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I

Im Jahre 1888 war Herr v. Pasenow siebzig Jahre alt, und es gab Menschen, die ein merkwürdiges und unerklärliches Gefühl der Abneigung verspürten, wenn sie ihn über die Straßen Berlins daherkommen sahen, ja, die in ihrer Abneigung sogar behaupteten, daß dies ein böser alter Mann sein müsse. Klein, aber von richtigen Proportionen, kein hagerer Greis, aber auch kein Fettwanst: er war sehr richtig proportioniert, und der Zylinder, den er in Berlin aufzusetzen pflegte, wirkte durchaus nicht lächerlich. Er trug den Bart Kaiser Wilhelms I., doch kürzer geschoren, und an seinen Wangen war nichts von der weißen Wolle zu bemerken, die dem Herrscher das leutselige Aussehen verlieh; sogar das Haupthaar, kaum gelichtet, wies bloß einige weiße Fäden auf; trotz seiner siebzig Jahre hatte es sich die Blondheit seiner Jugend erhalten, jenes rötliche Blond, das an faulendes Stroh erinnert und einem alten Manne, den man sich lieber mit würdigerer Behaarung dächte, eigentlich nicht ansteht. Aber Herr v. Pasenow war an seine Haarfarbe gewöhnt, und auch das Einglas erschien ihm keineswegs zu jugendlich. Sah er in den Spiegel, so erkannte er jenes Gesicht wieder, das ihm dort vor fünfzig Jahren entgegengeblickt hatte. Und war Herr v. Pasenow solcherart mit sich nicht unzufrieden, so gibt es eben doch Menschen, denen das Äußere dieses alten Mannes mißfällt und die es auch nicht begreifen, daß je eine Frau sich gefunden hatte, die diesen Mann mit begehrenden Augen betrachtet haben sollte, ihn begehrend umfing, und sie werden ihm höchstens die polnischen Mägde auf seinem Gute zugestehen und daß er sich ihnen mit jener etwas hysterischen und doch herrischen Aggression genähert haben dürfte, die kleinen Männern öfters eigentümlich ist. Mochte dies stimmen oder nicht, es war jedenfalls die Meinung seiner beiden Söhne, und es versteht sich, daß er diese Meinung nicht geteilt hätte. Auch ist die Meinung von Söhnen oft subjektiv, und es wäre leicht, ihnen Ungerechtigkeit und Befangenheit vorzuwerfen, trotz des etwas unbehaglichen Gefühles, das einen selber beim Anblick des Herrn v. Pasenow überkommen mag, merkwürdiges Unbehagen, das sich noch steigert, wenn Herr v. Pasenow vorbeigegangen ist und man ihm zufällig nachschaut. Vielleicht liegt es daran, weil einem dann das Alter des Mannes völlig ungewiß wird, denn er bewegt sich weder greisenhaft noch wie ein Jüngling, noch wie ein Mann in guten Jahren. Und weil Zweifel Unmut erzeugt, ist es nicht unmöglich, daß einer der Passanten diese Fortbewegungsart als würdelos empfindet, und wenn er sie dann als überheblich und kommun beschimpft, als schwächlich draufgängerisch und aufgetrumpft korrekt, so ist es kein Wunder. Das ist natürlich Temperamentsache; doch man kann sich ganz gut vorstellen, daß ein vom Haß verblendeter junger Mensch zurückeilen möchte, um dem, der so geht, einen Stock zwischen die Beine zu stecken, ihn irgendwie zu Fall zu bringen, ihm die Beine zu brechen, solche Gangart für immer zu vernichten. Jener aber geht sehr raschen Schrittes und geradlinig, den Kopf trägt er hoch, wie kleine Leute es zu tun pflegen, und da er sich eben auch sehr gerade hält, streckt er seinen kleinen Bauch ein wenig vor, man könnte fast sagen, daß er ihn vor sich hertrage, ja daß er damit seine ganze Person irgendwohin trage, ein häßliches Geschenk, das niemand will. Allein da mit einem Gleichnis noch nichts erklärt ist, bleiben solche Beschimpfungen haltlos, und vielleicht schämt man sich ihrer, bis man den Spazierstock neben den Beinen entdeckt. Der Stock geht taktmäßig, hebt sich fast bis zur Kniehöhe, verweilt mit einem kleinen harten Aufschlag am Boden und hebt sich wieder, und die Füße gehen daneben. Und auch diese heben sich mehr als sonst üblich, die Fußspitze geht etwas zu weit nach aufwärts, als wollte sie in Verachtung der Entgegenkommenden ihnen die Schuhsohle zeigen, und der Absatz wird mit einem kleinen harten Aufschlag auf das Pflaster gesetzt. So gehen Beine und Stock nebeneinander, und nun taucht die Vorstellung auf, daß der Mann, wäre er als Pferd zur Welt gekommen, ein Paßgänger geworden wäre; aber das Schrecklichste und Abscheulichste daran ist, daß es ein dreibeiniger Paßgang ist, ein Dreifuß, der sich in Bewegung gesetzt hat. Und furchtbar der Gedanke, daß diese dreibeinige Zielgerichtetheit so falsch sein muß wie diese Geradlinigkeit und dieses Vorwärtsstreben: auf das Nichts gerichtet! Denn so geht keiner, der Ernsthaftes beabsichtigt, und wenn man auch einen Augenblick an einen Wucherer denken muß, der zur harten Schuldeintreibung in die Wohnung des Armen sich trägt, so weiß man doch sogleich, daß dies viel zu wenig und viel zu irdisch wäre, entsetzt von der Erkenntnis, daß so der Teufel schlendert, ein Hund, der auf drei Beinen hinkt, daß dies ein geradliniges Zickzackgehen ist, … genug; dies alles kann man nämlich herausfinden, wenn man den Gang des Herrn v. Pasenow mit liebevollem Haß zergliedert. Aber schließlich kann man solches bei den meisten Menschen versuchen. Immer stimmt irgend etwas. Und wenn Herr v. Pasenow auch keine gehetzte Lebensweise führte, vielmehr reichlich Zeit zur Erfüllung der dekorativen und sonstigen Verpflichtungen verwendete, die ein ruhig-gesichertes Vermögen mit sich bringt, so war er – und dies entspricht auch seiner Wesensart – in alledem geschäftig, und eigentliches Schlendern lag ihm ferne. Und kam er zweimal des Jahres nach Berlin, so hatte er vollauf zu schaffen. Jetzt befand er sich auf dem Wege zu seinem jüngeren Sohn, dem Premierleutnant Joachim v. Pasenow.

 

Immer wenn Joachim v. Pasenow mit seinem Vater zusammentraf, stiegen Jugenderinnerungen auf, das verstand sich nur von selbst, doch vor allem wurden die Ereignisse wieder lebendig, die seinem Eintritt in die Kadettenanstalt Culm vorangegangen waren. Es waren allerdings nur Bruchstücke von Erinnerungen, die da flüchtig emportauchten, und regellos floß Wichtiges und Unwichtiges durcheinander. So ist es wohl völlig unwichtig und überflüssig, den Schaffer Jan zu erwähnen, dessen Bild, obwohl er doch eine ganz nebensächliche Figur war, sich vor alle anderen Bilder schob. Dies mag daher rühren, daß Jan eigentlich kein Mensch, sondern ein Bart war. Stundenlang konnte man ihm zuschauen und darüber nachdenken, ob hinter der struppigen Landschaft voll undurchdringlichen, wenn auch weichen Gebüsches ein menschliches Wesen hause. Selbst wenn Jan sprach – aber er sprach nicht viel –, war man dessen nicht sicher, denn die Worte entstanden hinter dem Barte wie hinter einem Vorhang, und ebensowohl hätte es ein anderer sein können, der sie sprach. Am spannendsten war es, wenn Jan gähnte: dann klaffte die haarige Fläche an einer vorbestimmten Stelle auf, dartuend, daß dies auch der Ort sei, wo Jan Speise in sich einzuführen pflegte. Als Joachim zu ihm gelaufen kam, um ihm seinen bevorstehenden Eintritt in die Kadettenanstalt zu erzählen, war er gerade beim Essen, saß dort, schnitt Brotwürfel und hörte schweigend zu. Endlich sagte er: »Nun ist der Jungherr wohl recht froh?« Und da war es Joachim zu Bewußtsein gekommen, daß er gar nicht froh war; gerne hätte er sogar geweint, aber da kein unmittelbarer Anlaß dazu vorlag, hatte er bloß genickt und hatte gesagt, daß er sich freue.

Dann gab es noch das Eiserne Kreuz, das im großen Salon unter Glas und Rahmen hing. Es stammte von einem Pasenow, der anno 13 an kommandierender Stelle gestanden hatte. Da es ohnehin an der Wand hing, so war es etwas unbegreiflich, daß man so viel Aufhebens machte, als Onkel Bernhard auch eines erhielt. Joachim schämte sich noch heute, daß er damals so dumm hatte sein können. Doch vielleicht war er damals bloß erbittert gewesen, weil man ihm die Kadettenanstalt mit der Aussicht auf das Eiserne Kreuz schmackhafter machen wollte. Jedenfalls hätte sein Bruder Helmuth besser für die Anstalt getaugt, und trotz der langen Zeit, die seitdem verflossen war, nannte Joachim es eine lächerliche Einrichtung, daß der Erstgeborene zum Landwirt, der Jüngere aber zum Offizier bestimmt werden mußte. Ihm war das Eiserne Kreuz gleichgültig, aber Helmuth war in tolle Begeisterung geraten, als Onkel Bernhard mit der Division Goeben an der Erstürmung Kissingens teilgenommen hatte. Übrigens war es nicht einmal ein richtiger Onkel, sondern ein Vetter des Vaters.

Die Mutter war größer als der Vater, und alles auf dem Hofe gehorchte ihr. Merkwürdig war es, wie wenig Helmuth und er auf sie hören wollten; das hatten sie eigentlich mit dem Vater gemein. Sie überhörten ihr zähes und lässiges »Nicht doch« und ärgerten sich bloß, wenn sie dann hinzufügte: »Seht euch bloß vor, daß Vater euch nicht dahinter kommt.« Und sie fürchteten sich nicht, wenn sie zu ihrem letzten Mittel griff: »Nun aber will ich es wirklich Vater sagen«, fürchteten sich auch kaum, wenn sie Ernst machte, denn der Vater warf ihnen dann bloß einen bösen Blick zu und ging mit seinen steifen geradlinigen Schritten seines Weges. Es war wie eine gerechte Strafe für die Mutter, weil sie mit einem gemeinsamen Feind Partei zu machen versuchte.

Zu jener Zeit war noch der Vorgänger des jetzigen Pastors im Amte. Er hatte einen gelblich-weißen Backenbart, der sich von der Farbe der Haut kaum abhob, und wenn er an den Festtagen zu Tische kam, so pflegte er die Mutter mit der Königin Luise inmitten ihrer Kinderschar zu vergleichen. Das war ein wenig lächerlich, machte einen aber trotzdem stolz. Nun hatte der Pastor auch noch die neue Gewohnheit angenommen, die Hand auf Joachims Kopf zu legen und »Junger Krieger« zu sagen, denn alle, und sogar das polnische Küchenmädchen, sprachen schon von der Kadettenanstalt in Culm. Trotzdem wartete Joachim noch immer auf eine richtige Entscheidung. Bei Tische hatte die Mutter einmal gesagt, sie sähe die Notwendigkeit nicht ein, Joachim wegzugeben; er könnte ja später als Avantageur eintreten; so sei es doch stets gewesen und so habe man es doch immer gehalten. Onkel Bernhard aber hatte erwidert, daß die neue Armee tüchtige Leute brauche, und in Culm könne es einem richtigen Jungen schon gefallen. Der Vater hatte unangenehm geschwiegen – wie immer, wenn die Mutter etwas sagte. Er hörte nicht auf sie. Bloß zu Mutters Geburtstag, wenn er ans Glas klopfte, entlehnte er das Gleichnis des Pastors und nannte sie seine Königin Luise. Vielleicht war die Mutter wirklich dagegen, daß er nach Culm kommen sollte, aber auf sie war kein Verlaß, sie machte schließlich doch Partei mit dem Vater.

Die Mutter war sehr pünktlich. Niemals fehlte sie zur Melkzeit im Stalle, beim Eierausheben im Hühnerhof, vormittags konnte man sie in der Küche aufsuchen und nachmittags in der Wäschekammer, wo sie mit den Mägden das steife Leinen zählte. Damals hatte er es eigentlich erst erfahren. Er war mit der Mutter im Kuhstall gewesen, seine Nase war voll von dem schweren Stallgeruch, da sie in die kalte Winterluft hinaustraten, und Onkel Bernhard kam ihnen über den Hof entgegen. Onkel Bernhard trug noch immer einen Stock; nach einer Verwundung durfte man einen Stock tragen, alle Rekonvaleszenten tragen Stöcke, auch wenn sie nicht mehr so arg hinken. Die Mutter war stehengeblieben, und Joachim hielt sich an dem Stock Onkel Bernhards fest. Noch heute erinnerte er sich deutlich der wappengeschmückten Elfenbeinkrücke. Onkel Bernhard sagte: »Gratulieren Sie mir, Cousine, soeben bin ich Major geworden.« Joachim blickte zum Major hinauf; der war sogar größer als die Mutter, hatte sich einen kleinen, gleichsam stolzen und doch vorschriftsmäßigen Ruck gegeben, schien noch ritterlicher und noch strammer als sonst und war vielleicht auch jetzt noch gewachsen, jedenfalls paßte er besser zu ihr als der Vater. Er hatte einen kurzen Vollbart, aber man konnte den Mund sehen. Joachim überlegte, ob es eine große Ehre sei, den Stock eines Majors halten zu dürfen, und dann entschloß er sich, ein wenig stolz zu sein. »Ja«, sagte Onkel Bernhard weiter, »aber nun ist es mit den schönen Tagen auf Stolpin auch wieder zu Ende.« Die Mutter sagte, daß dies eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich sei, und das war eine komplizierte Antwort, die Joachim nicht völlig klar wurde. Sie standen im Schnee; die Mutter hatte ihre braune Pelzjacke an, die ebenso weich war wie sie selber, und unter ihrer Pelzmütze sahen ihre blonden Haare hervor. Joachim freute sich stets, daß er die gleichen blonden Haare hatte wie die Mutter; er würde also auch größer als der Vater werden, vielleicht so groß wie Onkel Bernhard, und als dieser auf ihn wies: »Nun werden wir ja bald Kameraden in des Königs Rock sein«, so war er für einen Augenblick ganz einverstanden. Doch da die Mutter bloß seufzte und keinen Einwand äußerte, sich unterwarf, genauso als stünde sie dem Vater gegenüber, ließ er den Stock los und lief zu Jan.

Mit Helmuth ließ sich die Sache nicht besprechen; der beneidete ihn und redete wie die Erwachsenen, die alle sagten, daß ein künftiger Soldat froh und stolz sein müsse. Jan war der einzige, der kein Heuchler und Verräter war; der hatte bloß gefragt, ob der Jungherr froh wäre, und stellte sich nicht so, als ob er daran glaubte. Natürlich mochten die anderen und auch Helmuth es nett gemeint haben, wollten ihn bloß trösten. Niemals hatte Joachim es verwunden, daß er damals im stillen von dem Verrätertum und der Heuchelei Helmuths überzeugt gewesen war; denn hatte er es auch sofort gut machen wollen und ihm all seine Spielsachen geschenkt, so hätte er sie ohnehin nicht in die Kadettenanstalt mitnehmen dürfen, und es war keine Entschuldigung. Auch die Hälfte des Ponys, das den Knaben gemeinsam gehörte, hatte er ihm geschenkt, so daß Helmuth nun ein ganzes eigenes Pferd besaß. Diese Wochen waren eine unheilschwangere und doch eine gute Zeit; niemals, weder früher noch später, war er mit dem Bruder je so befreundet gewesen. Dann allerdings kam das Unglück mit dem Pony: Helmuth hatte für diese Zeit auf seine neuen Anrechte verzichtet, und Joachim durfte über das Pony allein verfügen. Zwar war es kein sehr bedeutender Verzicht, denn der Boden war in diesen Wochen aufgeweicht und tief, und es bestand ein strenges Verbot, bei solchem Boden auf die Felder zu reiten. Joachim aber fühlte das bessere Recht des Scheidenden, und da überdies Helmuth einverstanden war, ritt er unter dem Vorwand, dem Pony in der Koppel Bewegung zu machen, auf den Acker hinaus. Nur zu einem ganz kurzen Galopp hatte er angesetzt, als schon das Unglück geschehen war; das Pony geriet mit dem Vorderbein in eine tiefe Grube, überschlug sich und konnte nicht mehr aufstehen. Helmuth kam herbeigelaufen, dann kam auch der Kutscher. Das Pony lag dort, den struppigen Kopf in den Schollen des Ackers, und ließ die Zunge seitwärts aus dem Maule hängen. Joachim sah noch, wie er und Helmuth dort knieten und den Kopf des Tieres streichelten, aber er vermochte sich nicht mehr zu entsinnen, wie sie heimgekommen waren, wußte bloß, daß er in der Küche stand, in der es mit einem Male ganz still geworden war, und daß alle ihn anschauten, als wäre er ein Verbrecher. Dann hatte er die Stimme der Mutter gehört: »Man muß es Vater sagen.« Und nun stand er plötzlich im Arbeitszimmer des Vaters, und es war, als ob das Strafgericht, das die Mutter ihnen so oft mit dem verhaßten Satze angedroht hatte, nunmehr aufgestapelt und angesammelt, über ihn hereinbrechen müßte. Doch es erfolgte nichts. Der Vater ging bloß stumm und geradlinig in dem Raume auf und ab, und Joachim versuchte stramm zu stehen, blickte auf die Geweihe an der Wand. Als noch immer nichts erfolgte, begannen seine Blicke zu schweifen und blieben an dem blauen Sand in der Papierkrause des braun-polierten sechseckigen Spucknapfes neben dem Ofen hängen. Fast hatte er vergessen, warum er hergekommen war; bloß der Raum schien noch weiter als sonst zu sein, und in der Brust lastete etwas Eisiges. Endlich klemmte der Vater das Einglas ins Auge: »Es ist die höchste Zeit, daß du aus dem Hause kommst«, und nun wußte Joachim, daß sie alle geheuchelt hatten, sogar Helmuth, und in diesem Augenblicke war es Joachim sogar recht, daß das Pony sich das Bein gebrochen hatte, und auch die Mutter hatte ihn immerzu verklatscht, damit er aus dem Hause käme. Dann sah er noch, wie der Vater die Pistole aus dem Kasten nahm. Ja, und dann erbrach er sich. Am nächsten Tag erfuhr er von dem Arzte, daß er eine Gehirnerschütterung erlitten hätte, und er war stolz darauf. Helmuth saß an seinem Bette, und obwohl Joachim wußte, daß das Pony vom Vater erschossen worden war, sprachen sie nicht ein Wort davon, und es war wieder eine gute Zeit, sonderbar geborgen und abgerückt von allen Menschen. Trotzdem nahm sie ein Ende, und mit einer Verspätung von einigen Wochen wurde er nach Culm in die Anstalt eingeliefert. Doch wenn er dort vor seinem schmalen Bett stand, das so ferne und weit abgerückt war von seinem Krankenbette in Stolpin, da schien es fast, als hätte er jene Abgerückheit mit herübergenommen, und dies machte ihm den Aufenthalt fürs erste erträglich.

Natürlich gab es in jener Zeit noch allerhand, das er vergessen hatte, aber es war trotzdem ein beunruhigender Rest geblieben, und in seinen Träumen glaubte er manchmal, polnisch zu sprechen. Als er Premierleutnant geworden war, schenkte er Helmuth ein Pferd, das er selber lange geritten hatte. Dennoch ließ ihn das Gefühl nicht los, als wäre er ihm etwas schuldig geblieben, ja als wäre Helmuth ein unbequemer Gläubiger. Das war alles sinnlos, und er dachte nur selten daran. Nur wenn der Vater nach Berlin kam, wachte es wieder auf, und wenn dann Joachim nach der Mutter und nach Helmuth fragte, so vergaß er nie, sich auch nach dem Befinden des Gaules zu erkundigen.

 

Nun da Joachim v. Pasenow seinen Zivilgehrock angetan hatte und sein Kinn in ungewohnter Freiheit zwischen den beiden Ecken des offenen Stehkragens sich bewegte, da er den geschweiften Zylinder aufgesetzt und einen Stock mit spitz zulaufender Elfenbeinkrücke zur Hand genommen hatte, nun auf dem Wege ins Hotel, um den Vater zu dem obligaten Bummelabend abzuholen, tauchte plötzlich Eduard v. Bertrands Bild vor ihm auf, und es war ihm angenehm, daß die Zivilkleider keineswegs mit solcher Selbstverständlichkeit an ihm saßen wie an diesem Menschen, den er im stillen manchmal einen Verräter nannte. Leider war es ja vorauszusehen und zu befürchten, daß er Bertrand in den Lokalen der Lebewelt, die er heute mit dem Vater besuchen mußte, antreffen werde, und schon während der Vorstellung im Wintergarten hielt er Ausschau nach ihm und war sehr mit der Frage beschäftigt, ob er einen solchen Menschen mit dem Vater bekannt machen dürfe.

Das Problem hielt ihn auch noch gefangen, als sie in einer Droschke durch die Friedrichstraße zum Jägerkasino fuhren. Sie saßen steif, ihre Stöcke zwischen den Knien, stumm auf den schwarzledernen brüchigen Sitzen, und wenn ihnen eines der vorüberstreifenden Mädchen etwas zurief, so schaute Joachim v. Pasenow gerade vor sich hin, während sein Vater, das Einglas starr im Auge, »toll« sagte. Ja, seit Herr v. Pasenow nach Berlin kam, hatte sich vieles verändert, und wenn man es auch hinnahm, so durfte man sich doch nicht der Einsicht verschließen, daß die neuerungssüchtige Politik des Reichsgründers höchst unerfreuliche Blüten gezeitigt hat. Herr v. Pasenow sagte, was er alljährlich sagte: »In Paris kann es auch nicht ärger zugehen«, und es erregte auch sein Mißfallen, daß eine Reihe greller Gasflammen die Aufmerksamkeit der Passanten auf den Eingang des Jägerkasinos lenkte, vor dem sie nun hielten.

Eine schmale Holztreppe führte zum ersten Stockwerk, in dem die Lokalitäten sich befanden, und Herr v. Pasenow erstieg sie mit der geschäftigen Geradlinigkeit, die ihm eigentümlich war. Ein schwarzhaariges Mädchen kam ihnen entgegen, drückte sich in den Stiegenwinkel, um die Besucher vorbeizulassen, und da sie offenbar über die Geschäftigkeit des alten Herrn lachen mußte, machte Joachim eine etwas verlegene und entschuldigende Geste. Von neuem war der Zwang da, sich Bertrand vorzustellen, sei es als den Liebhaber dieses Mädchens, sei es als dessen Zuhälter, sei es als sonst irgend etwas Phantastisches, und kaum im Saale, blickte er suchend umher. Aber natürlich war Bertrand nicht da, hingegen zwei Herren vom Regiment, und nun fiel es Joachim erst ein, daß er sie doch selber zu dem Kasinobesuch animiert hatte, um nicht mit dem Vater oder gar noch dazu mit Bertrand allein sein zu müssen.

Herr v. Pasenow wurde, Alter und Stellung gemäß, wie ein Vorgesetzter mit schmal-steifer Verbeugung und Zusammenschlagen der Hacken begrüßt, und gleich einem kommandierenden General erkundigte er sich, ob die Herren sich amüsierten; wenn die Herren nun auch ein Glas Sekt mit ihm trinken wollten, würde es ihm zur Ehre gereichen, worauf die Herren ihre Zustimmung wieder mit den Füßen bekanntgaben. Es wurde frischer Sekt gebracht. Die Herren saßen schweigend und steif auf ihren Stühlen, tranken einander stumm zu und betrachteten den Saal, die weißgoldenen Dekorationen, die Gasflammen, die von Tabaksrauch umzogen im großen Kreise des Lüsters surrten, und betrachteten die Tanzenden, die sich in der Mitte des Saales drehten. Endlich Herr v. Pasenow: »Nun, meine Herren, ich will nicht hoffen, daß Sie meinetwegen auf holde Weiblichkeit verzichtet haben!« Verbeugungen und Lächeln – »sind doch niedliche Mädchen hier; – als ich heraufkam, begegnete ich einem durchaus ansprechenden Ding, schwarzhaarig und mit Augen, die euch jungen Herren nicht gleichgültig bleiben können.« Joachim v. Pasenow hätte vor Scham dem Alten die Kehle zupressen mögen, um solche geile Rede zurückzuhalten, aber schon antwortete einer der Kameraden, daß dies offenbar Ruzena gewesen sei, wirklich ein ausnehmend hübsches Mädchen, dem man auch eine gewisse Vornehmheit nicht abstreiten könne, wie überhaupt die Damen hier zum großen Teil nicht das seien, was man von ihnen halte, vielmehr werde mit einiger Strenge von seiten der Direktion eine Auslese getroffen und auf die Wahrung eines feinen Tones geachtet. Mittlerweile aber war Ruzena wieder im Saale erschienen: sie hatte ihren Arm unter den eines blonden Mädchens geschoben, und wie sie mit ihren hohen Tournüren und spitzen Taillen an den Tischen und Logen entlangstrichen, machten sie tatsächlich einen vornehmen Eindruck. Als sie bei dem Tische Pasenows vorbeikamen, wurde die scherzhafte Meinung geäußert, ob nicht Fräulein Ruzena soeben die Ohren geklungen hätten, und Herr v. Pasenow fügte hinzu, daß, dem Namen nach zu schließen, er wohl eine schöne Polin, also fast eine Landsmännin, vor sich sähe. Nein, sie sei keine Polin, sagte Ruzena, sondern eine Böhmin, hierzulande sage man wohl Tschechin, aber Böhmin sei richtiger, weil auch das Land richtig Böhmen heiße. »Um so besser«, sagte Herr v. Pasenow, »die Polen taugen nichts … sind unzuverlässig … Na, ist ja egal.«

Indessen hatten sich die beiden Mädchen gesetzt, und Ruzena sprach mit einer tiefen Stimme und lachte über sich selbst, weil sie noch immer nicht Deutsch erlernt hatte. Joachim ärgerte sich, weil der Alte die Erinnerung an die Polinnen heraufbeschwor, mußte aber selber an eine Erntearbeiterin denken, von der er als kleiner Junge auf den Wagen mit den Garben gehoben worden war. Aber wenn sie auch mit hart stakkatiertem Tonfall alle Artikel durcheinanderwarf und von die Direktor und das Stadt sprach, so war sie doch eine junge Dame, die in steifem Korsett und guter Haltung das Sektglas zum Munde führte, und war etwas anderes als eine polnische Erntearbeiterin; mochte das Gerede über den Vater und die Mägde wahr sein oder nicht, Joachim hatte damit nichts zu schaffen, aber mit dem zarten Mädchen hier sollte der Alte nicht wagen, ebenso zu verfahren, wie er es vielleicht gewohnt war. Trotzdem wollte sich das Leben eines böhmischen Mädchens nicht anders vorstellen lassen als das der Polinnen – schien es doch schon bei deutschen Zivilisten unmöglich, ein Lebendiges hinter der Marionette des Bewegten sich vorzustellen –, und wenn er versuchte, um Ruzena eine gute Stube zu denken, eine gute matronenhafte Mutter, einen guten Freier mit Handschuhen, so stimmte dies nicht, und Joachim kam von dem Gefühl nicht los, daß dort alles wild, geduckt, tartarisch vor sich gehen müsse: Ruzena tut ihm leid, obwohl sie sicherlich etwas von einem kleinen geduckten Raubtier spüren läßt, in dessen Kehle der dunkle Schrei steckt, dunkel wie die böhmischen Wälder, und er möchte wissen, ob man mit ihr reden kann wie mit einer Dame, denn all dies ist erschreckend und doch verlockend und gibt dem Vater und seinen schmutzigen Absichten irgendwie recht. Er fürchtet, daß auch Ruzena dies durchschauen könne, und er sucht in ihrem Gesicht nach Antwort; sie merkt es und lächelt ihm zu, doch ihre Hand, die weich über die Tischkante hängt, läßt sie von dem Alten tätscheln, und der tut es in aller Öffentlichkeit und versucht dabei, seine polnischen Brocken anzubringen, eine sprachliche Hecke um sich und das Mädchen zu errichten. Natürlich dürfte sie ihn nicht gewähren lassen, und wenn es in Stolpin immer hieß, daß die polnischen Mägde unzuverlässig seien, so hatte man vielleicht recht. Aber vielleicht ist sie bloß zu schwach, und die Ehre würde es verlangen, daß man sie vor dem Alten schütze. Solches allerdings wäre das Amt ihres Liebhabers; besäße Bertrand eine Spur von Ritterlichkeit, so hätte er nachgerade die Pflicht, endlich aufzutauchen, um dies alles mit leichter Hand in Ordnung zu bringen. Unvermittelt beginnt Joachim mit den Kameraden von Bertrand zu sprechen, ob sie schon lange nichts von Bertrand gehört hätten, was er wohl treibe, ja, ein merkwürdiger verschlossener Mensch sei Eduard v. Bertrand. Aber die Kameraden haben schon viel Sekt getrunken, geben verkehrte Antworten und wundern sich über nichts mehr, nicht einmal über die Beharrlichkeit, mit der Joachim am Thema Bertrand hängenbleibt, und so listig er den Namen immer wieder besonders laut und deutlich ausspricht, auch die beiden Mädchen zucken mit keiner Wimper, und der Verdacht keimt in ihm auf, Bertrand könne schon so tief gesunken sein, daß er hier unter falschem Namen verkehre; also wendet er sich direkt an Ruzena, ob sie nicht doch v. Bertrand kenne …, bis der Alte, hellhörig und geschäftig trotz allen Sektes, fragt, was denn Joachim jetzt mit diesem v. Bertrand wolle: »Suchst ihn ja, als ob er hier sichtbarlich versteckt wäre.« Joachim verneint errötend, aber der Alte ist im Schwatzen: ja, er habe den Vater, den alten Oberst v. Bertrand gut gekannt, der habe das Zeitliche gesegnet, schon möglich, daß ihn dieser Eduard ins Grab gebracht hat. Er hätte es sich ja, hieß es, so sehr zu Herzen genommen, daß der Schlingel ausgesprungen sei, kein Mensch wisse warum und ob nicht etwas Schmutziges dahinter gesteckt habe. Joachim lehnte sich auf: »Ich bitte um Verzeihung, das sind haltlose Ausstreuungen – am allerwenigsten ist Bertrand ein Schlingel zu nennen.« – »Nur sachte«, meint der Alte und wendet sich wieder der Hand Ruzenas zu, auf die er nun einen langen Kuß drückt; Ruzena läßt es gleichmütig geschehen und betrachtet Joachim, dessen weiches helles Haar sie an die Kinder in ihrer Heimatschule erinnert. »Will ich nicht Ihnen Hof machen«, stakkatiert sie zu dem Alten, »aber hat liebe Haare der Sohn«, dann packt sie den Kopf der Freundin, hält ihn neben den Joachims und ist befriedigt, daß die Haarfarbe übereinstimmt: »Möchtet scheenes Paar sein«, erklärt sie den beiden Köpfen und fährt ihnen beiden in die Haare. Das Mädchen kreischt, weil sie ihr die Frisur zerzaust, Joachim spürt die weiche Hand am Hinterkopf, es ist ein kleines Schwindelgefühl, er wirft den Kopf zurück, als wollte er die Hand zwischen Kopf und Nacken einfangen, zum Verweilen zwingen, doch da geht die Hand ganz von selbst zum Nacken hinunter, streicht rasch und behutsam darüber hin. »Sachte, sachte!« hört er wieder die trockene Stimme des Vaters und dann bemerkt er, wie jener die Brieftasche zieht, zwei große Scheine herausnimmt und sich anschickt, sie den beiden Mädchen zuzustecken. Ja, so wirft der Alte, wenn er guter Laune ist, den Erntearbeiterinnen Markstücke zu, und obwohl Joachim dazwischenfahren möchte, kann er nicht verhindern, daß Ruzena ihre fünfzig Mark in die Hand gedrückt bekommt und sie sogar fröhlich einsteckt: »Danke, Pappa«, sagt sie, »Schwiegerpappa«, bessert sie sich aus und zwinkert zu Joachim. Joachim ist blaß vor Zorn; soll ihm der Alte ein Mädchen für fünfzig Mark kaufen? Der Alte, hellhörig, merkt den Verstoß Ruzenas und unterstreicht: »Na, mir kommt vor, daß dir mein Bengel gefällt …, an meinem Segen soll's nicht fehlen …« Hund, denkt Joachim. Aber der Alte hat jetzt Oberwasser: »Ruzena, schönes Kind, morgen komme ich als Brautwerber zu dir, wie es sich gehört, tipptopp; was soll ich dir als Morgengabe mitbringen … aber du mußt mir sagen, wo dein Schloß steht …« Joachim schaut weg, wie einer, der bei einer Hinrichtung nicht das Beil fallen sehen will, aber da wird Ruzena plötzlich steif, ihre Augen werden blind, die Lippen werden hilflos, sie stößt eine Hand fort, die helfend oder zärtlich nach ihr greifen will, und läuft davon, um sich bei der Toilettenfrau auszuweinen.

»Na, egal«, sagt Herr v. Pasenow, »aber es ist auch spät geworden. Ich glaube, wir gehen, meine Herren.« In der Droschke saßen Vater und Sohn nebeneinander, steif, die Stöcke zwischen den Knien, feindlich. Endlich sagt der Alte: »Na, die fünfzig hat sie doch genommen. Dann ist leicht weglaufen.« Der Elende, denkt Joachim.

 

Bertrand könnte zum Thema der Uniform etwa sagen: Einstens war es bloß die Kirche, die als Richterin über den Menschen thronte, und ein jeglicher wußte, daß er ein Sünder war. Jetzt muß der Sünder über den Sünder richten, auf daß nicht alle Werte der Anarchie verfallen, und statt mit ihm zu weinen, muß der Bruder dem Bruder sagen: »Du hast unrecht gehandelt.« Und war es einst die bloße Tracht des Klerikers, die sich als etwas Unmenschliches von der der anderen abhob, und schimmerte damals selbst in der Uniform und in der Amtstracht noch das Zivilistische durch, so mußte, da die große Unduldsamkeit des Glaubens verloren ward, die irdische Amtstracht an die Stelle der himmlischen gesetzt werden, und die Gesellschaft mußte sich in irdische Hierarchien und Uniformen scheiden und diese an der Stelle des Glaubens ins Absolute erheben. Und weil es immer Romantik ist, wenn Irdisches zu Absolutem erhoben wird, so ist die strenge und eigentliche Romantik dieses Zeitalters die der Uniform, gleichsam als gäbe es eine überweltliche und überzeitliche Idee der Uniform, eine Idee, die es nicht gibt und die dennoch so heftig ist, daß sie den Menschen viel stärker ergreift, als irgendein irdischer Beruf es vermöchte, nicht vorhandene und dennoch so heftige Idee, die den Uniformierten wohl zum Besessenen der Uniform macht, niemals aber zum Berufsmenschen im Sinne des Zivilistischen, vielleicht eben weil der Mensch, der die Uniform trägt, von dem Bewußtsein gesättigt ist, die eigentliche Lebensform seiner Zeit und damit auch die Sicherheit seines eigenen Lebens zu erfüllen.

So mochte Bertrand sprechen; aber wenn dies auch sicherlich nicht jedem Uniformträger bewußt wird, so mag immerhin feststehen, daß ein jeder, der viele Jahre die Uniform trägt, in ihr eine bessere Ordnung der Dinge findet als der Mensch, der bloß das Zivilgewand der Nacht gegen das des Tages vertauscht. Gewiß braucht er über diese Dinge nicht eigens nachzudenken, denn eine richtige Uniform gibt ihrem Träger eine deutliche Abgrenzung seiner Person gegenüber der Umwelt; sie ist wie ein hartes Futteral, an dem Welt und Person scharf und deutlich aneinanderstoßen und voneinander sich unterscheiden; ist es ja der Uniform wahre Aufgabe, die Ordnung in der Welt zu zeigen und zu statuieren und das Verschwimmende und Verfließende des Lebens aufzuheben, so wie sie das Weichliche und Verschwimmende des Menschenkörpers verbirgt, seine Wäsche, seine Haut überdeckt, und der Posten auf Wache hat die weißen Handschuhe überzuziehen. So wird dem Mann, der des Morgens seine Uniform bis zum letzten Knopf geschlossen hat, tatsächlich eine zweite und dichtere Haut gegeben, und es ist, als ob er in sein eigentliches und festeres Leben zurückkehre. Abgeschlossen in seinem härteren Futteral, verschlossen mit Riemen und Klammern, beginnt er seines eigenen Untergewandes zu vergessen und die Unsicherheit des Lebens, ja das Leben selbst rückt fernab. Wenn er dann noch am untern Saume des Uniformrockes gezogen hat, damit er glatt und faltenlos über Brust und Rücken sich spanne, dann ist sogar das Kind, das der Mann doch liebt, ist die Frau, in deren Kuß er dieses Kind gezeugt hat, in so weite und zivilistische Ferne gerückt, daß er den Mund, den sie zum Abschied ihm reicht, kaum mehr erkennt, und sein Heim wird zu etwas Fremdem, das man in Uniform nicht besuchen darf. Geht er dann in seiner Uniform zur Kaserne oder ins Amt, so ist es nicht Stolz, wenn er den anders Gekleideten übersieht; er kann bloß nicht mehr begreifen, daß unter dem anderen und barbarischen Kleide sich etwas befindet, das mit eigentlicher Menschheit, wie er sie an sich erlebt, auch nur das Geringste gemein haben könnte. Doch deshalb ist der Mann in der Uniform nicht blind geworden und auch nicht von blindem Vorurteil erfüllt, wie so oft angenommen wird; er ist noch immer ein Mensch wie du und ich, denkt an Essen und Beischlaf, liest auch seine Zeitung beim Frühstück; aber er ist mit den Dingen nicht mehr verbunden, und da sie ihn kaum mehr etwas angehen, vermag er jetzt, sie nach gut und böse zu unterscheiden, denn auf Unduldsamkeit und Unverständnis ist die Sicherheit des Lebens gegründet.

Immer wenn Joachim v. Pasenow gezwungen war, Zivil anzulegen, kam ihm Eduard v. Bertrand in den Sinn, immer war er dann froh, daß die Zivilkleider nicht mit solcher Selbstverständlichkeit an ihm saßen wie an diesem Menschen, und eigentlich war er immer neugierig zu erfahren, wie Bertrand über die Frage der Uniform dachte. Denn Eduard v. Bertrand hätte natürlich alle Ursache, über diese Probleme nachzudenken, hatte er doch ein für alle Male die Uniform abgelegt und sich für das Zivilkleid entschieden. Das war verwunderlich genug gewesen. Er hatte die Kadettenanstalt in Culm zwei Jahrgänge vor Pasenow absolviert und hatte sich dort von den anderen in nichts unterschieden, trug im Sommer weite weiße Hosen wie die anderen, hatte mit den anderen am gleichen Tische gegessen, hatte Prüfungen abgelegt wie die anderen und dennoch, als er Sekondeleutnant geworden war, geschah das Unbegreifliche: ohne äußeren Anlaß hatte er den Dienst quittiert und war in einem fremdartigen Leben verschwunden, im Dunkel der Großstadt verschwunden, wie man so sagt, in einer Dunkelheit, aus der er bloß hin und wieder auftauchte. Traf man ihn auf der Straße, so war man immer ein wenig unsicher, ob man ihn grüßen dürfe, denn in dem Gefühl, einem Verräter gegenüberzustehen, der etwas, das ihrer aller gemeinsamer Besitz gewesen war, hinüber auf die andere Seite des Lebens getragen und es dort preisgegeben hatte, fühlte man sich auch irgendwie schamlos und nackt drüben ausgestellt, während Bertrand selber von seinen Motiven und seinem Leben nichts preisgab und von der stets gleichen freundlichen Verschlossenheit blieb. Vielleicht aber lag das Beunruhigende bloß in Bertrands Zivilgewand, aus dessen Westenausschnitt die weiße Stärkbrust schaute, so daß man sich eigentlich für ihn schämen mußte. Dabei hatte Bertrand selber einstens in Culm erklärt, daß ein richtiger Soldat die Manschetten seines Hemdes nicht aus den Rockärmeln hervorlugen lasse, weil alles Geborenwerden, Schlafen, Lieben, Sterben, kurzum alles Zivilistische eine Angelegenheit der Wäsche sei; und wenn auch solche Paradoxien stets zu Bertrands Gewohnheiten gehört hatten, nicht minder wie die leichte Handbewegung, mit der er lässig und wegwerfend das Gesagte hinterher wieder abzutun pflegte, so mußte er sich offenbar doch schon damals mit dem Problem der Uniform befaßt haben. Mit der Wäsche und den Manschetten allerdings mochte er zum Teil recht haben; soferne man nämlich bedachte – immer erweckte Bertrand solch unangenehme Gedanken –, daß alle Männer, die Zivilisten und der Vater nicht ausgenommen, das Hemd in die Hose gesteckt trugen. Joachim liebte es daher auch nicht, im Mannschaftszimmer Leute mit offenem Rock anzutreffen; es war irgend etwas Unanständiges dabei, das zwar nicht ganz durchsichtig, dennoch begreiflich zu der Vorschrift führte, daß für den Besuch gewisser Lokale und für andere erotische Konstellationen Zivil angelegt werden mußte, ja darüber hinaus, es geradezu als einen Verstoß gegen die Vorschrift erscheinen ließ, daß es verheiratete Offiziere und Unteroffiziere gab. Wenn der verheiratete Wachtmeister zum Morgendienst sich meldete und zwei Knöpfe des Rockes öffnete, um aus dem Spalt, in dem das karierte Hemd sichtbar wurde, das große rote Lederbuch hervorzuholen, dann griff Joachim meistens auch nach den eigenen Rockknöpfen und fühlte sich erst geborgen, da er sich vergewissert hatte, daß sie alle geschlossen waren. Fast hätte er wünschen mögen, daß die Uniform wie eine direkte Emanation der Haut wäre, und manchmal dachte er auch, daß dies die eigentliche Aufgabe einer Uniform sei, oder daß wenigstens die Unterkleidung durch Abzeichen und Distinktion zu einem Teil der Uniform gemacht werden müßte. Denn unheimlich war es, daß jeder das Anarchische, das allen gemeinsam ist, unter dem Rocke mit sich herumträgt. Vielleicht wäre die Welt völlig aus den Fugen geraten, wäre nicht im letzten Augenblick die steife Wäsche, die das Hemd in ein weißes Brett verwandelt und einer Unterkleidung unähnlich macht, für die Zivilisten erfunden worden. Joachim entsann sich des Erstaunens seiner Kindheit, als er auf dem Porträt des Großvaters feststellen mußte, daß der kein Stärkhemd, sondern ein Spitzenjabot getragen hatte. Allerdings haben die Menschen damals einen innigeren und tieferen Christenglauben besessen, und sie mußten den Schutz vor der Anarchie nicht anderwärts suchen. Das waren wohl alles sinnlose Überlegungen, und sicherlich waren sie auch nur Ausfluß der ungereimten Äußerungen eines Bertrand; Pasenow schämte sich fast, vor dem Wachtmeister solche Gedanken zu hegen, und wenn sie sich aufdrängten, so schob er sie beiseite und begab sich mit einem Ruck in eine dienstlich stramme Haltung.

Aber wenn er auch diese Gedanken als sinnlos beiseite schob und die Uniform als das Naturgegebene hinnahm, es steckte doch mehr dahinter als eine bloße Bekleidungsfrage, mehr als etwas, das seinem Leben zwar keinen Inhalt, wohl aber Haltung gab. Oft glaubte er die ganze Frage und auch Bertrand mit dem Wort: »Kameraden in des Königs Rock« abtun zu können, obzwar er weit davon entfernt war, damit eine außerordentliche Hochachtung vor dem Rock des Königs ausdrücken zu wollen oder einer besonderen Eitelkeit zu frönen, war er doch sogar darauf bedacht, daß seine Eleganz über eine genau eingehaltene vorschriftsmäßige Korrektheit nicht hinausginge oder von ihr abwiche, und er hörte es auch nicht ungern, als einmal im Kreise der Damen die begründete Ansicht ausgesprochen ward, daß des Uniformstückes hölzern langer Schnitt und die aufdringlichen Farben des bunten Tuches ihm schlecht genug zu Gesichte stünden, ja, daß ein braunsamtener Künstlerrock und ein loser Schlips ihn weit besser kleiden würden. Daß ihm trotzdem die Uniform weit mehr bedeutete, läßt sich teilweise durch die von der Mutter ererbte Beharrlichkeit erklären, die dem einmal Gewohnten unbewegt anzuhängen pflegte. Und manchmal schien es ihm selber, als dürfe es auch für ihn keine andere Haltung geben, obgleich er noch immer voller Groll gegen die Mutter war, welche sich damals den Bestimmungen Onkel Bernhards ohne Widerspruch untergeordnet hatte. Aber nun war es schon einmal geschehen, und wenn einer seit seinem zehnten Lebensjahr daran gewöhnt ist, eine Uniform zu tragen, dem ist das Kleid schon wie ein Nessushemd eingewachsen, und keiner, am allerwenigsten Joachim v. Pasenow, vermag dann noch anzugeben, wo die Grenze zwischen seinem Ich und der Uniform liegt. Und doch war es mehr als Gewohnheit. Denn wenn es auch nicht sein militärischer Beruf gewesen ist, der in ihn hineingewachsen war oder er in ihn, so war ihm die Uniform Symbol für mancherlei geworden; und er hatte sie im Laufe der Jahre mit so vielen Vorstellungen ausgefüttert und ausgepolstert, daß er, in ihr geborgen und abgeschlossen, sie nicht mehr hätte missen können, abgeschlossen gegen die Welt und gegen das Vaterhaus, in solcher Sicherheit und Geborgenheit sich bescheidend oder kaum mehr bemerkend, daß die Uniform ihm nur einen schmalen Streifen persönlicher und menschlicher Freiheit ließ, nicht breiter als der schmale Streifen der Stärkmanschette, den die Uniform den Offizieren gestattet. Er liebte es nicht, Zivil anzulegen, und es war ihm recht, daß ihn die Uniform von dem Besuche anrüchiger Lokale abhielt, in denen er den Zivilisten Bertrand in Begleitung lockerer Frauenzimmer vermutete. Denn oft überkam ihn unheimliche Angst, auch er könne in das unerklärliche Schicksal Bertrands hineingleiten. Deshalb verdachte er es auch seinem Vater, daß er ihn bei dem obligaten Bummel durch das Berliner Nachtleben, mit dem der Besuch in der Reichshauptstadt traditionsgemäß abgeschlossen wurde, begleiten und eben in Zivil begleiten mußte.

 

Als Joachim am nächsten Tage den Vater zur Bahn brachte, meinte dieser »Nun, wenn du jetzt Rittmeister wirst, werden wir wohl auch ans Heiraten denken müssen. Wie wäre es mit Elisabeth? Sind schließlich ein paar hundert Morgen, die die Baddensen in Lestow drüben haben, und das Mädel wird das Ganze einmal erben.« Joachim schwieg. Gestern hätte er ihm beinahe um fünfzig Mark ein Mädchen gekauft, und heute versucht er es mit einer legitimen Verbindung. Oder hatte der alte Mann vielleicht auch noch Gelüste auf Elisabeth wie auf das Mädchen, dessen Hand Joachim jetzt wieder im Nacken fühlte! Aber unvorstellbar war es, daß einer überhaupt wagen könnte, Elisabeth zu begehren, und noch weniger vorstellbar, daß jemand eine Heilige durch den eigenen Sohn vergewaltigen lassen wolle, weil er es selber nicht besorgen kann. Fast möchte er dem Vater den ungeheuerlichen Verdacht abbitten; freilich ist dem Alten alles zuzutrauen. Ja, man müßte alle Frauen der Welt vor diesem Greis schützen, denkt Joachim, während sie den Bahnsteig entlang gehen und auch noch, als er dem Zug salutierend nachblickt, denkt er dies. Doch als der Zug verschwunden war, denkt er an Ruzena.

Auch abends denkt er noch an Ruzena. Es gibt Frühlingsabende, deren Dämmerung viel länger währt, als es astronomisch vorgeschrieben ist. Dann senkt sich rauchiger, dünner Nebel über die Stadt und gibt ihr jene etwas gespannte Gedämpftheit des Feierabends, der einem Festtag vorangeht. Und es ist auch, als hätte sich das Licht in diesem gedämpften lichtgrauen Nebel so sehr verfangen, daß es immer noch helle Fäden in ihm gibt, wenn er auch schon schwarz und samtig geworden ist. So dauert diese Dämmerung sehr lange, so lange, daß die Inhaber der Geschäfte vergessen, die Läden zu schließen; plaudernd stehen sie mit den Kundinnen vor der Tür, bis der Schutzmann vorbeikommt und sie auf die Überschreitung der Sperrstunde lächelnd aufmerksam macht. Auch dann blinkt noch Licht aus vielen Läden, denn rückwärts hinter dem Lokale sitzt die Familie beim Abendbrot; sie haben den Balken nicht wie sonst vor den Eingang gezogen, sondern bloß einen Stuhl davorgelegt, um zu zeigen, daß die Kunden nicht mehr bedient werden, und wenn sie fertig gegessen haben, werden sie herauskommen, werden ihre Stühle mitbringen und vor der Ladentüre ausruhen. Sie sind zu beneiden, die kleinen Geschäftsleute und Handwerker, die ihre Wohnung hinter dem Verkaufsraum haben, beneidenswert im Winter, wenn sie die schweren Balken vorlegen, um doppelt geschützt und warm die lichte Stube zu besitzen, aus deren Glastür zur Weihnachtszeit der geschmückte Baum ins Geschäftslokal lächelt, beneidenswert an den milden Frühjahrs- und Herbstabenden, wenn sie, die Katze auf dem Schoße oder die kraulende Hand auf des Hundes weichem Nacken, vor ihrer Türe sitzen wie auf der Terrasse ihres Gartens.

Joachim, von der Kaserne kommend, geht durch die Vorstadtstraße. Es ist nicht standesgemäß, dies zu tun, und die Offiziere fahren sonst stets im Regimentswagen in ihre Wohnungen. Niemand geht hier spazieren, sogar Bertrand täte es nicht, und daß er nun selber hier geht, ist Joachim so unheimlich, als ob er irgendwo ins Gleiten geraten wäre. Aber ist es nicht fast so, als wollte er sich damit für Ruzena erniedrigen? Oder soll es gar eine Erniedrigung Ruzenas sein? Denn seine Vorstellung beheimatet sie nun ganz deutlich in einer Vorstadtwohnung, vielleicht sogar in jenem Kellerlokal, vor dessen dunklem Eingang Grünzeug und Gemüse zum Verkaufe liegt, während Ruzenas Mutter strickend davor hockt und die dunkle fremde Sprache redet. Er spürt den blakigen Geruch von Petroleumlampen. In dem geduckten Kellergewölbe blinkt ein Licht auf. Es ist eine Lampe, die hinten an der schmutzigen Mauer befestigt ist. Fast könnte er selbst mit Ruzena dort vor dem Gewölbe sitzen, ihre Hand kraulend auf seinem Nacken. Doch er erschrickt, als er sich dieses Bildes bewußt wird, und es wegzuzwingen, versucht er daran zu denken, wie über Lestow die gleiche lichtgraue Abenddämmerung ruht. Und in dem nebelstummen Park, der schon nach feuchtem Grase riecht, findet er Elisabeth; sie geht langsam zum Hause hin, aus dessen Fenstern die milden Petroleumlampen durch die steigende Dämmerung blinken, und auch ihr kleiner Hund ist bei ihr, als ob auch der schon müde wäre. Doch wie er näher und schärfer hindenkt, sieht er sich und Ruzena auf der Terrasse vor dem Hause, und Ruzena hat die Hand kraulend auf seinen Nacken gelegt.

 

Es verstand sich von selbst, daß man bei diesem schönen Frühlingswetter in guter Stimmung war und daß die Geschäfte sich gut anließen. So dachte auch Bertrand, der sich seit einigen Tagen in Berlin aufhielt. Aber im Grunde wußte er, daß seine gute Laune doch bloß von den Erfolgen herrührte, die er nun schon seit Jahren bei allen seinen Aktionen hatte und daß er andererseits diese gute Laune brauchte, um Erfolg zu haben. Es war ein freundliches Gleiten, beinahe so, als müßte er sich nicht zu den Dingen hinbewegen, sondern als kämen sie entgegengeschwebt. Vielleicht war auch dies einer der Gründe gewesen, um derentwillen er das Regiment verlassen hatte: so viele Dinge gab es, die ringsum sich anboten und von denen man damals ausgeschlossen war. Was sagten ihm einstens die Firmenschilder der Banken, der Rechtsanwälte, der Spediteure? es waren tote Worte, die man übersah oder von denen man gestört wurde. Jetzt wußte er vielerlei von den Banken, wußte, was hinter den Schaltern geschah, ja, er verstand nicht nur die Aufschriften der Schalter, Eskompte, Valuten, Giroverkehr, Wechselkassa, sondern er wußte auch, was in den Büros der Direktion vor sich ging, wußte eine Bank nach ihren Einlagen und ihren Reserven zu beurteilen, und ein Kurszettel gab ihm lebendigen Aufschluß. Er verstand Ausdrücke wie Transit und Zollfreilager bei den Spediteuren und all dies war sehr natürlich in sein Wesen eingeflossen, ihm so selbstverständlich wie jene messingene Tafel am Steinweg in Hamburg »Eduard v. Bertrand, Baumwollimporte«. Und daß nunmehr eine ebensolche Tafel in der Rolandstraße in Bremen und beim Cotton Exchange in Liverpool zu sehen war, machte ihn geradezu stolz.

Als er Pasenow Unter den Linden begegnete, eckig im langen Uniformrock mit den Epauletten, eckig die Schultern, während er die seinen bequem in dem englischen Tuch bewegte, wurde ihm besonders fröhlich zumute und er begrüßte ihn so vertraut und leicht wie immer, wenn er einen der alten Kameraden traf, ja er fragte ihn ohne weiteres, ob er schon zu Mittag gespeist habe und ob er nicht mit ihm bei Dressel frühstücken wolle.

Pasenow vergaß angesichts des plötzlichen Zusammentreffens und der raschen Herzlichkeit, wie sehr er in den letzten Tagen an Bertrand gedacht hatte; wieder schämte er sich, daß er, schön gekleidet in seiner Uniform, mit einem sprach, der sozusagen nackt in Zivil vor ihm stehen mußte, und am liebsten wäre er dem Antrag, gemeinsam zu speisen, ausgewichen. Aber er fand sich bloß zu der Konstatierung zurecht, daß er Bertrand doch schon außerordentlich lange nicht gesehen habe. Ja, das sei bei dem gleichförmigen, seßhaften Leben, das Pasenow führe, kein Wunder, meinte Bertrand. Ihm dagegen, in seiner Unruhe und Gejagtheit, schiene es, als wäre es gestern gewesen, daß sie gemeinsam ihre ersten Portepees über die Linden getragen und zum ersten Male bei Dressel soupiert hätten – indessen waren sie eingetreten –, und dabei sei man doch älter geworden. Pasenow dachte: er spricht zu viel – aber weil es ihm angenehm war, daß Bertrand eine häßliche Eigenschaft besaß, oder weil er spürte, daß die bisherige Schweigsamkeit des einstigen Freundes ihn immer gekränkt hatte, fragte er trotz seines Widerwillens gegen jede Indiskretion, wo Bertrand denn überall gewesen sei; der machte eine leicht wegwerfende Handbewegung, als schiebe er etwas Nebensächliches fort: »Nun, mancherorts, zuletzt in Amerika.« Ja, Amerika – Amerika war für Joachim stets das Land der ungeratenen, verstoßenen und verkommenen Söhne gewesen und der alte v. Bertrand ist wohl doch vor Kummer gestorben! Aber dies wieder verband sich schlecht mit dem artigen Manne, der leicht und durchaus wohlsituiert ihm gegenübersaß. Pasenow hatte allerdings schon von solchen Ungeratenen gehört, die drüben als Farmer zu Wohlstand gekommen waren, dann nach Deutschland heimkamen, um eine deutsche Braut zu suchen, und dieser holte jetzt vielleicht Ruzena; doch nein, sie ist keine Deutsche, sondern eine Tschechin, oder, wie man richtiger zu sagen hat, eine Böhmin. Dennoch dem Gedanken verhaftet, fragte er weiter: »Und Sie gehen wieder zurück?« »Nein, vorerst nicht, vorerst muß ich nach Indien.« Also ein Abenteurer! Und Pasenow sah sich in dem Lokale um, betreten, mit dem Abenteurer beim Mahle zu sitzen; indes, nun galt es durchzuhalten: »So sind Sie also stets auf Reisen.« »Mein Gott, so weit es eben die Geschäfte verlangen – aber ich reise gerne. Man soll bekanntlich immer das tun, wozu einen der Dämon treibt.« Damit war es also heraus; nun wußte er es: Bertrand hatte den Dienst quittiert, um Geschäfte zu machen, aus Profitgier, aus Habsucht. Doch Bertrand, dickhäutig wie diese Profitjäger schon sind, fühlte nicht die Verachtung, sondern sprach unbefangen weiter: »Sehen Sie, Pasenow, das wird mir ja immer unbegreiflicher, daß Ihr es hier überhaupt aushaltet. Warum melden Sie sich nicht wenigstens zum Kolonialdienst, da Ihnen das Reich schon den Spaß eingerichtet hat?« Pasenow und seine Kameraden hatten sich über das Kolonienproblem nie den Kopf zerbrochen; das war ein Reservatum der Marine; aber trotzdem war er empört: »Spaß?« Bertrand hatte jetzt wieder diesen ironischen Zug um den Mund: »Nun ja, was soll dabei heraussehen? Ein bißchen privater Kriegsspaß und Kriegsruhm für die unmittelbar Beteiligten. Natürlich alle Achtung für Dr. Peters, und wäre er früher gekommen, ich hätte wahrhaftig mitgetan, aber was soll sonst wirklich dabei heraussehen, außer Romantik? Ist ja doch alles Romantik – mit Ausnahme der katholischen und evangelischen Missionstätigkeit natürlich, die nüchterne, zweckdienliche Arbeit besorgt. Aber alles andere – Spaß, nichts als Spaß.« Er sprach so wegwerfend, daß Pasenow ehrlich aufgebracht ward, doch klang es eher gekränkt: »Warum sollen wir Deutschen vor andern Völkern zurückstehen?« »Ich will Ihnen etwas sagen, Pasenow, erstens, England ist England, zweitens ist auch für England nicht aller Tage Abend, drittens lege ich überflüssige Kapitalien immer noch lieber in englischen Kolonialpapieren an als in deutschen, so daß man also sogar von einer wirtschaftlichen Kolonialromantik sprechen kann, und viertens, ich sagte es bereits, ist es immer nur die Kirche, die an Kolonialexpansion ein wahres nüchternes Interesse hat.« Die gekränkte Verwunderung Joachim v. Pasenows wuchs und auch das Mißtrauen, dieser Bertrand wolle ihn durch undurchsichtige und pfauenhafte Reden blenden und irgendwohin verführen und hinabziehen. Irgendwie hing das mit den so durchaus unmilitärischen, fast gelockten Haaren Bertrands zusammen. Irgendwie war es schauspielerhaft. Joachim fiel das Wort Pfuhl ein und Höllenpfuhl; warum redete jener immer vom Glauben und von der Kirche? Aber bevor er sich noch zur Antwort zurechtfand, hatte Bertrand wohl schon sein Erstaunen gemerkt: »Ja, sehen Sie, Europa ist für die Kirche doch schon ein recht dubioser Posten geworden. Afrika hingegen! Hunderte von Millionen Seelen als Rohmaterial für den Glauben. Und Sie können überzeugt sein, daß ein getaufter Neger ein besserer Christ ist als zwanzig Europäer. Wenn sich Katholizismus und Protestantismus bei diesen Fanatisierten den Rang ablaufen wollen, so ist dies mehr als verständlich; dort liegt ja die Zukunft des Glaubens, dort sind jene künftigen Glaubensstreiter, die einmal gegen das heidnisch versunkene und verpfuhlte Europa im Namen Christi sengend und brennend losziehen sollen, um schließlich einen schwarzen Papst inmitten der rauchenden Trümmer Roms auf den Stuhl Petri zu setzen.« Das ist die Apokalypse Johannis, dachte Pasenow; er lästert. Und was will er mit den Seelen der Neger? Sklavenhändler gibt es doch nicht mehr, obwohl einem, der von der Profitgier besessen ist, auch das zuzutrauen wäre. Er hat doch eben von seinem Dämon gesprochen. Aber vielleicht spaßt er bloß; schon in der Schule wußte man nie, wie Bertrand es meinte. »Sie scherzen! Und was die Spahis und Turkos betrifft, so sind wir mit ihnen schon einmal fertig geworden.« Bertrand mußte lächeln und er lächelte so freundlich und gewinnend, daß auch Joachim nicht umhin konnte zu lächeln. So lächelten sie sich freundlich an und ihre Seelen nickten sich durch die Fenster ihrer Augen zu, eben für einen Augenblick, wie zwei Nachbarn, die sich nie gegrüßt und nun zufällig zu gleicher Zeit aus ihren Fenstern sich lehnen, erfreut und beschämt ob dieses unvermuteten Grußes und seiner Gleichzeitigkeit. Aus ihrer Beschämung retteten sie sich in die Konvention und Bertrand sagte, sein Glas erhebend: »Pupille, Pasenow«, und Pasenow sagte: »Pupille, Bertrand«, worauf sie beide nochmals lächeln mußten.

Als sie das Lokal verließen und Unter den Linden standen, vor diesen etwas welken, bewegungslosen Bäumen im heißen Licht der Nachmittagssonne, erinnerte sich Pasenow dessen, was während des Frühstücks zu sagen er sich gescheut hatte: »Ich begreife eigentlich nicht, was Sie gegen die Gläubigkeit von uns Europäern einzuwenden haben. Ich meine, daß Sie als Großstädter doch nicht den richtigen Einblick besitzen. Wenn man, wie ich, auf dem Lande aufgewachsen ist, so steht man zu diesen Dingen doch anders. Auch unser Volk draußen ist dem Christlichen viel enger verbunden, als Sie anzunehmen scheinen.« Irgendwie fühlte er sich kühn, weil er Bertrand dies so geradeaus ins Gesicht sagte, ein Troupier, der einem Generalstabsoffizier strategische Ausstellungen machen wollte, und er fürchtete ein wenig, daß Bertrand böse sein könnte. Aber der sagte bloß heiter: »Na, dann mag ja doch noch alles in schönste Ordnung kommen.« Und dann tauschten sie ihre Adressen und versprachen einander, daß sie in Verbindung bleiben wollten.

Pasenow nahm eine Droschke, um nach Westend zum Rennen zu fahren. Der Rheinwein, die Hitze des Nachmittags und wohl auch die Sonderbarkeit dieses Zusammentreffens ließen hinter der Stirn und unter den Schädelknochen – gerne hätte er die steife Mütze abgenommen – ein dunkles und brüchiges Gefühl zurück, nicht viel anders als das Leder des Sitzes, das er durch den weißen Handschuh hindurch mit den Fingerspitzen fühlte, ein wenig klebrig sogar, so sehr brannte die Sonne darauf. Es tat ihm leid, daß er Bertrand nicht eingeladen hatte mitzufahren und er war froh, daß wenigstens der Vater nicht mehr in Berlin weilte, denn der wäre sonst sicherlich hier neben ihm gesessen. Andererseits war er doch recht froh, daß Bertrand im Zivilanzug ihn nicht begleitet hatte. Aber vielleicht will ihn Bertrand überraschen, holt Ruzena ab und sie alle werden sich draußen auf dem Rennplatz treffen. Wie eine Familie. Aber das ist ja alles Unsinn. Mit so einem Mädchen würde sich nicht einmal Bertrand auf dem Rennplatz zeigen.

 

Als wenige Tage darauf Kamerad Leindorff Besuch seines alten Herrn empfing, war es für Pasenow wie ein Befehl des Himmels, das Jägerkasino aufzusuchen, damit er dem alten Leindorff, den er schon mit geradlinigem, geschäftigem Schritt die schmale Treppe dort hinaufsteigen sah, zuvorkomme. Er fuhr im Regimentswagen nach Hause und bekleidete sich mit dem Zivilgehrock. Dann machte er sich auf den Weg. An der Ecke begegnete er zwei Soldaten; er wollte schon lässig zum Mützenrand greifen, um ihren Gruß zu erwidern, da merkte er, daß sie ihn gar nicht gegrüßt hatten und daß er statt der Mütze den Zylinder trug; das alles war irgendwie ungereimt und er mußte sogar lächeln, weil es so absurd war, daß der alte halbgelähmte Graf Leindorff, der an nichts anderes als an seine ärztlichen Konsultationen dachte, sich heute ins Jägerkasino begeben sollte. Am klügsten wäre es wohl, einfach umzukehren, aber da er dies jeden Augenblick tun konnte, hatte er ein kleines Freiheitsgefühl und ging weiter. Allerdings wäre er lieber in die Vorstadt hinausgewandert, um den Gemüsekeller mit der rauchigen Petroleumlampe an der Mauer wiederzusehen; aber er konnte doch nicht in Gehrock und Zylinder im Norden draußen promenieren. Da draußen war der Abend wohl auch heute so zauberhaft verdämmert wie damals, doch hier im eigentlichen Zentrum der Stadt schien alles der Natur feindlich zu sein, über dem lärmenden Licht und über den vielen Schaufenstern und dem bewegten Leben der Straße waren selbst der Himmel und seine Luft so sehr städtisch und so heimatsferne, daß es zu einem beglückenden und beruhigenden, dennoch beunruhigenden Heimfinden wurde, als er ein kleines Weißwarengeschäft entdeckte, das in schmalen Fensterchen Spitzen, Rüschen, angefangene Handarbeiten mit blauem Vordruck ausstellte, und als er die Glastüre sah, die im Hintergrund des Ladens offenbar in einen Wohnraum führte. Hinter dem Verkaufstisch saß eine weißhaarige Frau, beinahe damenhaft, neben ihr ein junges Mädchen, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, beide mit Handarbeiten beschäftigt. Er betrachtete die Waren in der Auslage und überlegte, ob man Ruzena mit solchen Spitzentüchlein nicht eine herzliche Freude bereiten könnte. Allein auch dies dünkte ihn wieder absurd und er ging weiter; bei der nächsten Querstraße aber kehrte er zu dem Laden zurück, getrieben von dem Wunsche, das abgewandte Gesicht des Mädchens zu sehen; er erstand drei zarte Tücher, ohne sie eigentlich für Ruzena zu bestimmen, so aufs Geratewohl und beglückt, auch der alten Dame mit dem Einkauf Freude zu machen. Das Mädchen aber hatte ein gleichgültiges Gesicht, ja es schaute fast böse drein. Dann ging er nach Hause.

 

Im Winter, zur Zeit der Hoffestlichkeiten, die eine uneingestandene Hoffnung der Baronin waren, im Frühling, zur Zeit der Rennen und der Sommereinkäufe, bewohnte die Familie Baddensen ein schmuckes Haus im Westend, und an einem Sonntagvormittag stattete Joachim v. Pasenow den Damen seinen Besuch ab. Selten kam er in diese entlegene Villengegend, die nach dem Muster der englischen Cottages sich rasch hier ausdehnte, obwohl bloß begüterte Familien, die eine ständige Equipage ihr eigen nannten, hier wohnen konnten, ohne des Nachteils der großen Entfernung zur Stadt allzusehr gewahr zu werden. Aber für jene Bevorzugten, die den räumlichen Nachteil solcherart sich mildern durften, war der Aufenthalt ein kleines ländliches Paradies, und Pasenow, die gepflegten Straßen zwischen den Villen durchschreitend, war von der Vorzüglichkeit dieser Wohngegend angenehm und herzlich durchdrungen. Manches war in den letzten Tagen unsicher geworden und dies hing auf eine unerklärliche Weise mit Bertrand zusammen: es war irgendein Pfeiler des Lebens brüchig geworden, und wenn auch noch alles an seinem alten Platze stand, weil die Teile sich gegenseitig stützten, so war mit dem vagen Wunsche, daß auch das Gewölbe dieses Gleichgewichts noch bersten und die Stürzenden und Gleitenden unter sich begraben möge, zugleich die Furcht aufgekeimt, daß solches sich erfüllen werde, und es wuchs die Sehnsucht nach Festigkeit, Sicherheit und Ruhe. Nun, diese wohlhabende Villengegend mit ihren schloßartigen Gebäuden in trefflichstem Renaissance-, Barock- oder Schweizerstil, umgeben von wohlgepflegten Gärten, aus denen man das Harken der Gärtner, den Strahl des Gartenschlauches, das Plätschern der Fontänen vernahm, strömte große und insulare Sicherheit aus, so daß man Bertrands Prophezeiung, daß auch für England noch nicht aller Tage Abend sei, wirklich kaum glauben konnte. Aus offenen Fenstern tönten Etüden von Stephen Heller und von Clementi: wohlgeborgen können die Töchter dieser Familien ihren Studien nachgehen; gutes Geschick der Sicherheit und der Sanftheit, von Freundschaft erfüllt, bis Liebe die Freundschaft ablöst und die Liebe wieder in Freundschaft verklingt. Von ferne, nicht von allzu ferne her krähte ein Hahn, als wollte auch er die Ländlichkeit dieses gepflegten Aufenthaltes andeuten: ja, wäre Bertrand auf der Scholle aufgewachsen, so würde er nicht Unsicherheit verbreiten, und hätte man ihn selbst in der Heimat gelassen, so wäre er für die Unsicherheit nicht empfänglich geworden. Schön wäre es, mit Elisabeth durch die Felder zu gehen, das reifende Korn zwischen die prüfenden Finger zu nehmen und abends, wenn der schwere Geruch der Ställe vom Winde herübergetragen wird, den sauber gekehrten Hof zu durchqueren, um nach dem Melken zu sehen. Dann stünde Elisabeth dort zwischen den großen rustikalen Tieren, viel zu schmal für die Gewichtigkeit dieser Umwelt, und was bei der Mutter bloß natürlich und heimatlich war, das wird bei ihr rührend und heimatlich zugleich. Aber zu alldem war es für ihn ja zu spät, für ihn, den man zum Fremdling gemacht hatte, und er ist – nun fiel es ihm ein – heimatlos wie Bertrand.

Nun umfing ihn Geborgenheit des Gartens, dessen Zäune durch Hecken verdeckt waren. Und die Geborgenheit dieser Natur war noch dadurch erhöht, daß sich die Baronin einen der Plüschfauteuils aus dem Salon in den Garten hatte bringen lassen: der stand da wie etwas Exotisches und Wärmebedürftiges mit seinen gedrechselten Füßen und den beräderten Hufen auf dem Gartenkies und lobte die Freundlichkeit des Klimas und der zivilisierten Natur, die ihm solchen Verbleib gestattete; seine Farbe aber war die einer verwelkenden schwarzroten Rose. Elisabeth und Joachim saßen auf den eisernen Gartenstühlen, deren Blechsitze gleich erstarrten Brüsseler Spitzen mit Sternen durchbrochen waren.

Nachdem man die Vorzüge dieser Wohngegend, die besonders jenen zustatten komme, die das ländliche Leben gewohnt seien und es lieben, genugsam erörtert hatte, wurde Joachim nach seinem Leben in der Residenz befragt, und er konnte nicht umhin, seine Sehnsucht nach dem Lande zu äußern und auch zu begründen. Er fand bei den Damen volle Zustimmung; insbesondere die Baronin beteuerte stets von neuem, daß sie, er möge nicht staunen, oft tage-, ja wochenlang nicht ins Stadtzentrum käme, so sehr ängstige, ja ängstige sie der Trubel, der Lärm und der gigantische Verkehr. Nun, meinte Pasenow, hier hätten sie ja ein wahres Refugium, und das Gespräch bewegte sich wieder einige Zeit im Fahrwasser dieser bevorzugten Wohngegend, bis die Baronin, als wollte sie ihm eine frohe Überraschung bereiten, geheimnisvoll fast, ihm mitteilte, daß ihnen das Häuschen, das sie so liebgewonnen hatten, zum Kaufe angeboten worden sei. Und in der Vorfreude des Besitzes forderte sie ihn auf, das Häuschen doch anzusehen, le tour du propriétaire zu machen, wie sie mit ein wenig Verschämtheit und Ironie hinzufügte.

In üblicher Weise lagen im Erdgeschoß die Gesellschafts-, im Oberstock die Schlaf räume der Familie. Ja, sie würden nun an den Speisesaal, der mit seinen geschnitzten altdeutschen Möbeln düstere Behaglichkeit ausströmte, einen Wintergarten mit Springbrunnen anbauen und wohl auch den Salon ausgestalten. Dann stiegen sie die Treppe empor, welche oben und unten mit schön gerafften Samtportieren verhängt war, und die Baronin ließ nicht ab, jede der Türen zu öffnen und bloß die diskreteren wurden ausgelassen. Mit Zögern und einem kleinen Erröten wurde das Zimmer Elisabeths dem männlichen Auge gezeigt, doch mehr noch als dieses Gewölke weißer Spitzen, mit welchem das Bett, die Fenster, Waschtisch und Spiegel verhängt waren, wurde das Schlafzimmer des Ehepaares für Joachim zum schamhaften und peinlichen Erlebnis, ja fast verdachte er es der Baronin, daß sie ihn solcherart zum Vertrauten des Hauses und Mitwisser seiner Schande gemacht und gezwungen hatte. Denn nun stand vor seinem Auge, hier vor aller Augen, unverborgen vor Elisabeth, die er von solchem Wissen belastet und vergewaltigt fühlte, Bett an Bett, bereit zur Sexualfunktion der Baronin, die er nun zwar nicht nackt, aber undamenhaft und wie aufgerissen vor sich sah, stand dieses Schlafzimmer, und dies Zimmer erschien ihm nun plötzlich als der Mittelpunkt des Hauses, als sein versteckter und doch öffentlich sichtbarer Altar, um den alles andere herumgebaut war. Und ebenso plötzlich wurde ihm klar, daß in jedem der Häuser der langen Villenreihe, die er durchschritten hatte, ein ebensolches Schlafzimmer Mittelpunkt ist und daß die Sonatinen und Etüden, hinausgesendet aus den geöffneten Fenstern, hinter denen der Frühlingswind die weißen Spitzenvorhänge sanft bewegt, bloß den wahren Sachverhalt verschleiern sollen. So werden abends überall die Betten für die Herrschaft gerichtet mit den Laken, die so heuchlerisch glatt in der Wäschekammer gefaltet werden, und das Gesinde und die Kinder wissen, wofür dies geschieht; überall schlafen Dienerschaft und Kinder keusch und ungepaart um den gepaarten Mittelpunkt des Hauses herum, sie keusch und fromm, dennoch im Dienst und Befehl der Unkeuschen und Schamlosen. Wie hatte die Baronin es wagen können, da sie die Vorzüge der Gegend pries, die Nähe der Kirche in dieses Lob einzuschließen: müßte sie nicht als Letzte, sozusagen barfuß die Kirche betreten? Vielleicht hatte Bertrand dies gemeint, als er von der Unchristlichkeit sprach, und es wollte Joachim einleuchten, daß schwarze Gottesstreiter mit Feuer und Schwert über das Gezücht herfallen werden, um wahre Keuschheit und Christlichkeit wiederherzustellen. Er schaute zu Elisabeth hin und glaubte, in ihren Blicken Einverständnis mit seiner Empörung zu lesen. Und daß sie zu gleicher Entweihung bestimmt sein könnte, ja daß er selbst es sein sollte, der ihr solche Entweihung werde antun müssen, erfüllte ihn mit solcher Rührung, daß er sie hätte rauben mögen, bloß um vor ihrer Tür zu wachen, damit ungestört und ungeschändet in einem Traum von weißen Spitzen ewig sie träume.

Freundlich von den Damen ins Erdgeschoß zurückgeleitet, verabschiedete er sich mit dem Versprechen, bald wiederzukommen. Auf der Straße wurde er sich der Leere dieses Besuches bewußt; er dachte daran, wie die Damen von Bertrands Reden bestürzt wären und er wünschte sogar, sie könnten ihn einmal hören.

 

Wenn ein Mensch sowohl infolge der kastenmäßigen Abgeschlossenheit seines Lebens, als auch infolge einer gewissen Trägheit des eigenen Gefühls die Gewohnheit angenommen hat, den Nebenmenschen zu übersehen, so muß es ihm selber auffallen und verwunderlich erscheinen, wenn sein Auge von zwei fremden jungen Leuten gefesselt wird, die sich in seiner Nähe unterhalten. Solches widerfuhr Joachim eines Abends im Foyer des Opernhauses. Die beiden Herren waren offenbar Ausländer und hatten die Zwanzig nicht viel überschritten; am ehesten hätte er sie für Italiener gehalten, nicht nur, weil der Schnitt ihrer Anzüge ein wenig außergewöhnlich schien, sondern weil der eine, schwarzäugig und schwarzhaarig, den italienischen Knebelbart trug. Und obwohl es Joachim widerstrebte, auf die Gespräche anderer Leute zu horchen, ward ihm dennoch inne, daß sie einer fremden Mundart sich bedienten, die aber nicht die italienische war, so daß er sich gezwungen fühlte, näher hinzulauschen, bis er mit einem kleinen Schreck zu erkennen glaubte, daß die beiden jungen Leute tschechisch, oder wie es richtiger hieß, böhmisch sprachen. Unbegründet war dieser Schrecken und noch unbegründeter erschien ihm das Gefühl der Untreue gegenüber Elisabeth, das sich dazu einstellte. Natürlich war es möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß Ruzena sich hier im Theater befände und daß die beiden jungen Leute sie ebenso in ihrer Loge aufsuchen würden, wie er selber manchmal Elisabeth in der ihrigen besucht hatte, und vielleicht hatte der junge Mann mit dem schwarzen Bärtchen und dem allzu gelockten schwarzen Scheitel wirklich eine Ähnlichkeit mit Ruzena, nicht bloß der Haarfarbe wegen: es war vielleicht der nämliche etwas zu kleine Mund, dessen Lippen sich zu deutlich von der gelblichen Haut abhoben, diese zu kurz und zu zierlich geratene Nase und das Lächeln, das irgendwie herausfordernd war – ja, herausfordernd war das richtige Wort –, und trotzdem um Verzeihung bat. Dennoch schien solches ungereimt und es mochte auch sein, daß er sich diese Ähnlichkeit nur einbildete; denn wenn er jetzt an Ruzena dachte, so mußte er sich eingestehen, daß ihr Bild völlig verblaßt war, ja daß er sie auf der Straße sicherlich nicht erkennen würde und daß er sie bloß durch die Maske und das Medium jenes jungen Mannes zu sehen vermochte. Das beruhigte ihn und machte die Angelegenheit irgendwie gefahrlos, ohne daß man dessen froh werden konnte, denn gleichzeitig und in einer anderen Schicht fühlte er es als etwas Unsagbares und Furchtbares, daß das Mädchen hinter der Maske eines Mannes verborgen war und dieser Gedanke wollte ihn auch nach der Pause nicht loslassen. Man gab den »Faust« und die süßen Klänge waren nicht minder sinnlos als das opernhafte Geschehen, in dem kein Mensch, und auch Faust selber nicht, es bemerkte, daß in den geliebten Zügen Margaretens das Antlitz Valentins verborgen liegt und daß Margarete dafür und für nichts anderes zu büßen hat. Vielleicht wußte es Mephisto, und Joachim war froh, daß Elisabeth keinen Bruder hatte. Als er dem Bruder Ruzenas nach der Vorstellung nochmals begegnete, fühlte er dankbar, daß damit auch die Schwester ihm verboten war, und er fühlte sich so sicher, daß er trotz seiner Uniform den Weg in die Jägerstraße einschlug. Und auch das Gefühl der Untreue war verflogen.

Allein, als er in die Friedrichstraße einbog, wußte er, daß er das Lokal doch nicht in Uniform betreten könnte. Er war enttäuscht und ging die Jägerstraße weiter. Was sollte er tun? Er bog um den nächsten Häuserblock, kam zur Jägerstraße zurück, ertappte sich dabei, wie er den vorübergehenden Mädchen unter den Hut schaute, oftmals in der Erwartung, italienische Worte zu hören. Als er aber wieder in die Nähe der Lokale kam, klang es nicht italienisch, sondern hartsingend stakkatiert: »Aber wollen S' mich gar nicht mehr kennen?« Pasenow sagte wider Willen »Ruzena« und dachte gleichzeitig: wie peinlich. Er stand in Uniform auf offener Straße mit so einem Mädchen, er, der sich noch vor wenigen Tagen Bertrands und seines Zivilanzuges auf der Straße fast geschämt hatte, und statt sich zu entfernen, war er, alle Haltung vergessend, geradezu glücklich, war sogar glücklich, daß dieses Mädchen Anstalten machte, weiterzuplaudern: »Wo ist heut' Pappa? Kommt heut' nicht?« An den Vater hätte sie ihn nicht erinnern dürfen: »Nein, heute geht es nicht, kleine Ruzena; auch …«, wie nennt sie ihn doch? – »auch der alte Herr kommt heute nicht ins Lokal …« Ja, und er müsse nun eilen. Ruzena sah ihn fassungslos an: »So lange haben mich warten lassen und jetzt ist nicht …«, aber, und ihr Gesicht hellte sich auf, er müsse sie besuchen. Er blickte in dieses ängstlich fragende Gesicht, als wollte er es endgültig sich einprägen, dennoch suchend, ob nicht das des südländischen Bruders mit dem Spitzbart darin verborgen wäre. Es war irgendeine Ähnlichkeit vorhanden; aber während er darüber nachdachte, ob ein Mädchen, das seinen Bruder im Antlitz trägt, ihm etwas anhaben könnte, fiel ihm sein eigener Bruder ein, der mit seinem kurzen Vollbart blond und männlich war, und das brachte ihn zur Wirklichkeit zurück. Natürlich war es etwas anderes; Helmuth gehörte aufs Land, er war ein Weidmann, hatte mit diesen weichlich südländischen Städtern nichts gemein, und es war trotzdem wie eine Beruhigung. Noch forschte sein Blick, aber seine Abneigung erlosch und er hatte das Bedürfnis, ihr etwas Liebes zu tun, etwas Gutes zu sagen, damit sie eine gute Erinnerung an ihn behalte; er zögerte noch: nein, kleine Ruzena, er werde sie nicht besuchen, aber … »Aber?« klang es ängstlich und erwartungsvoll …, Joachim wußte erst nicht, was sich an das Aber anschließen sollte, und da wußte er es auch schon: »Wir könnten uns ja draußen treffen, gemeinsam frühstücken.« Ja, ja, ja, ja, sie kenne ein kleines Gasthaus: morgen! Nein, morgen ginge es noch nicht, aber Mittwoch sei er dienstfrei, und sie machten aus, sich Mittwoch zu treffen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »Bist lieb und gut, du«, und lief davon, verschwand in der Türe, über welcher die Gasflammen brannten. Pasenow sah seinen Vater raschen und zielstrebigen Schrittes die Treppe hinaufsteigen und sein Herz zog sich deutlich und sehr schmerzlich zusammen.

 

Ruzena war von der steifen Konvention entzückt, mit der Joachim sie im Restaurant behandelt hatte, und sie vergaß darüber sogar die Enttäuschung, daß er in Zivil gekommen war. Der Tag war regnerisch und kühl; dennoch hatte sie auf ihr Programm nicht verzichten wollen und so waren sie nach dem Mittagessen nach Charlottenburg und an die Havel gefahren. Schon in der Droschke hatte Ruzena Joachims Handschuh abgestreift, aber jetzt, da sie den Uferweg entlanggingen, hatte sie seinen Arm genommen und unter den ihren geschoben. Sie gingen langsam, schritten in einer Landschaft, die erwartungsvoll war vor Stille, und dennoch nichts anderes erwarten konnte als den Regen und den Abend. Der Himmel lag weich darüber, oftmals durch Regenstriche mit der Erde wie zu innigerer Einheit verbunden, und auch für sie, wandelnd in der Stille, war es so, als ob ihnen nichts zurückgeblieben wäre denn Erwartung, als wäre alles, was in ihnen lebendig gewesen, in ihre Finger geflossen, die ineinandergelegt und ineinandergefaltet ruhten wie die Blätter einer geschlossenen Knospe. Schulter an Schulter gelehnt, von weitem einem Dreieck gleichend, gingen sie den Uferweg, stumm, denn sie wußten beide nicht, was sie zueinandergeweht hatte. Doch unversehens, während sie gingen, hatte Ruzena sich über seine Hand gebeugt, die in der ihren gefesselt lag, und hatte sie geküßt, noch ehe er sich freimachen konnte. Er schaute in Augen, die voll Tränen standen, auf einen Mund, der zum Weinen schon zuckte, doch noch sagte: »Wie bist mir auf Stiegen entgegen, hab' ich gesagt, Ruzena, hab' ich gesagt, ist nicht für dich, ist nie für dich. Und jetzt bist da …« Aber sie gab ihm die Lippen nicht zum erwarteten Kuß, sondern fiel, gierig fast, nochmals mit dem Gesicht auf seine Hand, und als er es nicht dulden wollte, biß sie sich fest, nicht arg, sondern so vorsichtig und zart wie ein kleiner Hund, der spielt; dann das Mal befriedigt betrachtend, sagte sie: »Jetzt gehme weiter spazieren. Regen schadet nicht.« Sanft sank der Regen in den Fluß, rieselte leise in den Blättern der Weiden. Ein Kahn lag halb ertränkt im Uferwasser; unter einem kleinen Holzsteg mündete ein Rinnsal mit rascherem Gefälle in das ruhige Gewässer des Flusses und Joachim fühlte auch sich fortgeschwemmt, als wäre das Sehnen, das ihn erfüllte, ein weiches, lindes Fließen seines Herzens, ein atmendes Gewässer, bangend danach, im Atem geliebten Mundes aufzugehen und zu vergehen wie in einem See unermeßlicher Stille. Es war, als taute der Sommer, so wurde das Wasser erst lind, rieselte es von den Blättern, Tautropfen die Gräser behangen. Ein sanfter Nebelschleier stand in der Ferne, und wandten sie sich um, so hatte er sich auch hinter ihnen geschlossen, so daß ihr Schreiten wie ein Ruhen war; setzte der Regen stärker ein, suchten sie Schutz bei den Bäumen, unter denen der Boden noch trocken lag, ein Flecken trockenen unerlösten Sommerstaubes, fast armselig in all der Gelöstheit ringsum; Ruzena zog die Nadeln aus dem Hut, nicht bloß weil der städtische Zwang sie störte, sondern auch um Joachim vor den scharfen Spitzen zu bewahren, nahm den Hut ab und lehnte sich mit dem Rücken an Joachim, als wäre er der schützende Baum. Ihren Kopf hatte sie zurückgebeugt, und senkte er sein Gesicht, so berührten seine Lippen ihre Stirn und die Locken, die schwarz sie rahmten. Er sah nicht die dünnen und ein wenig dummen Querfalten auf der Stirn, vielleicht weil er zu nahe war, um sie zu unterscheiden, vielleicht weil alles Schauen zu Fühlen aufgetaut war. Sie aber fühlte seine Arme um sie geschlungen, seine Hände in den ihren, fühlte sie sich wie im Geäst des Baumes, und sein Atem auf ihrer Stirn war wie das Rieseln des Regens in den Blättern; so unbewegt standen sie, und der graue Himmel wurde so eins mit der Wasserfläche, daß die Weiden der Insel drüben wie in einem grauen See schwebten, aufgehängt oben oder ruhend unten, man wußte es nicht. Doch dann betrachtete sie die nassen Ärmel ihrer Jacke und bedeutete leise, daß sie umkehren müßten. Nun schlug ihnen wohl die Nässe ins Gesicht, aber sie durften nicht eilen, denn es hätte den Zauber zerbrochen und sie wurden seiner erst wieder sicher, als sie in der kleinen Schenke Kaffee tranken. An den Scheiben der ländlichen Glasveranda rann der Regen nun immer dichter herab und von der Dachrinne plätscherte es dünn. Ging die Wirtin aus dem Raum, setzte Ruzena ihre Tasse hin, nahm ihm die seine aus der Hand und packte seinen Kopf, zog ihn herüber, ganz nahe zu ihren Augen, so nahe und doch immer noch kußlos, daß ihrer beider Blicke schmolzen und die Spannung schier unerträglich war in ihrer Süße. Als sie aber in der Droschke unter dem aufgestellten Dach mit der heruntergelassenen Regenklappe wie in einer dunklen Höhle saßen, leises, sanftes Trommeln der Tropfen auf dem gespannten Leder über sich, nichts sahen als den Pelerinenrand des Kutschers und von der Welt nicht mehr als die zwei grauen nassen Streifen des Fahrdammes in den Ausschnitten links und rechts und bald auch dies nicht mehr sahen, da beugten sich ihre Antlitze ineinander, mündeten und vergingen ineinander, ruhend und fließend wie der Fluß, verloren und uneinbringlich, immer wieder gefunden und im Zeitlosen untergetaucht. Es war ein Kuß, der eine Stunde und vierzehn Minuten währte. Dann hielt der Wagen vor Ruzenas Haus. Doch als er mit ihr eintreten wollte, schüttelte sie den Kopf und er wandte sich zum Gehen: aber der Schmerz dieses Abschiedes war so groß, daß schon nach wenigen Schritten er umkehrte und die Hand ergriff, die unbewegt sehnend noch ausgestreckt war, gezogen von der eigenen Bangigkeit und hingezogen von der ihren, wie im Traume schon beide, schlafwandelnd sie hinaufstiegen, die dunkle Treppe, die unter den Füßen knarrte, dunklen Vorraum durchquerten und in dem Zimmer, das im Schatten früher Regendämmerung lag, hinsanken auf den rauhen Teppich, der das Bett dunkel bedeckte, den Kuß wieder suchten, aus dem sie gerissen worden waren, ihre Gesichter feucht von Regen oder von Tränen, sie wußten es nicht. Ruzena aber machte sich frei, führte seine Hand zu den Haften, die ihre Taille am Rücken verschlossen und ihre singende Stimme war dunkel: »Mach auf das«, flüsterte Ruzena, riß zugleich an seiner Krawatte und den Knöpfen seiner Weste. Und wie in plötzlich jäher Demut, sei es vor ihm, sei es in Dankbarkeit vor Gott, fiel sie auf die Knie, den Kopf an der Bettkante, riß sie die Knöpfe seiner Schuhe auf. Oh, wie war dies fürchterlich, warum nicht hinsinken, unerinnert an die Futterale, in denen sie steckten, und doch, wie war er ihr dankbar, daß rührend sie es erleichterte: oh, Erlösung ihr Lächeln, mit dem sie das Bett aufschlug, in das sie stürzten. Noch störte das scharfkantige, gestärkte Plastron des Hemdes, das ins Kinn sie stach, und es öffnend und das Gesicht zwischen die scharfen Kanten zwängend, befahl sie: »Gib weg das«, und nun war Gelöstheit und Fühlen, Weichheit des Körpers, Atem, Ersticken in Verströmtheit des Gefühls, Entzücken, das aus der Bangigkeit aufsteigt. Oh, Bangigkeit des Lebens, die aus dem lebendigen Fleisch strömt, mit dem die Knochen überlagert sind. Weichheit der Haut, die darüber gebreitet und gespannt ist, furchtbare Mahnung des Knochengerüstes, des vielrippigen Brustkorbes, den du umfassen kannst und der atmend sich an dich drängt mit dem Herzen, das an dem deinen pocht. Oh, süßer Geruch der Haut, feuchter Duft, weiche Rinne unter den Brüsten, Dunkel der Achselhöhle. Aber noch war Joachim zu verwirrt, waren sie beide zu verwirrt, um das Entzücken zu wissen, wußten bloß, daß sie beisammen waren und sich doch suchen mußten. Im Dunkel sah er Ruzenas Gesicht, doch wie dahingleitend war es, gleitend zwischen den dunkleren Ufergebüschen der Locken, und seine Hand mußte es suchen, sich vergewissern, daß es da sei, fand die Stirn und die Lider, unter denen hart der Augapfel ruht, fand die beglückende Rundung der Wange und die Linie des Mundes zum Kusse geöffnet. Welle des Sehnens schlug gegen Welle, hingezogen von der Strömung fand sein Kuß den ihren, und während die Weiden des Flusses emporwuchsen und von Ufer zu Ufer sich spannten, sie umschlossen wie eine selige Höhle, in deren befriedeter Ruhe die Stille des ewigen Sees ruht, war es, so leise er es sagte, erstickt und nicht mehr atmend, bloß ihren Atem noch suchend, war es wie ein Schrei, den sie vernahm: »Ich liebe dich«, sie aufschloß, so daß wie eine Muschel im See sie sich aufschloß und er in ihr ertrinkend versank.

 

Unvermutet traf die Nachricht vom Tode seines Bruders ein. Er war im Duell mit einem polnischen Gutsbesitzer in Posen gefallen. Wäre es einige Wochen früher geschehen, Joachim wäre vielleicht nicht erschüttert gewesen. In den zwanzig Jahren, die er fern vom Hause verbracht hatte, war ihm die Gestalt des Bruders immer mehr verblaßt und wenn er an ihn dachte, so sah er bloß den blonden Jungen im Knabenanzug vor sich – sie waren stets gleich gekleidet gewesen, bis man ihn in die Anstalt gesteckt hatte –, und auch jetzt mußte er zuerst an einen Kindersarg denken. Doch unvermittelt erhob sich daneben Helmuths Bild, blondbärtig und männlich, das gleiche Bild, wie es ihm an jenem Abend in der Jägerstraße aufgetaucht war, als er fürchtete, das Antlitz eines Mädchens nicht mehr als das, was es ist, zu erkennen: ach, damals retteten die klareren Augen des Weidmanns ihn aus den Hirngespinsten, in die ein anderer ihn hatte ziehen und verstricken wollen, und diese Augen, die er ihm damals geliehen, die hatte Helmuth nun für immer geschlossen, vielleicht um sie ihm für immer zu schenken! Hatte er solches von Helmuth verlangt? Er fühlte sich frei von jeder Schuld und doch war es, als wäre dieser Tod für ihn geschehen, ja als hätte er ihn veranlaßt. Merkwürdig, daß Helmuth den Bart wie Onkel Bernhard getragen hatte, den gleichen kurzen Vollbart, der den Mund freiließ, und nun schien es Joachim, als hätte er stets Helmuth und nicht Onkel Bernhard, der doch der eigentlich Schuldige war, für die Kadettenanstalt und die militärische Karriere verantwortlich gemacht. Nun ja, Helmuth hatte zu Hause bleiben dürfen, hatte dazu noch geheuchelt – das mochte vielleicht der Grund sein, aber all dies ging so sonderbar durcheinander, um so sonderbarer, da er längst wußte, daß das Leben des Bruders nicht beneidenswert gewesen war. Er sah wieder den Kindersarg vor sich und Erbitterung gegen den Vater stieg auf. So war es also dem alten Manne gelungen, auch diesen Sohn aus dem Hause zu vertreiben. Es war ein erbittertes Gefühl der Befreiung, daß er den Vater für den Tod verantwortlich machen durfte.

Er fuhr zum Begräbnis. Als er in Stolpin anlangte, fand er einen Brief Helmuths vor: »Ich weiß nicht, ob ich aus dieser etwas überflüssigen Angelegenheit lebend herauskomme. Natürlich hoffe ich es, aber mir ist es trotzdem fast gleichgültig. Ich begrüße das Faktum, daß es so etwas wie einen Ehrenkodex gibt, der in diesem so gleichgültigen Leben eine Spur höherer Idee darstellt, der man sich unterordnen darf. Ich hoffe, daß Du in Deinem Leben mehr Werte gefunden hast als ich in dem meinen; manchmal habe ich Dich um die militärische Laufbahn beneidet; sie ist wenigstens ein Dienst an etwas Größerem, als man selber ist. Ich weiß ja nicht, wie Du darüber denkst, aber ich schreibe es Dir, um Dich zu warnen, die militärische Laufbahn (sollte ich fallen) aufzugeben, um das Gut zu übernehmen. Früher oder später wird es ja nötig sein, aber solange Vater lebt, ist es wohl besser, Du bleibst vom Hause ferne, es sei denn, daß die Mutter Dich brauchen sollte. Ich habe viel gute Wünsche für Dich.« Es folgte eine Reihe verschiedener Bestimmungen, über deren Ausführung Joachim zu wachen hätte, und zum Schluß etwas unvermittelt der Wunsch, Joachim möge weniger einsam sein als er.

Die Eltern waren sonderbar gefaßt, auch die Mutter. Der Vater begrüßte ihn mit einem Händedruck und sagte: »Er fiel für die Ehre, für die Ehre seines Namens«, und ging dann schweigend mit harten geradlinigen Schritten im Zimmer hin und her. Bald darauf wiederholte er: »Er fiel für die Ehre« und ging zur Türe hinaus.

Man hatte Helmuth im großen Salon aufgebahrt. Im Vorhaus spürte Joachim den schweren Duft der Blumen und Kränze: zu schwer für einen Kindersarg, ein obstinater und sinnloser Gedanke, und dennoch blieb Joachim zögernd in der schwerdrapierten Türe stehen, wagte nicht hinzuschauen, sah zu Boden. Die Parketten hier, die kannte er, kannte auch die Dreieckstafeln, die an die Türschwelle anstießen, kannte das Ornament, das sich fortsetzte, und da er es mit seinen Blicken verfolgt, so wie er sich als Kind bemüht hat, kunstvolle Muster darauf zu gehen, gelangt er zum Rande des schwarzen Teppichs, der unter den Katafalk gebreitet ist. Einige Blätter, von Kränzen abgefallen, liegen dort. Er hätte Lust, es wieder mit dem Ornamentweg zu versuchen, macht einige Schritte und sieht den Sarg. Es war kein Kindersarg, das war gut; aber noch schreckte er zurück, mit seinen sehenden Augen in die toten des Mannes zu schauen, in Augen, die sich so sehr erlöscht haben mußten, daß das Gesicht des Knaben darin ertrunken ist, vielleicht den Bruder nach sich ziehend, dem die Augen dennoch sich geschenkt, und die Vorstellung, er selber liege dort, wurde so stark, daß er es wie eine Erlösung und wie ein freundliches Geschick empfand, als er nähertretend erkannte, daß der Sarg geschlossen war. Irgend jemand sagte, daß das Gesicht des Toten durch die Schußwunde entstellt sei. Er hörte es kaum, blieb beim Sarg stehen, hatte die Hand auf den Deckel gelegt. Und in der Unbeholfenheit, die den Menschen vor einer Leiche und dem Schweigen des Todes überkommt, und in der alles Gegebene sich weitet und zerfällt, das Altgewohnte zerbricht und zerfallend erstarrt, die Luft dünn wird und untragfähig, war es, als würde er den Platz am Katafalk nie mehr verlassen können, und nur mit großer Anstrengung vermochte er sich zu erinnern, daß dies der große Salon war und daß der Sarg auf der Stelle stand, die sonst das Klavier einnahm, und daß am rückwärtigen Rande des Teppichs ein Stück Parkett sein mußte, das man noch nie betreten hatte; langsam ging er hin, berührte die schwarzverhängte Wand, spürte unter dem finsteren Tuche die Bilderrahmen und den Rahmen des Eisernen Kreuzes, und das wiedererlangte Stück Wirklichkeit verwandelte den Tod auf eine neuartige und fast spannende Weise in eine Art Tapeziererangelegenheit, fügte es fast mit Heiterkeit, daß man Helmuth mit seinem Sarg, dekoriert mit all seinen Blumen, wie ein neues Möbelstück in dieses Zimmer geschoben hatte, verengte das Unbegreifliche wieder so sehr ins Begreifliche und in die Kraft der Gewißheit, so sehr, daß das Erlebnis dieser Minuten – oder waren es bloß Sekunden gewesen? – in einem guten Gefühl ruhiger Zuversicht mündete. Der Vater erschien in Begleitung einiger Herren und Joachim hörte ihn wieder mehrmals sagen: »Er starb für die Ehre«. Doch als die Herren gegangen waren und Joachim wieder allein zu sein glaubte, hörte er plötzlich neuerdings: »Er starb für die Ehre«, und sah den Vater klein und einsam neben dem Katafalk stehen. Er fühlte sich verpflichtet, auf ihn zuzugehen. »Komm, Vater«, sagte er und geleitete ihn hinaus. In der Tür sah ihn der Vater voll an und sagte: »Er starb für die Ehre«, als wollte er es auswendig lernen und als wünschte er, daß auch Joachim es täte.

Nun kamen viele Leute. Auf dem Hofe stand die Feuerwehr des Ortes. Auch die Kriegervereine der Umgebung hatten sich eingefunden und bildeten eine ausgerichtete Kompanie von Zylindern und schwarzen Gehröcken, auf denen nicht selten das Abzeichen des Eisernen Kreuzes zu sehen war. Die Wagen der Nachbarn fuhren vor und während die Kutschen an einen geeigneten schattigen Platz gewiesen wurden, hatte Joachim mit der Begrüßung der Herrschaften zu tun und vor des Bruders Sarg die Honneurs zu machen. Der Freiherr v. Baddensen war allein eingetroffen, da seine Damen sich noch in Berlin befanden, und als er ihn begrüßte, wurde Joachim von dem zornig abgelehnten Gedanken ergriffen, es könnte dieser Herr den nunmehrigen Alleinerben Stolpins als erwünschten Schwiegersohn betrachten und er schämte sich für Elisabeth. Vom Giebel hing still eine schwarze Fahne und reichte beinahe bis zur Terrasse.

Die Mutter schritt am Arm des Vaters die Treppe herab. Man wunderte sich über ihre Standhaftigkeit, ja bewunderte sie. Aber vielleicht lag das bloß an der Trägheit des Gefühls, die ihr eigentümlich war. Der Trauerzug formierte sich und als die Wagen in die Dorfstraße einbogen und das Gotteshaus vor ihnen lag, freuten sich alle herzlich, daß sie aus der heißen Nachmittagssonne, die sich in das schwere Tuch der Trauergewänder und der Uniformen scharf und staubig eingebrannt hatte, in die kühle weiße Kirche eintreten durften. Der Pastor hatte eine Rede gehalten, in der viel von Ehre vorgekommen war, geschickt verbunden mit Wendungen, die auf die Ehre des Höchsten abzielten; zur Orgel erklang es, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden … ja meiden, und Joachim wartete stets auf den Reim, ob er auch eintreffen werde. Zu Fuß ging es sodann auf den Friedhof, über dessen Pforte ein »Ruhe sanft« aus goldenen Blechlettern blinkte, und die Equipagen folgten langsam in einer langgestreckten Staubwolke. Mit purpurnem Blau wölbte sich der durchsonnte Himmel über der trockenen, brüchigen Erde, die darauf wartete, daß man Helmuths Leichnam ihr übergebe, wenn es auch nicht eigentlich Erde war, sondern die Familiengruft, die, ein kleiner geöffneter Keller, gelangweilt dem Ankömmling entgegengähnte. Als Joachim die kleine Schaufel dreimal entleerte, schaute er hinab, sah die Enden der großelterlichen und der Onkelsärge und dachte, daß man einen Platz für den Vater freigehalten und wohl auch deshalb Onkel Bernhard nicht hier beigesetzt hatte. Dann aber, als die hinabgeschüttete Erde auf Helmuths Deckel und auf den Steinfliesen der Gruft verstaubte, mußte er mit seiner Spielzeugschaufel in der Hand an Kindertage im weichen Flußsand denken, sah den Bruder wieder als Knaben vor sich, sah sich selber auf dem Katafalk liegen und es schien, als hätte die Trockenheit dieses Sommertages Helmuth nicht nur um das Altern, sondern auch um den Tod betrogen. Da wünschte sich Joachim für sein eigenes Sterben einen weichen Regentag, an dem der Himmel selbst sich herabsenkt, um die Seele aufzunehmen, damit sie in ihm verfließe wie in den Armen Ruzenas. Das waren unzüchtige Gedanken, unpassend an diesem Orte, doch nicht er allein hatte die Verantwortung dafür zu tragen, sondern auch alle anderen, denen er jetzt den Platz an der Gruftöffnung freigab, und auch der Vater hatte teil an dieser Verantwortung: denn ihrer aller Glaube war heuchlerisch, war brüchig und staubig und war abhängig vom Sonnenschein und Regen. Sollte man nicht die Armeen der Neger herbeiwünschen, damit dies alles weggefegt werde und der Heiland zu neuer Gloria aufsteige und die Menschen in sein Reich zurückführe? Der Christ hing an seinem marmornen Kreuz über der Gruft, angetan bloß mit dem Tuche, das ihm die Scham verhüllte, und mit der Dornenkrone, von der bronzene Tropfen herabbluteten, und auch Joachim fühlte Tropfen auf seiner Wange: vielleicht waren es Tränen, die er nicht gemerkt hatte, vielleicht aber kam es bloß von der lastenden Hitze; er wußte es nicht und drückte die Hände, die sich ihm entgegenstreckten.

Die Kriegervereine und die Feuerwehren hatten dem Toten mit militärischem Parademarsch und scharf links gewandten Köpfen die letzte Ehre erwiesen, scharf klappten die Stiefel auf dem Friedhofkies, stramm marschierten ihre Viererreihen zur Friedhofspforte hinaus, begleitet von den kurzen abgehackten Befehlen der Führer. Auf der Stufe der Gruftkapelle stehend, hatten Herr v. Pasenow, den Hut in der Hand, Joachim die Hand am Helm, zwischen ihnen Frau v. Pasenow, die Parade abgenommen. Auch die anderen anwesenden Militärs standen stramm und die Hand am Helmesrand. Hierauf fuhren die Equipagen vor und Joachim bestieg mit den Eltern das Gefährt, dessen Klinken und sonstige Metallteile ebenso wie das Metall der Pferdegeschirre vom Kutscher sorglich in Flor verpackt worden waren; Joachim stellte fest, daß an der Peitsche gleichfalls eine Florrosette sich befand. Nun weinte die Mutter, und Joachim, der nichts zu ihrem Troste zu sagen wußte, konnte wieder nicht einsehen, warum Helmuth und nicht er von der tödlichen Kugel getroffen worden war. Der Vater aber saß steif auf dem schwarzen Leder des Kissens, das nicht hart und brüchig war wie bei den Berliner Droschken, sondern schmiegsam und mit Lederknöpfen genau abgesteppt. Einige Male schien es, als wollte der Vater etwas sagen, irgend etwas Abschließendes zu einer Gedankenreihe, die ihn offenbar beschäftigte und völlig gefangenhielt, denn er setzte zum Reden an, fiel aber gleich wieder in Starrheit und bewegte bloß stumm die Lippen; endlich sagte er scharf: »Sie haben ihm die letzte Ehre erwiesen«, hob einen Finger, als ob er noch auf etwas wartete oder etwas hinzufügen wollte und legte dann schließlich die Hand wieder flach auf den Schenkel. Zwischen dem Rand des schwarzen Handschuhs und der Manschette mit dem großen schwarzen Knopf war ein Stück Haut mit rötlichen Haaren sichtbar.

 

Die nächsten Tage verliefen in Schweigen. Die Mutter ging ihren Beschäftigungen nach; sie war beim Melken im Stall, beim Eierausheben im Hühnerhof, in der Wäschekammer. Joachim ritt einige Male auf die Felder hinaus; es war das Pferd, das er Helmuth geschenkt hatte, und das war wie ein Liebesdienst für den Toten. Am Abend war der Hof gekehrt und auf den Bänken vor dem Gesindehaus saßen die Leute und freuten sich des kühlen, milden Windes. Einmal gab es in der Nacht ein Gewitter und Joachim merkte erschrocken, daß er Ruzena fast vergessen hatte. Den Vater hatte er wenig zu Gesicht bekommen; der saß zumeist an seinem Schreibtisch und las die Kondolenzen oder registrierte sie auf einem Bogen. Lediglich der Pastor, der nun täglich zu Besuch kam und oftmals zum Abendessen blieb, sprach von dem Toten, aber da es eine Art Fachsimpelei war, wurde es wenig bemerkt und sein einziger Zuhörer schien Herr v. Pasenow zu sein, denn der nickte manchmal mit dem Kopfe, und es hatte den Anschein, als ob er etwas sagen wollte, das ihm recht am Herzen lag; aber er wiederholte dann meistens bloß eines der letzten Worte des Pastors mit einem bekräftigenden Nicken, etwa: »Ja, ja, Herr Pastor, schwergeprüfte Eltern.«

Dann reiste Joachim ab. Als er sich vom Vater verabschiedete, war der alte Mann wieder auf dem Spaziergang durchs Zimmer begriffen. Joachim erinnerte sich unzähliger gleicher Abschiede in diesem Raume, den er nicht mochte, so sehr er ihm auch vertraut war mit seinen Jagdtrophäen an den Wänden, mit dem Spucknapf in der Ecke neben dem Ofen, mit den Schreibutensilien, die wohl schon beim Großvater so gestanden hatten, mit den vielen Jagdzeitungen auf dem Tische, die zumeist nicht aufgeschnitten waren. Er erwartete, daß der Vater wie immer das Einglas ins Auge klemmen und ihn mit einem kurzen »Na, denn gute Reise, Joachim«, entlassen würde. Aber diesmal sagte der Vater nichts, sondern setzte seinen Spaziergang fort, die Hände auf dem Rücken, so daß Joachim zum zweiten Male anhob. »Ja, Vater, ich muß also jetzt fahren, es ist Zeit zur Bahn.« »Na, denn gute Reise, Joachim«, war endlich die gewohnte Antwort, »aber was ich noch sagen wollte, ich meine, du wirst nun doch bald zu uns heimkehren. Es ist leer geworden, ja leer geworden  …«, er sah sich um, »... aber das begreift nicht jeder … natürlich muß man die Ehre hochhalten …«, er hatte seinen Weg wieder aufgenommen, dann vertraulich: »Und wie steht es mit Elisabeth? Wir sprachen doch davon …?« – »Vater, es ist höchste Zeit«, sagte Joachim, »ich versäume sonst den Zug.« – Der Alte hielt ihm die Hand hin und Joachim nahm sie widerwillig.

Als er durchs Dorf fuhr, sah er auf der Kirchenuhr, daß noch reichlich Zeit zum Zuge war; er hatte es ohnehin gewußt. Die Kirchentüre war zufällig offen und Joachim ließ den Wagen halten. Es galt, eine Schuld abzutragen, eine Schuld gegen die Kirche, die ihm bloß angenehme Kühle gewesen war, gegen den Pastor, dessen gute Rede er nicht gehört, gegen Helmuth, dessen Begräbnis er durch profane Gedanken verunehrt hatte, mit einem Wort eine Schuld gegen Gott. Er trat ein und suchte nach der Stimmung seiner Kindheit und ihrer Kirchenbesuche, da er, Joachim v. Pasenow, stets aufs neue überwältigt, jeden Sonntag vor Gottes eigenem Antlitz hier gestanden hatte. Er hatte damals viele Kirchenlieder gekonnt und sie mit Inbrunst gesungen. Aber es ging doch nicht an, daß er jetzt allein in der Kirche zu singen anhöbe. Er mußte sich bescheiden, seine Gedanken zu sammeln und sie auf Gott und auf seine Sündigkeit vor Gott zu lenken, auf seine Kleinheit und Erbärmlichkeit vor Gott; aber seine Gedanken wollten Gott nicht finden. Nur das Wort Jesajas, das er an dieser Stelle einst gehört hatte, fiel ihm ein: »Ein Ochse kennt seinen Herrn, und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt's nicht, und mein Volk vernimmt's nicht.« Ja, Bertrand hatte recht, sie hatten die Christlichkeit verloren; und nun versuchte er das Vaterunser zu beten, mit geschlossenen Augen und achthabend, keine leeren Worte aufzusagen, sondern in jedem Wort den Sinn zu erfassen; und als er zu der Stelle kam, »wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, da stellte sich das weiche, ängstliche und doch vertrauende Gefühl der Kindheit wieder ein: er erinnerte sich, daß er diese Stelle stets auf den Vater bezogen und aus ihr die Zuversicht geschöpft hatte, dem Vater verzeihen zu können, ja ihm all das Gute noch zu tun, zu dem ein Kind verpflichtet ist; und nun kam ihm ins Ohr, daß der alte Mann von einer Vereinsamung gesprochen hatte, von der er offenbar geängstigt war und die man ihm erleichtern mußte. Joachim verließ die Kirche und es fiel ihm das Wort »erhoben und gestärkt« ein, aber das Wort war ihm nicht leer, sondern hatte einen guten jugendlichen Sinn. Er nahm sich vor, Elisabeth aufzusuchen.

Im Coupé tauchte es wieder auf, wieder sagte es »erhoben und gestärkt«, aber es verband sich nun mit dem Bilde einer gestärkten Hemdbrust und mit einer beglückenden Sehnsucht nach Ruzena.


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