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II

Von der Königsstraße her kam ein Passant. Er war beleibt und untersetzt, ja eigentlich klein, und alles an ihm war recht weich, so daß man meinen konnte, er wäre des Morgens in seine Kleider eingefüllt worden. Er war ein ernster Passant, der zu seinen schwarzen Tuchhosen einen grauen Lüsterrock trug, und seine Brust war von einem braunen Bart bedeckt. Er hatte sichtlich Eile, aber es war kein geradliniges rasches Gehen, sondern eine Art ernsthaften Watschelns, wie es einem so weichen ernsthaften Manne ansteht, wenn er Eile hat. Doch das Gesicht war nicht nur hinter dem Barte, sondern auch hinter einem Kneifer versteckt, durch den der Mann strenge Blicke auf die übrigen Passanten warf, und es war eigentlich unvorstellbar, daß ein solcher Mann, der mit solcher Eile seinen sehr dringenden Geschäften nachwatschelte und der seiner Weichheit zum Trotz so strenge harte Blicke schießen ließ, an anderen Stellen seines Lebens sicherlich freundlich war, daß es immerhin Frauen gab, denen er in Liebe sich zuneigte, Frauen und Kinder, vor denen der Bart ein freundliches Lächeln entblößte: Frauen, welche das rosa Fleisch und die dunkle Höhle im Barte zum Kusse suchen mochten.

Als Joachim dieses Mannes ansichtig geworden war, war er ihm automatisch gefolgt. Es blieb sich ja gleich, wohin er ging. Seitdem er erfahren hatte, daß es einen Berliner Vertreter von Bertrands Firma gab und daß dessen Büro in einer der Straßen zwischen dem Alexanderplatz und der Börse etabliert war, trieb es ihn manchmal in diese Gegend, so wie es ihn vordem in die Proletariervorstadt getrieben hatte – und daß er Ruzena nicht mehr dort draußen suchen mußte, war beinahe wie ein Avancement für sie. Aber er kam nicht etwa her, um Bertrand zu treffen; im Gegenteil, er mied die Gegend, wenn er Bertrand in Berlin wußte, und auch an dem Vertreter Bertrands hatte er eigentlich kein Interesse. Es war bloß so seltsam, daß dies hier der Raum sein sollte, in dem man sich das eigentliche Leben Bertrands vorzustellen hatte, und wenn Joachim durch diese Straßen ging, so geschah es nicht nur, daß er die Fronten der Häuser musterte, als wollte er erforschen, welche Büros sich dahinter versteckten, sondern es geschah auch, daß er diesen Zivilisten unter den Hut schaute, als wären es Frauen. Darüber wunderte er sich manchmal selbst, denn er wußte ja kaum, daß er in ihren Gesichtern danach forschte, ob dies Lebewesen völlig anderer Art wären und ob sie Eigenschaften aufwiesen, die Bertrand schon von ihnen übernommen hatte, aber noch verborgen hielt. Ja, die Verborgenheit dieser Lebewesen war so groß, daß sie nicht einmal Bärte benötigten, um sich dahinter zu verstecken. Sie zeigten sich ihm sogar ein wenig vertrauter und weniger heuchlerisch, wenn sie Bärte trugen, und dies mochte vielleicht ein Grund sein, warum er dem eiligen dicken Mann nachschlenderte. Plötzlich schien es ihm, als würde der Mann dort vorne sehr sonderbar dem Bilde gleichen, das er sich stets von Bertrands Vertreter gemacht hatte. Vielleicht war es sinnlos, aber als einige Leute den Mann grüßten, freute er sich, daß Bertrands Vertreter solches Ansehen genoß. Er hätte sich schließlich nicht gewundert, wenn ihm Bertrand selber, schauspielerhaft verwandelt, klein und beleibt und vollbärtig entgegengewatschelt wäre: denn wie hätte er sein Äußeres beibehalten sollen, da er in eine andere Welt geglitten war. Und wußte Joachim auch, daß es ohne Sinn und Ordnung war, was er dachte, so war es dennoch, als hätte das scheinbar verwirrte Netz eine versteckte gute Ordnung: man mußte bloß den Faden erhaschen, den Ruzena an diese Leute band, diese tiefere und sehr geheime Verknüpfung, und vielleicht war ein Ende jenes Fadens in seiner Hand gelegen, damals, als er in Bertrand den richtigen Liebhaber Ruzenas vermutete; aber jetzt war seine Hand leer und es fiel ihm bloß ein, daß Bertrand sich einmal bei ihm entschuldigt hatte, weil er den Abend mit Geschäftsfreunden verbringen mußte, und Joachim konnte den Gedanken nicht mehr loswerden, daß dieser Mann jener Geschäftsfreund gewesen sei. Wahrscheinlich sind die beiden miteinander im Jägerkasino gesessen, und der Mann hat Ruzena fünfzig Mark zugesteckt.

Wenn einer einem andern auf der Straße folgt, und sei es auch bloß automatisch und in scheinbarer Gleichgültigkeit, so wird es sich bald fügen, daß er allerhand Wünsche, wohlwollende und unwohlwollende, an jenes Wesen hängt, dem er folgt. Vielleicht will er wenigstens dessen Gesicht sehen und wünscht, daß es sich umdrehe, obgleich er selbst seit des Bruders Tod dagegen gefeit zu sein glaubt, in jenem gefürchteten Antlitz das Antlitz Ruzenas suchen zu müssen. Allerdings steht es mit nichts in Zusammenhang, daß Joachim der Gedanke angeflogen kam, die aufrechte Haltung all der Menschen hier auf dieser Straße sei eine völlig unberechtigte, sei unvereinbar mit ihrem besseren Wissen oder ergäbe sich aus einer traurigen Unwissenheit, da sich doch alle diese Körper zum Sterben werden hinlegen müssen. Dabei ging der Mann dort vorne durchaus nicht mit harten, abgehackten, geraden Schritten, und auch die Gefahr, daß er sich fallend ein Bein brechen könnte, war nicht vorhanden, war er doch dafür viel zu weich.

Nun blieb der Mann an der Ecke der Rochstraße stehen, als warte er auf etwas; es mochte schon sein, daß er darauf wartete, Joachim werde ihm jetzt die fünfzig Mark zurückgeben. Hierzu war Joachim eigentlich verpflichtet und jäh und heiß stieg die Scham in ihm auf, weil er aus lauter Angst, man könnte meinen, er habe sich eine Frau gekauft, oder er selber könnte aus solchem Grunde an Ruzenas Liebe zu zweifeln beginnen, sie in der verhaßten Animiertätigkeit belassen hatte; und wie Schuppen fiel es von seinen Augen: er, ein preußischer Offizier, war der heimliche Liebhaber einer Frau, die von anderen Männern bezahlt wurde. Eine Unehrenhaftigkeit kann man bloß durch eine Pistolenkugel auslöschen, doch ehe er es mit allen furchtbaren Konsequenzen durchdenken konnte, verflimmerte der Gedanke, verflimmerte wie das Bild Bertrands, da der Mann die Rochstraße überquerte und Joachim ihn nicht aus den Augen verlieren durfte, bevor er nicht …, ja, bevor er nicht, das ließ sich eben nicht erhaschen. Bertrand, der hatte es leicht, der stand in jener Welt und zugleich in dieser, aber auch Ruzena steht zwischen zwei Welten. War dies der Grund, warum die beiden doch rechtmäßig zusammengehörten? Nun aber schoben sich seine Gedanken durcheinander wie die Menschen in dem Gewühl, das ihn umgab und wenn er auch ein Ziel vor sich sah, zu dem er hindenken wollte, so war es dennoch schwankend und verfließend und immer wieder verdeckt wie der Rücken des weichen Mannes vor ihm. Wenn er Ruzena ihrem rechtmäßigen Besitzer geraubt hatte, so mochte es wohl stimmen, daß er sie jetzt verborgen hielt wie einen Raub. Er versuchte Haltung zu bewahren, steif und gerade, versuchte die Zivilisten nicht mehr anzuschauen. Das Gewühl der Menschen um ihn herum, der Trubel, wie die Baronin sagte, all das geschäftliche Getriebe voller Gesichter und Rücken schien eine verschwimmende, gleitende, weiche Masse zu sein, deren man nicht habhaft werden konnte. Wohin sollte das noch führen! Und mit der vorschriftsmäßigen Haltung, in die er sich mit einem Ruck begab, fiel ihm befreiend ein, daß man bloß ein Wesen aus einer fremden Welt zu lieben vermag. Deshalb durfte er Elisabeth niemals lieben und deshalb mußte Ruzena wohl auch eine Böhmin sein. Liebe heißt, von seiner Welt in die des anderen flüchten, und so hatte er, trotz aller beschämenden Eifersucht, Ruzena in ihrer Welt belassen, damit sie stets aufs neue süß zu ihm sich flüchte. Die Garnisonskapelle lag vor ihm, und er hielt sich noch steifer, so steif wie beim sonntäglichen Gottesdienst der Mannschaft. An der Ecke der Spandauer Straße verlangsamte der Mann seinen Schritt, zögerte am Rande des Fahrdamms; wahrscheinlich fürchtet sich so ein Geschäftsmann vor den Pferden auf der Straße. Daß er diesem Menschen Geld zurückzustellen hatte, das war natürlich sinnlos; aber Ruzena mußte aus dem Kasino herausgenommen werden, das stand fest. Eine Böhmin blieb sie ja trotzdem, ein Wesen aus einer fremden Welt. Wohin aber gehörte er selber? Wohin war er schon geglitten? Und Bertrand? Wieder sah er Bertrand vor sich, verwunderlich weich und klein und strenge durch den Kneifer blickend, fremd ihm, fremd Ruzena, die eine Böhmin ist, fremd Elisabeth, die durch einen stillen Park geht, fremd ihnen allen und dennoch vertraut, wenn er sich umwendet und den Bart zu einem freundlichen Lächeln öffnet, heischend, daß die Frauen die dunkle Höhle im Barte zum Kusse suchen. Die Hand am Degengriff blieb Joachim stehen, als könnte ihm die Nähe der Garnisonskapelle Kraft und Schutz vor dem Bösen gewähren. Schillernd, unheimlich war Bertrands Bild. Es tauchte auf und verschwand wieder; »im Dunkel der Großstadt verschwunden«, fiel Joachim ein und die Dunkelheit hatte den Klang eines höllischen Sterbens. Bertrand steckte in allen Gestalten und alle verriet er; ihn, die Kameraden, die Frauen, alle. Doch nun bemerkte er, daß Bertrands Vertreter mit kurzem Trab wohlbehalten die Spandauer Straße überquert hatte. Joachim war glücklich, daß er Ruzena fürderhin den beiden entziehen würde. Nein, da konnte man nicht von Raub sprechen; im Gegenteil, er hatte die Pflicht, sich schützend auch zwischen jenen und Elisabeth zu stellen. Oh, er wußte, der Böse ist gleißnerisch. Aber ein Militär durfte nicht fliehen. Würde er fliehen, er würde Elisabeth schutzlos jenem ausliefern, er selber wäre einer von denen, die sich im Dunkel der Großstadt verstecken und vor den Pferden sich fürchten, und es wäre nicht nur das Schuldbekenntnis eines Raubes, sondern es hieße auch für ewig darauf verzichten, jenem das Geheimnis des Verrates zu entreißen. Er mußte ihm weiter folgen, doch nicht versteckt wie ein Spion, sondern aufrecht, wie es sich geziemt, und auch Ruzena wird er nicht verborgen halten. So wurde es inmitten des Börsenviertels, wenn auch in der Nähe der Garnisonskapelle, mit einem Male ruhig um Joachim v. Pasenow, so ruhig und durchsichtig wie der hellblaue Himmel, der durch den Straßenspalt hereinschaute.

Er hatte den zwar nicht sehr deutlichen, doch dringenden Wunsch, den Mann nun einzuholen, und ihm mitzuteilen, daß er Ruzena aus dem Kasino nehmen und fortab nicht mehr verheimlichen werde; aber kaum war er einige Schritte gegangen, als jener eilig in die Börse hineingewatschelt war. Joachim sah einen Augenblick lang auf das Tor; war dies der Ort der Verwandlung? Würde nun Bertrand selbst herauskommen? Er überlegte, ob er ihn sofort mit Ruzena werde zusammenführen müssen und verneinte die Frage: Bertrand gehörte doch zur Welt der Nachtlokale, und eben diese Welt war es, der er Ruzena jetzt entreißen mußte. Aber das wird sich finden; schön wäre es, von all dem nichts zu wissen und mit Ruzena durch einen stillen Park und an einem stillen Teich zu wandeln. Er stand vor der Börse. Er sehnte sich nach dem Lande. Der Verkehr toste um ihn herum; oben donnerte die Stadtbahn. Er blickte die Passanten nicht mehr an, wußte er auch, daß sie fremdartig und unheimlich aussahen. Er wird diese Gegend fortab vermeiden. Gerade und steif hielt sich Joachim v. Pasenow mitten im Gewoge vor der Börse. Er wird Ruzena sehr lieben.

 

Bertrand stattete ihm einen Kondolenzbesuch ab und Joachim war sich wieder einmal nicht klar, ob dies als nett oder als zudringlich zu werten sei; man konnte es so oder so auffassen. Bertrand entsann sich Helmuths, der manchmal, aber selten genug, nach Culm gekommen war, und das war immerhin ein erstaunliches Gedächtnis: »Ja, er war ein blonder, stiller Junge, sehr verschlossen … ich glaube, daß er uns beneidet hat … er dürfte sich auch später nicht viel verändert haben … übrigens war er Ihnen ähnlich.« Das war nun wieder etwas zu vertraulich, fast schien es, als wollte Bertrand den Tod Helmuths für sich ausnützen; übrigens war es kein Wunder, daß Bertrand sich aller Begebenheiten seiner einstigen militärischen Karriere so erstaunlich genau entsann: man erinnert sich gerne glänzenderer Zeiten, deren man verlustig geworden ist. Aber Bertrand sprach trotzdem durchaus nicht sentimental, sondern sachlich und ruhig, so daß der Tod des Bruders einen menschlicheren und leichteren Aspekt bekam, irgendwie unter den Händen Bertrands objektiv, zeitlos und versöhnlich wurde. Joachim hatte sich über das Duell seines Bruders eigentlich wenig Gedanken gemacht; alles, was er seit dieser Begebenheit darüber gehört hatte und was in allen Kondolenzen unzählige Male wiederholt wurde, ging in der gleichen Richtung: daß Helmuth von einem unabänderlichen Fatum der Ehrenhaftigkeit, aus dem es kein Entrinnen gab, tragisch erfaßt worden sei. Bertrand dagegen sagte: »Das Merkwürdigste ist es doch, daß man in einer Welt von Maschinen und Eisenbahnen lebt und daß zur nämlichen Zeit, in der die Eisenbahnen fahren und die Fabriken arbeiten, zwei Leute einander gegenüberstehen und schießen.«

Er hat kein Ehrgefühl mehr, sagte sich Joachim, und trotzdem schien Bertrands Meinung natürlich und einleuchtend. Doch Bertrand fuhr fort: »Das mag wohl davon herrühren, daß es sich um Gefühle handelt …«

»Ehrgefühl«, sagte Joachim.

»Ja, Ehrgefühl und ähnliches.«

Joachim schaute auf – machte Bertrand sich doch wieder lustig? Er hätte gerne gesagt, daß man nicht bloß vom Standpunkt des Großstädters sprechen dürfe; auf dem Lande draußen seien die Gefühle unverfälschter und sie bedeuten mehr. Bertrand verstand also eigentlich nichts davon; dies durfte man natürlich einem Gaste nicht sagen, und Joachim bot schweigend Zigarren an. Aber Bertrand zog seine englische Pfeife und den ledernen Tabaksbeutel aus der Tasche: »Es ist so merkwürdig, daß gerade das Leichteste, Vergänglichste, das eigentlich Beharrliche ist. Körperlich kann sich der Mensch unglaublich geschwind neuen Lebensbedingungen anpassen. Aber selbst die Haut und die Haarfarbe sind beharrlicher als das Knochengerüst.«

Joachim betrachtete die helle Haut und die allzu gewellten Haare Bertrands und wartete, worauf jener hinaus wollte. Bertrand merkte sogleich, daß er sich nicht genügend verständlich gemacht hatte: »Nun, das Beharrlichste in uns sind wohl die sogenannten Gefühle. Wir tragen einen unzerstörbaren Fundus von Konservativismus mit uns herum. Das sind die Gefühle oder richtiger Gefühlskonventionen, denn sie sind eigentlich unlebendig und Atavismen.«

»Sie halten also konservative Prinzipien für Atavismen?«

»Oh, manchmal schon, nicht immer. Obgleich es sich hier eigentlich nicht darum handelt. Ich meine, daß das Lebensgefühl, das man hat, immer etwa ein halbes oder auch ein ganzes Jahrhundert dem wirklichen Leben nachhinkt. Das Gefühl ist eigentlich immer weniger human als das Leben, in dem man steht. Denken Sie doch nur, daß ein Lessing oder ein Voltaire es ohne Revolte hingenommen haben, daß man zu ihrer Zeit noch gerädert hat, schön von unten herauf, für unser Gefühl unvorstellbar – und glauben Sie, daß es bei uns anders ist?«

Nein, darüber hatte sich Joachim noch nie Gedanken gemacht. Bertrand mochte recht haben. Aber warum sagte er ihm dies alles?

Er spricht ja wie ein Zeitungsschreiber. Bertrand sagte: »Wir nehmen es ruhig hin, daß zwei Menschen, beide sicherlich anständig, denn mit einem anderen hätte ihr Bruder sich nicht duelliert, an einem Morgen einander gegenüberstehen und schießen. In welcher Konvention des Gefühls müssen die beiden befangen sein und wie sehr sind wir es selber, daß wir es ertragen können! Das Gefühl ist träge und daher so unverständlich grausam. Die Welt ist von der Trägheit des Gefühls beherrscht.« Trägheit des Gefühls! Joachim war davon getroffen; war er nicht selber voller Trägheit des Gefühls, war es nicht strafbare Trägheit, daß er nicht genügend Phantasie aufbrachte, Ruzena trotz ihres Sträubens mit Geld zu versorgen und aus dem Kasino herauszunehmen? Er sagte bestürzt: »Wollen Sie wirklich Ehre als Trägheit des Gefühls bezeichnen?«

»Ach, Pasenow, Sie stellen zu eindeutige Fragen«, Bertrand hatte wieder das gewinnende Lächeln, mit dem er Differenzen zu überbrücken pflegte, »ich meine schon, daß Ehre ein sehr lebendiges Gefühl ist, bin indes auch überzeugt, daß überlebte Formen stets voller Trägheit sind und daß viel Müdigkeit dazu gehört, sich einer toten und romantischen Gefühlskonvention hinzugeben. Viel verzweifelte Ausweglosigkeit gehört dazu …«

Ja, Helmuth war müde gewesen. Doch was verlangte Bertrand? Wie mochte man sich dieser Konvention entledigen? Joachim fühlte mit Schaudern die Gefahr, daß man wie Bertrand ins Gleiten geraten könnte, wenn man der Konvention entrinnen wollte. Gewiß war er in seiner Beziehung zu Ruzena der strengsten Konvention schon entglitten, jetzt aber durfte es nicht weitergehen und die lebendige Ehre verlangte, daß er bei Ruzena bliebe! Vielleicht hatte Helmuth dies vorausgeahnt, als er ihn warnte, aufs Gut zurückzukommen. Denn dann war Ruzena verloren. So fragte er unvermittelt: »Was halten Sie von der deutschen Landwirtschaft?«, fast hoffend, daß Bertrand, der stets auch praktische Gründe bei der Hand hatte, ihn ebenfalls warnen werde, Stolpin zu übernehmen. »Schwer zu beantworten, Pasenow, besonders wenn jemand von der Landwirtschaft so wenig versteht wie ich, … wir haben ja alle noch das feudale Vorurteil, daß auf Gottes Erdboden die Beschäftigung mit diesem Boden auch die solideste Existenz darstellt.« Bertrand machte eine leicht wegwerfende Handbewegung, Joachim v. Pasenow war davon enttäuscht, freilich auch befriedigt, der Kaste dieser Bevorzugten anzugehören, während Bertrands unsichere Handelsexistenz sozusagen bloß als Vorstufe zu einer solideren Lebensform anzusehen war. Offenbar bereute er doch, das Regiment verlassen zu haben; wie leicht hätte er als Gardeoffizier ein Gut erheiraten können! Dies jedoch war eine Überlegung, die seines Vaters würdig gewesen wäre und Joachim schob sie beiseite, fragte bloß, ob Bertrand daran dächte, sich späterhin ansässig zu machen. Nein, meinte Bertrand, das würde er wohl kaum mehr tun, er sei wohl nicht der Mensch, den es lange an einem Platze leide. Und sie sprachen noch allerlei über Stolpin, über die dortigen Wildverhältnisse, und Joachim lud Bertrand ein, ihn zur Herbstjagd draußen zu besuchen. Und plötzlich läutete die Türklingel: Ruzena! durchfuhr es Joachim und fast feindlich sah er Bertrand an: nun sitzt er seit zwei Stunden hier, trinkt Tee und raucht; das ist ja kein Kondolenzbesuch mehr. Aber Joachim mußte sich gleichzeitig eingestehen, daß er selbst es gewesen war, der Bertrand in den Lehnstuhl und zum Bleiben genötigt und ihm Zigarren angeboten hatte, trotzdem er doch eigentlich hätte wissen müssen, daß Ruzena kommen werde. Jetzt natürlich, da es geschehen war, konnte man nicht mehr zurück; natürlich wäre es passender gewesen, wenn er Ruzena vorher gefragt hätte. Sie wird sich vielleicht doch gestört fühlen, wollte vielleicht selber die Heimlichkeit, die zu durchbrechen er sich jetzt anschickte, wollte in ihrer Güte vielleicht sogar vermeiden, daß er sich ihrer schämen müßte – vielleicht war sie wirklich nicht ganz gesellschaftsfähig; er konnte es nicht mehr beurteilen, denn wenn er sie sich vorstellte, sah er bloß ihren Kopf und ihre aufgelösten Haare in den Kissen neben sich, atmete den Duft ihres Körpers, wußte aber kaum mehr, wie sie in Kleidern aussah. Nun schließlich, Bertrand ist Zivilist, hat selber zu lange Haare, und da hatte dies alles weniger auf sich. Er sagte also: »Hören Sie, Bertrand, ich erhalte jetzt Besuch einer netten jungen Dame; darf ich Sie bitten, mit uns zu Abend zu speisen?« – »Oh, wie romantisch«, antwortete Bertrand, natürlich wolle er es gerne tun, wenn er nicht störe.

Joachim ging hinaus, um Ruzena zu begrüßen und sie auf den Gast vorzubereiten. Sie war sichtlich betroffen, einen Fremden vorzufinden. Aber sie war nett zu Bertrand und Bertrand war nett zu ihr. Joachim empfand die Routine der Freundlichkeit, mit der die beiden einander behandelten, als unangenehm. Man beschloß, daheim zu essen; der Bursche wurde um Schinken und Wein gesandt und Ruzena lief ihm nach: auch Apfelkuchen mit Schlagsahne möge er bringen. Sie war glücklich, daß sie in der Küche wirtschaften und Kartoffelpuffer fabrizieren durfte. Später rief sie Joachim in die Küche hinaus; er meinte erst, daß sie sich bloß in ihrer großen weißen Schürze, den Kochlöffel in der Hand, zeigen wollte, und war sehr bereit, dieses Bild hausfraulicher Lieblichkeit mit großer Rührung aufzunehmen, sie aber lehnte draußen an der Tür und weinte; fast war es ein wenig wie damals: er war, ein kleiner Junge, zu der Mutter in die große Küche gekommen und dort hatte eine der Mägde – vielleicht war ihr von der Mutter eben gekündigt worden – so bitterlich geschluchzt, daß er, hätte er sich nicht geschämt, am liebsten mitgeweint hätte. »Jetzt hast mich nicht mehr lieb«, schluchzte Ruzena an seinem Halse und obwohl sie sich inniger denn je küßten, ließ sie sich nicht beruhigen, »... is aus, weiß es, is aus …«, wiederholte sie, »aber geh hinein jetzt, muß kochen.« Sie trocknete die Tränen, lächelte. Doch ungern ging er zurück und ungern wußte er Bertrand im Zimmer; natürlich war es kindisch von ihr, war es kindisch, zu meinen, daß es Bertrands halber aus wäre, und trotzdem war es richtiger weiblicher Instinkt, ja, richtiger weiblicher Instinkt, man konnte es nicht anders nennen, und Joachim fühlte sich bedrückt. Denn mochte auch Bertrand, zynisch genug, ihn mit den Worten »Sie ist reizend« empfangen und den dankbaren Stolz des Königs Kandaules in ihm erwecken, unerschüttert blieb das Drohende: wenn er nach Stolpin zurückkehren würde, dann war Ruzena verloren und dann müßte es wohl aus sein. Hätte ihm Bertrand wenigstens von der Beschäftigung mit der Landwirtschaft abgeraten! Oder wollte er – und vielleicht gar gegen die eigene Überzeugung – ihn zu diesem Erwerbszweig drängen, bloß um ihn aus Berlin zu entfernen und um Ruzena, die er vielleicht trotz allem als sein rechtmäßiges Eigentum betrachtete, für sich zu gewinnen? Das war doch nicht anzunehmen!

Ruzena, von dem Burschen gefolgt, kam mit dem großen Tablett herein. Sie hatte die Küchenschürze abgelegt und zwischen den beiden Männern an dem kleinen runden Tische sitzend, spielte sie grande dame, machte singend-stakkatierten Tonfalles Konversation mit Bertrand, den sie von seinen Reisen erzählen ließ. Die beiden Fenster des Zimmers standen offen und ungeachtet der dunklen Sommernacht dort draußen erinnerte die milde Petroleumlampe über dem Tische an weihnachtlichen Winter und an die Geborgenheit der kleinen Wohnstuben hinter den Geschäftsläden. Wie sonderbar, daß er die Spitzentüchlein hatte vergessen können, die er für Ruzena an jenem Abend in unbestimmter Sehnsucht gekauft hatte. Nun lagen sie noch immer im Schranke und gerne würde er sie Ruzena geben, wenn Bertrand nicht hier wäre und wenn sie nicht so gespannt auf diese Erzählungen horchen würde, von den Baumwollplantagen und den armen Negern, deren Väter noch Sklaven waren, freilich, richtige Sklaven, die man verkaufen konnte. Wie, auch die Mädchen hat man verkauft? Ruzena schauderte und Bertrand lachte, lachte leicht und angenehm: »Oh, Sie müssen keine Angst haben, kleine Sklavin, es geschieht Ihnen nichts!« Warum sagte Bertrand dies? Zielte er darauf hin, Ruzena zu kaufen oder sie geschenkt zu bekommen? Joachim muß an den Gleichklang von Sklaven und Slaven denken und daran, daß alle Neger einander gleichen, so daß man sie kaum auseinanderhalten kann, und es war wieder, als wollte ihn Bertrand in Hirngespinste treiben, ihn erinnern, daß Ruzena von ihrem italienisch-slavischen Bruder nicht zu unterscheiden war! Hatte jener die schwarzen Heerscharen deshalb heraufbeschworen? Aber Bertrand lächelte ihn bloß freundlich an und war blond, so blond fast wie Helmuth, wenn auch ohne Vollbart, und sein Haar war gewellt, allzu gewellt, anstatt straff aufgebürstet; und für einen Augenblick war wieder alles verworren und man wußte nicht, wem Ruzena rechtmäßig zugehörte. Hätte die Kugel ihn getroffen, so wäre Helmuth an seiner Stelle hier und der hätte auch die Kraft gehabt, Elisabeth zu schützen. Ruzena wäre vielleicht für Helmuth zu gering gewesen; dennoch war er selber nichts als der Stellvertreter des Bruders. Joachim graute es, als ihm dies klar wurde, es graute ihm, weil einer durch den andern zu vertreten war, weil Bertrand einen kleinen weichen bärtigen Vertreter hatte, und weil von hier aus sogar des Vaters Ansichten verzeihlich wurden: warum gerade Ruzena, warum gerade er? warum also nicht wirklich Elisabeth? es war alles irgendwie gleichgültig und er begriff die Müdigkeit, die Helmuth in den Tod getrieben hatte. Mochte Ruzena recht haben und ihrer Liebe Ende nahe sein, es war plötzlich alles in eine große Ferne gerückt, in der die Gesichter Ruzenas und Bertrands kaum auseinander zu kennen waren. Gefühlskonvention, hatte Bertrand gesagt.

Ruzena dagegen schien ihre düstere Prophezeiung vergessen zu haben. Sie hatte nach Joachims Hand unter dem Tische gehascht und als er, in panischer Wohlerzogenheit und mit einem Seitenblick auf Bertrand, die Hand in die Öffentlichkeit des hellbeleuchteten Tischtuchs rettete, griff Ruzena nach ihr und streichelte sie; und Joachim, in der Berührung des Besitzes wieder froh geworden, überwand mit kleinem Anlauf seine Scham und behielt ihre Hand in der seinen, so daß es mithin in aller Öffentlichkeit sichtbar wurde, wie sie rechtmäßig zusammengehörten. Und sie taten doch nichts Unrechtes; in der Bibel hieß es doch: wenn ein Bruder stirbt vor dem andern ohne Kinder, so soll sein Weib keinen Fremden nehmen, sondern sein Bruder soll es nehmen. Ja, so ähnlich mußte es heißen und es war absurd, daß er Helmuth mit einer Frau betrügen könnte. Dann aber klopfte Bertrand ans Glas und hielt einen kleinen Toast, und man wußte wieder nicht, ob er es ernst meinte oder ob er spaßte oder ob die wenigen Glas Sekt für ihn schon zuviel gewesen waren, so außerordentlich schwer verständlich war seine Rede, da er von der deutschen Hausfrau sprach, die am reizendsten als Imitation sei, weil ja das Spiel doch die einzige Realität dieses Lebens bleibe, weshalb auch die Kunst stets schöner sei als die Landschaft, ein Kostümfest netter als echte Trachten und das Heim eines deutschen Kriegers erst dann vollkommen werde, wenn es, gewöhnlicher Eindeutigkeit entrückt, durch einen traditionslosen Kaufmann zwar entweiht, durch das lieblichste Böhmermädchen hingegen geweiht worden ist, und darum bitte er die Anwesenden, mit ihm auf das Wohl der schönsten Hausfrau anzustoßen. Ja, das war alles etwas dunkel und hinterhältig und man wußte eben nicht recht, ob mit all den Anspielungen auf die Imitation und die Nachahmung nicht irgendwie die eigenen Gedanken über den Vertreter gemeint waren, aber da Bertrand trotz eines gewissen ironischen Zuges um den Mund nicht aufgehört hatte, Ruzena sehr freundlich anzuschauen, wußte man auch, daß es eine Huldigung für sie gewesen war und daß man sich über all die dunklen Unverständlichkeiten hinwegsetzen durfte, und das Essen endete für sie alle in einer angenehmen Fröhlichkeit und Unbeschwertheit.

Später ließen sie es sich nicht nehmen, Bertrand in sein Absteigequartier zu begleiten, wohl auch, weil sie nicht offen zeigen wollten, daß Ruzena noch bei Joachim bleiben werde. Ruzena in der Mitte, gingen sie durch die stillen Straßen, jeder allein, da Joachim nicht wagte, Ruzena den Arm zu reichen. Als Bertrand im Hauseingang verschwunden war, sahen sie einander an und Ruzena fragte sehr ernst und ergeben: »Bringst mich in Kasino?« Er fühlte, wie schwer und ernst es ihr von den Lippen kam, aber er empfand nur müde Gleichgültigkeit, so daß er beinahe die Frage ebenso ernst bejaht und es sogar ertragen hätte, jetzt Abschied für immer zu nehmen, und wenn Bertrand zurückgekommen wäre, um Ruzena wegzuführen, Joachim hätte es ertragen. Unerträglich jedoch war der Gedanke an das Kasino. Und beschämt, daß es solchen Anstoßes bedurfte, trotzdem fast glücklich, nahm er schweigend ihren Arm. Sie liebten sich in dieser Nacht mehr denn je. Nichtsdestoweniger vergaß Joachim auch diesmal, Ruzena ihre Spitzentüchlein zu geben.

Täglich, wenn der kleine einspännige Postwagen vom Morgenzuge zurückkehrte und beim Amt im Dorfe vorfuhr, lehnte der Bote vom Gut bereits am Schalter, zwar nur ein Privatbote, dennoch zum Inventar des Postamtes gehörig, gewissermaßen selber zur Amtsperson geworden, vielleicht sogar über die beiden dort befindlichen Amtspersonen gesetzt, nicht etwa seiner persönlichen Leistung wegen, mag er auch schon selber im Dienste ergraut sein, wohl aber, weil er vom Gute kam und seine Würde eine Einrichtung war, die schon viele Jahrzehnte bestand, sicherlich in jene Zeit zurückreichte, in der es noch keinerlei Reichspost gab, sondern, selten genug, die Postkutsche durchs Dorf fuhr und ihre Briefschaften beim Kruge abgab. Die große schwarze Posttasche, deren Riemen seinem Anzug ein diagonales Abzeichen über den Schultern eingebrannt hatte, hatte so manchen Boten überlebt und sicherlich mochte sie aus dieser längst vergangenen und wohl auch besseren Zeit stammen; denn da ist keiner so alt im Dorfe, daß in seinen fernsten Jugendtagen nicht die Tasche schon an ihrem Haken gehangen und nicht der Bote schon am Postschalter gelehnt hätte, und jeder der Alten entsinnt sich und weiß auch alle die Gutsboten aufzuzählen, die mit dem diagonalen Streifen über der Jacke brav ihren Weg gegangen waren und die nun allesamt draußen auf dem Gottesacker ausruhten. So war die Tasche älter und ehrwürdiger als das neumodische Postamt, das nach dem Sturmjahr 1848 eingerichtet worden war, älter als der Haken, den man der Tasche zu Ehren oder gewissermaßen als letzte amtliche Huldigung für die Gutsherrschaft bei der Einrichtung des Postamtes dort eingeschlagen hatte, vielleicht auch als Mahnung, daß man der alten Sitten trotz des stürmenden Forschrittes nicht vergessen soll. Denn auch im neuen Postamt bestand die alte Gepflogenheit weiter, die Post der Gutsherrschaft bevorzugt zu behandeln und wahrscheinlich wird es auch heute noch so gehalten: war der Kutscher mit dem graubraunen Postbeutel hereingekommen und hatte er ihn mit jener verächtlichen Bewegung, die einem Postbeutel in den Augen eines gewöhnlichen Kutschers zukommt, auf den abgenützten Posttisch geworfen, hatte der Postmeister, der über die Würde menschlicher und amtlicher Einrichtungen besser Bescheid weiß, mit kaum verhehlter Feierlichkeit das Siegel und die Schnüre gelöst und die durcheinanderfallenden Postsachen der Größe nach in kleine Pakete geschichtet, um sie bequemer durchsehen und einteilen zu können, hatte sich solches der schönen Ordnung gemäß abgespielt, dann war es stets das erste, daß der Postmeister die Briefschaften des Gutes herauslegte und, ehe er etwas anderes tat, der Tischlade einen Schlüssel entnahm und zu der aufgehängten Tasche schritt, die mit ihrem gelben Messingbügel schweigend dieser Prozedur harrte; in der Mitte des Bügels sperrt sie der Postmeister auf, so daß sie aufklafft und ihm schamlos ihr graues Segeltuchfutter entgegenzeigt, und rasch, als könnte er den Anblick des klaffenden Leinenmaules nicht länger ertragen, läßt er die Briefe und Zeitungen und auch die kleineren Pakete hineingleiten, gibt dem Maule einen schwachen Schlag in den Unterkiefer, damit es zuklappe und sperrt die Messinglippen ab, versorgt den Schlüssel in der Lade. Der Bote aber, der bisher bloßer Zuschauer geblieben war, nimmt die schwere Posttasche, hängt sie sich mit dem harten brüchigen Riemen über die Schulter, nimmt die größeren Pakete in die Hand und bringt die Sendung solcherart ein oder zwei Stunden früher zum Gute, als dies dem amtlichen Briefträger, der erst das ganze Dorf abzulaufen hat, gelungen wäre; eine außerordentlich beschleunigte Zustellung, welche dartut, daß die Einrichtung des Gutsboten und seiner Tasche nicht nur die Fortführung einer schönen alten Tradition ist, sondern auch praktische Bedürfnisse der Herrschaft und der Leute auf dem Gute noch immer zu befriedigen vermag.

 

Joachim bekam jetzt öfter als früher Nachricht vom Hause; zumeist schrieb der Vater bloß kurze Mitteilungen in jener halbschrägen Kurrentschrift, die so sehr an seinen Gang gemahnte, daß man geradezu von einer Dreibeinigkeit dieser Schrift hätte sprechen können. Joachim erfuhr von den Besuchen, die die Eltern empfangen hatten, von den Jagdverhältnissen und den Aussichten für den Herbst, auch einiges über die Ernte, und zumeist schloß sich an die landwirtschaftliche Mitteilung: »Es wäre gut, wenn Du bald Vorbereitungen zu Deiner Übersiedlung ins Auge fassen würdest, da es ja angebracht wäre, daß Du Dich je eher einarbeitest und alles seine Zeit braucht. Dein getreuer Vater.« Wie stets spürte Joachim starke Abneigung gegen die Schrift und er las die Briefe mit vielleicht noch ärgerer Unaufmerksamkeit als sonst, denn jede Mahnung zur Quittierung des Dienstes und zur Übersiedlung in die Heimat war wie ein Hinabzerren ins Zivilistische und Haltlose, nicht viel anders, als wollte man ihn eines Schutzes berauben und ihn nackt hinausstoßen in die Gegend des Alexanderplatzes, damit jeder der fremdartigen und geschäftigen Herren sich an ihm reiben könne. Mochte man es Trägheit des Gefühls nennen: nein, er war nicht feig und er würde sich ruhig vor die Pistole des Gegners stellen oder gegen den französischen Erbfeind ins Feld ziehen, aber die Gefahren des zivilistischen Lebens waren von fremder und dunkler, unfaßbarer Art. Da war alles in Unordnung, ohne Hierarchie, ohne Disziplin und wohl auch ohne Pünktlichkeit. Wenn er auf seinem Weg zwischen Wohnung und Kaserne an Borsigs Maschinenfabrik zu Arbeitsbeginn oder -schluß vorüberkam und die Arbeiter vor dem Fabriktor standen wie ein exotisches rostiges Volk, nicht viel anders als das Volk der Böhmen, so fühlte er ihre unheimlichen Blicke, und wenn der eine oder der andere grüßend an die schwarze Lederkappe griff, wagte er nicht zu danken, weil er sich scheute, den Freundlichen zum Überläufer zu stempeln, zu einem, der mit ihm Partei macht. Denn er empfand den Haß der anderen als etwas Berechtigtes, wohl auch weil er ahnte, daß sie Bertrand trotz seines Zivilanzuges nicht minder hassen würden als ihn. Etwas davon steckte wohl auch in Ruzenas Abneigung gegen Bertrand. All dies war beklemmend und ungeordnet, und es war Joachim, als habe sein Schiff ein Leck bekommen, das zu erweitern man ihn zwingen wolle. Völlig ungereimt aber schien es, daß der Vater von ihm verlangte, er möge Elisabeths halber den Dienst quittieren; gab es überhaupt etwas, was einen Freier ihrer würdig machen könnte, so war es, daß er sich wenigstens dem Kleide nach von all der Unreinheit und der Unordnung abhob; ihn der Uniform berauben, hieße Elisabeth entwürdigen. So schob er wohl den Gedanken an das zivilistische Leben und an die Rückkehr ins Vaterhaus als eine zudringliche und gefährliche Zumutung beiseite, doch um dem Vater nicht völlig ungehorsam zu werden, fand er sich mit Blumen am Bahnhof ein, als Elisabeth und ihre Mutter sich zum Sommeraufenthalt nach Lestow begaben.

Der Schaffner vor dem wartenden Zuge stand stramm, als er Joachims ansichtig wurde, und es war ein stillschweigendes Einverständnis zwischen den beiden Männern, Einverständnis in dem Blick des braven Unteroffiziers, der die Damen des Vorgesetzten in seinen Schutz übernahm. Und obzwar es ein wenig gegen die Konvention verstieß, die Baronin, welche mit Jungfer und Gepäck im Abteil installiert worden war, dort allein zurückzulassen, empfand Joachim es als freundliche Auszeichnung, daß Elisabeth den Wunsch äußerte, bis zum Klingelzeichen längs des Zuges noch zu promenieren. Sie gingen auf der festgestampften Erde zwischen den Schienen auf und nieder und wenn sie bei der geöffneten Türe des Coupés vorüberkamen, verabsäumte Joachim nicht, mit leichter Verbeugung hinaufzugrüßen, während die Baronin herunterlächelte. Elisabeth aber sprach davon, wie sehr sie sich auf das heimatliche Haus freue und daß sie mit Sicherheit darauf rechne, Joachim während seines Urlaubes, den er doch wie stets und in diesem traurigen Jahre mit um so größerer Bestimmtheit bei den Eltern verbringen werde, oft in Lestow zu sehen. Sie trug ein knappes englisches Reisekostüm aus leichtem grauem Tuche und ihr blauer Reiseschleier, der den kleinen Hut verdeckte, stand gut zur Farbe des Tuches. Es war fast verwunderlich, daß ein Wesen von so ernstem Gesichtsausdruck das Interesse und den tändelnden Geschmack zur Auswahl der vorteilhaften Garderobe aufbringen konnte, besonders wenn man mutmaßen wollte, daß das Grau des Kleides und das Blau des Schleiers eigens zur Farbe ihrer Augen ausgewählt sein mochten, die zwischen ernstem Grau und heiterem Blau schimmerten. Doch schien es schwierig, diesen Gedanken in richtige Worte zu fassen und Joachim war daher froh, als das Klingelzeichen ertönte und der Schaffner bat, die Plätze einzunehmen. Elisabeth stieg auf das Trittbrett und wußte durch Fortsetzung des Gespräches bei halbgewendetem Körper den häßlichen Anblick einer gebückt ins Coupé kletternden Dame geschickt zu kaschieren; erst auf der obersten Stufe ließ es sich nicht weiter vermeiden und sie kroch resolut durch die niedere Türe. Nun stand Joachim emporgedrehten Kopfes vor dem Waggon, und der Gedanke an den Vater, zu dem er vor nicht allzu langer Zeit hier an der gleichen Stelle in die Coupétüre hinaufgesprochen hatte, vermischte sich so merkwürdig mit dem Gedanken an die Jackenschöße Elisabeths und mit dem Projekt der Heirat, welches der Vater damals in häßlicher Weise angedeutet hatte, daß der Name dieses Mädchens mit den graublauen Augen und den grauen Jackenschößen, obwohl er es doch leibhaftig dort oben in der Coupétüre vor sich sah, plötzlich gleichgültig und vergessen war, merkwürdig und häßlich untergetaucht in der verwunderten Empörung, daß es Menschen gab wie seinen Vater, die in ihrer Verworfenheit sich erfrechten, ein jungfräuliches Wesen, gleichsam zur Erniedrigung und Besudelung irgendeinem Manne für ein ganzes langes Leben zu bestimmen. Aber so sehr er sie in dem Augenblick ihres resoluten Einsteigens als Frau erkannt hatte, er erkannte gleichzeitig schmerzlich, daß er nicht die Süßheit der Nächte Ruzenas, nicht ihr sehnendes Empfangen und Verdämmern erwarten dürfte, sondern daß es ein ernstes, vielleicht religiöses Gewährenlassen sein müßte, unvorstellbar, nicht nur weil es ohne Reisekostüm und ohne Uniform zu geschehen hätte, sondern auch unvorstellbar, weil der Vergleich mit Ruzena, die er aus der Männer Berührung und Besudelung gerettet hatte, geradezu als Gotteslästerung erschien. Doch schon läutete es zum dritten Male und während er leicht salutierend am Bahnsteig stand, ließen die Damen ihre Spitzentücher flattern, so lange, bis schließlich nur mehr zwei weiße Punkte sichtbar waren und eine Linie sanfter Sehnsucht aus dem Herzen Joachims sich herauswagte, sich dehnte und zu dem weißen Pünktchen sich hinüberspann, noch rechtzeitig im letzten Augenblick, ehe es in der Ferne entschwand.

Vom Portier und den Angestellten militärisch gegrüßt, verließ er den Bahnhof und trat auf den Küstriner Platz hinaus. Der lag nüchtern und ein wenig verwahrlost da, dunkel, obwohl er doch allenthalben von heller Sonne durchströmt war, einer entlehnten Sonne, während die richtige über den goldenen Feldern glänzte. Und wenn dies auch in einer nur schwerverständlichen Weise an Ruzena erinnerte, so war es doch deutlich, daß Ruzena, sonderbar durchsonnt, dennoch dunkel und ein wenig verwahrlost, mit Berlin so eng verbunden war wie Elisabeth mit den Feldern, durch die sie jetzt fuhr, und mit dem Herrenhaus, das in dem Parke liegt. Das war eine Art befriedigender reinlicher Ordnung. Trotzdem war er froh, Ruzena dem dunklen Animierberuf und seiner falschen Helligkeit entzogen zu haben, froh, daß er daran war, sie aus dem Gewirr der Fäden zu lösen, die diese ganze Stadt umspannten, aus diesem Netz, das er überall fühlte, am Alexanderplatz und bei der rostigen Maschinenfabrik und in der Vorstadt mit dem Gemüsekeller, ein undurchdringliches unfaßbares Netz des Zivilistischen, das unsichtbar war und dennoch alles verdunkelte. Aus solcher Verstrickung galt es, Ruzena zu lösen, denn auch hier galt es, sich Elisabeths würdig zu erweisen. Aber das war bloß ein sehr undeutlicher Wunsch, ein Wunsch, den er sich überdies gar nicht klarmachen wollte, weil er ihm wahrscheinlich selber absurd erschienen wäre.

 

Eduard v. Bertrand, der im Begriffe stand, seine Geschäfte auf das böhmische Industriegebiet auszudehnen, erinnerte sich in Prag an Ruzena, hatte gewissermaßen für sie Heimweh und wollte ihr etwas Freundliches zum Troste sagen. Und da er Ruzenas Adresse nicht wußte, schrieb er an Pasenow, daß er in dankbarem Gedenken an ihren letzten Abend gerne hoffe, ihn bei der Rückreise nach Hamburg in Berlin anzutreffen, fügte einen herzlichen Gruß an Ruzena bei und lobte ihre schöne Heimat. Dann bummelte er durch die Stadt.

Nach dem Abend mit Bertrand und Ruzena hatte Pasenow erwartet, daß irgend etwas Besonderes und Feierliches, vielleicht sogar etwas Furchtbares erfolgen würde, zum Beispiel daß Bertrand die Auszeichnung und das Vertrauen, die er ihm durch die Gewährung jenes Abends hatte zuteil werden lassen, mit gleicher Münze zurückzahlen werde, wenn eine Entführung Ruzenas auch nicht ganz außerhalb des Bereichs des Möglichen lag; Kaufleute sind gewissenlos. Aber als weder das eine noch das andere erfolgte, vielmehr Bertrand sang- und klanglos und programmgemäß abreiste und nichts mehr von sich hören ließ, war Joachim eigentlich gekränkt. Da kam unverhofft die Nachricht aus Prag; er zeigte sie Ruzena: »Du scheinst Eindruck auf Bertrand gemacht zu haben«, sagte er zögernd. Ruzena verzog das Gesicht: »Wenn schon, mir gefallte nicht dein Freund, ist häßlicher Mensch.« Joachim nahm Bertrand in Schutz; er sei nicht häßlich. »Weiß nicht, mir gefallte nicht, sagt so Sachen«, entschied Ruzena, »soll nicht wiederkommen.« Damit war Joachim sehr einverstanden, obwohl er ihn jetzt eigentlich dringend gebraucht hätte, um so mehr, als Ruzena hinzufügte: »Morgen geh' ich in Theaterschule.« Er wußte, daß sie nicht hingehen würde, wenn er sie nicht hinführte, natürlich nicht, aber wie konnte er sie hinführen? Wie packte man so etwas an? Ruzena wollte durchaus etwas »arbeiten« und das Planen neuer Beschäftigungsarten bildete ein neues Gesprächsthema mit dem Reiz ungewohnter Ernsthaftigkeit, wenngleich Joachim all den aufgeworfenen Fragen sehr hilflos gegenüberstand. Vielleicht fühlte er, daß ein bürgerlicher Beruf ihr die exotische Anmut, mit der sie zwischen zwei Welten schwebte, rauben und sie in die Barbarei zurückversetzen würde, und eben deshalb reichte seine Phantasie auch nicht weiter als bis zum Theaterberuf, auf den Ruzena voll Begeisterung sich mit ihm einigte: »Wirst sehen, wie ich sein werde berühmt, wirst mich liebhaben!« Aber es war ein weiter Weg bis dahin und es geschah nichts. Bertrand hatte einmal von einer vegetativen Indolenz gesprochen, in der die meisten Menschen lebten; das war wohl etwas Ähnliches wie jene Trägheit des Gefühls. Ja, wenn Bertrand hier wäre; der könnte mit seiner Weltgewandtheit und praktischen Erfahrung vielleicht helfen. Und so fand Bertrand, als er nach Berlin kam, eine dringende Einladung Pasenows als Antwort auf seine freundlichen Grüße vor.

Das ließe sich wohl machen, meinte Bertrand zur großen Überraschung der beiden, das ließe sich wohl machen, wenn sie auch nicht glauben sollten, daß das Theater eine besonders zukunftsreiche oder gar leichte Karriere sei. Allerdings habe er in Hamburg bessere Beziehungen, aber er wolle es gerne versuchen. Und dann entwickelten sich die Dinge viel rascher als man gehofft hatte; schon nach wenigen Tagen war Ruzena zu einem Probesingen bestellt, das sie nicht schlecht bestand, und kurze Zeit darauf war sie als Chordame engagiert. Der Argwohn Joachims, daß die rasch bereite Gefälligkeit Bertrands mit dessen Absichten auf Ruzena zusammenhänge, konnte vor der freundlich-gleichgültigen, man könnte beinahe sagen ärztlichen Haltung Bertrands nicht bestehen. Es wäre zweifellos klarer gewesen, wenn Bertrand seine Bemühungen für Ruzena zum Anlaß genommen hätte, um seine Liebe zu ihr offen zu erklären. Im Grunde war Joachim ernstlich böse auf Bertrand, der zwar drei Abende in seiner und Ruzenas Gesellschaft verbracht und allerlei durcheinander geschwatzt hatte, der aber doch nichts von sich hergab als die sattsam bekannte freundliche Verschlossenheit, ein Fremder blieb, der überdies für Ruzena mehr geleistet hatte als er selber in der Trägheit seiner romantischen Phantasie. Das war alles sehr peinlich. Was wollte dieser Bertrand? Jetzt, da er sich von ihm verabschiedete und, wie es sich gehörte, jeden Dank von und für Ruzena ablehnte, sprach er wieder einmal die Hoffnung aus, Joachim v. Pasenow bald wiederzusehen. Warum wollte er ihn wiedersehen? war das nicht heuchlerisch? Und Joachim, sich selbst unverständlich, sagte: »Ja, Bertrand, wenn Sie nächstens nach Berlin zurückkehren, werden Sie mich kaum antreffen, da ich nach den Manövern für einige Wochen nach Stolpin fahre. Wenn Sie mich dort aber wirklich besuchen wollten, so würde ich mich aufrichtig freuen.« Und Bertrand sagte zu.

 

Es war stets eine Gepflogenheit Herrn v. Pasenows gewesen, die Post in seinem Zimmer zu erwarten. Auf dem Tische wurde seit unvordenklichen Zeiten neben dem Stoß der Jagdzeitungen ein Platz freigehalten und auf diesen Platz hatte der Bote täglich die Tasche hinzulegen. Und obwohl die Ausbeute sich meistens nicht verlohnte und oftmals bloß aus ein oder zwei Zeitungen bestand, nahm Herr v. Pasenow mit der stets gleichen Gier den Postschlüssel von dem Rehgeweih, an das er ihn zu hängen pflegte, und öffnete den gelben Messingbügel der schwarzen Tasche. Und während der Bote mit der Mütze in der Hand schweigend wartet und den Fußboden betrachtet, übernimmt Herr v. Pasenow die Briefschaften und setzt sich mit ihnen an den Schreibtisch, legt vor allem die seinen und die seiner Familie heraus, und nachdem er sorgsam die Anschriften der übrigen geprüft hat, übergibt er sie dem Boten, damit dieser sie den Empfängern unter den Hausleuten bringe. Manchmal mußte er sich Zwang antun, um nicht den einen oder den anderen Brief, der an die Mägde gerichtet war, zu öffnen, denn dies erschien ihm wie ein selbstverständliches jus primae noctis des Herrn, und daß das Briefgeheimnis auch für Untergebene gelten sollte, war eine neumodische Einrichtung, die ihm wider den Strich ging. Immerhin gab es unter dem Gesinde einige, die sogar über die äußerliche Briefbeschau murrten, besonders da der Herr sich nicht scheute, hinterher nach dem Inhalt der Briefe zu fragen oder die Mägde zu hänseln. Dies hatte auch schon zu ernsten Zerwürfnissen geführt, welche aber mit Kündigungen geendet hatten, so daß die Rebellen jetzt nicht mehr offen sich auflehnten, sondern ihre Briefe entweder selbst vom Amte holten oder dem Postmeister insgeheim den Auftrag gaben, sie durch den amtlichen Briefträger zustellen zu lassen. Ja, sogar den seligen Jungherrn hatte man eine Zeitlang täglich beim Amte vom Pferde steigen sehen, um seine Post eigenhändig abzuholen; mag sein, daß er damals Frauenbriefe erwartete, die er vor den Augen des Alten bewahren wollte, oder daß er Geschäfte machte, die geheim bleiben sollten; aber der Postmeister, der sonst mit seinen Beobachtungen nicht hinterm Berge hielt, konnte weder das eine noch das andere vermuten, da die spärlichen Briefschaften, die Helmuth v. Pasenow empfing, keinerlei Schlüsse zuließen. Nichtsdestoweniger erhielt sich hartnäckig das Gerücht, daß der Alte durch irgendwelche Machinationen mit der Post eine Heirat und das Glück seines Sohnes zerstört habe. Insbesondere die Frauen auf dem Gute und im Dorfe hielten daran fest, und sie mochten nicht ganz so unrecht haben, denn Helmuth wurde immer gleichgültiger und müder, hatte bald seine Ritte ins Dorf eingestellt und seine Post wieder in der großen Posttasche aufs Gut und auf den Tisch des Vaters bringen lassen.

Seine Leidenschaft für die Post hatte Herr v. Pasenow beibehalten und es war daher nicht auffallend, daß sie sich vielleicht sogar noch etwas verschärft hatte. Er richtete seinen Morgenritt oder Spaziergang nun oft so ein, daß er dem Boten begegnen mußte, und da zeigte es sich, daß er den kleinen Schlüssel zur Tasche nicht mehr am Rehgeweih hängen ließ, sondern ihn zu sich gesteckt hatte, damit er auf offenem Felde die Tasche öffnen könne. Dort sah er auch die Briefe hastig durch, legte sie aber in die Tasche zurück, um das häusliche Ritual, das sich in gewohnter Weise anschloß, nicht zu stören. Einmal aber war er des Morgens gar bis zum Amte vorgedrungen, in dem der Bote noch am Schalter lehnte, und hatte gewartet, bis der Postbeutel auf den abgenützten Posttisch entleert worden war, hatte dann gemeinsam mit dem Postmeister die Briefe gesichtet und eingeteilt. Als der Bote diesen bemerkenswerten Vorfall auf dem Gute erzählte, meinte das Hausfräulein Agnes, die wegen ihrer scharfen Zunge überall bekannt war: »Jetzt beginnt er schon, sich selber zu mißtrauen.« Das war natürlich ein Gerede ohne vernünftigen Hintergrund, und die Unerschütterlichkeit, mit der sie mehr als alle anderen den Gutsherrn für den Tod seines Sohnes verantwortlich machte, ließ sich vielleicht als späte Folge jenes Ärgers auslegen, der nun schon seit den Jahren in ihr saß, da sie, noch jung und stattlich, von dem Alten ob ihrer Korrespondenz gehänselt worden war.

Nein, mit der Post hatte es Herr v. Pasenow stets gehabt und was er jetzt trieb, war eben auch nicht weiter auffallend. Es fiel auch nicht auf, daß der Pastor jetzt öfter zum Abendessen eingeladen wurde und daß auf seinen Spaziergängen Herr v. Pasenow von Zeit zu Zeit sogar selber im Pfarrhause vorsprach. Nein, dies schien nicht verwunderlich und der Pastor wertete es als Frucht des gespendeten geistlichen Trostes. Bloß Herr v. Pasenow wußte, daß es ein unerklärlicher und geheimer Grund war, der ihn zu dem Pastor trieb, obwohl er den Mann nicht leiden mochte, eine unbestimmte Hoffnung, daß der Mund, der in der Kirche predigte, ihm etwas mitteilen müßte, das er erwartete und das er, trotz aller Angst, daß es niemals eintreffen werde, nicht einmal zu benennen vermochte. Wenn der Pastor die Rede auf Helmuth brachte, so sagte Herr v. Pasenow manchmal: »Ist ja egal …« und brach zu seiner eigenen Verwunderung das Gespräch ab, fluchtartig geradezu, als fürchte er sich vor dem Unbekannten, das er doch herbeisehnte. Aber manchmal gab es Tage, da duldete er es, daß das Unbekannte ihm in die Nähe kam, und das war dann wie ein Spiel, das er als Kind gespielt hatte: man hatte einen Ring sichtbarlich versteckt, ihn etwa an einen Lüster gehängt oder an einen Schlüssel, und wenn die Suchenden sich entfernten, sagte man »kalt« und wenn sie sich dem versteckten Gegenstand näherten sagte man »warm« oder gar »heiß«. So war es nur ganz selbstverständlich, daß Herr v. Pasenow plötzlich scharf und deutlich »heiß, heiß …« sagte und beinahe in die Hände geklatscht hätte, als der Pastor wieder einmal von Helmuth sprach. Höflich bestätigte der Pastor, daß der Tag wirklich recht warm gewesen sei, und Herr v. Pasenow fand in die Gegenwart zurück. Dennoch war es sonderbar, wie nahe beieinander die Dinge lagen: noch glaubte man mitten im Kinderspiel zu sein und doch ist auch der Tod schon mitten im Spiele. »Ja, ja, warm ist's heute«, sagte also Herr v. Pasenow, hatte aber das Aussehen als fröre ihn, »ja, in solch heißen Nächten brennt es gerne in den Scheunen.«

Der Gedanke an die Hitze verließ ihn auch beim Abendessen nicht: »In Berlin muß es jetzt drückend heiß sein. Joachim schreibt zwar nichts darüber … ja, er schreibt überhaupt so wenig.« Der Pastor sprach von den Anstrengungen des Dienstes. »Was für ein Dienst?« fragte Herr v. Pasenow scharf, so daß der Pastor betreten keine Antwort wußte. Nun, kommentierte Frau v. Pasenow, der Herr Pastor meine eben, daß der Dienst Joachim wenig Muße zum Schreiben lasse, besonders jetzt zur Manöverzeit. »So soll er eben den Dienst lassen«, knurrte Herr v. Pasenow. Dann trank er rasch nacheinander einige Glas Wein und erklärte, daß ihm nun wohler sei; er schenkte dem Pastor ein: »Trinken Sie, Pastor, wenn man trinkt, wird einem warm und wenn man doppelt sieht, ist man weniger einsam.« – »Wer mit Gott ist, ist nie einsam, Herr v. Pasenow«, erwiderte der Pastor, und Herr v. Pasenow empfand die Antwort als Ermahnung und Taktlosigkeit. Hatte er nicht stets Gott gegeben, was Gottes ist und dem Kaiser oder richtiger dem König hat er gegeben, was ihm gebührt: ein Sohn macht Dienst beim König und schreibt nicht und den andern hat Gott zu sich genommen und ringsherum ist es leer und kalt. Ja, der Pastor hatte leicht hochmütig reden; der hatte das Haus voll, zu voll für seine Verhältnisse und jetzt war wieder eines zu erwarten. Da hielt es nicht schwer, mit Gott zu sein; gerne würde er dies dem Pfarrer sagen, aber er durfte es nicht mit ihm verderben, wer blieb ihm denn sonst, wenn keiner mehr zu ihm wollte, außer … da riß der eben sichtbar gewesene Gedanke ab, versteckte sich, und Herr v. Pasenow sagte weich und träumerisch: »Im Kuhstall ist es warm.« Erschrocken schaute Frau v. Pasenow auf ihren Gatten; hatte er den Wein doch zu hastig getrunken? Aber Herr v. Pasenow war aufgestanden und horchte zum Fenster hin; hätte die Lampe nicht bloß den Tisch beleuchtet, so hätte Frau v. Pasenow den erschreckt-wartenden Ausdruck in seinen Zügen sehen müssen, der allerdings verschwand, als im knirschenden Kies die Schritte des Nachtwächters vernehmbar wurden. Herr v. Pasenow ging zum Fenster, beugte sich hinaus und rief »Jürgen«. Und als Jürgens schwerer Tritt vor dem Fenster Halt machte, befahl Herr v. Pasenow auf die Scheuern achtzuhaben, »just zwölf Jahre sind es her, daß uns die große Scheune am Vorwerk in solch warmer Nacht abgebrannt ist«. Und als Jürgen sich befehlsgemäß erinnert und »keine Sorge« gesagt hatte, fügte sich auch für Frau v. Pasenow der Vorfall wieder ins Gewohnte und Unauffällige, so daß sie auch nichts weiter dabei fand, als Herr v. Pasenow sich verabschiedete, um noch einen Brief, der mit der Morgenpost fortgehen sollte, zu schreiben. An der Tür kehrte er nochmals um: »Sagen Sie, Herr Pastor, warum haben wir Kinder? Sie sollten es doch wissen, Sie haben doch Praxis.« Und er entfernte sich rasch und kichernd, aber ein wenig wie ein Hund, der auf drei Beinen läuft.

Mit dem Pastor allein geblieben, sagte Frau v. Pasenow: »Ich bin ganz glücklich, wenn er wieder mal besserer Laune ist. Seit dem Ableben unseres armen Helmuth ist er ja stets recht gedrückter Stimmung gewesen.«

 

Der August neigte sich seinem Ende zu und die Pforten der Theater waren wieder geöffnet. Ruzena hatte nun Visitenkarten, die sie als Schauspielerin bezeichneten, und Joachim mußte auf Manöver nach Oberfranken. Er war Bertrand böse, weil er Ruzena in einem Beruf untergebracht hatte, der schließlich nicht minder anrüchig war als die Tätigkeit im Jägerkasino. Natürlich mußte man es auch Ruzena selber zur Last legen, daß sie überhaupt in einen derartigen Beruf geraten war, mehr vielleicht noch ihrer Mutter, daß sie ihr Kind nicht besser behütet hatte. Aber was er daran hatte gutmachen wollen, das schien nun durch Bertrand wieder zerstört. Vielleicht war es sogar jetzt noch ärger als früher. Denn im Kasino war alles eindeutig und es galt ja, ja, und nein, nein; die Bühne hingegen besaß ihre eigene Atmosphäre; hier gab es Huldigung und Blumen und wohl nirgend anderwo wurde es einem jungen Mädchen so schwer gemacht, anständig zu bleiben. Das war ja allgemein bekannt. Ach, es war ein stets tieferes Hinabgleiten, und Ruzena wollte es nicht verstehen, sondern war auf ihren neuen Beruf und ihre Visitenkarten sogar noch stolz. Sie erzählte mit großer Eindringlichkeit Kulissenerlebnisse und all den Klatsch des Theaters, den er nicht hören wollte, und durch die Dämmerung ihres Zusammenlebens brachen nun unaufhörlich Streifen von Rampenlichtern. Wie hatte er je glauben können, daß er zu ihr hinfinden würde, oder daß sie ihm gehört hätte, sie, die im vorhinein Verlorene. Noch suchte er sie, aber das Theater stand wie eine Drohung aufgerichtet und wenn sie von den Liebesaffären der Kolleginnen eifrig erzählte, so sah er darin die Gefahr und das feste Vorhaben ihres geweckten Ehrgeizes, es ihnen gleichzutun, sah darin Ruzenas Rückkehr zu einem früheren Leben, das sich vielleicht nicht viel anders abgespielt haben mochte; denn der Mensch strebt immer zu seinem Ausgangspunkt zurück. Zerstörtes Glück der dämmerigen Indolenz, verlorene Süßigkeit der Trauer, die das Herz zwar umschloß und Tränen aufsteigen machte, die aber doch den Schimmer ewigen Versinkens in sich trug. Nun tauchten auch wieder die Hirngespinste auf, vor denen er sich gefeit geglaubt hatte, und wenn er auch nicht mehr das Antlitz des italienischen Bruders im Gesicht Ruzenas suchen mußte, es war darin vielleicht in noch ärgerer Weise eingegraben, eingegraben als das unauslöschliche Antlitz jenes Lebens, dem er sie nicht zu entreißen vermochte. Und der Argwohn wurde wieder wach, daß Bertrand es sei, der diese Hirngespinste herbeiführte, der alles beabsichtigt hatte, der gleich Mephisto alles vernichten und selbst Ruzena nicht schonen wollte. Zu all dem kamen die Manöver; wie wird er Ruzena bei seiner Rückkunft wiederfinden? Wird er sie überhaupt noch wiederfinden? Sie versprachen einander häufig zu schreiben, täglich; aber Ruzena hatte mit der deutschen Schriftsprache allerhand Schwierigkeiten, und weil sie überdies auf ihre Visitenkarten stolz war und er nicht wagte, die kindliche Freude zu zerstören, brachte ihm die Post oftmals bloß eine solche Karte mit der verhaßten Aufschrift »Schauspielerin« und auf der Karte stand »schickt viele Pussi«, ein Wort, das die Sanftheit ihrer Küsse zu entweihen schien. Dennoch war er höchlich beunruhigt, wenn er einige Tage keine Nachricht von ihr erhielt, trotzdem er sich sagen mußte, daß die Bewegtheit des Feldlebens Postverspätungen erklärlich machte; und er war froh, wenn dann eines der unangenehmen Kärtchen einlangte. Und plötzlich und unvermittelt tauchte es wie Erinnerung auf, daß auch Bertrand so eine Art Schauspieler sei.

Ruzena aber sehnte sich nach Joachim. Seine Briefe enthielten Schilderungen des Manöverlebens und der Abende in den kleinen Dörfern, deren er sich erst wirklich erfreuen würde, »wenn du, liebe, kleine, süße Ruzena bei mir wärest«. Und wenn er sie aufforderte, zu gleicher Zeit mit ihm, um neun Uhr abends den Mond zu betrachten, damit ihre Blicke sich dort oben träfen, so lief sie während der Pause aus der Bühnentür und schaute pflichtschuldig hinauf, selbst wenn die Pause erst auf halb zehn Uhr fiel. Es war ihr, als ob jener Frühlingsnachmittag im Regen sie immer noch festhielte, in ihr etwas lähmte; die Flutwelle, die damals über sie gegangen war, zog sich nur langsam zurück, und obwohl des Mädchens Wille nicht stark genug war und es auch sonst keinerlei Möglichkeit besaß, Staudämme aufzurichten, um die Flut zurückzuhalten, so war doch die Luft, die es atmete und ausatmete, noch immer von milder Feuchtigkeit geschwängert. Zwar beneidete sie die Kolleginnen, die Blumen in der Garderobe erhielten, aber sie bedauerte es eigentlich bloß Joachims wegen, dem sie eine gefeierte Diva zur Geliebten gewünscht hätte. Und wenn auch eine liebende Frau oftmals jenen Hauch des Erotischen um sich trägt, der vielen erst zartester Reiz ist, es waren die Männer, die den Künstlerinnen ihre Huldigungen darbrachten, doch von anderer Art und nicht danach angetan, solch leisen Ton zu vernehmen. So geschah es, daß Ruzena unberührter denn je Joachim empfing, als er von den Manövern nach Berlin zurückkehrte, und sie empfanden es wie einen Sieg, von dem sie trotzdem wußten, daß die Niederlage folgen werde; aber sie wollten dies nicht wissen und verschlossen sich der Erkenntnis unter Umarmungen.

 

Seitdem der Zug die Halle verlassen und sie mit flatterndem Spitzentüchlein Abschied genommen hatte, versuchte Elisabeth sich klarzumachen, ob sie Joachim liebe. Es war eine fast freudige Beruhigung, daß das Gefühl, welches sie als Liebe bezeichnen wollte, so sehr behutsam und zivilisiert auftrat; man mußte geradezu nachdenken, um es zu bemerken, denn es war ein so leichtes und dünnes Gebilde, daß es erst auf einem Hintergrund von silberiger Langeweile sichtbar wurde. Doch nun verblaßten die sanften Konturen des Bildes, da die Langeweile sich zu steigender Ungeduld wandelte, je mehr sie sich der Heimat näherten, und als auf dem Bahnhof der Baron sie mit den neuen Pferden erwartete und gar als sie in Lestow einlangten, mit grünen Wipfeln des Parkes umfriedete Natur auftauchte, vorgelagert das Tor in ruhigerer Massigkeit, eine erste Überraschung, denn rechts und links vom Parkeingang waren zwei neue Pförtnerhäuser angebaut worden, so daß die Damen lebhafte Rufe des Erstaunens von sich gaben, und dies doch bloß der Auftakt war für das viele, das in den nächsten Tagen noch zu sehen und zu erleben sein würde, war es nur allzu verständlich, daß Elisabeth nicht mehr an die Liebe dachte. Hatte doch der Baron die Abwesenheit seiner beiden Damen oder, wie er sie zum Stolze Elisabeths manchmal nannte, seiner beiden Frauen wieder einmal dazu benützt, um im Hause mannigfache Verbesserungen und Verschönerungen vorzunehmen, die sie entzückten und dem Baron viele Worte des Lobes und des zärtlichen Dankes eintrugen. Sie hatten ja auch allen Grund, auf ihren kunstverständigen Papa stolz zu sein, der zwar keinen übermäßigen Respekt vor dem Bestehenden an den Tag legte und der dem alten Herrenhaus schon allerlei Verzierungen zugemutet hatte, der sich aber keineswegs auf das Architektonische beschränkte, sondern niemals vergaß, daß es immer Plätze an den Wänden gab, an denen sich ein neues Bild gut machte, eine Ecke, die man mit einer gewichtigen Vase schmücken konnte, ein Büffet, das mit einer goldgestickten Samtdecke zu versehen war, und er war der Mann, der danach handelte. Seit ihrer Verheiratung waren der Baron und die Baronin zu Sammlern geworden, und die stete Ausgestaltung ihres Heims wurde ihnen eine Verewigung des Brautstandes, auch dann noch, als die Tochter sich dazugesellt hatte. Elisabeth blieb es nicht verborgen, daß der Eltern Leidenschaft, die verschiedenen Geschenkfeste des Jahres zu begehen, die Geburtstage zu feiern und ständig auf neue Überraschungen bedacht zu sein, eine tiefere Bedeutung besaß und mit der Freude, ja, man konnte fast sagen Sucht, sich mit immer neuen Dingen zu umgeben, in einem tieferen, wenn auch schwer durchschaubaren Zusammenhang stand; zwar wußte Elisabeth nicht, daß jeder Sammler mit der nie erreichten, nie erreichbaren und doch unentwegt erstrebten lückenlosen Absolutheit seiner Sammlung hinauslangt über die gesammelten Dinge, in die Unendlichkeit hineinlangt, und daß er, aufgehend in seiner Sammlung, auch die Erreichung seiner eigenen Absolutheit erhofft und die Aufhebung seines Todes, Elisabeth wußte es nicht, aber umgeben von all den vielen schönen toten Dingen, die um sie angesammelt und aufgehäuft waren, umgeben von den vielen schönen Bildern, ahnte sie dennoch, daß die Bilder an die Wände gehängt waren, als sollten sie die Mauern verstärken, und als sollten all die toten Dinge etwas sehr Lebendiges bergen, vielleicht auch verbergen und schützen, etwas, dem sie selber so sehr verbunden war, daß sie manchmal denken mußte, es sei ein kleines Geschwister, wenn ein neues Bild gebracht wurde, etwas, was gehegt sein wollte und das die Eltern hegten, als ob ihrer aller Beisammensein davon abhängen würde: sie ahnte die Angst, die dahinter stand und die den Alltag, der das Altern ist, im Festlichen zu übertönen suchte, Angst, die sich immer wieder vergewisserte – stets neu erlebte Überraschung –, daß sie lebendig und geboren und definitiv beisammen waren und ihr Kreis ewiglich geschlossen. Und so wie der Baron immer neue Strecken seines Bodens in den Park einbezog, dessen dichter dunkler Bestand nun schon fast von allen Seiten mit weiten Flächen freundlichen lichten Jungholzes umgeben war, so schien es Elisabeth, als wünschte er mit fast weiblicher Fürsorge ihrer aller Leben zu einem immer größeren eingefriedeten Park voll anmutiger Raststationen zu machen und als wäre er erst am Ziele und von jeglicher Angst befreit, wenn sich der Park über die ganze Erde ausgebreitet haben würde, Ziel seiner selbst, Park zu sein, auf daß Elisabeth sich für immer in ihm ergehen möge. Zwar widersetzte sich manchmal etwas in ihr solch sanfter unentrinnbarer Verpflichtung, aber da die Auflehnung fast niemals sehr deutlich wurde, verfloß sie mit den sonnigen Konturen der Hügel, die draußen hinter der Einfriedung des Parkes lagen.

»Ei«, sagte die Baronin, als sie die neue Pergola im Rosarium bewunderten, »ei, wie zierlich: als wäre es für ein Brautpaar geschaffen.« Sie lächelte Elisabeth zu und auch der Vater lächelte, aber in ihrer beider Augen war die Angst vor dem Drohenden, Unentrinnbaren deutlich zu lesen, Hilflosigkeit, Wissen von einer Untreue und einem Verrat, dennoch im vorhinein verzeihend, da sie selber gesündigt hatten. Wie war es traurig, daß die Eltern schon von dem bloßen Gedanken an solch künftige Eheschließung bedrückt schienen, und Elisabeth wies jeden Heiratsgedanken weit von sich, so weit, daß es fast wieder erlaubt wurde, gerne zuzuhören, wenn die Eltern gleichsam als Zugeständnis an die Liebesbestimmung der Tochter von einer möglichen Heirat sprachen, gleichsam in einer Anerkennung, die die Tochter in die Sphäre der Erwachsenen erhob, beinahe zu einer Schwester der Mutter machte, und deshalb wohl auch mußte Elisabeth an Tante Brigittens Hochzeitstag denken, als nun die Mutter ihr einen zärtlichen Kuß auf die Wange drückte, mußte ihn auch wie einen Abschiedskuß empfinden, denn so hatte die Mutter damals die Schwester geküßt, unter Tränen geküßt, unter Tränen, obzwar sie alle behauptet haben, sehr glücklich zu sein und über den neuen jungen Onkel sich zu freuen. Aber natürlich war dies schon lange her; es war kindisch, daran zu denken, und Elisabeth, zwischen den Eltern, legte die Arme um ihre Schultern und ging mit ihnen zur Mittellaube der Pergola, wo sie sich niederließen. Die Rosenbeete, durchzogen von den schmalen, symmetrisch gewundenen Wegen, prangten in allen Farben und waren voll Duft, doch die Schatten waren noch nicht verflogen und der Baron sagte traurig, auf eine Gruppe weisend: »Und dort versuchte ich, auch einige Manettirosen zu setzen, aber unser Klima dürfte zu rauh für sie sein«, und als beabsichtigte er die Tochter durch solches Versprechen zurückzuhalten, fuhr er fort: »Falls es aber gelingt und sie gedeihen, dann sollen sie Elisabeth gehören.« Elisabeth spürte den Druck seiner Hand und das war ihr beinahe wie eine Andeutung, daß es etwas gab, das sie nicht fest genug umschlossen halten konnte, etwas, von dem man vielleicht meinen mochte, daß es die Zeit war, zusammengeballt und zusammengepreßt wie eine Uhrspirale, und die nun aufzuspringen drohte, sich zwischen den Fingern herauswand, länger wurde, ein beängstigend langes dünnes weißes Band, das zu kriechen begann und von ihnen Besitz zu ergreifen suchte wie eine böse Schlange, so daß man dick, alt und häßlich wurde. Vielleicht spürte dies auch die Mutter, denn sie sagte: »Wenn das Kind einmal von uns weggehen wird, werden wir allein hier sitzen.« Und Elisabeth sagte schuldbewußt: »Ich werde ja immer bei euch bleiben«, sagte es schuldbewußt und beschämt, weil sie selber nicht daran glaubte und es doch wie die Erneuerung eines alten Gelöbnisses klang. »Übrigens sehe ich nicht ein, warum sie dann nicht mit ihrem Mann bei uns wohnen soll«, schlug die Baronin vor, indes der Vater wehrte ab: »Bis dahin ist noch lange Zeit«, und nun mußte Elisabeth wieder an Tante Brigitte denken, die auf Würbendorf saß und dick geworden war, mit ihren Kindern zankte und die mit der holden Gestalt von einst so wenig gemein hatte, daß man sich nicht vorstellen konnte, wie es gewesen war, und sich fast des Glückes schämte, das ihre Nähe einst ausgelöst hatte. Und dabei ist Würbendorf heller und freundlicher als Stolpin und alle hatten sich gefreut, in Onkel Albert einen neuen jungen Verwandten zu erhalten. Mag sein, daß es auch nicht einmal Tante Brigitte gewesen war, die sie so sehr geliebt, sondern es hatte sich die Angliederung eines neuen Verwandten zu solch erregendem und holden Geschehen entfaltet. Würde man mit allen Menschen verwandt sein, so wäre die Welt wie ein gepflegter Park und einen neuen Verwandten bringen, hieße eine neue Rosensorte in den Garten setzen. Untreue und Verrat würden dann zum leichteren Verbrechen: das hatte sie wohl auch schon damals gespürt, als sie sich über Onkel Albert so sehr freute, und in dem Meere des ihnen angetanen Unrechts war es vielleicht diese kleine Insel des Verzeihens, auf welche die Eltern sich jetzt retteten, da sie von der möglichen Heirat der Tochter wie von einem freundlichen Geschick sprachen. Auch die Baronin hatte den Gedanken nicht aufgegeben; und weil das Leben aus lauter Kompromissen besteht, sagte sie: »Überdies wird unser Häuschen im Westend immer für sie bereit sein.« Aber Elisabeths Hand lag noch in der des Vaters, spürte deren Druck, Elisabeth wollte von einem Kompromiß nichts wissen. »Nein, ich bleibe bei euch«, wiederholte sie fast trotzig und sie erinnerte sich, wie bitter sie es als Kind empfunden hatte, daß sie vom Schlafzimmer der Eltern ausgeschlossen war und nicht über ihre Atemzüge wachen durfte; sprach doch die Baronin gerne und oft vom Tode, der den Menschen im Schlafe zu überfallen pflegt, und wenn sie ihren Gatten und Elisabeth damit erschreckte, so wurde es des Morgens selige Überraschung, daß sie die Nacht nicht auf ewig getrennt hatte, wurde zum täglich erneuten stürmischen Wunsch, sich bei den Händen zu nehmen, sich zu halten, auf daß sie niemals voneinandergerissen würden. So saßen sie auch jetzt hier in der Pergola, die von Rosenduft erfüllt war; Elisabeths kleiner Hund kam herangesprungen und begrüßte sie, als hätte er sie für ewig wiedergefunden und legte die Pfoten auf ihr Knie. Die Stöcke der Rosen standen steif und hart vor der grünen Wand des Gartens und gegen den hellblauen Himmel. Niemals würde sie einen Fremden, und wäre er noch so nahe verwandt, des Morgens mit jener Freude begrüßen können, niemals würde sie an seinen Geburtstag mit solcher leidenschaftlicher und fast andächtiger Eindringlichkeit wie etwa an den Geburtstag des Vaters denken können, nie würde sie ihn mit jener unbegreiflichen und doch hohen Angst umhegen, die die Liebe ist. Und da sie dies erkannte, lächelte sie liebend den Eltern nun zu und streichelte den Kopf des Hündchens Bello, das mit angstvoll liebenden Augen andächtig zu ihr hinaufsah.

Späterhin begann sie sich zu langweilen und auch das kleine Gefühl der Auflehnung stellte sich wieder ein. Dann war es nicht unangenehm, an Joachim zu denken und sie sah seine schlanke Gestalt und wie er in dem langen viereckigen Uniformrock mit leichter Verbeugung am Bahnsteig gestanden hatte. Aber sein Bild vermischte sich sonderbar unlöslich mit dem der jungen Tante Brigitte, und sie wußte nachgerade nicht mehr, ob Joachim die zarte Brigitte heiraten sollte oder sie selber den jungen Onkel ihrer Kinderzeit. Und wenn sie auch wußte, daß Liebe nicht das ist, was in der Oper und in den Romanen vorgeführt wird, so stand doch fest, daß sie an Joachim ohne Angst dachte; ja, selbst wenn sie die Vorstellung heraufbeschwor, der abrollende Zug hätte damals seinen Degen erfaßt und Joachim wäre unter die Räder geschleudert worden, so erfüllte dieses Bild sie wohl mit Entsetzen, nicht aber mit jener süßen Trauer und Bangigkeit und mit jenem Zittern, mit dem sie am Leben der Eltern hing. Als ihr dies klar wurde, war es wie ein Verzicht, aber auch wie eine kleine traurige Erleichterung. Nichtsdestoweniger nahm sie sich vor, Joachim gelegentlich nach seinem Geburtstag zu fragen.

 

Joachim war nach Stolpin heimgekehrt. Schon auf dem Wege vom Bahnhof, gleich nachdem sie das Dorf durchquert und die ersten Gutsfelder erreicht hatten, war ein neues Gefühl überraschend in ihm aufgekeimt; er suchte nach einem Wort dafür und fand es: mein Besitz. Als er beim Herrenhaus abstieg, war er mit einem neuen Heimatgefühl ausgestattet.

Nun saß er mit Vater und Mutter beisammen, und wenn es sich auf das Frühstück beschränkt hätte, wäre es recht erträglich gewesen; da freute er sich, unter der großen Linde sitzen zu können, der Garten lag frisch und sonnig vor ihm; die gute gelbe Butter, der Honig und der Aufsatz mit den Früchten, all diese Behaglichkeit hob sich wohltuend ab von dem eiligen Frühstück vor dem Dienst. Aber bereits die Mittags- oder Abendmahlzeiten und die Kaffeestunde waren eine Qual; je weiter der Tag fortschritt, desto stumpfer wurde das Beisammensein, und wenn des Morgens die Eltern sich über das Erscheinen des ungewohnten Sohnes gefreut hatten und vielleicht täglich auch erwarteten, es werde etwas Schönes und Lebenfüllendes von ihm ausgehen, so war der Verlauf des Tages – skandiert durch die Mahlzeiten – eine etappenweise Enttäuschung, und gegen Nachmittag war Joachims Gegenwart beinahe zur Verschärfung ihrer zweisamen Unerträglichkeit geworden; selbst die Hoffnung auf die Post, einziger Lichtblick des Alltags, war durch des Sohnes Anwesenheit herabgemindert, und wenn der Alte trotzdem auch jetzt noch täglich dem Postboten entgegenging, so war es fast ein Akt der Verzweiflung, war fast wie eine versteckte Aufforderung für Joachim, doch endlich wegzureisen und Briefe zu schicken. Dabei schien Herr v. Pasenow es selber zu wissen, daß er etwas anderes erwartete als Joachims Briefe und daß der Bote, dem er entgegenspähte, nicht jener mit der Tasche war.

Joachim machte schwache Versuche, den Eltern näherzukommen. Er besuchte den Vater in dem mit Geweihen ausgeschmückten Zimmer und fragte nach der Ernte, nach der Jagd, hoffte wohl auch, es würde den Alten freuen, daß er der Aufforderung, »sich einzuarbeiten« wenigstens andeutungsweise nachkam. Aber entweder hatte der Vater die Aufforderung vergessen oder er wußte selbst nicht Bescheid über die Verhältnisse auf dem Gute; denn er gab bloß widerwillige, ausweichende Antwort, ja einmal sagte er geradezu: »Darum brauchst du dich vorderhand nicht zu kümmern«, und Joachim, zwar einer lästigen Verpflichtung entbunden, mußte an die Zeit denken, da man ihn auf die Kadettenschule gebracht und ihn zum ersten Male der Heimat beraubt hatte. Jetzt aber war er zurückgekehrt und erwartete seinen eigenen Gast. Das war ein angenehmes Gefühl und enthielt es auch allerlei Feindseliges gegen den Vater, so blieb dies Joachim selber verborgen, ja, er hoffte sogar, daß auch die Eltern mit dieser Unterbrechung der wachsenden Langeweile zufrieden sein und in gleicher Ungeduld wie er der Ankunft Bertrands entgegensehen würden. Er ließ es hingehen, daß der Vater seine Briefschaften durchstöberte und wenn sie ihm dann mit den Worten übergeben wurden: »Scheint leider noch immer keine Nachricht von deinem Freund dabei zu sein; ob er nur überhaupt kommt«, so wollte Joachim, trotzdem es ihm wie Schadenfreude klang, bloß das Bedauern heraushören. Seine Mißstimmung kam erst zum Durchbruch, wenn er überdies einen Brief Ruzenas in den Händen des Vaters sah. Aber der Alte sagte nichts, höchstens klemmte er das Einglas ins Auge und mahnte: »Jetzt solltest du aber wirklich schon mal zu den Baddensen hinüber, wäre schon an der Zeit«; das konnte nun eine Anzüglichkeit bedeuten oder nicht, jedenfalls genügte es, um Joachim das Wiedersehen mit Elisabeth so sehr zu verleiden, daß er den Besuch stets wieder hinausschob, mochten auch ihre Gestalt und ihr wehendes Spitzentüchlein ihn bisher treulich begleitet haben, allerdings immer eindringlicher mit dem Wunsche und mit der Vorstellung verquickt, er müsse Eduard v. Bertrand neben sich auf dem Bocke des Kutschierwagens haben, wenn er an der Freitreppe in Lestow vorfahren werde.

Aber es kam nicht dazu, wenigstens vorderhand nicht, denn eines Tages machten Elisabeth und ihre Mutter einen nachträglichen Kondolenzbesuch bei Herrn und Frau v. Pasenow. Elisabeth war enttäuscht und doch irgendwie befreit, weil Joachim zufällig nicht daheim war, und sie war auch ein wenig beleidigt. Nun saß man im kleinen Salon und die Damen erfuhren von Herrn v. Pasenow, daß Helmuth für die Ehre des Namens gefallen sei. Elisabeth mußte daran denken, daß in vielleicht nicht allzu langer Zeit auch sie den Namen tragen werde, für den einer gefallen war, und mit einem Anflug von Stolz und freundlichem Erstaunen stellte sie fest, daß dann auch Herr und Frau v. Pasenow neue Verwandte sein würden. Man sprach noch über den Trauerfall und Herr v. Pasenow sagte: »So geht es, wenn man Söhne hat; sie fallen für die Ehre oder für den König … es ist lächerlich, Söhne zu haben«, setzte er scharf und angriffslustig hinzu. »Ach, die Töchter heiraten uns dafür unter der Hand weg«, entgegnete mit fast beziehungsreichem Lächeln die Baronin, »und wir Alten bleiben auf jeden Fall allein zurück.« Aber Herr v. Pasenow erwiderte darauf nicht, wie es sich doch gehört hätte, daß die Baronin beileibe nicht zu den Alten gezählt werden dürfe, sondern er erstarrte in Blick und Haltung und sagte nach einigem Stillschweigen: »Ja, allein zurückbleiben, allein zurückbleiben«, und nachdem er noch ein wenig und offenbar angestrengt nachgedacht hatte, »allein sterben.« – »Aber, Herr v. Pasenow, wir wollen doch nicht ans Sterben denken«, war die mit pflichtschuldig fröhlicher Stimme vorgebrachte Antwort der Baronin, »oh, wir wollen noch lange nicht daran denken; auf Regen folgt Sonnenschein, mein lieber Herr v. Pasenow, und das soll man sich immer vor Augen halten.« Herr v. Pasenow fand in die Realität zurück und wurde wieder Kavalier: »Vorausgesetzt, daß der Sonnenschein in Ihrer Gestalt in unser Haus kommt, Baronin«, und ohne die geschmeichelte Entgegnung der Baronin abzuwarten, fuhr er fort: »doch wie selten ist das … das Haus ist leer, sogar die Post bringt nichts. Ich habe Joachim geschrieben, aber wenig Antwort; ist auf Manöver.« Erschrocken wandte sich Frau v. Pasenow an ihren Gatten: »Aber … aber, Joachim ist doch hier.« Ein giftiger Blick strafte sie für diese Richtigstellung. »Nun, hat er etwa geschrieben? Und wo ist er jetzt?«, und es wäre sicherlich zu einer kleinen Auseinandersetzung gekommen, wenn nicht der Harzer Kanarienvogel in seinem Käfig die dünne gelbe Garbe seiner Stimme hätte emporschießen lassen. Da aber saßen sie um ihn herum wie um einen Springbrunnen und vergaßen für ein paar Augenblicke alles andere: es war, als ob dieser schmale gelbe Stimmstreifen auf- und niedergleitend sich um sie schlänge und sie zu jener Gemeinsamkeit vereinte, in der die Behaglichkeit ihres Lebens und Sterbens begründet lag; es war, als ob dieser Streifen, der emporschnellte und sie erfüllte, und dennoch zum Ursprung sich wieder zurückbog und rundete, sie des Redens enthöbe, vielleicht weil er ein dünnes, gelbes Ornament im Raum war, vielleicht weil er ihnen für ein paar Augenblicke zum Bewußtsein brachte, daß sie zusammengehörten und sie heraushob aus der fürchterlichen Stille, deren Getöse und deren Stummheit undurchdringlicher Schall zwischen Mensch und Mensch steht, eine Wand, durch die des Menschen Stimme nicht hinüber, nicht herüber mehr dringt, so daß er erbeben muß. Doch jetzt, da der Kanarienvogel sang, hörte selbst Herr v. Pasenow nicht mehr die entsetzliche Stummheit und alle hatten sie ein herzliches Gefühl, als Frau v. Pasenow sagte: »Nun wollen wir uns aber zum Kaffee begeben.« Und auch als sie durch den großen Saal gingen, dessen Vorhänge der Nachmittagssonne wegen geschlossen waren, dachte keiner daran, daß Helmuth hier aufgebahrt gelegen hatte.

Dann kam Joachim und Elisabeth war wieder enttäuscht, denn sie hatte sein Bild in Uniform im Gedächtnis gehabt und er war jetzt mit dem ländlichen Jagdanzug bekleidet. Sie waren fremd und befangen, und selbst als sie mit den anderen in den Salon zurückgekehrt waren und Elisabeth vor dem Käfig des Kanarienvogels stand, dem sie einen Finger zwischen die Stäbe steckte, damit er zornig darauf lospicke, selbst als sie da beschloß, daß sie in ihrem eigenen Salon – sollte sie je heiraten – solch einen kleinen gelben Vogel stets werde haben wollen, selbst da konnte sie Joachim mit einer Heirat nicht mehr in Verbindung bringen. Aber das war eigentlich bloß angenehm und beruhigend und erleichterte es ihr, beim Abschied zu verabreden, daß er sie bald zu einem Spazierritt abholen müsse. Vorher würde er natürlich Besuch bei ihnen machen.

 

Bertrand hatte es endlich ermöglicht, der Einladung Pasenows zu folgen und war mit einem Abendzug zu zweitägigem Zwischenaufenthalt in Berlin eingetroffen. Es verstand sich, daß er sich um Ruzena kümmern wollte: er ging geradenwegs ins Theater und schickte ihr mit ein paar Blumen Botschaft in die Garderobe. Ruzena freute sich über seine Karte, freute sich über die Blumen, und es schmeichelte ihr, daß Bertrand sie beim Bühneneingang erwartete. »Nun, kleine Ruzena, wie geht's?« Und Ruzena erzählte sofort sprudelnd, daß es sehr gut, sehr gut, oh, eigentlich gar nicht gut gehe, weil sie so große Sehnsucht nach Joachim habe, aber jetzt gehe es ihr natürlich gut, weil sie sich schrecklich freue, daß Bertrand, der doch ein so guter Freund von Joachim sei, sie abhole. Als sie dann beim Essen einander gegenübersaßen und vielerlei über Joachim gesprochen hatten, wurde Ruzena, wie dies oft bei ihr geschah, plötzlich traurig: »Jetzt fahrens Sie zum Joachim und ich hab' dableiben; ist Ungerechtigkeit auf die Welt.« – »Natürlich ist Ungerechtigkeit auf die Welt und eine viel ärgere noch als du denkst, kleine Ruzena« – es erschien ihnen beiden angemessen, daß er Du zu ihr sagte –, »und ein wenig hat mich auch die Sorge um dich hergeführt.« – »Wie meinen das?« – »Ja, es paßt mir nicht, daß du in dieser Theaterwirtschaft steckst.« »Warum? Ist doch schön.« – »Es war voreilig von mir, euch nachzugeben … bloß weil ihr Romantiker seid und euch unter dem Theater weiß Gott was vorgestellt habt.« »Versteh' ich nicht, was meinen.« – »Macht nichts, kleine Ruzena, aber es ist ausgeschlossen, daß du dabei bleibst. Schließlich, wohin soll das führen? Was soll aus dir, Kind, schließlich werden? Man muß doch für dich sorgen und mit Romantik kann man für niemanden sorgen.« Ruzena sagte steif und stolz, daß sie schon allein für sich sorgen werde; sie brauche niemanden und er soll nur gehen, der Joachim, wenn er sie verlassen will, soll er nur gehen, »und Sie sinds schlechter Mensch, nur hergekommen, um Freund schlecht machen«; sie weinte und sah Bertrand unter Tränen feindselig an. Es war nicht leicht, sie zu beruhigen, denn sie blieb dabei, daß er schlechter Mensch und schlechter Freund sei, der ihr so schönen Abend verderben will. Und mit einem Male wurde sie ganz blaß und heftete entsetzte Augen auf ihn: »Hat Ihnen hergeschickt, sagen, daß aus ist?!« – »Aber Ruzena!« – »Nein, können zehnmal sagen nein, ich weiß, daß es so ist, oh, sinds schlecht alle beide. Habens mich hergebracht zu Schande.« Bertrand begriff, daß mit Vernunftgründen da nichts auszurichten war; aber vielleicht war in ihrem ungeschickten Verdacht sogar eine Ahnung von dem wahren Sachverhalt und seiner Hoffnungslosigkeit. Sie sah ratlos aus wie ein kleines Tier, das nicht mehr aus noch ein weiß. Und doch war es vielleicht gut, wenn sie nüchterner in die Zukunft blickte. So schüttelte er bloß verneinend den Kopf: »Sagen Sie, Kind, könnten Sie nicht, solange Joachim fort ist, in Ihre Heimat zurück?« Sie hörte nur heraus, daß sie weggeschickt werden sollte. »Aber Ruzena, wer will Sie denn wegschicken! Aber anstatt daß Sie hier allein in Berlin und bei diesem sinnlosen Theater sind, wäre es doch besser, Sie wären bei Ihren Leuten …« Sie ließ ihn nicht ausreden: »Hab' niemand, alle sind schlecht auf mich … hab' niemand und Sie wollens mich wegschicken.« – »Ruzena, nimm doch Vernunft an; wenn Pasenow wieder in Berlin ist, kommst du auch wieder zurück.« Ruzena hörte ihn nicht mehr, wollte fortgehen, wollte nichts mehr wissen. Aber er mochte sie so nicht fortlassen und dachte, wie er sie auf andere Gedanken bringen könnte; schließlich hatte er den Einfall, daß sie einen gemeinsamen Brief an Joachim schreiben sollten. Ruzena war sofort einverstanden; also ließ er Papier bringen und schrieb darauf: »An einem fröhlichen Abend Ihrer herzlichst gedenkend, senden schöne Grüße Bertrand«, und sie fügte hinzu »und viele Pussi von Ruzena.« Sie drückte einen Kuß auf das Papier, aber die Tränen wollten nicht versiegen. »Ist aus«, wiederholte sie und verlangte, heimgebracht zu werden. Bertrand gab nach. Doch damit er sie in ihrer hilflosen Stimmung nicht zu bald verlassen müsse, schlug er vor, zu Fuß zu gehen. Sie zu beruhigen – Worte versagten ohnehin –, hatte er wie ein guter braver Arzt ihre Hand gefaßt; sie schmiegte sich ein wenig dankbar und Halt suchend an ihn und überließ ihm die Hand mit leisem Druck. Ein kleines Tierchen ist sie, dachte Bertrand, und zur Richtigstellung der Situation sagte er: »Ruzena, ich bin doch schlechter Mensch und dein Feind«, aber sie antwortete nichts. Eine leichte und doch zärtliche Erbitterung über die Verwirrtheit ihres Denkens stieg in ihm auf und erstreckte sich auch auf Joachim, den er für Ruzena und ihr Schicksal verantwortlich machte und der doch nicht minder verwirrt schien als das Mädchen. Mag sein, daß es die Wärme ihres Körpers war, die er spürte, er hatte einen Augenblick lang den bösartigen Gedanken, Joachim würde es verdienen, daß man ihn mit Ruzena betröge, aber das war nicht ernsthaft und er fand bald zu dem liebenswürdigen Wohlwollen zurück, das er sonst stets für Joachim empfunden hatte. Joachim und Ruzena schienen im Wesen, die nur mit einem kleinen Stück ihres Seins in die Zeit, die sie lebten, in das Alter, das sie besaßen, hineinreichten und das größere Stück war irgendwo anders, vielleicht auf einem andern Stern oder in einer andern Zeit oder auch nur bloß in der Kindheit. Bertrand fiel es auf, daß überhaupt so viele Menschen verschiedener Zeitalter zugleich miteinander lebten, und sogar gleichaltrig waren: deshalb wohl ihrer aller Haltlosigkeit und die Schwierigkeit, sich miteinander rational zu verständigen; merkwürdig nur, daß es trotzdem so etwas wie eine menschliche Gemeinschaft und überzeitliche Verständigung gibt. Wahrscheinlich müßte man auch Joachim bloß die Hände streicheln. Was sollte und konnte er mit ihm sprechen? Welchen Zweck hatte überhaupt dieser Besuch in Stolpin? Bertrand war verärgert, aber dann erinnerte er sich, daß er mit Joachim über das Schicksal Ruzenas sprechen werde; dies gab der Reise und der verschwendeten Zeit einen ordentlichen Sinn und, wieder guter Laune, drückte er Ruzenas Hand.

Vor ihrem Hause nahmen sie Abschied, standen ein paar Augenblicke stumm einander gegenüber und es schien, als ob Ruzena noch etwas erwartete. Bertrand lächelte und noch ehe sie ihm ihren Mund geben konnte, hatte er sie ein wenig onkelhaft auf die Wange geküßt. Sie streichelte rasch seine Hand und wollte ins Haus schlüpfen; er hielt sie bei der Türe zurück: »Ja, kleine Ruzena, morgen früh reise ich; was soll ich Joachim bestellen?« – »Gar nix«, sagte sie rasch und böse; doch dann überlegte sie: »Sinds schlecht, aber werd' auf Bahnhof kommen.« – »Gute Nacht, Ruzena«, sagte Bertrand und wieder stieg die kleine Erbitterung auf, aber da er die Haut ihrer Wange noch immer wie eine Flaumfeder auf seinen Lippen fühlte, ging er in der dunklen Straße auf und ab und schaute zum Hause Ruzenas hinüber, wartend, daß hinter einem Fenster Licht gemacht werde. Aber entweder hatte bei ihr das Licht schon gebrannt oder das Zimmer ging auf den Hof hinaus – Joachim hätte wohl auch für eine bessere Unterkunft sorgen können! – kurz, Bertrand wartete vergebens und nachdem er eine Weile das Haus betrachtet hatte, fand er, daß damit für die Romantik genug geleistet worden sei, zündete eine Zigarre an und ging heim.

 

Während die Gesellschaftsräume mit Parketten belegt waren, hatten die Gastzimmer im zweiten Stockwerk bloß gebohnte Böden, große Tafeln aus weichem, weißem Holze, die durch etwas dunklere Leisten voneinander getrennt waren. Es mußten mächtige Stämme gewesen sein, aus denen man diese Tafeln einst geschnitten hatte, und wenn es auch nur weiches Holz war, so zeugte die Regelmäßigkeit und die Größe von dem Wohlstand des einstigen Bauherrn. Die Fugen zwischen den Leisten und Tafeln waren scharf gestoßen und wo sie sich später infolge der Eintrocknung des Holzes erweitert hatten, waren sie durch Klemmspäne so sauber aufgefüllt, daß man es kaum merkte. Die Möbel waren wohl vom Dorftischler angefertigt worden und mochten aus jener Zeit stammen, da die napoleonischen Truppen durch die Gegend gezogen waren; zumindest mußte man daran denken, da sie entfernt an jenen Stil erinnerten, den man Empire nennt, aber es konnte trotzdem sein, daß sie etwas älter oder etwas jünger waren, denn sie wichen mit mancherlei gebauchten Formen von der Geradlinigkeit jener Epoche ab. Hier war ein Spiegelkasten, dessen Glasscheibe höchst unvermittelt durch einen senkrechten Holzstab geteilt war, es gab Kommoden, die mit zu viel oder zu wenig Laden gegen eine reine Architektonik verstießen. Aber wenn auch diese Möbel fast planlos an den Wänden aufgereiht waren, wenn auch das Bett in möglichst unzweckmäßiger Weise zwischen zwei Türen gestellt und der große weiße Kachelofen schräg in seiner Ecke eingezwängt war zwischen zwei Schränken, so machte das geräumige Zimmer dennoch den Eindruck des Behäbigen und Gelassenen, freundlich, wenn die Sonne durch die weißen Vorhänge schien und die Fenster mit ihren Kreuzen sich in der glänzenden Politur der Möbel spiegelten. Dann mochte es sogar auch jetzt vorkommen, daß man das große Kruzifix, welches oberhalb des Bettes den Raum schmückte, nicht mehr als Zier oder als gewöhnlichen Einrichtungsbestandteil wertete, sondern daß es wieder zu dem wurde, als das man es einstens hier angebracht hatte: als Wächter und Erinnerung für den Gast, mahnend, daß er in einem Hause christlicher Gemeinschaft wohne, in einem Hause, das wohl mit mancherlei für sein leibliches Gedeihen sorgte, und aus dem er in fröhlicher Gesellschaft zur Jagd ausziehen durfte, zurückzukehren, um dem Jagddiner und seinen vielen schweren Weinen zuzusprechen, einem Hause, in dem die Jäger sich auch manchen kräftigen Witz erlaubten und wo man in jenen Zeiten, da die Möbel des Zimmers angefertigt worden waren, auch noch ein Auge zudrückte, wenn einem eine Magd gefallen wollte, wo man es aber trotzdem als selbstverständlich erachtete, daß der Gast, und war er vom Weine noch so müde, des Abends das Verlangen haben werde, seiner Seele zu gedenken und seine Sünden zu bereuen. Und es entsprach einer solchen, im Grunde strengen Denkungsart, daß über dem mit grünem Rips bespannten Kanapee ein strenger und nüchterner Stahlstich hing, der bei vielen Besuchern die Erinnerung an die Königin Luise erweckte, denn es war eine hohe Frau in antiker Kleidung darauf abgebildet – »La mère des Gracches« war das Bild betitelt – und nicht nur dieses Kostüm gemahnte an das der Königin, sondern es ließ auch der Altar, zudem sie emporwallte, an den Altar des Vaterlandes denken. Gewiß, die meisten der Jäger, die in diesem Zimmer schon übernachtet hatten, haben ein weltliches Leben geführt, zupackend, wo Vorteil und Genuß sich eben bot, haben sich auch nicht gescheut, die Ernte oder die Schweine mit großem Nutzen an den Händler zu verkaufen, waren einer barbarischen Jagd hingegeben, bei welcher Gottes Kreatur in Massen über den Haufen geschossen wurde, und viele von ihnen waren auch nach Weiberfleisch gierig: aber so sehr sie auch das herrisch-sündhafte Leben, das sie führten, als ein von Gott verliehenes gutes Recht und Vorrecht hinnahmen, so waren sie doch bereit, es jederzeit für die Ehre des Vaterlandes oder zum Ruhme Gottes zu opfern, und kamen sie auch nicht in die Lage es zu tun, so war die Bereitschaft, das Leben als etwas Nebensächliches und kaum Erwähnenswertes zu betrachten, so stark, daß dessen Sündhaftigkeit kaum in der Waagschale lastete. Und sie fühlten sich frei von jeder Schuld, wenn sie im morgendlichen Nebel durch das leise knackende Unterholz schritten oder wenn sie abends den Hochsitz auf schmaler steiler Leiter erklommen und über Gebüsch und Lichtung, in der die Mückenschwärme noch tanzten, zum Saume des Waldes hinüberschauten: wenn dann der feuchte Geruch des Grases und des Holzes zu ihnen aufstieg und über das dürre Geländer des Hochsitzes eine Ameise lief, um in der Rinde sich zu verlieren, dann konnte es geschehen, daß in ihrer Seele, obwohl sie doch Kerle waren, die fest und konsequent auf ihren Beinen standen, etwas erwachte, das wie Musik klang und das Leben, das sie gelebt und noch zu leben hatten, so sehr auf einen einzigen Augenblick zusammendrängte, daß sie die Hand der Mutter noch auf dem kindlichen Haar liegen fühlten wie für alle Ewigkeit, und doch der vor ihnen schon stand, durch keine Spanne Zeit, keine Spanne Raum mehr von ihnen getrennt, der, den sie nicht fürchteten: der Tod. Dann konnte alles Holz ringsum zum Holz des Kruzifixes werden, weil nirgends Magisches und Irdisches so eng beisammen wohnt wie im Herzen des Jägers, und wenn der Bock am Rande der Lichtung auftaucht, dann ist die Erleuchtung noch gewärtig und das Leben scheint noch immer zeitlos, augenblicklich und ewig, zusammengeballt in der eigenen Hand, so daß der Schuß, der das fremde Leben tötet, wie ein Sinnbild ist und Notwendigkeit, das eigene in die Gnade zu retten. Immer zieht der Jäger aus, um das Kreuz im Geweih des Hirsches zu sehen, und um der Erleuchtung willen scheint ihm der Preis des Tötens nicht zu hoch. So auch vermag er es, kehrt er von reichlichem Jagddiner in sein Zimmer zurück, nochmals den Blick zum Kruzifix zu erheben und, wenn auch schon aus weiterer Ferne der Ewigkeit zu gedenken, in die sein Leben eingebettet ist. Und vielleicht fällt angesichts dieser Ewigkeit auch die Reinlichkeit des Leibes nicht schwerer ins Gewicht als die Sündigkeit ihres irdischen Lebens: auf dem Waschtisch steht ein Becken, dessen Kleinheit zu den Formen des Jägers und zu den sonstigen Dimensionen seines Lebens in seltsamem Widerspruch steht, und auch der Krug vermag viel weniger Wasser zu fassen, als der Jäger an Wein zu trinken imstande ist. Auch das schmale Nachtkästchen neben dem Bette, das in Gestalt einer kaschierten Lade dem Geschirre Raum bietet, schreibt diesem bloß geringfügige Abmessungen zu. Der Jäger benützt es und wirft sich krachend ins Bett.

In diesem für die Bedürfnisse des Jägers seit Generationen wohlvorbereiteten Zimmer wurde Bertrand bei seiner Ankunft in Stolpin untergebracht.

 

Zu den merkwürdigen Erinnerungen, die Bertrand von seinem Stolpiner Aufenthalt zurückbrachte, gehörte nicht zuletzt das Bild des alten Herrn v. Pasenow. Schon am ersten Tage und sofort nach dem Frühstück war er von dem alten Herrn aufgefordert worden, ihn auf seinem Spaziergang zu begleiten und das Gut zu besichtigen. Es war ein trüber, gewitteriger Morgen, reglos lag die Luft, doch dumpf war die Stille vom Takte der Dreschflegel unterbrochen, die von den beiden Tennen herüberdröhnten. Herrn v. Pasenow schien der Rhythmus Freude zu bereiten: mehrmals blieb er stehen und klopfte mit seinem Stocke den Takt mit. Dann fragte er: »Wollen Sie den Kuhstall sehen?« und steuerte auf das langgestreckte niedrige Gebäude zu; in der Mitte des Hofes aber machte er halt und schüttelte den Kopf: »Geht nicht, das Vieh ist auf der Weide.« Bertrand erkundigte sich höflich, welche Rasse er halte; Herr v. Pasenow schaute ihn erst an, als ob er die Frage nicht verstünde, dann sagte er achselzuckend: »ist ja egal«, und führte den Gast zum Hofe hinaus; rings um die leichte Mulde, in der der Hof lag, breiteten sich die Hügel, Feld an Feld, und überall war die Erntearbeit im Gange. »Gehört alles zum Gute«, sagte Herr v. Pasenow, stolz mit dem Stocke im Kreise zeigend; dann blieb sein erhobener Arm mit dem Stock in einer Richtung unbeweglich haften; Bertrand folgte mit den Augen und sah den Kirchturm des Dorfes hinter den Hügeln emporragen: »Dort liegt die Post«, wurde ihm eröffnet und Herr v. Pasenow schlug den Weg zum Dorfe ein. Drückend lag die Schwüle; das Klopfen der Dreschflegel verstummte langsam hinter ihnen und nur der zischende Ton der Mäher, das Dengeln der Sensen, das Rauschen der geworfenen Garben hing noch in der ruhenden Luft. Herr v. Pasenow blieb stehen. »Haben Sie auch manchmal Angst?« Bertrand war betroffen, aber er fühlte sich von dieser menschlichen Frage sympathisch berührt: »Ich? Oh, oft.« Herr v. Pasenow näherte sich interessiert: »Wann haben Sie Angst? Wenn es still ist?« Bertrand merkte, daß hier etwas nicht stimmte: »Nun, Stille ist doch manchmal herrlich; ich bin von dieser Stille über den Feldern geradezu beglückt.« Herr v. Pasenow war unzufrieden und ärgerlich: »Sie verstehen nichts …« Nach einer Pause: »Haben Sie Kinder gehabt?« – »Meines Wissens nicht, Herr v. Pasenow.« – »Nun eben«, Herr v. Pasenow blickte auf die Uhr und lugte den Weg entlang; er schüttelte den Kopf; »unverständlich«, dann wieder zu Bertrand: »Wann haben Sie denn eigentlich Angst?« – doch er wartete die Antwort nicht ab, sondern blickte wieder auf die Uhr: »Er müßte doch schon hier sein …« Dann sah er Bertrand voll an: »Werden Sie mir manchmal schreiben, wenn Sie auf Reisen sein werden?« Bertrand bejahte; er würde es gerne tun und Herr v. Pasenow schien sehr befriedigt. »Ja, schreiben Sie mir nur, es interessiert mich, es interessiert mich vieles … schreiben Sie mir auch, wann Sie Angst haben … aber er ist noch immer nicht hier; Sie sehen, niemand schreibt mir, nicht einmal die Söhne …« Da wird von weitem ein Mann mit einer schwarzen Tasche sichtbar. »Da ist er!« Herr v. Pasenow setzte sich mit Stock und Beinen in geradlinige, eilige Bewegung und als der Mann in Hörweite war, schrie er ihn an: »Wo bleibt Er wieder so lange? Heute ist es das letzte Mal, daß Er zur Post gegangen ist … Er ist entlassen, hört Er, Er ist entlassen!« Er hatte einen roten Kopf bekommen und fuchtelte mit seinem Stock vor des Mannes Gesicht herum; während dieser, offenbar an solche Begegnung schon gewöhnt, ruhig die Tasche von der Schulter nahm und sie seinem Herrn reichte, der beinahe folgsam den Schlüssel aus der Weste zog und mit zittriger Hand öffnete. Zitternd griff er in die Posttasche, doch als er bloß ein paar Zeitungen hervorholte, schien es, als sollte sich der Wutanfall wiederholen, da er dem Boten die Ausbeute wortlos unter die Nase hielt. Offenbar besann er sich aber darauf, daß er einen Gast neben sich hatte, denn nun streckte er die Zeitungen Bertrand hin: »Da, sehen Sie selbst …« klagte er und gab sie in die Tasche zurück, sperrte ab und erklärte im Weitergehen: »Ich werde in diesem Jahr wohl in die Stadt ziehen müssen; hier ist es mir zu still.«

Als die ersten Gewittertropfen fielen, waren sie eben beim Dorfe angelangt und Herr v. Pasenow schlug vor, das Wetter im Hause des Pastors abzuwarten. »Sie müssen ihn ja ohnehin kennenlernen«, fügte er hinzu. Er wurde wütend, weil sie den Pastor nicht daheim antrafen, und als die Pastorin gar noch sagte, daß ihr Gatte in der Schule sei, fuhr er auf: »Sie scheinen auch zu glauben, daß man einem alten Mann alles einreden darf, was einem beliebt, aber so alt bin ich noch lange nicht, um nicht zu wissen, daß jetzt Schulferien sind.« Nun, es habe doch niemand behauptet, daß der Pastor zum Unterricht in der Schule sei, und überdies werde er sofort zurückkommen. »Ausreden«, brummte Herr v. Pasenow, aber die Pastorin ließ sich nicht beirren, sondern bat die Herren, Platz zu nehmen und sie wolle indessen für ein Glas Wein sorgen. Als sie das Zimmer verlassen hatte, beugte Herr v. Pasenow sich zu Bertrand: »Er versteckt sich gerne vor mir, denn er weiß, daß ich ihm dahintergekommen bin.« – »Hinter was, Herr v. Pasenow?« – »Nun, daß er ein völlig unwissender und unfähiger Pastor ist, natürlich. Aber leider bin ich trotzdem gezwungen, die guten Beziehungen mit ihm aufrechtzuhalten. Hier auf dem Lande ist man ja aufeinander angewiesen und …« er zögerte und setzte leiser hinzu: »auch das Grab steht unter seiner Obhut.« Der Pastor trat ein und Bertrand wurde als Freund Joachims vorgestellt. »Ja, der eine kommt, der andere geht«, meinte Herr v. Pasenow sinnend, und die Anwesenden wußten nicht, ob diese Anspielung auf den armen Helmuth eine Freundlichkeit oder eine Grobheit für Bertrand bedeuten sollte. »Ja, und das ist unser Theologe«, stellte er weiter vor, während der Theologe kümmerlich dazu lächelte. Die Frau Pastorin hatte ein wenig Schinken und den Wein serviert, und Herr v. Pasenow hatte rasch ein Glas getrunken. Während die andern am Tische saßen, stand er beim Fenster, klopfte den Takt der Dreschflegel an die Scheiben und sah nach den Wolken, als könne er es nicht erwarten, wieder wegzukommen. In die träge fließende Unterhaltung rief er vom Fenster her: »Sagen Sie, Herr v. Bertrand, haben Sie schon je einen gelernten Theologen gesehen, der nichts vom Jenseits weiß?« – »Herr v. Pasenow belieben wieder zu scherzen«, sagte der eingeschüchterte Pastor. »Bitte sagen Sie selbst: wodurch soll sich der Priester Gottes von uns übrigen Menschen unterscheiden, wenn er keine Verbindung mit dem Jenseits hat?« Herr v. Pasenow hatte sich umgedreht und schaute böse und scharf durch sein Einglas auf den Pastor, »und wenn er es gelernt hat, was ich mir ja zu bezweifeln gestatte, welches Recht hat er, es uns zu verheimlichen? … mir, mir zu verheimlichen!« Er wurde etwas milder, »mir, mir … er gibt es selber zu, einem schwergeprüften Vater.« Der Pastor sagte leise: »Gott allein kann Ihnen Botschaft senden, Herr v. Pasenow, bitte glauben Sie doch endlich daran.« Herr v. Pasenow zuckte die Achseln: »Ich glaube ja daran … ja, ich glaube, nehmen Sie dies zur Kenntnis …« Nach einer Pause, zum Fenster gewandt, wieder achselzuckend: »Ist ja egal«, und blickte, weiter an die Scheiben trommelnd, auf die Straße hinaus. Der Regen fiel langsamer und Herr v. Pasenow kommandierte: »Jetzt können wir gehen«; beim Abschied schüttelte er dem Pastor die Hand: »Und lassen Sie sich mal wieder blicken … zum Abendessen, nicht? Unser junger Freund wird auch mit uns sein.« Dann gingen sie. In der Dorfstraße standen Pfützen, aber auf dem Felde draußen war es beinahe wieder trocken; der Regen hatte kaum genügt, die Risse im Erdboden zu verwaschen. Der Himmel war noch von leichtem weißem Dunst überzogen, man fühlte schon die stechende Sonne, die bald durchbrechen würde. Herr v. Pasenow schwieg, ging auf die Gespräche Bertrands nicht mehr ein. Nur einmal machte er halt und sagte mit erhobenem Stock dozierend: »Man muß mit diesen Gottesgelehrten sehr vorsichtig sein. Merken Sie sich das.«

In der Folge wiederholten sich die Morgenspaziergänge und manchmal schloß sich Joachim ihnen an. Dann war der Alte mürrisch und schweigsam und gab sogar die Versuche auf, etwas über die Angst Bertrands zu erfahren. So versteckt und tastend er sonst seine Fragen anzubringen pflegte, er verstummte nun völlig. Aber auch Joachim war schweigsam. Denn auch er durfte nicht nach dem fragen, was er von Bertrand erfahren wollte und Bertrand blieb beharrlich die Aufklärung schuldig. Solcherart wanderten sie selbdritt über die Felder und sowohl Vater als Sohn nahmen es Bertrand übel, daß er ihre wißbegierige Erwartung enttäuschte. Bertrand aber hatte alle Mühe, ein Gespräch in Gang zu erhalten.

 

Hatte Joachim seinen Besuch in Lestow erst hinausgeschoben, weil er der Vorstellung verhaftet gewesen war, mit Bertrand dort vorzufahren, so war jetzt der leise Unmut, den er gegen Bertrand hegte, vielleicht daran schuld, daß er die Fahrt neuerdings hinauszögerte: es war eine verschwommene Hoffnung in ihm, es werde, wenn Bertrand nur sprechen wollte, alles so gut und einfach sich gestalten, daß er ihn dann auch ohne weiters nach Lestow werde mitnehmen können. Da aber Bertrand trotz dieser Verlockung, von der er allerdings nichts erfuhr, enttäuschend in seinem Schweigen verharrte, mußte sich Joachim endlich entschließen und fuhr allein. Er kutschierte an einem Nachmittag nach Lestow hinüber, auf dem hochrädrigen Wagen, die Beine in die Decke glatt und vorschriftsmäßig eingeschlagen, die Peitsche schräg vor sich gehalten und die Zügel liefen glatt über den braunen Handschuh. Der Vater hatte bei seiner Abfahrt »na endlich« gesagt, und Joachim war nun von Widerwillen gegen das phantastische Heiratsprojekt erfüllt. Drüben tauchte die Kirchturmspitze des Nachbardorfes auf; eine katholische Kirche und sie erinnert ihn an Ruzenas römisch-katholisches Glaubensbekenntnis; Bertrand hatte von Ruzena erzählt. Wäre es nicht am richtigsten, diesen unsinnigen Aufenthalt einfach abzubrechen, einfach zu ihr zu fahren? Hier begann alles ihn anzuekeln; widerlich war der Staub auf der Straße, widerlich der Straßenbäume staubige müde Blätter, die den Herbst ankündigten. Seit Bertrands Ankunft sehnte er sich wieder nach der Uniform: zwei Menschen in gleicher Uniform, das war unpersönlich, das war des Königs Rock; zwei Menschen in ähnlichen Zivilanzügen, das war schamlos, das war wie zwei Brüder; und als schamlos empfand er den kurzen Zivilrock, der die Beine und den Hosenschluß sehen ließ. Elisabeth war zu bedauern, daß sie Männer in kurzen Sakkos und sichtbaren Hosen betrachten mußte – merkwürdig, daß ihm solches noch niemals bei Ruzena eingefallen war – aber wenigstens zu diesem Besuche hätte er die Uniform anlegen sollen. Die breite weiße Krawatte mit der Hufeisennadel deckte den ganzen Westenausschnitt; das war gut. Er griff danach und vergewisserte sich, daß sie ordentlich saß. Nicht umsonst legt man den Toten im Sarge ein Tuch über den Unterleib. Hier auf dieser Straße nach Lestow war auch Helmuth gefahren, hatte Elisabeth und ihre Mutter besucht und solcher Straßenstaub ist ihm ins Grab nachgegossen worden. Hatte der Bruder ihm eigentlich Elisabeth als Erbe hinterlassen? Oder Ruzena? Oder gar Bertrand? Man hätte Bertrand das Zimmer Helmuths anweisen sollen, anstatt ihn in dem einsamen Gastzimmer unterzubringen; aber das wäre nicht recht angegangen. Dies alles war wie ein unentrinnbares Räderwerk, das doch irgendwie von seinem eigenen Willen abhing und eben deshalb unentrinnbar und selbstverständlich erschien, sicherlich unentrinnbarer als das Räderwerk des Dienstes. Indes er konnte den Gedanken, hinter dem sich vielleicht Entsetzliches auftat, nicht weiter verfolgen, weil er jetzt in das Dorf einbog und auf die spielenden Kinder achthaben mußte; knapp hinter dem Dorf fuhr er zwischen den beiden Gärtnerhäusern links und rechts vom Tore in den Park ein.

»Ich freue mich, Sie endlich wieder bei uns zu sehen. Herr v. Pasenow«, sagte der Baron, der ihn in der Halle empfing, und als Joachim von dem Gaste erzählte, durch den sein Besuch verzögert worden war, machte er es ihm zum Vorwurf, daß er Bertrand nicht gleich mitgebracht hatte. Joachim verstand das nun selber nicht; es wäre sicherlich kein Verstoß gewesen; aber als Elisabeth eintrat, fand er es doch richtiger, daß er allein gekommen war. Er fand sie sehr schön, oh, gewiß könnte auch Bertrand sich dem Bann solcher Schönheit nicht entziehen, und gewiß würde er in ihrer Gegenwart es nicht wagen, jenen allzu zwanglosen Ton beizubehalten, der ihm sonst zu eigen war. Dennoch hätte Joachim gewünscht, dies zu erleben, etwa wie man es sich wünscht, ein häßliches Wort in der Kirche zu hören oder gar einer Hinrichtung beizuwohnen.

Der Tee wurde auf der Terrasse eingenommen und Joachim, der neben Elisabeth saß, hatte die Empfindung, diese Situation vor nicht allzu langer Zeit schon erlebt zu haben. Aber wann war es nur gewesen? Seit seinem letzten Besuch in Lestow waren nahezu drei Jahre vergangen und damals war es Spätherbst und es wäre nicht möglich gewesen, auf der Terrasse zu sitzen. Doch während er noch darüber nachdachte und es doch so war, als hätte man damals die Lichter im Schlosse angesteckt, da führte ihn eine etwas seltsame Verknüpfung ins Absurde, und beinahe wurde es unentwirrbar, weil sein Komplice Bertrand – es ekelte ihn ein wenig, da ihm das Wort Komplice einfiel –, weil der Komplice und Zeuge seiner Intimität mit Ruzena auch hier vor Elisabeth mit ihm beisammen sein sollte! Wie hatte er ihn überhaupt bei den Eltern einführen dürfen? Das fatale Gefühl, durch Bertrand ins Gleiten geraten zu sein, stellte sich wieder ein, und plötzlich war es ihm peinlich, daß er sich in seinem Zivilgewande nach dem Tee werde erheben müssen; er hätte gerne seine Serviette auf den Knien belassen, aber schon ging man in den Park. Als die Wirtschaftsgebäude sichtbar wurden, meinte der Baron, daß Pasenow nun wohl auch bald zur Landwirtschaft zurückkehren werde; wenigstens habe der alte Herr es angedeutet. Joachim, mit neuerwachtem Widerwillen gegen des Vaters Versuch, sein Leben zu bestimmen, hätte gerne erwidert, er denke nicht daran, ins Vaterhaus heimzukehren; natürlich konnte man so etwas nicht äußern; es hätte den Tatsachen nicht ganz entsprochen, auch nicht seiner wiedergefundenen Anhänglichkeit an Heimat und Besitz, und so sagte er bloß, daß es nicht leicht sei, den Dienst zu verlassen, um so weniger, als er nun doch knapp vor dem Rittmeister stehe. Und man gäbe eine liebgewordene Karriere, und sei es auch nur aus Gefühlskonvention, nicht so leicht und ohne weiteres auf; er sähe dies am besten bei seinem Freunde, Herrn v. Bertrand, der sich trotz manch bedeutenden Erfolges wahrscheinlich immer noch insgeheim zum Regiment zurücksehne. Und wie ohne sein Zutun begann er, von den weltumspannenden Geschäften Bertrands zu erzählen, von seinen großen Fahrten und er umgab ihn, fast knabenhaft, derart mit dem Nimbus eines Forschungsreisenden, daß die Damen nicht umhin konnten, ihre Freude über die baldige Bekanntschaft eines so interessanten Mannes kundzutun. Nichtsdestoweniger hatte Pasenow den Eindruck, als fürchteten sie sich allesamt, nicht eben vor Bertrand, so doch vor dem Leben, das jener führte, denn Elisabeth war fast kleinlaut und meinte, es sei schlechterdings unvorstellbar, etwa einen Bruder oder sonst einen nahen Verwandten so weit draußen in der Welt zu wissen, daß man nie mit Sicherheit angeben könne, wo er sich befinde. Und der Baron sagte zustimmend, daß bloß ein Mensch ohne Familie ein solches Leben führen dürfe. Ein Seemannsleben, fügte er hinzu. Doch Joachim, der hinter dem Freunde nicht allzusehr zurückstehen wollte, ja hier sich geradezu als sein Vertreter fühlte, erzählte nun noch, daß Bertrand ihn angeregt habe, sich zum Kolonialdienst zu melden, und die Baronin erwiderte strenge: »Das dürfen Sie Ihren armen Eltern nicht antun.« – »Nein«, sagte der Baron, »Sie gehören auf die heimatliche Scholle«, und Joachim hörte es nicht ungern. Dann kehrten sie um und gelangten, von Elisabeths Hunden begleitet, wieder zu der großen Lichtung vor dem Hause. Das Gras roch schon feucht und tauig und die Lichter im Hause wurden bereits angesteckt; denn die Abende begannen kurz zu werden.

Als Joachim zurückfuhr, dunkelte es vollends. Das letzte, was er von Elisabeth gesehen hatte, war ihr Schatten auf der Terrasse; sie hatte den Gartenhut abgenommen und im Zwielicht des verlöschenden Tages stand sie gegen den hellen Himmel, der von rötlichen Streifen durchzogen war. Deutlich sah man ihren schweren Haarknoten im Nacken und Joachim fragte sich, warum er dieses Mädchen so schön fand, so schön, daß die Süße Ruzenas dagegen aus seinem Gedächtnis schwinden wollte. Und doch sehnte er sich nach Ruzena und nicht nach der Reinheit Elisabeths. Warum war Elisabeth schön? Die Bäume an der Straße ragten nun dunkel und der Staub roch kühl, vielleicht wie in einer Höhle oder einem Keller. Doch im Westen lag noch ein rötlicher Streifen in dem dunkelnden Himmel über der welligen Landschaft.

 

An diesem Nachmittage, an dem Joachim den Besuch in Lestow abstattete, gleich nachdem er weggefahren war, erklomm Herr v. Pasenow die Stiege zum zweiten Stockwerk und klopfte an Bertrands Türe: »Ich muß doch auch einmal Visite bei Ihnen machen …« und mit listigem Einverständnis »ich habe ihn weggeschickt … es war nicht leicht!« Bertrand sagte einige liebenswürdige Worte; er wäre ja gerne hinuntergekommen. »Nein«, sagte Herr v. Pasenow, »die Form muß gewahrt werden. Aber nach dem Tee wollen wir ein wenig ausgehen. Ich habe einiges mit Ihnen zu besprechen.« Er setzte sich für eine kurze Weile, um die Form seines Besuches zu manifestieren, doch mit der ihm eigenen Unruhe verließ er bald wieder das Zimmer, um wieder zurückzukommen, noch ehe er die Türe hinter sich geschlossen hatte: »Ich will bloß sehen, ob Sie alles haben, was Sie brauchen. In diesem Hause kann man sich auf niemanden verlassen.« Er ging im Zimmer umher, betrachtete La mère des Gracches, besah auch den Fußboden und sagte dann freundlich: »Na, also beim Tee.«

Sie hatten die Zigarren angezündet und gingen durch den Park, durchquerten den Küchengarten, an dessen Obstbäumen bereits die Früchte reiften, und gelangten in die Felder. Herr v. Pasenow war offenkundig guter Laune. Eine Gruppe Erntearbeiterinnen kam ihnen entgegen. Um den Herren auszuweichen, ordneten sie sich im Gänsemarsch am Feldrand und eine nach der anderen grüßte im Vorbeigehen. Herr v. Pasenow sah einer jeden unters Kopftuch und als ihr Gänsemarsch vorübergezogen war, sagte er »stramme Mädchen«. – »Polinnen?« fragte Bertrand. – »Natürlich, das heißt, wohl die meisten, … ja, sind ein unzuverlässiges Pack.« Schön sei es hier, meinte Bertrand, und eigentlich beneide er jeden Landwirt. Herr v. Pasenow klopfte ihn auf den Arm: »Könnten Sie auch haben.« Bertrand schüttelte den Kopf; nun, das sei doch nicht so einfach und man müsse auch dazu erzogen sein. »Würde ich schon besorgen«, war die von vertraulichem Lachen begleitete Antwort. Dann schwieg er und Bertrand wartete. Aber Herr v. Pasenow schien vergessen zu haben, was er ihm eigentlich hatte sagen wollen, denn als Frucht seiner Gedanken äußerte er nach längerer Zeit: »Natürlich müßten Sie mir schreiben, … oft, ja.« Dann: »Wenn Sie einmal hier leben werden, werden wir keine Angst mehr haben; beide werden wir keine Angst mehr haben … nicht?« Er hatte seine Hand auf Bertrands Arm gelegt und blickte ihn angstvoll an. »Ja, Herr v. Pasenow, warum sollen wir denn Angst haben?« Herr v. Pasenow war erstaunt: »Aber Sie sagten doch …«, er starrte vor sich hin. »Na, ist ja egal …« Er blieb stehen, drehte sich um und es hatte den Anschein, als wollte er heimkehren. Dann besann er sich und führte Bertrand weiter. Nach einer Weile fragte er: »Waren Sie schon bei ihm?« – »?« – »Nun, bei der Gruft.« Bertrand war ein wenig beschämt; aber innerhalb der Atmosphäre dieses Hauses hatte sich wahrlich kein Anlaß ergeben, einen Wunsch nach dem Besuch des Grabes zu äußern. Als er sich anschickte, die Frage entsprechend zu verneinen, lachte Herr v. Pasenow beglückt auf: »Nun, da haben wir ja noch etwas nachzuholen«, und, gleichsam eine frohe Überraschung für den Gast, zeigte er mit dem Stock auf die Friedhofsmauer, die vor ihnen lag. »Gehen Sie hinein, ich will hier auf Sie warten«, befahl er, und da Bertrand ein wenig zögerte, sträubte er sich unwillig: »nein, ich komme nicht mit hinein«, und führte Bertrand bis zu dem Tor, über dem die Aufschrift »Ruhe sanft« in Goldbuchstaben blinkte. Bertrand trat ein und nachdem er eine geziemende Zeit bei der Gruft verweilt hatte, kehrte er zurück. Herr v. Pasenow patrouillierte längs der Mauer, sichtlich ungeduldig: »Waren Sie bei ihm? … und –?« Bertrand drückte seine Hand, aber Herr v. Pasenow wollte anscheinend kein Beileid, sondern wollte etwas hören; er machte eine Bewegung, wie um nachzuhelfen, und als trotzdem nichts erfolgte, seufzte er: »Er ist für die Ehre des Namens gefallen … ja, und Joachim macht indessen Visiten.« Wieder zeigte er mit dem Stock, diesmal in die Richtung von Lestow. Später ergänzte er den Gedanken und kicherte: »Ich habe ihn auf Brautschau geschickt«, und als ob ihn dies erinnerte, daß er doch mit Bertrand etwas besprechen wollte: »Richtig, man sagt mir, daß Sie in Geschäften bewandert seien.« Ja, das schon, allerdings bloß in seinem Spezialgeschäft, antwortete Bertrand. »Na, für unsere Sache wird es wohl noch reichen. Wissen Sie, lieber Freund, ich muß mich jetzt natürlich beraten, da er gefallen ist«, er machte eine Pause und sagte dann wichtig: »Erbschaftsangelegenheiten.« Bertrand meinte, daß Herr v. Pasenow ja sicherlich einen vertrauten Notar haben werde, der ihm hierbei zur Seite stehen müßte, doch Herr v. Pasenow hörte nicht zu: »Joachim wird sich schon durch die Heirat sicherstellen; man könnte ihn enterben«; er lachte wieder. Bertrand versuchte, das Gespräch abzubiegen und wies auf einen Hasen: »Also bald beginnt es wieder mit Weidmannsheil, Herr v. Pasenow.« – »Ja, ja, zur Jagd mag er wohl kommen, dazu ist er immerhin zu brauchen … da wollen wir ihn einladen, ja? natürlich muß er uns schreiben; das wird man ihm schon beibringen, nicht?« Da Herr v. Pasenow lachte, lächelte Bertrand gleichfalls, so unbehaglich er sich auch fühlte. Er war etwas verärgert, weil Joachim ihn diesem Manne ausgeliefert hatte; aber wie ungeschickt schien dieser Joachim sich auch hier zu benehmen, daß er den kindischen Alten in solcher Stimmung belassen konnte. Hatte der Unglücksmensch ihn hergerufen, damit er auch hier Ordnung in seine Angelegenheiten bringe? Er sagte also: »Ja, ja, Herr v. Pasenow, wir werden ihn uns schon erziehen«, und damit hatte er den Ton getroffen, den der Alte hören wollte. Er hängte sich in Bertrand ein, achtete sorgfältig darauf, daß ihre Schritte in Gleichklang blieben, und ließ Bertrands Arm auch nicht los, nachdem sie heimgekehrt waren. Trotz der eingebrochenen Dunkelheit spazierten sie im Hofe auf und ab, bis Joachim vorfuhr. Als Joachim vom Wagen sprang, sagte Herr v. Pasenow: »Ich stelle dir meinen Freund, Herrn v. Bertrand vor«, und mit einer etwas nebensächlichen Handbewegung »und dies ist mein Sohn … kommt von der Brautschau«, setzte er vergnügt hinzu. Der Geruch des Kuhstalls strich herüber und Herr v. Pasenow fühlte sich wohl.

Sie ist eigentlich nicht schön, sagte sich Bertrand, da er Elisabeth am Klavier betrachtete, der Mund ist zu groß und diese Lippen sind von einer merkwürdig weichen und fast bösen Sinnlichkeit. Aber wenn sie lächelt, ist sie reizend.

Es war ein musikalischer Tee, zu dem Joachim und Bertrand eingeladen waren. Ein alter Gutsnachbar und der dürftige Lehrer waren die Begleiter Elisabeths in dem Trio von Spohr, und es schien Joachim, als sei es Elisabeths Verdienst, wenn die silbernen glashellen Tropfen des Klaviers in den braunen Fluß der beiden Streichinstrumente fielen. Er liebte die Musik, obwohl er nicht viel davon verstand, aber nun glaubte er, ihren Sinn zu erkennen: sie war etwas, das rein und klar über allem andern schwebte wie auf einer Silberwolke und kalte, reine Tropfen aus der göttlichen Höhe ins Irdische fallen ließ. Und vielleicht ist sie bloß für Elisabeth vorhanden, wenn auch Bertrand, wie er von der Anstalt her wußte, ein wenig auf der Geige spielen konnte. Nein, es sah nicht danach aus, daß Bertrand im Wege der Musik Elisabeth erobern wollte. Er hatte auf die Frage nach seinem Geigenspiel bloß ausweichend und mit einer wegwerfenden Handbewegung geantwortet, und pure Heuchelei mochte es gewesen sein – zynisch genug hatte es ja geklungen –, als er auf dem Heimweg nichts Besseres zu sagen wußte als: »Wenn sie nur nicht diesen grausam langweiligen Spohr spielen wollte!«

Man hatte einen Ausritt vereinbart; Joachim und Bertrand hatten Elisabeth abgeholt. Joachim ritt das Pferd Helmuths, das nun ja wieder zu seinem Besitz geworden war. Über die Stoppelfelder, auf denen noch die Garben standen, waren sie galoppiert und dann mit kurzem Trab in den engen Waldweg eingebogen. Joachim ließ den Gast mit Elisabeth vorausreiten und während er folgte, schien sie ihm in ihrem langen schwarzen Reitkleid noch größer und schmäler als sonst. Er hätte gerne anderswohin geschaut, aber sie saß nicht ganz tadellos zu Pferde und das störte ihn; sie hielt sich ein wenig zu weit vorgebeugt, und wenn sie sich mit dem Trab hob und senkte, den Sattel sitzend berührte und wieder aufschnellte, auf und ab, mußte er an ihren Abschied am Bahnhof denken, und der verächtliche Wunsch, sie als Frau begehren zu können, drängte sich wieder auf, doppelt verächtlich, seitdem der Vater, und dazu noch vor Bertrand, von Brautschau gesprochen hatte. Aber fast noch fürchterlicher war es, daß auch die Eltern Elisabeths, ja sogar ihre eigene Mutter, ihn als Objekt für der Tochter Liebesbegehren ansehen mochten, ihn ihr anboten, sie allesamt überzeugt, daß sie über dieses Liebesbegehren verfügen dürften, daß es sich einstellen und keinesfalls versagen werde. Zwar verbarg sich noch etwas Eigentlicheres, Tieferes dahinter, eine undeutliche Vorstellung, von der Joachim nichts wissen wollte, obwohl er seinen Mund trocken werden fühlte und Hitze im Gesicht; es war undeutlich, dennoch empörend, daß man Elisabeth solche Dinge zuzumuten wagte, er schämte sich vor Elisabeth und schämte sich für sie. Mag sie Bertrand überlassen bleiben, dachte er und vergaß, daß er damit die gleiche Sünde beging, die er eben noch mit solcher Entrüstung von sich gewiesen hatte. Aber plötzlich war es ohne Belang, plötzlich war es, als käme Bertrand nicht in Betracht: er war so weiblich mit seinen gewellten Haaren, irgendwie schwesterlich, eine schwesterliche Fürsorge, der man Elisabeth vielleicht doch überlassen durfte. Es war wohl unwahr, aber für einen Augenblick beruhigend. Warum übrigens ist sie eigentlich schön? und er betrachtete ihren auf- und abwippenden Körper, dessen Schwerpunkt sich immer wieder auf den Sattel setzte. Dabei machte er die Entdeckung, daß es nicht Schönheit, sondern viel eher Unschönheit ist, die Begehren hervorruft; allein er schob den Gedanken beiseite, und während er noch die Szene des Einsteigens am Bahnhof vor Augen hatte, flüchtete er zu Ruzena, deren viele Unvollkommenheiten sie so reizvoll machten. Er ließ sein Pferd in Schritt fallen, damit der Abstand zwischen ihm und den beiden da vorne sich vergrößerte, und nahm aus der Brusttasche den letzten Brief Ruzenas. Das Papier roch nach dem Parfüm, das er ihr geschenkt hatte, und Joachim atmete den Duft der ungeordneten Intimität ihres Beisammenseins. Ja, dort gehörte er hin, dort wollte er sein, fühlte sich freiwillig verbannt aus der Gesellschaft und doch verstoßen, fühlte sich Elisabeths unwürdig. Bertrand war zwar sein Komplice, hatte aber reinere Hände, und da Joachim dies klar wurde, begriff er auch, warum Bertrand ihn und Ruzena eigentlich stets etwas von oben herab, irgendwie onkelhaft oder wie ein Arzt behandelt hatte und ihm die eigenen Geheimnisse verschloß. Niemand deckt die Geheimnisse des Vaters auf; es war richtig, daß es so war und deshalb durfte und mochte jener nun dort vorne an der Seite Elisabeths reiten, unwürdig auch jener, doch besser als er selbst. Helmuth fiel ihm ein. Und als wollte er wenigstens Helmuths Pferd in ihre Nähe bringen, setzte er es in Trab. Die Hufe trappelten weich auf dem Waldboden und wenn ein Ästchen von ihnen getroffen wurde, hörte man das scharfe Knicken des Holzes. Das Leder des Sattels knirschte angenehm, und kühl wehte die Luft aus der dunklen Tiefe des Laubes.

Er erreichte sie am Rande einer langgestreckten Lichtung, die sanft anstieg. Die Kühle des Waldes war hier wie abgeschnitten und man roch die Sonne über dem Grase. Elisabeth schlug mit der Lasche des Reitstockes nach den Pferdefliegen, die sich an der Haut ihres Tieres festgesetzt hatten, und das Pferd, das den Weg kannte, war unruhig, weil es den Galopp über die Lichtung erwartete. Joachim fühlte sich Bertrand überlegen; mochten dessen Geschäfte eine noch so große Ausdehnung haben, im Comptoir bekommt man nicht die Übung, Hindernisse zu springen. Elisabeth zeigte die Hürden, eine Hecke, die sie zu nehmen pflegte, einen gefallenen Baumstamm, einen Graben. Schwierig waren sie nicht. Man ließ den Reitknecht am Rande der Lichtung; Elisabeth übernahm die Führung und Joachim folgte wieder als letzter, nicht nur aus Höflichkeit, sondern auch, weil er Bertrand springen sehen wollte. Die Wiese war noch nicht gemäht und das Gras zischte leise und scharf an den Beinen der Pferde. Elisabeth führte erst zum Graben; das war eine Kleinigkeit, nicht weiter erstaunlich, daß Bertrand darüber hinwegkam. Aber als auch die Hecke von Bertrand in guter Form genommen worden war, ärgerte sich Joachim aufrichtig; der Baumstamm war allzu leicht, da war keine Hoffnung mehr darauf zusetzen. Joachims Gaul, der die anderen Pferde einholen wollte, ging scharf in die Zügel, und Joachim mußte ihn halten, um die Distanz zu wahren. Nun kam der Baumstamm; Elisabeth und Bertrand hatten ihn leicht und fast elegant erledigt und Joachim gab zum Anlauf dem Pferde die Zügel frei. Jedoch wie es zum Sprunge ansetzte, verhielt er es plötzlich, warum, blieb ihm ewig unerklärlich, das Pferd stolperte über den Stamm, überschlug sich seitwärts und rollte über ihm im Grase. Das ging natürlich sehr schnell und als die beiden andern sich umwandten, standen er, der den Zügel nicht losgelassen hatte, und der Gaul friedlich nebeneinander vor dem Baumstamm. »Was ist geschehen?« Ja, das wußte er selber nicht; er untersuchte die Beine des Tieres, es lahmte am Vorderfuß, man mußte es nach Hause bringen. Ein Fingerzeig Gottes, dachte Joachim: nicht Bertrand, sondern er war gestürzt und es war jetzt recht und billig, daß er sich zu entfernen und Elisabeth jenem zu überlassen hatte. Als Elisabeth vorschlug, er möge das Pferd ihres Reitburschen nehmen und diesen mit dem lahmen Gaul nach Hause schicken, lehnte er es unter dem Eindruck des Gottesurteils verstimmt ab. Schließlich war es auch Helmuths Pferd und man durfte es nicht jedem anvertrauen. Im Schritt trat er den Heimweg an und beschloß, ehestens nach Berlin zurückzukehren.

 

Sie ritten nebeneinander den Waldweg entlang. Obwohl der Reitbursche in kurzem Abstand folgte, hatte Elisabeth das Gefühl, als seien sie von Joachim allein gelassen worden, und das Gefühl war voller Beklommenheit. Vielleicht spürte sie den Blick Bertrands, der ihr Gesicht streifte. Ihr Mund ist sonderbar, sagte sich Bertrand, und ihre Augen sind von einer Helligkeit, die ich liebe. Sie müßte eine zerbrechliche und aufreizende und eigentlich beschwerliche Geliebte sein. Ihre Hände sind zu groß für eine Frau, mager und schmal. Ein sinnlicher Knabe ist sie. Aber sie ist reizend. Aus Beklommenheit begann Elisabeth ein Gespräch, trotzdem sie das nämliche schon kurze Zeit vorher gesagt hatte: »Herr v. Pasenow hat uns viel von Ihnen und Ihren großen Reisen erzählt.«

»Ja? mir erzählte er viel von Ihrer großen Schönheit.«

Elisabeth antwortete nicht.

»Freut Sie das nicht?«

»Ich mag nicht, daß man von dieser sogenannten Schönheit spricht.«

»Sie sind sehr schön.«

Elisabeth sagte etwas unsicher: »Ich habe Sie nicht zu jenen gerechnet, die die Cour schneiden.«

Sie ist klüger, als ich meinte, dachte Bertrand und er erwiderte: »Ich brächte dieses fürchterliche Wort nicht über die Lippen, nicht einmal, wenn ich verletzen wollte. Aber ich schneide Ihnen nicht die Cour; Sie wissen recht gut, wie schön Sie sind.«

»Warum sagen Sie es mir dann?«

»Weil ich Sie nicht mehr wiedersehen werde.«

Elisabeth schaute ihn betroffen an.

»Natürlich mögen Sie es nicht, daß man von Ihrer Schönheit spricht, denn Sie spüren hinter dieser Courschneiderei eben die Werbung. Wenn ich aber abreise und Sie nicht mehr sehe, kann ich logischerweise nicht um Sie werben und bin legitimiert, Ihnen die nettesten Dinge zu sagen.«

Elisabeth mußte lachen: »Schrecklich, daß man nette Dinge bloß von einem ganz Fremden hören darf.«

»Zumindest kann man sie bloß einem ganz Fremden glauben. In der Vertrautheit liegt von vorneherein der Keim des Unaufrichtigen und Verlogenen.«

»Wenn das wahr wäre, wäre es eigentlich erschreckend.«

»Natürlich ist es wahr, aber deswegen noch lange nicht erschreckend. Vertrautheit ist die hinterlistigste und eigentlich gemeinste Art der Werbung. Statt Ihnen einfach zu sagen, daß man Sie begehrt, weil Sie schön sind, schleicht man sich erst hinterrücks in Ihr Vertrauen ein, um sich gewissermaßen unbemerkt Ihrer zu bemächtigen.«

Elisabeth dachte eine Weile nach, dann sagte sie: »Steckt nicht irgend etwas Gewalttätiges hinter Ihren Worten?«

»Nein, denn ich reise ja ab … der Fremde darf die Wahrheit sprechen.«

»Ich fürchte alle Fremdheit.«

»Weil Sie ihr verfallen sind. Sie sind schön, Elisabeth. Darf ich Sie für diese Stunde so nennen?«

Sie ritten stumm nebeneinander. Dann sagte sie und traf damit das Richtige: »Was wollen Sie eigentlich?«

»Nichts.«

»Dann ist es doch sinnlos.«

»Ich will dasselbe wie jeder, der um Sie wirbt und darum sagt, daß Sie schön sind, aber ich bin aufrichtiger.«

»Ich mag nicht, daß man um mich wirbt.«

»Vielleicht hassen Sie eben bloß die unaufrichtige Form.«

»Sind Sie nicht noch unaufrichtiger als die anderen?«

»Ich werde abreisen.«

»Was beweist das?«

»Unter anderem bloß meine Schamhaftigkeit.«

»?«

»Um eine Frau werben, heißt sich ihr antragen als der atmende Zweibein, der man ist, und das ist schamlos. Und es ist immerhin möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß Sie darum jede Werbung hassen.«

»Ich weiß es nicht.«

»Liebe ist etwas Absolutes, Elisabeth, und wenn das Absolute im Irdischen ausgedrückt werden soll, dann gerät es immer ins Pathos, weil es eben unbeweisbar ist. Und weil es dann so schrecklich irdisch wird, wird das Pathos immer so komisch, der Herr, welcher sich auf das Knie niederläßt, damit Sie auf seine verschiedenen Wünsche eingehen; und wenn man Sie liebt, muß man dies vermeiden.«

Wollte er damit sagen, daß er sie liebte? Als er schwieg, sah sie ihn fragend an; er schien es verstanden zu haben:

»Es gibt bloß ein wirkliches Pathos und das heißt Ewigkeit. Und weil es keine positive Ewigkeit gibt, muß es negativ werden und heißt Nie-wieder-sehen. Wenn ich jetzt abreise, ist die Ewigkeit da; dann sind Sie ewigkeitsfern und ich darf sagen, daß ich Sie liebe.«

»Sagen Sie nicht solch gewichtige Dinge.«

»Vielleicht ist es eine große Klarheit des Gefühls, die mich zwingt, so mit Ihnen zu reden. Vielleicht ist aber auch ein wenig Haß und Ressentiment dabei, daß ich Sie nötige, solche Monologe anzuhören, Eifersucht vielleicht, weil Sie hier bleiben und weiterleben …«

»Wirklich Eifersucht?«

»Ja, Eifersucht und auch ein wenig Hochmut. Denn es ist auch der Wunsch, einen Stein in den Brunnen Ihrer Seele fallen zu lassen, damit er unverlierbar dort ruhe.«

»So wollen auch Sie sich in meine Vertrautheit drängen.«

»Mag sein. Aber noch größer ist der Wunsch, daß Ihnen der Stein noch ein Talisman werden möge.«

»Wann?«

»Wenn der vor Ihnen knien wird, auf den ich jetzt schon eifersüchtig bin und der mit dieser antiquierten Geste Ihnen seine körperliche Nähe anbieten wird: dann könnte die Erinnerung an eine, sagen wir, aseptische Form der Liebe Sie auch daran erinnern, daß hinter jeder ästhetisierenden Geste in der Liebe eine noch größere Roheit steckt.«

»Sagen Sie das allen Frauen, von denen Sie wegreisen?«

»Man sollte es allen sagen, aber ich reise meistens ab, ehe es dazu kommt.«

Elisabeth sah nachdenklich auf die Mähne ihres Pferdes. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, aber mir kommt dies alles sonderbar unnatürlich und abseitig vor.«

»Wenn Sie an die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes denken, dann ist es allerdings unnatürlich. Aber finden Sie es natürlicher, daß Sie einmal mit irgendeinem Herrn, der jetzt irgendwo lebt, irgendwo ißt und trinkt und seinen Geschäften nachgeht und den Sie einmal durch einen dummen Zufall kennenlernen werden und der Ihnen dann bei passender Gelegenheit sagen wird, wie schön Sie sind, und der sich hiezu auf ein Knie niederlassen wird, daß Sie sodann mit diesem Herrn nach Erledigung einiger Formalitäten Kinder bekommen werden: finden Sie dies etwa natürlich?«

»Schweigen Sie doch, es ist ja furchtbar … es ist entsetzlich.«

»Ja, es ist furchtbar, aber nicht weil ich es ausspreche, denn noch viel furchtbarer ist es, daß Sie wohl imstande und fast bereit sind, es zu erleben, nicht aber es zu hören.«

Elisabeth kämpfte mit dem Weinen; sie preßte hervor: »Warum aber, um Gottes willen, soll ich es denn hören … ich bitte Sie doch, schweigen Sie.«

»Was fürchten Sie, Elisabeth?«

Sie sagte leise: »Ich habe ohnehin schon solche Angst.«

»Wovor?«

»Vor dem Fremden, vor dem anderen, vor dem, was kommen wird … ich kann es nicht ausdrücken. Ich habe eine dunkle Hoffnung, daß das, was einmal kommen soll, mir ebenso vertraut sein wird wie alles, was mir jetzt vertraut ist. Meine Eltern gehören doch auch zusammen. Sie aber wollen mir diese Hoffnung nehmen.«

»Und aus Angst vor der Gefahr wollen Sie sie nicht sehen. Muß man Sie da nicht aufrütteln, damit Sie nicht aus Müdigkeit, aus Konvention, aus Dunkelheit Ihr Schicksal verrinnen lassen oder verstauben oder vertropfen oder so ähnlich … Elisabeth, ich meine es sehr gut mit Ihnen.«

Wieder traf Elisabeth das Richtige, als sie sagte, leise, zaghaft, mit Widerstreben: »Warum bleiben Sie dann nicht?«

»Ich bin Ihnen doch auch bloß vom Zufall hergeweht. Und bliebe ich, so wäre es ebenso eine Überrumpelung Ihres Gefühls wie jene, vor der ich Sie warnen wollte; eine etwas aseptischere Überrumpelung, aber doch eine.«

»Was soll ich tun?«

»Das läßt sich bloß negativ beantworten: nichts, was nicht bis in die letzte Faser Ihres Erlebens von Ihnen bejaht werden kann. Nur wer sich frei und gelöst dem Befehl seines Gefühls und seines Wesens unterwirft, kann zur Erfüllung kommen verzeihen Sie das Pathos.«

»Niemand hilft mir.«

»Nein, Sie sind allein, so allein wie in Ihrem alleinigen Sterben.«

»Es ist nicht wahr. Es ist nicht wahr, was Sie reden. Ich war nie allein, meine Eltern sind es nicht. Sie reden so, weil Sie allein sein wollen … oder weil es Ihnen Freude macht, mich zu quälen …?«

»Elisabeth, Sie sind so schön, für Sie ist Erfüllung und Vollendung vielleicht schon in Ihrer Schönheit. Wie sollte ich Sie quälen! Aber alles ist wahr und viel ärger ist es noch.«

»Quälen Sie mich nicht.«

»Irgendwo ist in jedem die wahnsinnige Hoffnung, daß das bißchen Erotik, das uns geschenkt ist, diese Brücke schlagen könnte. Hüten Sie sich vor dem Pathos der Erotik.«

»Vor wem warnen Sie wieder?«

»Alles Pathos zielt daraufhin, Mysterien zu versprechen und mit Mechanik das Versprechen einzulösen. Ich möchte Sie vor dieser Art Liebe bewahrt wissen.«

»Sie sind sehr arm.«

»Weil ich meine leeren Taschen zeige? Hüten Sie sich vor allen, die sie nicht zeigen.«

»Nicht so, nein, ich fühle, daß Sie bemitleidenswerter sind als die anderen, sogar als die anderen, die Sie meinen …«

»Wieder muß ich Sie warnen. Haben Sie in diesen Angelegenheiten niemals Mitleid. Eine Liebe aus Mitleid ist nicht besser als eine käufliche Liebe.«

»Oh!«

»Ja, Sie wollen das nicht hören, Elisabeth. Nun, anders gesprochen: wer aus Mitleid sündigt, präsentiert hinterher die mitleidsloseste Rechnung.«

Elisabeth blickte ihn beinahe feindselig an.

»Ich habe mit Ihnen kein Mitleid.«

»Aber Sie sollen mich auch nicht so böse ansehen, obwohl es fast richtiger wäre, Sie täten es.«

»Wofür richtiger?«

Bertrand schwieg. Nach einer Weile: »Hören Sie, Elisabeth, man muß auch die Aufrichtigkeit zu Ende führen. Ich sage solche Dinge nicht gerne. Aber ich liebe Sie. Das ist mit allem Ernst und mit aller Aufrichtigkeit konstatiert, deren man in diesen Gefühlsdingen fähig ist. Und ich weiß auch, daß Sie mich lieben könnten …«

»Um Gottes willen, schweigen Sie doch …«

»Warum? ich überwerte diese vagen Gefühlslagen keineswegs, werde auch nicht pathetisch werden. Doch kein Mensch kann jene wahnsinnige Hoffnung auslöschen, daß er die mystische Brücke der Liebe nicht noch finde. Aber auch deshalb muß ich abreisen. Es gibt eben bloß ein einziges wahrhaftes Pathos, das der Entfernung, des Schmerzes … wenn man die Brücke tragfähig machen will, dann muß man sie überspannen, da man ja keine Gewichte darauflegen kann. Wenn dann …«

»Oh, schweigen Sie.«

»Wenn dann doch die Notwendigkeit stärker wird als alles, was man ihr freiwillig entgegensetzt, wenn die Spannung einer unbeschreiblichen Sehnsucht so scharf wird, daß sie die Welt zu zerschneiden droht, dann besteht die Hoffnung, daß die armen Einzelschicksale der Menschen sich herausheben aus dem Wust des Zufalls, aus einer platten und sentimentalen Melancholie, aus der mechanischen und zufälligen Vertrautheit.«

Und als spräche er für sich und nicht mehr zu Elisabeth, setzte er fort: »Ich glaube, und das ist tiefster Glaube, daß nur in einer fürchterlichen Übersteigerung der Fremdheit, erst wenn sie sozusagen ins Unendliche geführt ist, sie in ihr Gegenteil, in die absolute Erkenntnis umschlagen und das erblühen kann, was als unerreichbares Ziel der Liebe vor ihr herschwebt und doch sie ausmacht: das Mysterium der Einheit. Durch langsames Aneinandergewöhnen und Vertrautwerden entsteht kein Mysterium.«

Elisabeth weinte.

Er sagte leise: »Ich möchte, daß du die Liebe nie anders erlebtest und erlittest als in dieser letzten und unerreichbaren Form. Und wäre es auch nicht mit mir, ich werde dann nicht eifersüchtig sein. Doch ich leide und bin eifersüchtig und ohnmächtig, wenn ich daran denke, daß du Billigerem verfallen wirst. Weinst du, weil das Vollkommene unerreichbar ist? dann hast du recht zu weinen. Oh, ich liebe dich, sehne mich, in deiner Fremdheit zu versinken, sehne mich, daß du das Endgültige und das Vorbestimmte wärest …«

Nun ritten sie wieder stumm nebeneinander; die Pferde traten aus dem Wald heraus und ein Feldweg führte hinunter zur Landstraße, die sie einschlagen mußten, um nach Hause zu gelangen. Angesichts der staubigen Straße, die weiß unter der Sonne und dem weißlichen Himmel lag, hielt er sein Pferd an und sagte, damit im Schatten der Bäume er es noch aussprechen könne, wieder sehr leise und wie zum Abschied: »Ich liebe dich, … liebe dich, es ist phantastisch.« Daß sie nun aber noch auf der trockenen, sonnigen Straße beisammen bleiben sollten, dünkte ihnen beiden unmöglich, und sie war ihm dankbar, als er anhielt und sagte: »Ich werde jetzt unseren verunglückten Reiter einzuholen trachten …«, und leiser: »Lebwohl.« Sie gab ihm die Hand, er beugte sich darüber und sie hörte nochmals »Lebwohl«. Sie hatte geschwiegen, doch wie er gewendet hatte, rief sie: »Herr v. Bertrand.« Er kam zurück; sie zögerte ein wenig, dann sagte sie: »Auf Wiedersehen.« Sie hätte gerne Lebwohl gesagt, aber da war es ihr unangebracht und theatralisch erschienen. Als er nach einiger Zeit sich umblickte, konnte er kaum mehr unterscheiden, welche der beiden Gestalten Elisabeth und welche der Reitknecht war; sie waren schon zu weit und die Sonne blendete.

 

Der Diener Peter stand auf der Terrasse des Lestowschen Herrenhauses und schlug den Gong. Die Mahlzeiten mittels dieser Töne anzukündigen, hatte die Baronin eingeführt und zur Gepflogenheit gemacht, seit sie mit ihrem Gatten in England gewesen war. Und obwohl der Diener Peter nun doch schon etliche Jahre das Instrument bediente, schämte er sich immer noch ein wenig, den kindischen Lärm zu verursachen, besonders da die Töne bis in die Dorfstraße drangen und ihm einst den Spitznamen Trommler eingetragen hatten. Daher schlug er den Gong diskret, entlockte ihm nur wenige dunkle Töne, die rund in die Stille des Parks rollten, und der Rest war ein flaches unmusikalisches blechernes Etwas, das dünngewalzt verhallte.

Im langsamen Schritt durch die mittägliche Dorfstraße reitend, hörte Elisabeth, wie der Diener Peter auf der Terrasse leise den Gong schlug und zum Umkleiden mahnte. Trotzdem beschleunigte sie nicht den Schritt des Pferdes, und wäre sie nicht so sehr in Gedanken gewesen, es wäre ihr aufgefallen, daß sie heute vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben eine Art Widerstreben gegen die Gemeinsamkeit des Mittagstisches empfand, ja, daß die Heimkehr in den schönen friedlichen Park, der Eingang zwischen den beiden Pförtnerhäusern, ihr eine große Beklemmung auferlegte. Eine beunruhigende Sehnsucht nach Ferne war in ihr aufgekeimt und zugleich mit der Sehnsucht ein absurder Gedanke, doppelt absurd in solcher Mittagshitze: daß Bertrands Leben in diesem allzu rauhen Klima nicht gedeihe und daß er deshalb fliehend stets aufs neue Abschied nehmen müsse. Die Gongschläge waren verhallt. Sie saß im Hofe ab, der Reitbursche hielt ihr den Bügel und eilig ging sie ins Haus: die Schleppe über den Arm geworfen, ging sie die Stufen hinauf, ging gewohnten Weg, dennoch ein wenig im Traume. Ein zarter Mut war über sie gekommen, eine etwas traurige Freude hinzugehen, wohin sie wollte, selber ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und es zu bestimmen; aber all dies gelangte nicht sehr weit, blieb stecken in der Überlegung, was die Eltern sagen würden, wenn sie im Reitkleid bei Tische erschiene. Auch Joachim v. Pasenow wäre jemand, der sich ob solchen Verstoßes schockieren könnte. Das Hündchen Bello kam kläffend die Stiege heruntergerast, mechanisch gab sie ihm den Reitstock, aber sie lächelte nicht über den Stolz, mit dem er den Stock ins Boudoir vorantrug, und so artig Bello ihn ihr vor die Füße legte, andächtig zu ihr aufschauend, als würde er in ihrer Schönheit Erfüllung und Vollendung finden, Elisabeth streichelte ihn nicht, sondern trat vor den Spiegel, blickte lange hinein, ohne sich zu erkennen, sah bloß die schwarze schmale Silhouette, und es war, als würde das Spiegelbild, als würde sie selbst sich enteilen in einer Unbewegtheit, die erst langsam sich löste, da die Zofe eintrat, um täglichem Brauche gemäß beim Aufhaken des Reitkleides behilflich zu sein. Aber als das Mädchen vor sie hinkniete, ihr die Reitstiefel abzustreifen, als der gestreckte Fuß mit einem leichten, kühlen Gefühl aus der Lackröhre schlüpfte und schmal im schwarzen Seidenstrumpf auf des Mädchens Knie lag, suchte sie aufs neue im Spiegel das enteilende Bild, das gleichsam ein Wegeilen war zu irgend jemand, der irgendwo lebte, und der irgendwann vielleicht vor ihr niederknien wird. Die Reitpeitsche lag noch immer dort auf dem Teppich. Elisabeth versuchte, sich Bertrand am Bahnhof vorzustellen in eckiglangem Uniformrock, einen Degen an der Seite, und daß der enteilende Zug ihn erfassen könnte. Irgendeine böse Freude war in dieser Vorstellung und doch eine würgende und noch nie empfundene Angst. Sie saß mit zurückgebeugtem Kopf, die Hände an den Schläfen, als könnte sie durch solche Stellung sich aus dem Befehl eines ungewohnten Zwanges befreien und lösen. »Es ist doch nichts geschehen«, sagte etwas in ihr und sie begriff nicht die vage Spannung, die trotzdem so seltsam deutlich schien, daß man sie beinahe in Worte fassen konnte: die Welt zerschneiden. Sicherlich war es nicht ganz deutlich, aber es war eine Grenzscheide gezogen, und was einstens einheitlich gewesen, diese Welt des Geschlossenen, zerfiel, und die Eltern standen jenseits der Grenze. Dahinter war die Angst, jene Angst, vor der die Eltern sie schützen wollten, als würde ihrer aller Beisammensein davon abhängen: das Gefürchtete, es war jetzt hereingebrochen, sonderbar erschütternd und spannend und doch keineswegs fürchterlich. Man konnte einem Fremden du sagen; das war alles. Und das war so wenig, daß Elisabeth beinahe traurig wurde. Resolut erhob sie sich; nein, sie will sich nicht einer platten und sentimentalen Melancholie hingeben. Sie geht zum Spiegel und streicht sich die Haare zurecht.

Am Fuße der großen Treppe hängt in seinem Ebenholzgestell der Gong aus mattgelber Messingbronze, geziert mit flachen chinesischen Ornamenten. Ein echtes Stück, das der Baron in London erstanden hat. Den Schlegel mit der weichen grauen Lederkugel hält der Diener Peter in der Hand, sieht auf die Uhr und wartet. Es sind vierzehn Minuten seit dem ersten Zeichen vergangen, und wenn der Uhrzeiger die fünfzehnte Minute erreicht haben wird, wird der Diener Peter der Bronzeplatte drei diskrete Schläge verabfolgen.


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