm im Vordergrunde auf den Steinquadern der Mole. Gestützt auf einen Spazierstock, bewegt er sich nicht, weil er gebannt von der starren Takelage der Schiffe, von ihren Schloten und Kranen, gebannt von den Stößen der Baumwollballen am Kai, gebannt zu ihnen hinüberschaut und man kann sein beschattetes Gesicht nicht erkennen. Doch wird er vielleicht heraustreten in den magischen Raum, der glatt in bräunlicher Farbe, ein abstraktes Kästchen und doch eine Reise, zwischen dir und dem Bilde liegt, wird sich auf dem Holze dort frei und wundersam bewegen und du wirst in ihm Bertrand erkennen, der leicht und doch furchtbar dich mahnt, daß er nicht mehr aus deinem Leben zu streichen ist, mag er auch in noch so weiter Ferne weilen. Aber das mag Einbildung von dir sein, denn schon gibt ihm Gott das Klingelzeichen und ohne Gruß, steif und unbewegt, ohne einen Schritt zu tun, entgleitet er. Du lugst zu deinem Nachbar zur Linken, ob er dort nun auftauchen werde, doch auf dessen Lichttäfelchen liest du »Regierungsgebäude in Kalkutta«, und fast hast du die Hoffnung, daß Bertrand für dich allein hier erschienen sei, um nur dich zu begrüßen. Aber du hast keine Zeit, darüber nachzudenken, denn wenn du nun rasch wieder in deine beiden Gläser schaust, so erwartet dich frohe Überraschung: die »Eingeborene Mutter auf Ceylon« ist nicht nur von der sanft gelblichen Sonne überstrahlt, sondern überdies in ihren natürlichen Farben dargestellt; sie lächelt mit weißen Zähnen zwischen roten Lippen und erwartet vielleicht den weißen Sahib, der aus dem Abendlande gekommen ist, weil er die Europäerinnen verschmäht hat. Auch die »Tempelgebäude in Delhi« strahlen in den Farben des Orients am Grunde des braunen Kästchens: dort mag der Unchristliche lernen, daß selbst untergeordnete Rassen Gott zu dienen verstehen. Aber hat er nicht selber gesagt, daß es dem Mohren obliegen werde, die Herrschaft Christi wieder aufzurichten? Erschrocken siehst du das Gewimmel der braunkolorierten Gestalten und nicht ungern hörst du das Signal, mit dem sie fortgeschickt werden, um dem »Aufbruch zur Elefantenjagd« Platz zu machen. Hier stehen die mächtigen Quadrupeden und weich hält der eine das Vorderbein gebeugt. Der Platz ist voll feinen weißen Sandes und wenn du geblendet einen Augenblick wegschaust, entdeckst du oberhalb der Mattscheibe einen kleinen Knopf, an dem du spielerisch ziehst. Allsogleich zu deiner Freude verwandelt sich das Bild in eine sanfte Mondlandschaft, so daß es in deinem Belieben steht, die Jäger bei Tage oder bei Nacht aufbrechen zu lassen. Nun, da die grelle Sonne dich nicht mehr schmerzt, nimmst du die Gelegenheit wahr, die Gesichter der Ausreitenden zu betrachten und wenn dein Auge nicht trügt, ist es doch Bertrand, der hinter dem dunklen Elefantenlenker in dem Korbe sitzt, das Gewehr schußfertig in der Rechten und den Tod verheißend. Du wechselst das Licht und nun ist es wieder ein wildfremder Mann, der dich anlächelt, und der Elefantenlenker legt den Spieß hinter das Ohr des Tieres, um es zum vorgeschriebenen Aufbruch zu mahnen. Sie gleiten davon und ins Dickicht, allein du vernimmst nichts von dem Trampeln der Herde und dem Trompeten der Bullen, sondern mit kleinem Klingelzeichen und ein wenig mechanischem Schnarren rückt Landschaft auf Landschaft sonderbar unvermittelt vorwärts und vorüber, und wenn der Passant wirklich der zu sein scheint, den ewig du suchen mußt, er, den du ewig ersehnst, er, der entschwindet, während du seine Hand noch hältst, dann geschieht das Zeichen, und ehe du dich versiehst, entdeckst du beim Nachbar zur Rechten, zu dem du schon ängstlich hinübergelugt hast, die Aufschrift »Regierungspalast in Kalkutta«, so daß du weißt, daß nun bald auch deine Stunde geschlagen hat. Dann tust du noch einen kurzen Blick, dich vergewissernd, daß nun wirklich die Palmen des Königsgartens folgen, und da sie es unnachsichtig tun, rückst du deinen Stuhl, der Diener eilt herbei und du verläßt, mit den Augen leicht zwinkernd, den Kragen hochgestellt, ein armer Ertappter, der einer Lust gefrönt, die er doch nicht kennt, mit kurzem Gruß den Raum, in dem die anderen schon harren und die Dame Abonnements verkauft.

In dieses Etablissement waren Joachim und Elisabeth geraten, als sie, gardiert von Elisabeths Gesellschaftsdame, für das Heim und die Ausstattung Besorgungen in der Stadt machten. Denn obwohl sie Bertrand noch in Hamburg wußten und obwohl sie niemals mehr von ihm sprachen, hatte das Wort Indien einen magischen Klang für sie.

 

Es war eine stille Hochzeit auf Lestow. Der Zustand des Vaters war stationär geblieben; er dämmerte dahin, nahm die Umwelt nicht mehr zur Kenntnis und man mußte sich gefaßt machen, daß es noch jahrelang so weitergehen könne. Zwar sagte die Baronin, daß eine stille, innige Feier ihrem und ihres Gatten Sinn viel mehr entspräche als rauschende Festlichkeiten, aber Joachim wußte bereits, welchen Wert die Schwiegereltern auf die Familienfesttage legten und er fühlte sich verantwortlich für den Vater, der den Glanz verhinderte. Auch er selber hätte vielleicht einen großen und lauten gesellschaftlichen Rahmen gewünscht, um den sozialen Charakter dieser dem Amourösen abgewandten Vermählung zu betonen; andererseits aber schien es dem Ernst und der Christlichkeit solcher Verbindung eher angepaßt, wenn Elisabeth und er aller Weltlichkeit entrückt zum Altare schritten. Und so hatte man denn darauf verzichtet, die Hochzeit in Berlin zu begehen, obwohl es nun auch in Lestow mancherlei äußere Schwierigkeiten gab, die nicht leicht zu überwinden waren, besonders da der Rat Bertrands fehlte. Joachim weigerte sich, die Braut am Hochzeitsabend heimzuführen; diese Nacht im Hause des Kranken zu verbringen, erfüllte ihn mit Widerwillen, aber noch unmöglicher erschien es ihm, daß Elisabeth sich vor den Augen der vertrauten Dienerschaft zur Ruhe begeben solle; er schlug also vor, daß Elisabeth in Lestow übernachten möge, und er würde sie am nächsten Tage abholen; sonderbarerweise stieß dieser Vorschlag auf den Widerstand der Baronin, die eine solche Lösung für unschicklich fand: »Und wenn wir uns auch darüber hinwegsetzten, was würde das ungebildete Gesinde davon halten!« Endlich entschloß man sich, die Feier so zeitig anzusetzen, daß das junge Paar noch den Mittagszug erreichen könne. »Ihr kommt dann gleich in euer behagliches Heim nach Berlin«, hatte die Baronin gesagt, aber auch hievon wollte Joachim nichts wissen. Nein, das wäre zu entlegen, denn sie wollten doch schon am frühen Morgen weiter und wahrscheinlich würden sie sogar gleich den Nachtzug nach München benützen. Ja, Nachtreisen waren beinahe die einfachste Lösung des Eheproblems, waren Rettung aus der Furcht, es könnte einer mitwissend lächeln, wenn er mit Elisabeth werde schlafen gehen müssen. Doch nun schwankte er, ob sie tatsächlich sofort nach München weiterreisen könnten; durfte man Elisabeth nach den Anstrengungen des Tages eine Nachtfahrt zumuten? Und wie würde der Tag in München in Erwartung des Kommenden hinzubringen sein? Es verstand sich, daß man auch mit Bertrand solche Dinge nicht hätte besprechen können, man hatte dies mit sich selber abzumachen; allerdings wäre manches wesentlich einfacher, wenn Bertrand zur Hand gewesen wäre. Er überlegte, was Bertrand in solchem Falle getan hätte und kam zu dem Ergebnis, daß es ja nichts verschlüge, Zimmer im »Hotel Royal« in Berlin zu bestellen; sollte Elisabeth es wünschen, so könnte man trotzdem noch weiterreisen. Und er war eigentlich stolz, diese gewandte Lösung allein gefunden zu haben.

Es war nun völlig winterlich geworden und die geschlossenen Wagen, mit denen man zur Kirche fuhr, kamen im Schnee bloß schrittweise vorwärts. Joachim fuhr mit seiner Mutter; die saß behäbig und breit in dem Wagen und Joachim ärgerte sich, wenn sie wiederholte: »Vater würde doch seine herzliche Freude daran gehabt haben; 's ist eben ein Jammer.« Ja, das hätte noch gefehlt; Joachim war gereizt – niemand ließ ihm Zeit zu der Sammlung, die in dieser feierlichen Stunde geboten war, doppelt geboten für ihn, dem diese Ehe mehr bedeutete als eine Ehe christlichen Hausstands, für ihn, dem sie Rettung aus Pfuhl und Sumpf bedeutete und dem sie Verheißung der Gläubigkeit war auf dem Wege zu Gott. Elisabeth im Brautkleid sah so madonnenhaft aus wie noch nie, sah aus wie Schneewittchen, und er mußte an das Märchen von der Braut denken, die am Altar tot zusammengebrochen war, weil sie plötzlich erkannt hatte, daß in des Bräutigams Gestalt der Leibhaftige sich versteckt hielt. Der Gedanke wollte ihn nicht loslassen, überwältigte ihn so sehr, daß er weder den Gesang des Chors noch die Rede des Pastors vernahm, ja, er verschloß sich sogar, sie zu hören, aus Angst, er müsse ihn unterbrechen, müsse ihm sagen, daß ein Unwürdiger, ein Verstoßener vor dem Altar stehe, einer der die heilige Stätte entweiht, und erschrocken fuhr er auf, als er das »Ja« auszusprechen hatte, erschrocken auch, daß die Zeremonie, die ihm die Offenbarung des neuen Lebens hätte sein sollen, so rasch und fast unbemerkt vorübergegangen war. Er empfand es bloß als wohltuend, daß Elisabeth, ohne es eigentlich noch zu sein, jetzt seine Frau genannt wurde, doch grausam schien es, daß dieser Zustand nicht andauern sollte. Auf der Rückfahrt von der Kirche hatte er ihre Hand genommen und hatte »meine Frau« gesagt und Elisabeth hatte seinen Händedruck erwidert. Dann aber versank alles in dem Trubel der Glückwünsche, des Umkleidens, der Abreise, so daß sie erst am Bahnhof wußten, was geschehen war.

Als Elisabeth in das Coupé stieg, wandte er sich ab, um nicht wieder Beute unreiner Gedanken zu werden. Nun waren sie allein. Elisabeth lehnte müde in einer Ecke und lächelte ihm ein wenig zu. »Du bist müde, Elisabeth«, sagte er hoffnungsfreudig, froh, sie schonen zu müssen, schonen zu dürfen. »Ja, ich bin müde, Joachim.« Er wagte aber nicht, ihr vorzuschlagen, daß sie in Berlin bleiben sollten, fürchtend, sie könnte es ihm als Lüsternheit auslegen. Ihr Profil stand scharf gegen das Fenster, hinter dem der graue Winternachmittag hing, und Joachim war glücklich, daß jene beklemmende und gefürchtete Vision ausblieb, in der ihr Gesicht zur Landschaft wurde. Aber während er sie noch betrachtete, sah er, wie der Koffer, den man auf den Sitz gegenüber gestellt hatte, sich nicht minder scharf vom grauen Horizont abhob und es überkam ihn die sinnlos verschärfte Angst, sie wäre ein Ding, eine tote Sache, nicht einmal eine Landschaft. Er stand rasch auf, als wollte er dem Koffer etwas antun, doch er öffnete ihn bloß und entnahm ihm den Proviantkorb: das war ein Hochzeitsgeschenk und ein kleines Wunder an Eleganz, das man ebensowohl auf der Reise wie auf der Jagd benützen konnte; die Elfenbeingriffe der Messer und Gabeln waren mit ornamentalen Jagdszenen geziert, die sich in den Ziselierungen der Metallteile fortsetzten und selbst der Spirituskocher war davon nicht verschont geblieben; zwischen den Ornamenten aber konnte man auf jedem Stücke die verschlungenen Wappen Elisabeths und Joachims erkennen. Der Mittelraum des Korbes diente zur Aufnahme von Eßvorräten und war von der Baronin vorsorglich angefüllt worden. Joachim bat Elisabeth, sich zu stärken, und da sie an dem Hochzeitsfrühstück nicht mehr hatten teilnehmen können, tat sie es gerne. »Unser erstes eheliches Mahl«, sagte Joachim und schenkte den Wein in die zusammenschiebbaren Silberbecher und Elisabeth stieß mit ihm an. So verbrachten sie die Fahrt und Joachim war wieder der Meinung, daß die Eisenbahn die beste Form des Ehelebens darstelle. Ja, er begann Bertrand zu verstehen, der einen so großen Teil seiner Zeit auf der Bahn verbringen konnte. »Wollen wir nicht abends gleich nach München weiter«, sagte er; doch Elisabeth erwiderte, daß sie sich recht abgespannt fühle und lieber die Fahrt unterbrechen wolle. So konnte er nicht umhin, ihr zu verraten, daß er für diesen Wunsch schon vorgesorgt und Zimmer bestellt hätte.

Er war Elisabeth dankbar, daß sie ihre Unbefangenheit nicht verloren hatte, wenn es vielleicht auch bloß eine scheinbare Unbefangenheit war, denn sie zögerte die Nachtruhe hinaus, verlangte nach Abendbrot und sie saßen recht lange im Speisesaal; die Musiker, welche die Tafelmusik besorgten, hatten ihre Instrumente schon weggetan, nur wenige Gäste waren noch im Saale, und so angenehm Joachim jede Verzögerung war, so fühlte er dennoch wieder jene Kälte verdünnter Luft in dem Raume sich spannen, jene Kälte, die ihnen am Abend ihrer Verlobung furchtbare Todesahnung geworden war. Auch Elisabeth mochte dies fühlen, denn sie sagte, daß es nun Zeit zur Ruhe wäre.

Der Augenblick war also gekommen. Elisabeth hatte ihn mit einem freundlichen »Gute Nacht, Joachim«, verabschiedet, und nun ging er in seinem Zimmer auf und ab. Sollte er sich zu Bett begeben? Er betrachtete die geöffnete Lagerstatt. Er hatte sich doch geschworen, vor ihrer Türe zu wachen, himmlischen Traum zu bewachen, auf daß in ihrer Silberwolke ewig sie träume: und nun hatte es plötzlich Sinn und Ziel verloren, da alles bloß darauf hinauszulaufen schien, daß er sich's hier bequem machen sollte. Er sah an sich herab und empfand den langen Uniformrock als Schutz; es war schamlos, daß die Leute im Frack zur Hochzeit erschienen. Dennoch mußte er daran denken sich zu waschen und leise, als beginge er ein Sakrileg, zog er den Rock aus und goß Waschwasser in das Becken auf dem braunpolierten Waschtisch. Wie peinlich war dies alles, wie sinnlos, es sei denn, daß es ein Glied in der Kette der auferlegten Prüfungen darstellte; es wäre alles leichter, wenn Elisabeth die Türe hinter ihm abgesperrt hätte, aber das hat sie aus Zartgefühl sicherlich nicht getan. Joachim erinnerte sich, diese Situation schon erlebt zu haben, und nun kam mit strafender Wucht die Erinnerung an einen braunen Waschtisch unter einer Gasflamme und an eine verriegelte Tür: furchtbar als Erinnerung an Ruzena, nicht minder furchtbar als Problem, wie im Zusammenleben mit einem Engel der diskrete Gedanke an eine Toilette sich praktisch überhaupt würde fassen lassen, in beiden Fällen eine Herabsetzung Elisabeths und eine neuerliche Prüfung. Er hatte Gesicht und Hände gereinigt, mit leisen kleinen Bewegungen, um jedes Klingen des Porzellans auf dem Marmor zu vermeiden, aber nun ergab sich etwas Unvorstellbares: wer durfte es wagen, in der Nähe Elisabeths zu gurgeln? Und doch müßte er viel inniger untertauchen im flüssigen reinigenden Kristall, müßte sich ertränken, hervorzugehen aus tieferer Reinigung wie aus der Taufe im Jordan. Aber was nützte selbst ein Bad? Ruzena hatte ihn erkannt und hat die Konsequenzen gezogen. Er schlüpfte rasch wieder in den Rock, knöpfte ihn vorschriftsmäßig zu und ging im Zimmer auf und ab. Im Nebenzimmer rührte sich nichts und er fühlte, daß seine Anwesenheit auf ihr lasten müsse. Warum schrie sie nicht wie Ruzena hinter der verschlossenen Tür, daß er weggehen solle! Damals hatte er wenigstens die Toilettefrau zur Seite gehabt, nun aber war er allein und ohne Beistand. Allzufrüh hatte er sich von Bertrand und seiner leichten Sicherheit abgewendet, und daß er glauben konnte, Elisabeth vor ihm schützen zu müssen, mutete ihn jetzt wie ein Vorwand an. Eine entsetzensvolle Reue brach auf: nicht sie war es, die er hatte schützen und retten wollen, seine eigene Seele wollte er durch ihr Opfer retten lassen. Lag sie nun drin auf den Knien, betend, daß Gott sie wieder befreie von der Fessel, die sie aus Mitleid auf sich genommen hatte? Mußte er ihr nicht sagen, daß er sie freigebe, heute noch, daß er sie, wenn sie befehle, sofort in ihr Haus nach Westend, in ihr schönes neues Haus, das auf sie wartete, bringen werde. In großer Erregung klopfte er an die Verbindungstüre, wünschte gleichzeitig, es nicht getan zu haben. Sie sagte leise: »Joachim« und er klinkte die Tür auf. Sie lag im Bette und die Kerze brannte auf dem Nachtkästchen. Er blieb an der Türe stehen, nahm eine leicht vorschriftsmäßige Haltung an und sagte heiser: »Elisabeth, ich wollte dir bloß sagen, daß ich dich freigebe; es geht nicht an, daß du dich für mich opferst.« Elisabeth war erstaunt, doch sie empfand es als Erleichterung, daß er sich ihr nicht als verliebter Gatte näherte. »Meinst du, Joachim, daß ich mich geopfert habe?« sie lächelte ein wenig, »eigentlich fällt es dir etwas verspätet ein.« – »Es ist noch nicht zu spät, ich danke Gott, daß es nicht zu spät ist … mir ist es erst jetzt zu Bewußtsein gekommen … soll ich dich nach Westend bringen?« Nun mußte Elisabeth lachen; jetzt mitten in der Nacht! die Leute draußen würden Augen machen. »Willst du nicht einfach zu Bett gehen, Joachim. Wir können dies alles doch morgen in schönster Ruhe besprechen. Du mußt ja auch müde sein.« Joachim sagte wie ein trotziges Kind: »Ich bin nicht müde.« Die Kerze beleuchtete flackernd ihr blasses Gesicht, das zwischen den gelösten Haaren in den bleichen Kissen lag. Ein Zipfel des Polsters schaute wie eine Nase in die Luft und sein Schatten an der Wand war nicht anders als der Schatten von Elisabeths Nase. »Bitte, Elisabeth, drücke den Zipfel des Kissens herunter, links oben neben dir«, sagte er von der Türe her. »Warum?« fragte Elisabeth verwundert und griff hinauf. »Er wirft einen so häßlichen Schatten«, sagte Joachim; indessen hatte sich eine andere Polsterecke erhoben und zeigte eine andere Nase an der Wand. Joachim war geärgert, er wollte es gerne selber in Ordnung bringen und machte einen Schritt ins Zimmer. »Aber, Joachim, was stört dich an dem Schatten? – ist es jetzt recht?« Joachim erwiderte: »Der Schatten deines Gesichtes ist wie eine Gebirgskette an der Wand.« – »Das macht doch nichts.« – »Ich mag es nicht.« Elisabeth fürchtete ein wenig, daß dies der Übergang zum Auslöschen der Kerze sein sollte, aber zu ihrer zufriedenen Überraschung sagte Joachim: »Man sollte zwei Kerzen neben dich stellen, dann gäbe es keinen Schatten und du sähest aus wie Schneewittchen.« Und tatsächlich ging er in sein Zimmer und kam mit der zweiten brennenden Kerze zurück. »Oh, du bist lustig, Joachim«, mußte Elisabeth nun sagen, »wohin willst du denn die zweite Kerze stellen? Du kannst sie doch nicht an der Wand anbringen. Und überdies sähe ich wie eine Tote aus zwischen den beiden Kerzen.« Joachim besah die Sachlage; Elisabeth hatte recht und er sagte: »Darf ich sie aufs Nachtkästchen stellen?« – »Natürlich darfst du …«, sie machte eine kleine Pause und sagte zögernd und doch ein wenig befriedigt, »jetzt bist du ja mein Mann.« Er hielt die Hand vor die Flamme und trug sie zum Nachtkästchen, betrachtete dort sinnend die beiden Lichter und da ihm die stille, fast lichtlose Hochzeit einfiel, sagte er: »Drei wären feierlicher«, als ob er Elisabeth und ihren Eltern damit eine Entschädigung für die Bescheidenheit des Festes hätte bieten können. Auch sie schaute auf die beiden Kerzen; sie hatte die Decke über die Schultern hinaufgezogen, nur die Hand, von einer Spitzenkrause am Gelenk eingefangen, hing weich über den Bettrand. Joachims Gedanken waren noch bei der unfeierlichen Hochzeit; diese Hand aber hatte er im Wagen in der seinen gehalten. Er war ruhiger geworden und fast hatte er vergessen, warum er hereingekommen war; jetzt erinnerte er sich und fühlte die Verpflichtung, sein Angebot zu wiederholen: »Du willst also nicht nach Westend, Elisabeth?« – »Du bist ja närrisch, Joachim, daß ich jetzt aufstehen soll! Ich fühle mich hier sehr wohl und du willst mich hinausjagen.« Joachim stand unschlüssig bei dem Nachtkästchen; er begriff nun plötzlich nicht, wie die Dinge ihre Art und Bestimmung wechseln konnten; ein Bett war ein angenehmes Möbelstück zum Schlafen, bei Ruzena war es ein Ort der Sehnsucht und unbeschreiblicher Süßigkeit, und jetzt war es etwas Unnahbares, ein Etwas, dessen Kante er kaum zu berühren wagte. Holz ist doch Holz, aber auch das Holz des Sarges will man nicht berühren. »Es ist so schwer, Elisabeth«, sagte er nun plötzlich, »verzeih mir.« Doch er bat sie nicht bloß um Verzeihung, wie sie vielleicht glauben mochte, weil er sie in dieser vorgerückten Stunde zum Aufstehen hatte bewegen wollen, sondern weil er sie neuerdings mit Ruzena verglichen und – er gewahrte es mit Schrecken, – weil er fast gewünscht hatte, daß nicht sie, sondern Ruzena hier wäre. Und er merkte, wie tief er dem Pfuhl noch verhaftet war. »Verzeih mir«, sagte er nochmals und kniete nieder, um die weiße, blaugeäderte Hand auf der Bettkante zum Abschied zu küssen. Sie wußte nicht, ob es die gefürchtete Annäherung bedeuten sollte und schwieg. Sein Mund lag auf ihrer Hand und er spürte seine Zähne, die sich an die Innenseite der Lippen drückten, als Rand des harten Knochenkopfes, der in dem seinen steckte und im Gerippe sich fortsetzte. Er spürte auch den warmen Atem in der Höhlung seines Mundes und die Zunge eingebettet in dem Trog zwischen den Unterkiefern, und er wußte, daß er dies nun alles rasch wegtragen müsse, damit Elisabeth dessen nicht inne werde. Doch er wollte Ruzena diesen raschen Sieg nicht zugestehen und so verharrte er noch in schweigendem Kniefall vor dem Bette, bis ihm Elisabeth, wie um ihn zum Abschied zu mahnen, ganz leise die Hand drückte. Vielleicht mißverstand er dieses Zeichen absichtlich, denn es ließ ihn wie von ferneher die schmeichelnden Hände Ruzenas fühlen; er gab ihre Hand nicht frei, trotzdem er eigentlich schon recht ungeduldig war, das Zimmer zu verlassen. Er wartete auf das Wunder, auf das Zeichen der Gnade, das Gott ihm geben sollte und es war, als stünde die Angst an der Pforte der Gnade. Er bat: »Elisabeth, sag ein Wort«, und Elisabeth antwortete langsam, als wären es nicht ihre eigenen Worte: »Wir sind nicht fremd genug und wir sind nicht vertraut genug.« Joachim sagte: »Elisabeth, wirst du von mir fortgehen?« Elisabeth antwortete weich: »Nein, Joachim, ich glaube wohl, daß wir jetzt mitsammen gehen werden. Sei nicht traurig, Joachim, es wird sich alles zum Guten wenden.« Ja, wollte Joachim antworten, das seien auch Bertrands Worte; aber er stockte, nicht bloß, weil es unschicklich gewesen wäre, dies zu erwähnen, sondern er stockte, weil aus ihrem Munde das Wort Bertrands ihm wie ein mephistophelisches Zeichen des Dämons und des Bösen war, statt des Zeichens von Gott, das er erwartet und erhofft und erbeten hatte. Einen Augenblick war das Bild Bertrands wie am Grunde eines braunen Kästchens sichtbar und war dennoch versteckt, und es war der Leibhaftige, dessen Gesicht und Gestalt den Schatten eines Gebirgszuges dort an die Wand warf. Und so unbewegt und starr dies erfolgte, und so rasch und wie auf ein Klingelzeichen es auch wieder entschwand, so war es doch Mahnung, daß das Böse noch nicht besiegt und selbst Elisabeth dem Bösen noch Untertan war, da sie es mit dessen eigenen Worten herbeigerufen und nicht vermocht hatte, Spuk und Hirngespinst mit dem Worte Gottes zu verscheuchen. Und war dies auch enttäuschend, so war es auch gut, und war voller Rührung über das Menschlich-Geschöpfliche und über ihre Schwachheit. Elisabeth ist das Ziel im Himmlischen, aber den Weg im Irdischen zu solchem Ziele, den hat er selber trotz eigener großer Schwachheit für sie beide zu finden und zu bereiten; indes wo ist der Wegweiser zu jenem Erkennen in der Einsamkeit? Wo ist die Hilfe? Clausewitz' Ausspruch fiel ihm ein, daß es immer nur ein Ahnen und Herausfühlen der Wahrheit ist, nach dem gehandelt wird, und sein Herz ließ es ahnend erkennen, daß ihnen in einem christlichen Hausstand die rettende Hilfe der Gnade beschieden sein werde, sie schützend, damit sie nicht unbelehrt, hilflos und sinnlos auf Erden wandeln und ins Nichts eingehen müßten. Nein, das war nicht Gefühlskonvention zu nennen. Er richtete sich auf und fuhr mit der Hand sanft über die Seidendecke, unter der ihr Körper lag; er fühlte sich ein wenig als Krankenpfleger, und von ferne war es, als wollte er den kranken Vater oder dessen Sendboten streicheln. »Arme kleine Elisabeth«, sagte er; es war das erste Kosewort, das er auszusprechen wagte. Sie hatte die Hand freibekommen und fuhr nun über seine Haare; so hat es auch Ruzena getan, dachte er. Doch sie sagte leise: »Joachim, wir sind noch nicht vertraut genug.« Er hatte sich ein wenig höher geschoben und saß nun auf der Bettkante, streichelte ihren Scheitel. Dann stützte er sich auf den Ellbogen, betrachtete ihr Gesicht, das noch immer bleich und fremd, nicht das Gesicht einer Frau, nicht das Gesicht seiner Frau, in den Kissen lag, und es ergab sich, daß er langsam und ohne es selber zu merken, in eine liegende Stellung neben sie gelangte. Sie war ein wenig zur Seite gerückt und ihre Hand, die mit spitzenumfangenem Gelenk allein noch aus der Decke hervorschaute, ruhte in der seinen. Sein Uniformrock war durch die Lage ein wenig in Unordnung geraten, die auseinandergefallenen Schöße ließen das schwarze Beinkleid sehen, und als Joachim das bemerkte, brachte er es eilig wieder in Ordnung und deckte die Stelle. Er hatte nun auch die Beine heraufgezogen und um mit seinen Lackschuhen das Linnen nicht zu berühren, hielt er die Füße ein wenig angestrengt auf dem Stuhl, der neben dem Bette stand. Die Kerzen flackerten; erst erlosch die eine, dann die andere. Hie und da hörte man gedämpfte Schritte auf dem Teppich des Korridors, einmal fiel eine Türe zu, und von ferne hörte man die Geräusche der Riesenstadt, deren gigantischer Verkehr auch des Nachts nicht völlig erschweigt. Sie lagen regungslos und sahen zur Decke des Zimmers, darauf sich gelbe Lichtstreifen von den Spalten der Fenster Jalousien abzeichneten, und es glich ein wenig den Rippen eines Skeletts. Dann war Joachim eingeschlummert, und als Elisabeth es bemerkte, mußte sie lächeln. Und dann schlief sogar auch sie ein.


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