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Erika Mangold kehrte von der Probe des »Fliegenden Holländer« in ihre Wohnung zurück. Sie lag in der Wolfenbüttler Straße in unmittelbarer Nähe der Rittlandschen Villa und bestand nur aus einem großen Zimmer mit anschließendem Schlafgemach.

Aber ihre Einrichtung war bei aller Einfachheit von so stilvoller Innerlichkeit, daß man eine Seele in ihr vermutet hätte, wenn man bei leblosen Dingen von so etwas sprechen dürfte. Aber vielleicht besteht eine der vielen Überhebungen, an denen wir nun einmal leiden, in unserem Vorurteil, daß nur Menschen berechtigt wären, einen so vornehmen Besitz zu beanspruchen.

Ach nein – es gibt Dinge, die wir leblos nennen und die oft viel mehr Leben haben als die Menschen. Und es gibt Geschenke, die nicht nur Leben haben, sondern eine Seele und Augen, tiefe, leuchtende, bannende Augen, die festhalten und nicht mehr lassen.

Solche Dinge und Geschenke waren es, die Erika Mangolds kleiner Wohnung das Vertraute und Innerliche gaben. Und wenn sie sie ansah und in Gebrauch nahm, dann löste sich diese Seele aus ihrer körperlichen Bekleidung, sprach zu ihr aus großen, tiefen Augen.

Da stand dem Fenster gegenüber, von der einfallenden Sonne mit weichen Händen gestreichelt, der kunstvolle Mahagonischreibschrank aus der Biedermeierzeit mit den feingearbeiteten Einlagen, den vielen versteckten und verschmitzten Fächern und Kunstgriffen, die man erst ganz allmählich entdeckt und die dann jedesmal neue Überraschungen und Freuden hervorrufen.

Klaus Rittland hatte ihn ihr geschenkt, als sie diese Wohnung bezog.

Sein Gesims aber schmückte, in bläulich durchsichtigem Stein gebildet, eine kleine Statue: die Walküre, an ihr Roß sich lehnend ... wohl in dem Augenblicke, als sie Siegmund den Tod verkündet. Denn etwas feierlich Trauriges war in ihrer Haltung und ihrem Antlitz. Und das Pferd senkte tief den Kopf mit der wundervoll gearbeiteten Mähne, als trauerte es mit ihr.

Klaus Rittland hatte es von Michael Alberti arbeiten lassen und ihr hingestellt, als sie, blutjung, für eine erkrankte Kollegin einspringen mußte und die Brunhild mit beispiellosem Erfolg gesungen hatte.

Auch die kostbare Perserbrücke von auserlesenem Muster, die sich vom Schreibschrank zu der Eingangstür hinüberzog, stammte von ihm.

Nie hatte er wahllos geschenkt oder, um zu schenken. Jede seiner Gaben war durchdacht, entsprang liebevoller Überlegung. Jede hatte ihre eigene Geschichte, ihre eigene Erinnerung.

Darum sprach ihre Seele auch heute noch zu ihr, nachdem sich so vieles geändert, so vieles, das einmal blühende Gegenwart gewesen, wehmuterfüllte Vergangenheit geworden.

Recht ermüdet war sie nach Hause gekommen.

Gewiß, es war ja schön, war einmal das Ziel ihrer Wünsche gewesen, daß man sie fast in jeder größeren Oper herausstellte. Aber es bedeutete auch eine unsägliche Arbeit und eine dauernde Entsagung.

Wie Michael Alberti, erfuhr sie es, daß die Kunst die strengste und unerbittlichste aller Göttinnen war und keine andere neben sich duldete. Nur daß er alt und sie jung war, und daß es doch Stunden gab, wo sich ihr Blut rebellisch gegen diese ihm widernatürlich erscheinenden Fesseln auflehnte.

Sie hätte den eigentlichen Beruf der Frau erfüllen, hätte heiraten und Mutter werden können. Michael Albertis Sohn liebte sie. Seit Monaten drang er in sie. Heute wollte er kommen, sich ihre Entscheidung zu holen. Ihre Kunst sollte sie weiter üben. Das hatte er ihr zugesagt. Er war ihr angenehm, ja, sie fühlte Zuneigung zu ihm.

Aber wieder war es die Vergangenheit, die störend zwischen ihn und sie trat. Wer einen Klaus Rittland geliebt, der konnte nicht so leicht einem anderen gehören und wäre er auch zwei oder drei Jahrzehnte jünger.

Was würde sie ihm sagen, wenn er käme?

Sie mußte es reiflich überlegen, mußte Ruhe haben vor diesen heute mit ungewohnter Heftigkeit auf sie einströmenden Gedanken.

Sie hatte sich auf das Sofa gelegt, eine Decke über den leicht fröstelnden Körper gebreitet – da ließ sie ein Schritt aufhorchen, der sich leicht, aber langsam die Treppe hinaufbewegte.

Sollte er es schon sein?

Aber nein – das war ein anderer Schritt ... ein Schritt –

Sie war aufgesprungen. Pfeilschnell, im Laufe von wenigen Sekunden rasten tausend Erinnerungen durch ihr Herz: wenn sie Minuten, die ihr Stunden dünkten, pochenden Herzens auf diesen Schritt gewartet, wenn er die letzte Stufe genommen hatte, in den kleinen Flur, in ihr Zimmer trat – da stand Klaus Rittland vor ihr.

Ein Jahr, ein ganzes, langes, quälendes Jahr war vergangen, daß er ihre Wohnung nicht mehr betreten hatte. Was war geschehen? Was konnte ihn heute zu dieser ungewohnten Stunde zu ihr treiben?

Einen Augenblick war ihr, als müßte alles vergessen, ausgelöscht sein, was dieses Jahr zwischen sie getürmt, als müßte sie ihm entgegeneilen, wie früher einmal, seine Hand fassen und halten, ihre Freude, ihr Glück ihm entgegenstammeln.

Dann aber war plötzlich und unerbittlich die Gegenwart da, stellte sich zwischen ihn und sie, strich mit frostiger Hand über den jungen Hauch eines neu sich regenden Lebens, ließ ihn welken und ersterben.

Mit mühsam aufgeraffter Selbstbeherrschung reichte sie ihm die Hand, hieß ihn mit einer Stimme, die kühl, gemessen klang und doch so hörbar zitterte, willkommen, bat ihn in denselben Sessel, auf dem er früher so oft ihr gegenüber gesessen, fragte ihn mit Worten, die ihr selber fern und fremd erklangen, nach seinem Ergehen und dem Anlaß seines unerwarteten Besuches, sah dann sein sonst so frisches und zuversichtliches Auge mit einem Ausdruck auf ihr ruhen, den sie früher nie in ihm wahrgenommen hatte – sagte und fragte nichts mehr.

So verharrten sie eine Weile in befangen lastendem Schweigen.

»Was mich heute nach so langer Zeit zu dir treibt?« begann er dann in seiner gewohnten gleichmütig förmlichen Sprechweise, der man aber diesmal das Erzwungene anhörte. »Ein Besuch deines Intendanten, der mir Mitteilung von Bemühungen machte, die in der Stadt im Gange sind, dich unserer Bühne zu erhalten. Aber das weißt du, und es wäre für mich kein Grund gewesen, zu dir zu kommen. Er sagte mir aber zugleich etwas anderes: daß ich es wäre, der dich von hier forttriebe und dir eine Änderung deines Entschlusses unmöglich machte.«

»Ja ... ist es nicht so?« warf sie mit leiser, zagender Stimme ein.

»Wenn du es bestätigst, so wird es so sein. Denn du hast niemals etwas Unwahres gesagt. Aber gerade deshalb darf es nicht, wird es nicht geschehen!«

Der alte, unbeugsame Wille, dem sie sich früher so gern gefügt, drang gebietend an ihr Ohr.

»Und weshalb soll es nicht geschehen?« fragte sie mit derselben leisen, zaghaften Stimme.

»Weil ich nicht die Verantwortung tragen kann, dich in einer Laufbahn, die ich dir in besseren Tagen selber einmal eröffnet habe, zu hemmen oder gar zu schädigen – weil ich dazu das Recht nicht mehr habe.«

»Du wußtest es lange, daß –«

Sie brach ab, kämpfte mit einer aufsteigenden Bewegung, unterdrückte sie aber und fuhr fort: »Daß es nach dem, was zwischen uns vorgefallen, mein freier Entschluß war, mir aus eigener Kraft ein neues Leben zu bauen, gleichviel wo. Wenn das also der einzige Beweggrund für dich ist, so kann ich dich von jeder Verantwortung lossprechen.«

»Es ist nicht der einzige Grund.«

Und dann, als müßte er seinen Lippen die Worte abringen:

»Ich will nicht, daß du von mir gehst.«

Da lachte sie auf.

»Das sagst du jetzt! Und damals, als es in deiner Macht stand, als ich dir meine Kunst, meine Laufbahn, meine Jugend mit Freuden geopfert hätte – doch lassen wir das!«

»Ja, lassen wir es! Du weißt, wie schwer es mir wurde, wie mich nur meine rastlose Tätigkeit über alles das hinwegbrachte. Jetzt aber, wo du von mir gehen, womöglich einem anderen gehören willst –«

»Kommst du, mir noch einmal den Vorschlag zu machen, wenn auch nicht deine Frau, so doch deine Geliebte zu werden! Nun, meine Antwort weißt du im voraus.«

»Ich weiß sie«, entgegnete er mit einer Lebhaftigkeit, die sich allmählich zu schwer unterdrückter Leidenschaft steigerte, »und es ist mir nie in den Sinn gekommen, dir Derartiges zu sagen. Ich würde heute vor dich treten und dich bitten, das Vergangene zu vergessen und mir für das Leben zu gehören – wenn ich es könnte. Aber ich kann es nicht.«

Sie kannte ihn. Sie wußte, daß es ganz und gar nicht in seiner Art lag, Gefühlstöne anzuschlagen oder ihr gar etwas vorzuspiegeln, was ihm nicht reiflich überlegter Ernst war. Deshalb erschrak sie vor seinen Worten und vor der Aufwallung, die in ihnen war. Etwas von dem alten Mitgefühl, der innerlichen Zugehörigkeit zu ihm und seinen Sorgen, die sie ihm stets mit einem für ihre Jugend erstaunlichen Verständnis gezeigt hatte, erwachte in ihrer Seele.

»Würde es dir eine Erleichterung gewähren«, fragte sie, immer noch vorsichtig und gleichsam tastend, »dich, wie früher, mir gegenüber auszusprechen?«

Er hörte den alten, vertrauten Klang ihrer Stimme, der ihm einmal so wohlgetan, sah ihr Auge in zagender Erwartung auf sich gerichtet, kämpfte noch eine kurze Weile und erwiderte dann langsam und schwer:

»Es würde mir eine Erleichterung sein. Deshalb will ich dir sagen, was ich noch niemals einem Menschen gesagt habe: Mein Werk steht vor dem Zusammenbruch, vor dem völligen, unrettbaren Zusammenbruch.«

Nein, das hatte sie nicht erwartet! Albertis und alle, mit denen sie in Berührung kam, hatten ihr gesagt, wie fest Rittlands Werke jetzt, wo eine Aktiengesellschaft mit großem Kapital hinter ihnen stand, gegründet wären. Die ganze Stadt erzählte es. Und nun – –?

Aber gleichviel! Schon der Umstand, daß er es ihr mit dieser Offenheit anvertraute, ihr, wie er es früher so oft und so gern getan, sein Herz ausschüttete, trug sie über das Leid hinweg, das seine Worte in ihr ausgelöst hatten, ja, erfüllte sie mit einem stillen, unbegreiflichen Glücksgefühl.

»Und keine Möglichkeit?«

»Keine! Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, habe alles Erdenkliche unternommen und versucht – es war vergeblich. Und da –«

Er hielt inne. Widerstreitende Empfindungen wurden in ihm wach, warnten, hielten zurück, trieben dann wieder, ihr auch das Letzte zu offenbaren.

So tat er, was er sich vorgenommen hatte, nie zu tun.

»Von der Stunde an«, begann er, den Blick nicht mehr auf sie, sondern über sie hinweg in die dämmernde Tiefe des Zimmers gerichtet, »da mir der unaufhaltbare Verfall meines Werkes zu unwiderleglicher Klarheit wurde – ach, es war ja schon viel früher, als irgendeiner ahnte – griff ich zu einem letzten verzweifelten Mittel. Erst war es mehr Übermut, eine lustige Laune, die mich reizte, mit der Leichtgläubigkeit der Menschen zu spielen. Dann wurde es Notwendigkeit, mir das Geld zu schaffen, das ich wenigstens zur scheinbaren Aufrechterhaltung meines Betriebes brauchte. Aber es ist ein gewagtes Mittel. Bis jetzt steht die Sache günstig, morgen schon kann es anders sein. Schlägt sie fehl, so bleibt mir nur eins: die Flucht. Ein Schwächling würde sagen: die Kugel. Und jetzt, nicht wahr, jetzt verstehst du, daß ich dein Schicksal nicht mehr an das meine binden kann.«

»Und wenn ich mit dir ginge? Ins Ausland? In den Tod?«

Da war sie hervorgebrochen unaufhaltsam, flammend, elementar, die alte, leidenschaftliche Liebe, die sie hatte unterdrücken wollen mit der ganzen ihr innewohnenden Kraft ... in der Kunst, in der Abwendung von ihm, in der Zuneigung zu einem andern – und die sie nicht hatte unterdrücken können, die in dieser Sekunde alles, was sie eben noch gedacht, geplant, für ihre Zukunft erwogen hatte, über den Haufen warf, sie nichts fühlen, nichts wünschen ließ als ihn und seine Liebe.

Einen Augenblick saß er, von dieser unerwarteten Offenbarung ihres innersten Empfindens wunderbar berührt, in erschüttertem Schweigen ihr gegenüber.

Dann stand er auf, legte ihr die Hand auf die Schulter, väterlich begütigend, als wollte er sie vor Schwerem bewahren. In dem nächsten Augenblick aber hatte er auch den anderen Arm um sie geschlungen, sie an seine Brust gezogen, ihre Hände, ihre Stirn, ihre schwellenden Lippen in heißer Glut geküßt und immer wieder geküßt.

Dann aber war auch das vorüber. Er war zu sich selber zurückgekehrt, war wieder der ruhig wägende, seiner Stärke bewußte Mann geworden.

»Was du mir da eben gesagt«, erwiderte er, zuerst leise, ihr die Worte gleichsam ins Ohr flüsternd, »das werde ich dir nie vergessen. Aber dem Himmel sei Dank! Noch ist es nicht so weit! Und wird gewiß auch nie so weit kommen. Doch das ist gleich. Du hast meinen gebrochenen Mut neu belebt, hast mich wieder zum Manne gemacht. Nun mag geschehen, was da will! Noch halte ich die Karten in der Hand und werde sie mir nicht so leicht entreißen lassen.«

Und dann: »Man sagt von mir, ich wäre schlecht ... manchmal glaube ich es selber. Der Gottesmann, der alte Meister Helferding, ich weiß es wohl, behauptet, ich stünde mit dem Teufel im Bunde. Auch das mag sein. Aber wenn ich dich ansehe und du so zu mir sprichst, dann fühle ich, daß ich wieder stark, vielleicht auch gut, wenn auch nur in meinem Sinne, werden kann, trotz alledem, was jetzt geschehen – und vielleicht noch geschehen wird.«

Schon, was er ihr vorhin gesagt, hatte sie erschreckt. Vollends bei diesen Worten stutzte sie. Aber sie tat keine Frage. Sie fühlte in erschauernder Ahnung, wie sich in diesem außerordentlichen Manne Schuld und Schicksal, Anlage und Tat in unabänderlicher Notwendigkeit verknüpften. Deshalb schwieg sie.

»Kein Mensch«, fuhr er mit fast philosophischer Ruhe fort, »weiß, was ihm bevorsteht, wie sich das, was er wohlüberlegt mit seinen Händen ausstreut, im Schoße eines unberechenbaren Verhängnisses auswirken wird. Vielleicht wird alles gut, dann ist uns der Weg vorgezeichnet. Wenn nicht, so muß ich ihn allein gehen –«

»Ich bleibe bei dir«, unterbrach sie ihn, völlig gefestigt und in einer Zuversicht der Liebe, die etwas Ergreifendes hatte. »Schließlich findet eine Kunst wie die meine überall Wege, sei es hier, sei es in einem fremden Lande. Und wenn es mit deinem Werke nicht mehr geht«, fügte sie scherzend hinzu, »nun, dann ersinge ich uns das Leben, und du hast dein Kapital wenigstens gut angelegt.«

»Und ich scheue mich nicht, dein Opfer anzunehmen.«

Da lächelte sie ihn unter Tränen an.

»Opfer – sagst du? Dachtest du, ich würde je vergessen, was du für mich getan? Daß ich, was ich bin, nur dir verdanke? Verstehst du jetzt, wie glücklich es mich machen müßte, dir auch einmal einen Liebesdienst erweisen zu dürfen?«

Seltsam, daß sie in diesem Augenblick kaum noch daran dachte, was alles er ihr in dieser kurzen Stunde bekannt hatte. Aber die Liebe kennt keine Vergehungen und Verirrungen, kennt nicht einmal Geben und Vergeben. Sie liebt! Das ist alles.

»Ich schreibe sofort an den Intendanten, daß er meinen Vertrag mit Danzig lösen soll. Die Mittel hat er bereits in Händen. So wird es wohl werden.«

»Auch ich habe meine Maßnahmen getroffen«, entgegnete er, »habe an Übinger, obwohl ich ihn heute abend zurückerwarten konnte, ein dringendes Telegramm gesandt. Ich brauche ihm nicht viel zu sagen. Er weiß alles, wenn er es mich auch nicht merken läßt.«

Als Klaus Rittland wenige Minuten später die Treppe hinabschritt, begegnete ihm auf dem letzten Absatz ein junger Mann, der sie mit eilendem Fuß hinaufflog.

Nur eine kurze Sekunde sahen sich die beiden ins Antlitz, grüßten sich höflich und stumm, gingen aneinander vorüber.

Aber die dunkle Glut, die in diesen großen Augen aufstieg, mit einem kurzen Blick zu ihm hinüberloderte, war Klaus Rittland nicht entgangen.

»Der Bettelheim hat nur zu recht gesehen«, murmelte er vor sich hin, indem er seinen draußen wartenden Wagen bestieg. »Ich muß vor ihm auf meiner Hut sein!«

*

»Berliner Nachtausgabe! Sensationelle Enthüllungen! Ungeheure Fälschungen!«

So tönte es in langgezogenen, immer wiederholten Rufen durch die Vorhalle des Braunschweiger Bahnhofs, als Gerta Rittland und Jobst Übinger mit einer bedeutenden Zugverspätung abends gegen zehn Uhr dort eintrafen.

Seinen Vorsatz, gleich zu seinem Chef zu gehen, konnte er nicht mehr ausführen. So nahm er eine Taxe, geleitete seine Reisegenossin nach Hause und begab sich dann selbst in seine stille Junggesellenwohnung.

Hier fand er unter anderen Postsachen eine Einladung zu einer Treibjagd am nächsten Dienstag nach Wulfshöfen, Friedrich Makers Landgut, das an Rittlands Jagdrevier angrenzte und auf dem er einige Male mit diesem gewesen war.

Da sie bereits mehrere Tage gelegen hatte, beantwortete er sie mit sofortiger Zusage, setzte sich dann in einen alten Lehnstuhl, den er noch von Danzig mitgebracht hatte, und nahm die Berliner Zeitung in die Hand, die er sich auf dem Bahnhof gekauft hatte.

Sofort fiel sein Blick auf eine gleich auf dem ersten Blatt mit fetten Buchstaben gedruckte Nachricht.

»Sensationelle Enthüllungen! Ungeheure Fälschungen!« hieß die Überschrift, genau so, wie sie eben die Händler in der Vorhalle ausgerufen hatten. Und er las:

»Erst vor einigen Tagen berichteten wir an dieser Stelle über aufsehenerregende Entdeckungen von Plastiken alter toskanischer Meister aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Dem durch seine kunstgeschichtlichen Forschungen bekanntgewordenen Professor Baptista Varena in Rom sollte es gelungen sein, drei Bronzestatuen als Werke Donatellos, Andrea Verrochios und Mino da Fisoles einwandfrei festzustellen.

Wie uns unser dl.-Mitarbeiter in Florenz mitteilt, sollen neuerdings Zweifel an der Echtheit dieser Werke entstanden sein. Bestätigen sie sich, was freilich keineswegs feststeht, so würde es sich hier um eine mit unglaublicher Kühnheit in Szene gesetzte Fälschung handeln, die mit so geschickter und sorgfältiger Nachahmung des Stils der alten Meister durchgeführt wurde, daß es begreiflich erscheint, daß auch die erprobtesten Kenner durch sie irregeführt wurden.

Weiter meldet ›Corriere della Sella‹, auf welche Weise es dem Florenzischen Antiquitätenhändler gelang, seinen Käufern die Echtheit der Werke glaubhaft zu machen. Von Anfang an hat er erklärt, daß es ihm aus besonderen Gründen unmöglich wäre, die historische Herkunft der angebotenen Statuen nachzuweisen, da sie von den heimlichen Ausgrabungen einer verschütteten Abtei in der Nähe von Monte Aniato stammten. In diese Abtei seien die Werke während des Baues des herrlichen Domes von Sinaia gekommen, an dessen Ausstattung wirkliche Künstler der Renaissance mitwirkten. Später habe ein Erdbeben die einsame Abtei zerstört und begraben. Erst in jüngster Zeit habe ein Geistlicher bei seinen Studien in einer Klosterbibliothek die Geschichte und den Plan der Abtei sowie ein Verzeichnis ihrer Kostbarkeiten entdeckt.

In aller Stille habe er nun Ausgrabungen vornehmen lassen, damit die Regierung und die Sammler keine Kenntnis davon erhielten, vorzüglich, um die Kunstschätze zum Wohl der Kirche für einen schönen Erlös ins Ausland verkaufen zu können.

Hierzu erfährt wiederum unser dl.-Mitarbeiter, daß neuerdings Vermutungen laut werden, nach denen die drei Skulpturen gar nicht in Italien, sondern in Deutschland angefertigt wurden und von dort nach sorgfältigster Bearbeitung, bei der man auch künstliche, wiederum sehr geschickte, ja, raffinierte Verstümmelungen nicht unterließ, nach Florenz in die besagte Kunsthandlung des Benedetto Angliano überführt wurden, der dann mit der den Italienern in dieser Kunst eigenen Geschicklichkeit die letzte Hand an ihre antike Zurechtstutzung gelegt hätte.

Das alles sind lediglich Gerüchte, die wir mit um so größerem Vorbehalte wiedergeben, als von anderen Fachkennern mit großer Entschiedenheit an der Echtheit der Figuren festgehalten wird.«

Mehrere Male las er den seltsamen Bericht. Gedanken tauchten in ihm auf, die ihm selber unerklärlich waren und die doch immer zu demselben Punkt zurückkehrten, von dem sie ausgegangen waren.

Schließlich wies er sie von sich, begab sich zur Ruhe und schlief einen langen, traumlosen Schlaf.

*

Als Jobst Übinger am nächsten Morgen im Werke eintraf und sich in einer Spannung, deren er nicht Herr zu werden vermochte, in Rittlands Privatkontor begab, hörte er von Fräulein Steinmich, daß der Herr in sein Jagdgebiet gefahren wäre, jedoch in einer Stunde zurückerwartet würde.

So suchte er sein eigenes Zimmer auf, um die inzwischen zahlreich eingegangene Post zu sichten.

Da trat Dietrich Rockert bei ihm ein.

Auf den ersten Blick sah er, daß diesem etwas zugestoßen sein mußte. Denn über sein sonst so zuversichtlich keckes Auge breitete sich ein Schleier, und sein junges Gesicht zeigte den Ausdruck einer gewissen leidvollen Verlegenheit.

»Man kann dich beglückwünschen«, begrüßte er den Freund, »daß du dir gerade diese Tage zu deiner gewiß sehr schönen Harzreise ausgesucht hast und auf diese Weise fern vom Schuß geblieben bist. Denn hier hättest du wenig Freude gehabt.«

»Was in aller Welt ist denn geschehen? Der Rittland schickt mir ein dringendes Telegramm, daß ich unter allen Umständen gestern abend hier sein müßte, obwohl er wissen konnte, daß ich meinen Urlaub nicht überschreiten würde, und du empfängst mich mit Reden, die auch nicht das Beste vermuten lassen.«

»Was geschehen ist, das kann ich dir nicht sagen. Denn mich hat man nicht ins Vertrauen gezogen, obwohl ich jetzt wahrhaftig ein Anrecht darauf hätte. Aber es war eine Unruhe im Betrieb, ein Druck, der auf allem lastete, was man unternahm. Die Arbeiter sind unzufrieden und lehnen sich gegen die immer zahlreicher und plötzlicher auftretenden Entlassungen auf, die doch niemand verhindern kann. Auch mit den Lohnzahlungen hapert es, und wenn sich nicht gestern erst einige einflußreiche Berliner Herren für sie eingesetzt hätten, so wäre es sicher zu Ausschreitungen gekommen. Am liebsten würden sie in einen Streik eintreten, wenn sie nicht wüßten, daß sie dem Rittland damit den größten Gefallen täten. Die Meister und die Beamten murren und machen im stillen mit ihnen gemeinsame Sache. Aber was hilft es ihnen? Sie können ja doch nichts unternehmen und werden froh sein, solange sie ihr Brot noch haben.«

»Und bei alledem fährt er auf die Jagd?«

»Er kam heute aufgeräumt und ganz anders als in den letzten Tagen in den Betrieb, sah die notwendigsten Briefe durch, pfiff ein Liedchen und erklärte dann, obwohl alles mögliche für ihn vorlag, er würde noch auf sein Jagdrevier hinübermachen.«

»Dann wird es so schlimm nicht sein!«

»Doch! Das hat damit wohl nichts zu tun. Seit gestern ist diese seltsame Veränderung mit ihm vorgegangen.«

»Ich werde ihn selber fragen.«

»Es wird dir wenig nützen. Jedenfalls habe ich mein Vermögen verloren. Wäre ich damals dir gefolgt!«

»Wir müssen sehen, was noch zu retten ist.«

»Viel wird es nicht sein. Die Aktien fallen mit jedem Tage rapide, sind heute vielleicht schon wertlos. Auch du wirst dich nach etwas Neuem umsehen müssen.«

»Ja, das werde ich müssen.«

Es war das erstemal, daß ihm dieser Gedanke kam, und es geschah nur, weil ihn der andere angeregt hatte.

Wunderbar, inmitten all der dunklen Befürchtungen, die ihn gestern während der langen Rückfahrt heimgesucht hatten, auch während dieser ganzen Unterredung hatte er sich weder um sich Sorge gemacht noch um seinen Freund, so nahe ihm dessen harter Verlust auch ging. Nur an eine hatte er fortwährend denken müssen, die er eben noch auf der Höhe ihres Selbstgefühls gesehen, die auf den Vater und sein Werk baute wie auf einen Felsen. Wie würde sie dessen Niedergang, wie den eigenen Sturz vertragen, der sie, wenn Dietrich Rockert recht behielt, über Nacht in eine Erniedrigung hinunterstieß, die ihr nach ihrer Anlage und Natur unüberwindlich sein mußte?!

Und als hätte der andere seine Gedanken erraten oder sich den gleichen hingegeben, fuhr er fort:

»Dem Alten wird es nicht viel ausmachen. Der hat seine Eisen in vielen Feuern. Aber seine Tochter!«

»Immer noch die alte Liebe?« suchte Jobst Übinger zu scherzen, so ernst es ihm in Wirklichkeit zumute war. Aber nur jetzt nicht den Kopf verlieren, und, was das gleiche war: den Humor!

»Du kannst beruhigt sein. Ich weiß, was ich an Musa besitze, habe es im Grunde immer gewußt. Und sowie ich mir etwas Annehmbares geschaffen habe, lade ich dich zur Hochzeit ein.«

»Zu der ich kommen werde, und wenn ich inzwischen bis Australien verschlagen sein sollte.«

»Australien ist nicht schlecht. Ich habe auch daran gedacht, werde aber noch einige Erkundigungen einziehen.«

Klaus Rittland stand zwischen ihnen.

»Dann bauen wir dort ein neues Werk auf, und Sie werden mein Teilhaber.«

Er hatte die Mütze auf den Tisch geworfen, die Flinte abgeschultert. Sein Gesicht, von dem Aufenthalt in der freien Luft frisch gerötet, zeigte nicht die leiseste Spur irgendwelcher Sorgen. Über der energischen Nase und den dicht zusammengewachsenen Brauen leuchtete die eiserne Stirn in unumwölkter Helle.

»Ich freue mich, Herrn Rittland in so vorzüglicher Laune wiederzusehen!« konnte sich Jobst Übinger nicht enthalten, zu entgegnen.

»Das einzige, Verehrtester, was den Mann ausmacht, ist wohl, daß er sich nicht unterkriegen läßt. Dies ist doch erst der Anfang, und wenn ich da gleich schlapp machte – ja, was sollte dann am Ende geschehen?«

War es eine Ahnung, die aus ihm sprach? Fühlte er, was ihm noch bevorstand? Nichts von alledem.

»Ich war bei meinem Nachbar, dem Wulfshöfer«, fuhr er in aufgeräumter Heiterkeit fort, als gäbe es jetzt nichts anderes zu verhandeln oder zu besprechen. »Er hatte mich zu sich gebeten, um noch einige Vorbereitungen für seine Jagd zu treffen. Es wird ein lustiges Treiben werden. Er hat einen für diesen Winter kapitalen Wildbestand, mehr Hasen, als ich und die ganze Umgegend zusammengenommen, wozu freilich nicht viel gehört. Deshalb hat er auch eine stattliche Anzahl von Schützen geladen. Die beiden Herren wohl auch, nicht wahr? Und den jungen Alberti –«

Es war das erstemal, daß er mitten im Satze stockte. Und es geschah, als er diesen Namen aussprach.

»Und es wird keine Kaffeejagd sein, wie sie in dieser elendesten aller Zeiten an der Tagesordnung sind. Sondern eine mit dem althergebrachten Weidmannsimbiß. Die Damen sollen nachkommen. Auch meine Tochter und Ihr Fräulein Braut. Am liebsten hätte er gleich eine Weinprobe mit mir gemacht. Aber dazu hatte ich nun wirklich nicht Zeit. Und er besorgt sie allein auch gründlicher und besser.«

Ein Bote trat ein, überbrachte einen eben eingetroffenen Eilbrief.

Er warf einen kurzen Blick auf den Poststempel und die Anschrift, erbrach ihn dann.

Ein Zeitungsausschnitt entglitt ihm, fiel zu Boden.

Er hob ihn auf, überflog ihn, steckte die Hülle und ihren Inhalt sorgfältig in die Brusttasche, nahm Mütze und Flinte.

»Ich muß sofort in die Stadt zurück; Sie, Herr Übinger, möchte ich bitten, sich in mein Privatkontor zu bemühen. Es liegen eine Menge Briefe für Sie bereit, die erledigt werden müssen. Gegen Abend hoffe ich, zurückkommen zu können. Ich bitte Sie, mich auf jeden Fall zu erwarten.«

*

Ein längerer Gang, den Jobst Übinger durch das Werk antrat, bestätigte ihm alles, was Dietrich Rockert ihm gesagt: ein Druck lag über dem ganzen Werk, der etwas Beängstigendes hatte. Die Leute zeigten verdrossene Gesichter, grüßten ihn auch nicht mehr mit der Freundlichkeit, mit der sie es früher getan hatten.

»Jetzt werden wir alle bald ausgespielt haben«, meinte John Helferding, der ihm mit seinem lahmen Fuß entgegen gehumpelt kam, als er die Säureabteilung betrat. »Aber dann is auch mit ihm aus. Nu, mir kann's recht sein. Denn dann is der Jüngste Tag da. Und er wird ihm stehn müssen. Denn, wie ich Ihnen damals ja sagte: Er is der große Widersacher, von dem geschrieben is.« –

In der Kantine nahm er einen kurzen Imbiß ein.

An einem Tisch saßen einige Arbeiter, die ein Glas Bier tranken, aus kurzen Pfeifen qualmten, heftig aufeinander einredeten, ihr Gespräch aber sofort abbrachen, als sie seiner gewahr wurden.

Nein, es war kein Vergnügen mehr, durch das Werk zu gehen!

Er begab sich in Klaus Rittlands Privatkontor, musterte die in Haufen liegende Post durch, erledigte einige der wichtigsten Schreiben, fragte sich aber auch bei ihnen, wozu er es eigentlich noch täte.

Inzwischen war es Abend geworden. Die aufsteigende Dunkelheit dämmerte durch die Fenster. Aber drüben von den Dächern her leuchtete der Schnee, brachte ein blasses Licht, das sich fahl und schwer auf die Gegenstände legte, ihnen Farbe und Gestalt nahm.

Er schaltete das Licht ein. Um ihn her war es still. Die Beamten und Angestellten waren schon gegangen. Auch Agathe Steinmich, die sonst immer zu Klaus Rittlands Bereitschaft sein mußte, war für den heutigen Abend von ihm beurlaubt worden. Es schien, als wollte er mit seinem Betriebsleiter allein und ungestört bleiben.

Draußen sang ein leiser Wind, nahm allmählich an Stärke zu, pfiff und ächzte um das aus Fachwerk gebaute Haus. Ab und zu schlug ein Hund an, der mit seinem Wächter die Runde machte.

Er arbeitete nicht mehr. Den Kopf in beide Hände gestützt, blickte er taten- und gedankenlos vor sich hin.

Das also war das Ende! Das Ende eines einmal so stolz aufgeführten, mit so unermüdlicher Schaffenskraft getriebenen Werkes!

Mit einemmal horchte er auf. Ein Schritt tappte über den länglichen Flur, der zu Klaus Rittlands Privatkontor führte, machte ab und zu halt, bewegte sich dann weiter. Hart und schnell klopfte es an die Tür und, ehe er ein »Herein« rufen konnte, stand Gabriel Alberti vor ihm, stutzte, als er seiner ansichtig wurde, wollte sich zurückziehen, trat dann aber näher.

»Verzeihen Sie! Ich vermutete Herrn Rittland hier. Und da ich niemand fand, der mich anmeldete –«

Jobst Übinger sah die Spuren einer heftigen Bewegung auf den Zügen, in dem ganzen Gebaren des jungen Menschen, sah, wie er sich alle Mühe gab, sie in seinen Worten zu verbergen.

»Herrn Rittland werden Sie heute nicht mehr antreffen«, erwiderte er, »er ist in die Stadt gefahren. Aber da ich zu seiner Vertretung hier bin, können Sie mir vielleicht sagen –«

»Ich bedauere, es nicht zu können. Ich muß Herrn Rittland selber sprechen, muß ihn unter allen Umständen heute abend noch sprechen.«

Es kam so bestimmt, so fordernd heraus, die Glut in den großen dunkeln Augen züngelte so hell zu ihm hinüber – es war ihm doch angenehm, daß er aus einem unbestimmten Gefühl heraus Rittlands Rückkehr in das Werk verschwiegen hatte.

»Ich möchte Sie bitten, lieber Herr Alberti«, sagte er mit der wohlwollenden Verbindlichkeit des Älteren dem Jüngeren gegenüber, »erst einmal Platz zu nehmen. Vielleicht darf ich Ihnen auch noch eine Zigarette anbieten. Sie hat immer etwas Beruhigendes ... wenigstens für mich.«

Im stillen aber konnte er einer seltsamen Empfindung nicht Herr werden. Und nur der eine Gedanke beseelte ihn, sobald wie möglich von seinem unerwarteten Gast befreit zu werden, damit nur Rittland nicht käme und mit ihm zusammenträfe.

So saßen die beiden zusammen, sprachen wenig oder nur das Herkömmliche, und Jobst Übinger merkte bald, daß die Zurückhaltung, die er dem anderen gegenüber stets bewahrt, nun auf diesen übergegangen war und er nichts aus ihm herausbringen würde, so manchen versteckten Anlauf er dazu auch nahm.

Und verschlossen wie sein Mund war auch seine Miene, auf der etwas Finsteres brütete.

Seltsam! Mit einem Male mußte er an das Versprechen denken, das er am Silvesterabend Rittlands Tochter gegeben hatte: ihren Vater zu schützen, wenn er einmal in Gefahr sein sollte. Und seine Besorgtheit wurde zur Furcht: Wenn er nur nicht kommen wollte! Nur jetzt nicht!

Und ohne daß er es recht wußte und wollte, hatte er seinem Gegenüber mit einer gewissen väterlichen Vertraulichkeit die Hand auf das Knie gelegt, ihn mit seinen klaren, ruhigen Augen angesehen, und in fast freundschaftlichem Tone ihn gefragt:

»Wollen Sie mir nicht sagen, Herr Alberti, was Sie gegen den Rittland haben? Denn daß Sie nicht mit freundlicher Gesinnung zu ihm kommen, das zu erkennen, bedarf es keines Scharfblicks. Vielleicht kann ich vermittelnd eingreifen, vielleicht manches aufklären und noch zum Guten wenden.«

Eine Sekunde war es, als brächten diese Worte, die ganze überlegene Art des gereiften Mannes den Jüngeren ins Wanken. Er begegnete den ernst und fest auf ihn gerichteten Blicken mit einer spürbaren Unsicherheit, schien zu zögern, sich zu besinnen, etwas sagen zu wollen.

Dann aber zuckte der nachdenklich gesenkte Kopf mit einer auftrotzenden Gebärde in die Höhe. Die schlanke, nervöse Hand strich genau so, wie es der Vater zu tun pflegte, eine herabfallende Strähne des dunklen Haares aus der Stirn, und um die blassen Lippen lief ein verhaltenes Zucken.

»Nein, das kann ich nicht. Ich kann Sie, Herr Übinger, als Vermittler nicht annehmen. Sie haben mir ja nie geholfen, auch wenn ich es vielleicht einmal gern gewollt hätte. Was ich heute mit Herrn Rittland zu besprechen habe, das kann ich nur mit ihm allein abmachen.«

Da erkannte Jobst Übinger den ganzen Ernst der Lage.

In demselben Augenblick ertönte draußen die Hupe eines Wagens, der unmittelbar vor dem Hause haltmachte.

Sofort erhob er sich, ging ohne das leiseste Zeichen einer Erregung, aber doch schnell und entschlossen der Tür zu.

Es war zu spät. Klaus Rittland trat in das Zimmer.

»Sie haben Besuch, und ich störe wohl?«

Er sagte es ohne die leiseste Überraschung, näherte sich dem jungen Alberti, den er auf den ersten Blick erkannt hatte:

»Ah – Herr Alberti! Wünschen die Herren allein zu bleiben? Dann steht Ihnen das Beratungszimmer nebenan gern zur Verfügung. Ich werde hier genug Beschäftigung finden.«

»Ich bin nicht Herrn Übingers wegen gekommen«, erwiderte Gabriel Alberti und nahm zögernd und widerwillig die Hand, die ihm Rittland zum Gruße gereicht hatte. »Ich möchte Sie, Herr Rittland, sprechen. Und zwar allein.«

»Auch gut. Ich stehe sogleich zur Verfügung. Nicht wahr, lieber Herr Übinger, dann begeben Sie sich inzwischen auf Ihr Zimmer. Sowie wir fertig sind, rufe ich Sie oder komme zu Ihnen.«

Jobst Übinger rührte sich nicht von der Stelle.

»Ich möchte bitten, mich der Unterredung beiwohnen zu lassen«, sagte er kurz und bestimmt.

Voller Erstaunen sah ihn Klaus Rittland an.

»Sie hörten doch, daß Herr Alberti mich allein zu sprechen wünscht.«

»Dennoch muß ich auf meiner Bitte beharren.«

»So kommt es darauf an, wie sich Herr Alberti zu ihr stellt.«

»Ich bedauere, Herrn Übingers Vorschlag nicht annehmen zu können.«

»Nun, dann ist die Angelegenheit wohl erledigt.«

Langsam erhob sich Jobst Übinger, schloß langsam die Tür.

Nun waren die beiden allein.

Klaus Rittland war an seinen Schreibtisch getreten, hatte die dort liegenden Schreiben schnell durchmustert, eins oder das andere wohl auch in die Hand genommen.

»Darf ich jetzt wissen, in welcher Angelegenheit –?« wandte er sich dann zu seinem Besucher, ohne ihn anzusehen.

»Wenn Sie dies hier lesen wollten, so würden Sie mich jedes unnötigen Wortes entheben.«

Er entnahm seiner Aktenmappe eine Zeitung, legte sie vor Klaus Rittland auf den Tisch.

Der ließ das Auge flüchtig über sie dahingleiten, reichte sie dann zurück.

»Sie bringen mir nichts Neues. Ich habe diesen Bericht bereits heute morgen gelesen.«

»So wissen Sie auch –?«

»Nichts weiß ich. Vor allem nicht, wie gerade er den Anlaß Ihres Besuches bilden soll.«

»Dann will ich es Ihnen sagen: Die hier erwähnten Vermutungen bestehen zu Recht. Die gefälschten Werke der toskanischen Meister sind die Skulpturen meines Vaters. Und der Fälscher sind Sie.«

»Und woraus schließen Sie das?«

Jetzt war es um Gabriel Albertis mühsam gewahrte Fassung geschehen. Er hatte geglaubt, der andere würde in die Höhe fahren, ihn beim Schopfe packen, ihn für toll erklären, aus seinem Zimmer weisen.

Und nun nichts von alledem, nichts als diese mit Gleichmut gestellte Frage.

»Ich meine«, hörte er ihn in demselben Gleichmut weitersprechen, »wenn man einen so schwerwiegenden Verdacht äußert, dann muß man ihn mit irgendwelchen Gründen stützen, muß Beweise für ihn in der Hand haben.«

»Die habe ich.«

»Also bitte!«

»Es wird Ihnen bekannt geworden sein, daß ich eines Abends – ich hatte mit Ihrem Fräulein Tochter Ihre Werke besichtigt – gerade dazukam, als man die Ariadne meines Vaters, die längst wer weiß wohin verkauft sein sollte, aus einem Waggon hob, um sie in einer Vorhalle Ihrer Fabrik aufzustellen –«

»Ganz recht. Sie war in Berlin nicht vorschriftsmäßig verpackt, erlitt in dem engen Waggon eine Beschädigung – doch ich habe das bereits Ihrem Vater auseinandergesetzt und sehe keinen Anlaß, es Ihnen zu wiederholen. Ich hoffe, daß Ihr weiteres Beweismaterial stichhaltiger sein wird.«

»Das wird es sein.«

»Dann darf ich es wohl hören.«

»Dieser Abend und seine seltsame Entdeckung hatten meinen Argwohn erregt. Ich ruhte nicht –«

»Bis Sie sich eines Abends wie der Dieb in der Nacht in meine wohlverwahrten Fabrikräume einschlichen, meine Frachtbriefe, Zolldeklarationen, Konnossemente und was sonst da transportfähig lag, in unverschämter Weise durchstöberten und daraus Schlüsse zogen, die Sie mir jetzt mit fadenscheiniger Weisheit vortragen wollten. Sie glaubten, ich hätte Sie nicht gesehen, als Sie sich bei meiner unerwarteten Ankunft wie ein ertappter Schuljunge im Dunkel der Nacht davonmachten. Ich habe Sie wohl gesehen. Und nur die Rücksicht auf Ihren Vater, der mir nahesteht, hielt mich ab, Ihnen in Gegenwart meiner Leute –«

Er konnte nicht zu Ende sprechen. In den dunklen Augen ihm gegenüber flammte es auf, zündete zu ihm hinüber, ein Blitz, so voll von verwundeter Scham und zugleich tödlichen Hasses, daß er jetzt doch ein wenig erschreckt zu seiner bisher bewahrten Ruhe zurück sich fand und mit kühl sachlichem Tone fortfuhr:

»Und was wollen Sie jetzt? Mir klarmachen, daß die Anschrift und der Name, die Sie auf diesen Begleitschriften lasen und sich wohlweislich notiert haben, mit denen des Händlers in Florenz übereinstimmen, den man jetzt der Fälschung beschuldigt? Sie werden zugeben, daß das ein stichhaltiger Beweis gegen mich nicht ist. Und selbst, wenn er ein solcher wäre, was wollen Sie mit ihm anfangen? So sagen Sie doch!«

Gabriel Alberti war keines Wortes mehr fähig. Nur ein heißes Zucken lief über seinen jungen Mund.

»Gut«, fuhr Klaus Rittland mit unverändertem Gleichmut fort, »gehen Sie hin und zeigen Sie mich an! Was gewinnen Sie? Daß man sich an Ihren Vater als den Schöpfer dieser Kunstwerke halten, ihn der Mitwisserschaft beschuldigen wird.«

Da öffneten sich die verschlossenen Lippen.

»Mein Vater darf nie das geringste von alledem erfahren«, stieß er stockend und doch entschieden hervor. »Es würde sein Tod sein! Und eins ist es, was ich von Ihnen verlange –«

»Und das wäre?«

»Daß Sie freimütig die Schuld allein auf sich nehmen!«

»Bevor sie erwiesen ist? Ich denke nicht daran.«

Und dann nach einer kurzen Pause: »Und selbst wenn ich es täte – sollten Sie so harmlos sein, anzunehmen, man würde mir glauben, daß er, der Schöpfer dieser Werke, der ganzen Angelegenheit schuld- und wissenlos gegenüberstände? Immer würde der Verdacht an ihm hängenbleiben, und mein törichtes Bekenntnis würde ihn nur vergrößern.«

»So haben Sie meinen Vater zugrunde gerichtet!«

Da lachte Klaus Rittland hellauf.

»Ich habe Ihren Vater zugrunde gerichtet? Emporgehoben habe ich ihn aus der Niedrigkeit eines unbeachteten und nutzlosen Künstlertums, ihm Brot, ja Vermögen für seine Familie geschafft, die dem Hungern nahe war. Was tat ich denn? Und wem habe ich ein Leid oder Schaden zugefügt? Ihr Vater ist ein großer Künstler, in dieser Zeit geboren, jedoch in seinem eigentlichen Sein aus der Antike stammend. Aus ihr heraus schuf er Werke, die der alten Meister würdig gewesen wären. Seine ganze Seele, sein tiefes Empfinden pflanzte er in sie hinein, sein Herzblut gab er ihnen. Die urteilslose Menge aber verachtete und verlachte ihn und seine Werke.

Da schuf ich ihnen mit einem einfachen chemischen Präparat die richtige Oxydation, mit ein bißchen Retusche die künstliche Patina, die archaisierende Verschwommenheit, gab ihnen durch ein paar Verstümmelungen die antike Wirkung.

Und was geschah?

Dieselbe Menge, die den wirklichen Künstler elend am Wege hätte sterben lassen, hob ihn als den Meister des Altertums auf den Schild, nannte ihn einen Donatello, einen Lucca della Robbia, einen Verruchio und was weiß ich, beugte sich vor dem Götzen des Namens, bezahlte ihn mit phantastischen Summen. Die Galerien von ganz Europa rissen sich um ihn. Bis Amerika wanderten seine Werke.

Ich aber lache über diese Welt, wie ich über Sie lache, mein junger Herr, der Sie mir sagen, ich hätte Ihren Vater zugrunde gerichtet.«

»Wenn er hinter diesen Betrug kommt, ist er vernichtet«, entschied Gabriel Alberti unbeirrt. »Sein Künstlerstolz würde es nie überwinden.«

»Sein Künstlerstolz!« höhnte Klaus Rittland. »Mit einem Donatello und Moni da Fisole auf gleiche Stufe gestellt zu werden!

Und nun hören Sie mein letztes Wort: Sowie Sie den leisesten Versuch unternehmen sollten, Ihre auf Schleichwegen gemachte Entdeckung gegen mich auszuspielen, gehe ich zu Ihrem Vater –«

»Das also ist die Liebe, die Sie ihm geheuchelt haben, Ihr Leben lang, und an die er glaubt wie ein Kind? Nein, das werden Sie nicht tun!«

»Wenn ich es für richtig befinde, wer wird mich hindern?«

»Ich!« kam es fest und entschieden zurück.

»Dann hätten wir uns wohl nichts mehr zu sagen.«

Die Hand, die er ihm reichte, sah Gabriel Alberti nicht. Ohne Wort und ohne Gruß verließ er das Zimmer.

Aber als er draußen ins Freie trat und die frische Luft sein brennendes Antlitz umwehte, war es ihm klar und gewiß, daß Klaus Rittland niemals seinen Vater zum Mitwisser seiner unerhörten Tat machen sollte. Und nichts fühlte er in sich als den aus dieser Unterredung nur unbezähmbarer hervorgewachsenen Haß gegen den Mann, der seine Ehre gekränkt, ihm die Frau geraubt, die er liebte, und der entschlossen war, nun auch seinen Vater unglücklich zu machen.

* * *

 


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