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Jobst Übinger hatte die Sängerin nach Hause gebracht. Er war gar nicht müde, hatte nicht die geringste Lust, nach den verschiedenen Eindrücken dieses Abends, die in ihm fortklangen, auf seine einsame Junggesellenbude zurückzukehren.

Am liebsten wäre er mit dem netten Menschenkinde hinaufgegangen, hätte eine Tasse Kaffee bei ihr getrunken, eine Stunde bei ihr gesessen.

Aber das, so harmlos und unbedenklich es für beide auch gewesen wäre, war etwas füglich Unmögliches, an das man gar nicht denken, geschweige es aussprechen durfte.

So blieb ihm nichts übrig, als ihr ritterlich die schwere Haustür aufzuschließen und weiter zu überlegen, was man mit dem Rest der Nacht noch anfangen konnte.

In ein Kaffeehaus gehen? Dazu verspürte er wenig Neigung, abgesehen davon, daß es in dem biederen Braunschweig derartige Einrichtungen zu so später Stunde kaum geben würde.

Da kam ihm ein Gedanke: Ins Werk wollte er! Er war lange nicht in der Nacht dort gewesen, und es war gut, wenn er sich einmal wieder zu so ungewohnter Zeit blicken lassen würde, zumal morgen die große Besichtigung war, für die noch einige Vorbereitungen zu treffen waren.

Nachdem er einige Straßen durchwandert war, fand er eine Taxe, gab dem Führer Weisung, ihn in der Richtung nach Vienenburg zu den Rittlandschen Werken zu fahren.

Der Wagen war offen, und er ließ ihn nicht schließen. Denn die Luft war weich und milde, und sein warmer Abendmantel bot ihm genügenden Schutz.

So fuhr er durch die schweigende, von der Würze und dem Duft des Frühlings durchströmte Nacht, zuerst an langen Häuserreihen vorbei, die schwarz und starr zu beiden Seiten der Straße sich reckten. Ab und zu blitzte noch ein erleuchtetes Fenster auf, sah wie ein großes, fremdes Auge in die schlummernde Finsternis hinaus.

Weiter flog der Wagen, vorüber an dunkelträumenden Gärten, die geradlinige, durch die Lichter der Laternen grell durchzuckte Landstraße entlang. Hohe, noch kahle Bäume ragten grotesk und gespenstergleich in den ernsten Abendhimmel. Ein Heer unzähliger Sterne, dann und wann von einem durchsichtig dünnen Wolkenflor durchhaucht, zog in friedlicher Majestät seine stillen Bahnen.

Mit vollen Zügen sog er die balsamische Luft und die feiernde Weihe der unvergleichlichen Nacht in sich hinein, dachte an allerlei fern und nahe liegende Dinge, fühlte sich eins mit der Erhabenheit der Natur, ihren Gestirnen und den geheimnisvoll webenden Kräften unter ihnen, empfand die ganze Nichtigkeit des kleinen Menschseins und doch eine wundervoll beruhigende Geborgenheit in den Armen einer unaufhörlich schaffenden Ewigkeit, mit der männliches Wirken und Streben zu beglückender Einheit verschmolz.

Da, als der Wagen eben eine scharfe Kurve nahm, sah er in einiger Entfernung ein Licht aufblitzen, das sich in gleicher Schnelle und Richtung fortbewegte, einige Male verschwand, dann wieder auftauchte und vor ihm wie ein Irrlicht über die in schwere Dunkelheit bahnlos sich verlierende Fläche hintanzte.

Schon bog der Wagen durch die große Toreinfahrt, die auch in der Nacht geöffnet war, hielt vor dem Verwaltungsgebäude, in dem nur einige Fenster erleuchtet waren.

Er begab sich in sein Geschäftszimmer, trat an den Schreibtisch.

Ein Stapel von Briefen lag auf ihm, die mit der Abendpost gekommen sein mochten. Obenauf ein dringendes Telegramm.

Er öffnete es. Es enthielt einen Auftrag von Wichtigkeit, über den schleunige Entscheidung getroffen werden mußte.

Gut, daß ihn ein unbestimmtes Gefühl noch hergeführt hatte!

Aber allein wollte er die Verantwortung nicht auf sich nehmen. Vielleicht war Rittland, der spät schlafen zu gehen pflegte, noch in seiner Wohnung auf, und er konnte, wenn er Anschluß erhielt, gleich seine Weisung erbitten.

Er läutete.

Max Merkel, der Buchhalter, der den Nachtdienst hatte, ein steil aufgeschossener, schmalbrüstiger Mann mit ausgeprägtem Schreibergesicht, trat über diesen unerwarteten Ruf sichtbar verwundert in das Zimmer.

»Verbinden Sie mich schleunigst mit der Privatwohnung des Herrn Rittland!«

»Herr Rittland ist nicht in seiner Wohnung.«

»Er wird dort sein. Ich komme eben von ihm.«

Einen Augenblick zögerte der Buchhalter.

»Herr Rittland ist hier im Werke«, sagte er dann langsam.

»Hier – im Werke? Jetzt – in der Nacht?«

Ein maßloses Erstaunen sprach aus Jobst Übingers Frage.

»Jawohl, Herr Direktor. Herr Rittland kam vor ein paar Minuten in seinem Wagen an.«

»Also das war das geheimnisvolle Licht, das vor mir hertanzte! Es ist gut«, erwiderte er kurz. »So werde ich gleich zu ihm gehen.«

Wieder zögerte der Buchhalter ...

»Herr Rittland ist nicht in seinem Kontor – auch nicht im Verwaltungsgebäude.«

»Wo ist er denn?«

»Ich glaube – aber ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, in seinem Privatlaboratorium. Wenigstens sah ich ihn in der Richtung dahin über das Gelände gehen.«

»So rufen Sie ihn dort an und melden mich!«

»Es gibt keine Verbindung mit dem Privatlaboratorium.«

»So schicken Sie einen Boten oder gehen Sie selber hin: ich müsse Herrn Rittland in einer unaufschiebbaren Angelegenheit sprechen.«

»Das kann ich nicht«, erwiderte der Buchhalter, jetzt nicht mehr zaudernd, sondern bestimmt und fest entschlossen.

»Weshalb nicht?«

»Weil ich es nicht darf. Herr Rittland hat allen Abteilungen des Werkes die strengste Weisung zukommen lassen, daß er, sowie er sich in sein Privatlaboratorium begeben, es wäre bei Tag oder Nacht, von niemanden und unter keinen Umständen zu sprechen wäre. Ich würde meine Stellung wagen.«

»So werde ich selber zu ihm gehen.«

Der Buchhalter wiegte den ergrauten Kopf.

»Der Herr Direktor muß eben wissen, was er tut. Wenn ich mir, als älterer Mann, einen Rat erlauben darf, so würde ich nicht gehen.«

»Sie meinen, daß auch ich meine Stellung wagen würde. Ich will es darauf ankommen lassen.«

»Wenn auch nicht Ihre Stellung –« er hielt inne, bedachte sich. »Gehen Sie nicht, Herr Direktor!« fuhr er dann in andringendem Tone fort, »ich bitte Sie!«

Jobst Übinger sah den schmalbrüstigen, ergrauten Beamten an. Ein Lächeln des Mitleids flog über seine Züge.

»Ich danke Ihnen, lieber Herr Merkel. Anderes habe ich heute nicht für Sie.«

Er steckte das Telegramm zu sich, nahm Hut und Mantel, trat nach draußen.

Die leichte Wolkenbildung am Himmel hatte zugenommen. Der Glanz der Sterne war matter geworden, und den Mond deckten dunstige Schleier, die ihn nur für kurze Zeit freigaben, um ihn dann um so dichter und undurchdringlicher zu verbergen. In die Fittiche der Nacht gehüllt lag das weite Gelände. Die Bogenlampen brannten wohl noch vereinzelt, hörten aber auf, je weiter der Weg führte. Wie hohe, schwere Schattengebilde ragten die Schuppen, die den Weg säumten, in die starrende Stille. Ab und zu erklang der Ruf eines Nachtvogels oder der Anschlag eines Hundes, der mit seinem Wächter das Gelände abschritt.

»Was er in so später Nachtstunde in dem versteckten Loch da treiben mag?«

Nicht ohne Mühe, hier und da an ein Stück Geräte oder einen Stein stoßend, tastete er durch die ständig zunehmende Finsternis.

»Und warum er sich mit solcher Unnahbarkeit und den wunderlichsten Rätseln umgibt? Um den Geheimnisvollen zu spielen? Den Wahn der abergläubischen Leute zu nähren? Oder – sollte doch etwas anderes dahinter stecken?«

Da war er bereits in die zu ebener Erde gelegene Halle der Fabrik eingetreten.

Völlige Dunkelheit umgab ihn, so daß er zuerst kaum wußte, wo er war. Dann entdeckte er hinter den hochgetürmten Bergen der Rohphosphate einen matthellen Schimmer wie von einem fernen Lichte.

Mit der Örtlichkeit gut vertraut, schaltete er die elektrische Beleuchtung ein, schritt einen engen Pfad, der zwischen den verschiedenen Ablagerungen frei gelassen war, entlang und stand vor einer versteckt in das Fachwerk eingefügten Tür, die er kaum gefunden hätte, wenn sie ihm nicht ein durch ihre Ritzen quellender dünner Lichtstrahl verraten hätte.

Eine Weile blieb er stehen, horchte auf.

Ein dumpfes Hämmern und Bohren drang an sein Ohr, hielt einige Minuten an, verstummte dann.

Jetzt klopfte er ohne jedes Besinnen an.

Lautlose Stille antwortete ihm.

Dann vernahm er den Widerhall eines Geräusches, als würden irgendwelche Gegenstände oder Werkzeuge eilig fortgeräumt.

Ein Schlüssel rasselte im Schloß. Langsam, behutsam öffnete sich die Tür, nur einen schmalen Spalt freigebend, durch den man nichts erkennen konnte als einen leeren Raum, in dessen Hintergrund die schwachen Umrisse einer lebensgroßen Statue sichtbar wurden.

»Wer stört mich hier?« fragte eine harte, unwillige Stimme.

Im langen, weißen Mantel, der nur den Stehkragen mit der sorgsam geknüpften Binde und unten die feinen Lackschuhe freigab, trat Klaus Rittland, schnell und sorgsam die Tür hinter sich zumachend, vor seinen Direktor.

»Sie sind es? Sie freilich hätte ich hier nicht vermutet, nachdem wir uns eben –«

Er führte den Satz nicht zu Ende. Ein Groll, den zu dämpfen er sich kaum Mühe gab, zitterte durch seine Worte, wuchs hörbar an:

»Ihnen, Herr Übinger, ist die strenge Weisung wohl nicht bekannt geworden, die hier jeder meiner Angestellten kennt: daß ich in diesem, mir allein vorbehaltenen Raume für niemanden zu sprechen bin.«

»Sie wurde mir eben durch den Buchhalter Merkel bekanntgegeben.«

»Und trotzdem –?«

»Freilich wußte ich nicht, daß sie auch für mich Geltung haben sollte.«

»Sie hat auch für Sie Geltung!«

»So wäre ich doch gekommen!«

»Diesmal, ja ... das nächste Mal –«

»Werde ich auch kommen, wenn ein unaufschiebbarer Anlaß mich zwingt wie heute.«

Da stieg das Blut in Klaus Rittlands eiserne Stirn.

»So werde ich Maßnahmen treffen –« Und dann in einer Heftigkeit, die sein oft erprobter Wille nicht mehr zu zügeln vermochte: »Ob es klug von Ihnen war, mich in dieser Weise herausfordern, das muß ich Ihnen überlassen. Aber einen Rat gebe ich Ihnen heute: Zwingen Sie mich nicht, Ihnen eines Tages zu zeigen, wer der Herr in Rittlands Werk ist!«

Aber auch diesmal zerbrach der heißlodernde Zorn an Jobst Übingers unbewegter Ruhe.

»Daß Sie der Herr in Ihrem Werk sind, das weiß ich. Aber als Ihr technischer Leiter trage ich die Verantwortung so gut wie Sie. Ja, da es nicht mein Werk und mein eigener Nutzen oder Schaden ist, eine größere. Und nichts in der Welt wird mich veranlassen, diese Verantwortung je zu vergessen.«

Kein Wort mehr erwiderte Klaus Rittland. Aber das Blut kochte noch in seiner Schläfe, und die dunkelblaue Ader, die über ihr aufstieg, zeigte die Erregung, die in ihm war.

So standen sie sich schweigend gegenüber, jeder ein Mann, jeder fest entschlossen, dem andern nicht zu weichen und den Kampf aufzunehmen, der ihm verordnet war, mochte er zum Siege führen oder zum Untergang. In diesem Augenblick wußte Jobst Übinger, daß, was er vorausgesehen hatte, mit unabwendbarer Notwendigkeit eingetreten war. Gerade das gab ihm die Beherrschung und die Sicherheit, die der andere nicht hatte.

In dem war eine Unruhe, eine spürbare Verlegenheit, die weder die Energie seines Auftretens noch die Aufwallung seines Zorns zu unterdrücken vermochten. Mehrere Male sah er sich nach der Tür um, die er durch seinen Körper und seine während des ganzen Gesprächs beharrlich bewahrte Haltung zu decken suchte, griff auch einmal unwillkürlich mit der Hand nach ihrer Klinke, wie um sich zu überzeugen, daß sie geschlossen war. Als lauerte etwas hinter ihr, das ihm gefährlich werden konnte, das dem scharfen Auge des anderen zu verbergen er Anlaß hatte.

Der aber machte sich keine Gedanken darüber. Ja, er merkte es nicht einmal. Ihm ging es lediglich um die Sache. Alles andere trat für ihn in den Hintergrund.

»Ich möchte Sie bitten«, sagte er, mühelos den geschäftlichen Ton wiederfindend, den er in diesen Räumen seinem Chef gegenüber anzuschlagen gewohnt war, »dies Telegramm zu lesen. Vielleicht werden Sie dann verstehen, daß mich keine Rücksicht hindern konnte, es Ihnen sofort und persönlich zu überbringen.«

Klaus Rittland nahm es, flog es durch, war ganz Aufmerksamkeit und Anspannung. Aber etwas anderes war zugleich in ihm, und man sah es seinen lebhaft arbeitenden Zügen an: er wollte Zeit gewinnen, sich innerlich zu sammeln, zu einer ruhigeren Betrachtung und Einstellung zu gelangen. Denn sich in seinen Empfindungen und Äußerungen gehen zu lassen, war seine Sache nicht.

»In der Tat«, erwiderte er und hatte sich mit einem Male wieder ganz in der Gewalt, »eine Angelegenheit von weittragender Bedeutung, ja, ich muß gestehen, daß mir dieser Auftrag gerade jetzt wie gerufen kommt und daß es ein guter Stern gewesen ist, der uns beide heute nacht, vielleicht durch eine höhere Gewalt, hierhergeführt hat. Doch kommen Sie. Wir wollen in mein Kontor gehen, um das Nähere zu besprechen.«

Er wandte sich um, trat hart an die Tür, verschloß sie sorgfältig und mit mehreren Schlüsseln. Einmal noch warf er einen prüfenden Blick auf sie. Dann schritten die beiden durch die große, matterleuchtete Halle nach draußen.

Eine Weile waren sie schweigend nebeneinander hergegangen.

»Ich würde Wert darauf legen«, begann dann Klaus Rittland, mit nichts anderem mehr beschäftigt als mit der seiner harrenden Aufgabe, »daß wir die Arbeit ohne Verzug in Angriff nehmen. Sie verstehen mich: Es wird auf die Berliner Herren, die wir morgen hier erwarten und an deren Urteil mir viel gelegen, eine gute Wirkung haben, wenn sie das Werk in reger Tätigkeit sehen und erfahren, welche weitgehenden Aufträge uns werden.«

Jobst Übinger konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es lag ein Anflug von Komik in diesem unvermittelten Übergang seiner Stimmung. Aber der kluge und berechnende Geschäftsmann verleugnete sich nie bei ihm, behielt immer die Oberhand.

Er sprach auf dem Gang über das dunkle Gelände überhaupt mehr, als es seine Gewohnheit war. Gleich als wäre er beflissen, den Eindruck, den seine heftige Erregung eben hervorgerufen, möglichst zu verwischen.

»Man mag es als eine Grille ansehen«, fuhr er fort, sich und sein Verhalten gewissermaßen rechtfertigend, »aber ich brauche diese kurzen Stunden völliger Abschließung nun einmal für meine Analysen und chemischen Präparate. Deshalb habe ich mir mein kleines Laboratorium auch so weit vom Betrieb wie irgend möglich anlegen lassen. Und deshalb benutze ich mit Vorliebe die Nacht.«

»Es handelt sich gewiß um eine Erfindung, die Sie dort in aller Stille vorbereiten, um dann die ahnungslose Welt in Erstaunen zu setzen.«

Klaus Rittland sah seinem Direktor ins Antlitz. Oder vielmehr: er schielte mit dem halbzugekniffenen Auge zu ihm hinüber. Etwas Fragendes, Sonderndes lag in seinem kurzen Blick, das Aufglimmen eines Argwohnes, der in den Zügen des anderen lesen wollte.

»Ja, es ist etwas Derartiges. Mit irgendwelchen Erfindungen ist unsereins immer beschäftigt.«

Eine kleine Stunde berieten sie in Klaus Rittlands Kontor, verteilten die Arbeit, ließen Aufstellungen anfertigen.

Dann begab sich Rittland in seiner Limousine nach Hause. Jobst Übinger aber lehnte seine Einladung, ihn zu begleiten, ab. Er wollte im Werk bleiben, in dem er sein Umkleidezimmer mit der nötigen Garderobe, auch ein schnell herzurichtendes Lager zum Ausruhen besaß.

In der Frühe des nächsten Morgens erschienen die Berliner Herren, ließen sich von dem kurz nach ihnen eintreffenden Besitzer und seinem technischen Leiter durch alle Gebäude und Räume des Betriebes führen, waren entzückt von dem heißen Pulsschlag ununterbrochener Tätigkeit, der das ganze Werk an diesem Tage durchfieberte, fanden in Anbetracht der vorliegenden Aufträge auch die Riesenvorräte an Rohstoffen berechtigt und beglückwünschten Klaus Rittland zu seiner geschickten Spekulation.

Der wehrte mit bescheidenem Dank ab. Aber in dem Blick, der zu seinem Direktor hinüberglitt, leuchtete schlecht verhohlener Triumph.

*

In seinem Atelier, das, ein Stockwerk über seiner Wohnung, außerhalb der Stadt in freier, luftdurchströmter Gegend lag, ging Michael Alberti nachdenklichen Schrittes hin und her.

Es war ein hoher, gut belichteter Raum, und die Nachmittagssonne des wolkenlosen Maitages, die warm und hell durch die großen, weitgeöffneten Fenster drang, warf ihren vollen Glanz über eine in Gips gebildete Gruppe: Josephs Kampf mit Potiphars Weib darstellend, die, eben vollendet, in der Mitte des Ateliers Aufstellung gefunden hatte. Sie war in Lebensgröße ausgeführt. Wie alles, was Michael Alberti schuf, auch in seiner äußeren Gestaltung sich streng an die Antike anlehnend.

Weiter wanderte die Sonne, hinüber zu den zahllosen, in ihrer ununterbrochenen Reihenfolge fast nüchtern anmutenden Gipsreliefs, mit denen die hohen Wände ohne jeden Zwischenraum geschmückt waren, spielte mit weicher Hand über den David des Donatello aus dem Museum des Bargello, liebkoste den armen, fast bis zum Skelett abgemagerten Johannes aus dem Dom von Siena, gönnte auch den beiden Statuen des Markus und Petrus von Or San Michele einen mitfühlenden Blick und ruhte mit ihrem vollen Glanz auf dem bis zum Übermaß von Kraft strotzenden Reiterbild des Francesco Gattamelata zu Padua, das, auf einem Wandbrett angebracht, alle anderen Statuen königlich überragte, zog ihre Bahnen weiter über die Lucca della Robbias, Filippo Brunelescos und Ghibertis, die nach zeitlicher und künstlerischer Anordnung wohlüberlegt hier eingefügt waren, spann ein Netz silberfunkelnder Maschen über Andreo Verrochios Reiterstatue des Generals Bartolomeo vor der Kirche S. Giovanni e Paolo zu Venedig, setzte eine Strahlenkrone auf das Haupt des Christus von Or San Michele, der dem zweifelnden Thomas seine Nagelmale zeigt.

Das war die Welt, in der Michael Alberti lebte, in der er aufging mit jeder Faser seiner Seele und Sinne. Und er lebte nicht nur in ihr, er war mit ihr verwachsen, als wäre er nicht ein Kind seiner Zeit, sondern aus jener hervorgegangen, von ihr befruchtet und genährt.

Es mochte daher kommen, daß er die ganzen Jahre seiner Ausbildung und seines künstlerischen Reifens in Italien verbracht hatte, zuerst in Cremona, dann die längste Zeit in Florenz, schließlich in Venedig.

Von diesen Städten besaß er Abbildungen, die ihm stets vor Augen sein mußten. San Marco in Venedig und sein berühmter Platz hingen in alten Stichen an der gegenüberliegenden Wand, auch Stücke aus der fruchtbaren Lombardei, und in einer weitausgebauten Nische, in die er sich, wenn er Neues plante und gedanklich entwarf, zurückzuziehen pflegte, eine in bunten Farben ausgeführte Abbildung des aus frühesten Jahrhunderten stammenden Cremonenser Doms mit seinen hohen Glockentürmen. Und dann diese Bilder und Stiche wieder unterbrochen durch eine Reihe von Gipsreliefs: eine bis in die kleinsten Einzelheiten deutliche Nachbildung der wundervollen Marmorkanzel in Sa Croce von Benedetto da Maja und, von einigen Reliefs aus dem Leben des heiligen Franziskus eingefaßt, das Grabmal des Philippo Strozzi in Sa Maria Novello zu Florenz.

Wenn er so zwischen seinen alten Schätzen einherwanderte oder sinnend und betrachtend vor ihnen stehenblieb, dann mochte es ihn bedünken, als wäre er gar nicht im grauen Norden zu Hause, als lebte und wirkte er mit nie versiegender Schaffenslust in jenen unvergeßlichen Stätten, als pilgerte er, neue Anregungen und Motive sammelnd, über die geweihten Märkte und Plätze der altitalienischen Städte oder durch ihre Kirchen und Uffizien. Deutschland und der Norden waren nur Schein und Spiegelung. Italien und der kunstdurchtränkte, lachende Süden waren die Wirklichkeit.

Deshalb nahm auch alles, was er ersann und erschuf, die Gestalt und das Gepräge der Antike an. Vielleicht war das der Grund, der ihn, den lange Zeit Unbekannten, aus der Zahl der Namenlosen und Unbeachteten hervorgehoben, ihm einen Namen gemacht und eine Eigenart unter den Bildhauern eingeräumt hatte.

Er selber hörte wenig von seinem wachsenden Ruhm. Er lebte, still und in sein Atelier gebannt, nur seinem künstlerischen Schaffen. Aber Klaus Rittland erzählte ihm davon, und die nennenswerten Summen, die neuerdings für seine Skulpturen gezahlt und ihm durch diesen übermittelt wurden, bestätigten es.

Er hatte sich auf seinem Lieblingsplatz in der Nische, einem altertümlichen Ruhestuhl, gerade unter dem Grabmal des Philippo Strozzi, niedergelassen, auf dem er zu verweilen pflegte, wenn der wunderbare Prozeß der Gärung neuer Gedanken und Pläne in ihm begann und allmähliche Gestaltung gewann.

Da trat Gabriel in das Atelier, der eben aus seiner Fabrik zurückkehrte.

Er war der einzige, der es wagen durfte, zu ihm zu kommen, wenn er in der Schaffensperiode war.

Gewiß, er liebte seine Frau und auch Musa. Aber niemand stand seinem Herzen so nahe wie sein Sohn. Ein eigenartiges Verhältnis war zwischen den beiden. Gabriel, trotz einer gewissen schwärmerischen Anlage, die er vom Vater hatte, doch der Wirklichkeit des Lebens zugewandt, auf die schon sein Beruf ihn hinwies, war im Laufe der Jahre mehr und mehr der Berater des Vaters geworden, dessen Sache er bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Hand nahm und mit einem Geschick durchführte, das den Alten mit großem Stolz erfüllte.

So waren die beiden wie zwei gute Kameraden, und Gabriels feuriger Sinn umfaßte den Vater, dessen Weltfremdheit etwas Ergreifendes für ihn hatte, mit einer Liebe und Verehrung, die er niemals einem anderen Menschen dargebracht hatte.

»Die Mutter schickt mich«, sagte er, indem er in vertraulicher Unbekümmertheit ein Pack mit allerlei Mappen und Zeichnungen von einem alten Hocker in der Nische räumte und sich zum Vater setzte. »Da sie sich nicht in diese geheiligten Räume wagt, so soll ich daran erinnern, daß wir heute unseren Empfang haben. Der neue Archivrat aus Wolfenbüttel und ein junger Maler, der dich kennenlernen will, haben sich angesagt. Und deshalb möchtest du doch möglichst bald herunterkommen.«

Michael Alberti schüttelte den Kopf, langsam, abwehrend. Ein mehr trauriger als widerstrebender Zug war auf seinem verträumten Gesicht.

»Ich kann nicht«, erwiderte er, »kann wirklich nicht.«

»Wenn du wolltest, würdest du auch können!«

»Nein, mein Junge, es handelt sich nicht um mein Wollen, sondern lediglich um mein Können. Die Mutter hat das nie einsehen können, alle die Jahre unserer Ehe hindurch. Auch Musa nicht. Du aber –«

»Gewiß, Vater, ich glaube wohl, mich in dich hineinversetzen zu können. Aber gewisse Rücksichten ist schließlich auch der Künstler seiner Familie und der Gesellschaft schuldig.«

»Rücksichten!« rief Alberti aus, und der aufbegehrende Trotz eines Kindes war in seinen Worten. »Um die handelt es sich doch gar nicht. Sondern um die Fähigkeit, um die Möglichkeit! Ich wiederhole dir: Ich kann nicht – heute, wo mir eben ein neuer Gedanke geschenkt ist, unter keinen Umständen!«

Gabriel kannte den Vater zu gut, war auch viel zu klug, in ihn zu dringen, wenn es zwecklos war. Deshalb schwieg er.

»Glaube mir, mein Junge, es wird mir nicht leicht, der Mutter immer einen abschlägigen Bescheid zu geben. Aber das Wunderbare ist, daß gerade die Frauen des schaffenden Künstlers oft so wenig Verständnis für seine naturnotwendige Eigenart haben. Es gibt gar kein törichteres Wort als das einem Großen, der es in einem ganz anderen Sinne gemeint hat, immer wieder gedankenlos nachgesprochene, daß das Leben ernst sei und die Kunst heiter. Für den Genießenden mag sie heiter sein – für den Schaffenden ist sie ernst, ja, ernster als das Leben. Denn sie ist hart und unerbittlich. Sie trennt vom Leben, richtet zwischen ihm und ihren Forderungen eine Kluft auf, die unüberbrückbar ist.«

»Dann danke ich Gott, daß ich nicht Künstler geworden bin, wie es immer dein Wunsch war.«

»Ich verstehe dich, verstehe dich sehr gut, mein Sohn! Auch unsereiner macht Stunden durch, wo es ihn aus ganzer Seele hinüberlockt nach ›dieses Lebens heiteren Blumentälern‹, wie es bei einem Dichter heißt, der denselben Zwiespalt an sich erfahren. Aber wir bleiben immer die Gefangenen unseres Werkes. Nicht wir besitzen es, es besitzt uns und raubt uns die frohe Unbefangenheit, die nun einmal zum Leben gehört. Nie habe ich das so empfunden als an jenem Abend, da ich auf der Mutter und Musas Drängen meinen Grundsätzen untreu wurde und auf das große Fest beim Rittland ging. Ich fühlte mich so einsam, so überflüssig dort, haderte mit mir, daß ich nicht sein konnte wie die anderen, beneidete sie um ihr unbekümmertes Genießen, fragte mich ein über das andere Mal: ›Wozu bist du eigentlich gekommen? Was willst du hier?‹ und empfand zugleich eine unbezwingliche Sehnsucht nach diesem alten Lehnstuhl hier, nach der Welt, die ich allein mir baue und in der ich zu Hause bin.«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen. Unten vom Flur her rief das Telephon. Und da Michael Alberti niemals und unter keinen Umständen den Hörer in die Hand nahm, begab sich sein Sohn die Treppe hinab und kehrte bald zurück:

»Rittland war da. Er ist eben aus Berlin heimgekehrt, hat wegen des Bronzegusses des Josephs mit Noack verhandelt. Auch mit Bettelheim hat er gesprochen, der einen guten Käufer für ihn hat. Er deutete etwas von einer Galerie in Deutschland an. Jedenfalls will er ihn noch in Berlin behalten. Rittland wird übrigens selber zu dir kommen und das Nähere mit dir besprechen.«

Er sagte es in gleichgültigem, fast skeptischem Ton, fern von jeder freudigen Bewegung.

Auf Michael Albertis Zügen aber ward das wehmütig Entsagende wie mit einem Hauche ausgelöscht. Und wie der Wechsel vom himmlisch Jauchzenden und zum Tode Betrübten in der impulsiven Kindlichkeit seiner künstlerischen Natur beschlossen lag, so frohlockte auch jetzt seine Seele in überströmendem Glück.

»Das ist eine gute Botschaft, mein Junge! Und wenn er ihn wie die Ariadne und den Merkur – ja, der Rittland! Der hält, was er verspricht! Oh, ich kenne ihn!«

Eine Weile dauerte es, bis Gabriel antwortete. Und auch dann war es, als legte er sich jedes Wort zurecht, bevor er es über die Lippen brachte:

»Du meintest eben, lieber Vater, daß dir die rechte Geschicklichkeit und Sicherheit in der Behandlung der Menschen und der Dinge abginge. Jetzt aber behauptest du, den Rittland zu kennen. Sollte das vielleicht auch ein Irrtum sein?«

Da schüttelte Michael Alberti den Kopf, so entschieden und energisch, daß die kühnen Haarsträhnen in sichtbare Bewegung gerieten.

»Nein, mein Junge! Kein Irrtum! Der ist beim Rittland ausgeschlossen – vollkommen ausgeschlossen!«

Aber jetzt ließ sich Gabriel nicht mehr einschüchtern.

»Du begegnest seinem hilfsbereiten Eintreten für deine Schöpfungen mit einem Vertrauen, das deinem Herzen alle Ehre macht, das mir aber, vergib mir, manchmal gar zu blind und urteilslos erscheint.«

»Ich bitte dich«, erwiderte der Alte, und ein überlegen ablehnendes Lächeln spielte über seine dünnen Lippen. »Ich bitte dich!« wiederholte er. »Wenn es nicht seine Liebe zu mir wäre – was sollte er davon haben?«

»Dasselbe möchte ich dich fragen: Was sollte er davon haben, daß er den Verkauf deiner Werke mit einem Eifer und einer Beflissenheit in die Hand nimmt, die mit seiner ausgebreiteten Tätigkeit auf anderen Gebieten in gar keinen Einklang zu bringen ist? Ist er ein so großer Kunstkenner, daß ihn die Begeisterung für die Sache dazu treibt? Gewiß. Kenntnis der Kunst besitzt er. Aber die Begeisterung traue ich ihm nicht zu. Ist es die Liebe zu dir? Gewiß, er liebt dich! Auf seine Art. Aber an die Uneigennützigkeit seiner Liebe vermag ich nicht zu glauben. Ja, ich muß dir gestehen, daß mir der Kult, der in unserem Hause mit diesem Manne getrieben wird, unerträglich ist.«

Michael Alberti, obwohl er seinen Sohn und die Leidenschaftlichkeit seines Wesens von Jugend auf kannte, erschrak dennoch vor dieser Offenbarung einer Abneigung, die er in solchem Maße nicht vermutet hätte. Er wollte heftig erwidern, würgte an dem Worte, schluckte es hinunter und fragte schließlich nur ganz kurz:

»Und worauf gründest du dies Mißtrauen gegen den Rittland?«

Wieder zögerte Gabriel.

»Nun gut, so will ich dir etwas mitteilen, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte, dir niemals zu sagen. Aber vielleicht ist es besser so. Als ich vor einigen Tagen – ich erzählte dir bereits davon – in den Rittlandschen Werken war, kam ich gerade dazu, als man in dunkler Abendstunde eine sorgsam verpackte Bronzestatue aus einem Eisenbahnwaggon lud und in die Lagerhalle trug. Es war deine Ariadne.«

»Meine Ariadne?«

Ganz groß waren Meister Michaels Kinderaugen geworden. Mit einem Erstaunen, als begriffe er gar nicht, was der da sprach, blickten sie auf seinen Sohn.

»Du hast dich getäuscht!« sagte er dann bestimmt.

»Das dachte ich zuerst auch. Bis ich erkennen mußte, daß jede Täuschung ausgeschlossen war.«

»Aber er hatte sie doch zum Bronzeguß nach Berlin geschickt, hatte mir gesagt, daß Bettelheim sie an eine Privatgalerie nach Düsseldorf verkauft hätte.«

»Nun – dann war es wenigstens kein großer Umweg.«

Der Alte überhörte den Hohn, der aus den Worten seines Sohnes klang.

»Ja, was wollte er denn hier mit der Ariadne?«

»Danach mußt du ihn selber fragen.«

»Er wird schon wissen, was er tut«, meinte der Alte nach einer kurzen Pause, und das unerschütterte Vertrauen leuchtete wieder über sein gütiges Gesicht.

Gabriel aber schüttelte den Kopf.

»Was ich noch von dir hören möchte, Vater«, fuhr er kühl und forschend fort, »wo ist eigentlich dein Merkur geblieben? Bettelheim soll ihn ja glänzend verkauft haben? Oder weißt du das gar nicht?«

»Gewiß weiß ich es. Ein reicher Weingutsbesitzer in der Nähe von Rüdesheim erwarb ihn, dessen Namen du ja auch kennst.«

»Ja, du nanntest ihn mir. Das Wunderbare ist nur: Als ich Musa, die den Merkur besonders liebte, mit einer Abbildung von ihm zu ihrem Geburtstag überraschen wollte und deshalb an seinen Besitzer schrieb, kam der Brief als unbestellbar zurück.«

»Und das sagst du mir erst heute?«

»Du weißt, daß ich dich mit jeder Unannehmlichkeit verschone, solange es möglich ist.«

»Es ist ein Irrtum, der sich aufklären wird.«

»Dasselbe sagte mir auch dein Freund Rittland.«

»Du hast ihm Mitteilung gemacht?«

»Ich hielt es für notwendig.«

»Nun? Hat sich der Irrtum aufgeklärt?«

»Bis heute noch nicht.«

»So wird er sich aufklären. Du kannst dich darauf verlassen.«

Ein leichter Schritt flog die Treppe hinauf: Musa.

»Herr Übinger ist eben vorgefahren, uns seinen Besuch zu machen. Und da muß wohl einer von euch beiden ihn mitempfangen. Sonst wäre ich nicht heraufgekommen.«

Meister Michael gab seinem Sohn einen Wink.

»Sie hat recht. Du mußt hinuntergehen. Von mir bitte ich abzustehen. Ich erwarte Rittland, und du verstehst, daß ich nach deinen Mitteilungen mit ihm allein bleiben möchte.«

Aber Gabriel zauderte.

»Wenn es sein muß, so will ich es tun«, sagte er schließlich. »Aber nicht gern.«

»Weshalb nicht gern?« fragte Musa.

»Weil mir dieser Mann stets mit einer Zurückhaltung begegnet, die mich verletzt«, kam es mit mühsam unterdrückter Heftigkeit heraus. »Als er mich durch sein Werk führte, schob ich sie auf seine geschäftliche Einstellung. Aber an dem Abend im Rittlandschen Hause war er gerade so ablehnend, kehrte immer den Älteren gegen mich heraus –«

»Der er auch ist«, wandte Musa ein.

»Aber das Jahrzehnt, das uns trennt, gibt ihm noch keine Veranlassung, mich von oben herab zu behandeln, um so weniger, als er merken mußte, daß mir an seinem Umgang gelegen war. Jedenfalls habe ich keinen Grund, mich ihm aufzudrängen.«

»Das tust du nicht, wenn du deine Pflicht als Sohn des Hauses erfüllst.«

»Ich werde kommen.«

Er drückte dem Vater die Hand, wollte mit der Schwester nach unten gehen – da stand Klaus Rittland vor ihm.

Er pflegte hier ein und aus zu gehen und kümmerte sich nicht darum, ob er störte oder nicht. Solche Bedenken gab es für ihn nicht.

Aber heute gönnte er dem Bildhauer nur einen kurzen Gruß, reichte auch Musa nur flüchtig die Hand, wandte sich vielmehr sogleich an Gabriel.

»Gut, daß ich Sie hier treffe, lieber Herr Alberti«, sagte er nicht ganz so gönnerhaft, wie er sonst zu ihm zu sprechen pflegte, aber doch in merkbarer Absichtlichkeit nur so nebenhin. »Es handelt sich um den Merkur – ich weiß, es sollte eine Überraschung sein. Der fatale Irrtum – ich sagte Ihnen ja gleich, daß es sich nur um einen solchen handeln könnte – ist bereits aufgeklärt. Der Güttner – du erinnerst dich, Meisterchen, so hieß der Weingutsbesitzer, der deinen Merkur kaufte – hat sich verspekuliert, wie jetzt so mancher, und mußte Düsseldorf über Hals und Kopf verlassen. Bettelheim, der schlaue Fuchs, hat die Figur um einen Spottpreis bei der Auktion erstanden, schickt sie jetzt von Ausstellung zu Ausstellung und wird sie sicher noch einmal für einen Riesenpreis an den Mann bringen. Die Abbildung habe ich bereits bei ihm in Auftrag gegeben. Sie wird Fräulein Musa als nachträgliches Geburtstagsgeschenk von mir zugehen. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Also auf Wiedersehen!«

Kein Wort entgegnete Gabriel. Keine Miene regte sich in dem verschlossenen Antlitz.

Ob es Rittland nicht merkte? Vielleicht nicht merken wollte?

»Und nun, Meisterchen«, wandte er sich zu dem Bildhauer, als die beiden das Atelier verlassen hatten, »was macht der Joseph? Wie ich sehe, arbeitest du noch immer an ihm, und ich dachte, du wärest bereits mit ihm fertig.«

»Wann wäre ein Künstler wohl mit seinem Werke fertig?«

»Deshalb muß man es ihm beizeiten fortnehmen. Denn meist sind all die nachträglichen Besserungen gar nicht zu seinem Vorteil. Nein, er muß in die Gießerei. Er wird sich prachtvoll in Bronze ausnehmen.«

Langsam schritt Michael Alberti um seinen Joseph herum. Die Hand hatte er über die Augen geschattet, vielleicht, weil das stärker einfallende Sonnenlicht ihm hinderlich war. So beäugte er ihn von allen Seiten. Dann nahm er das Zahneisen, mal auch den Holzknüppel oder ein feineres Bildhauereisen und machte sich an ihm zu schaffen, als steckte er noch im Anfang seiner Arbeit.

Aber das alles tat er nur aus einer schlecht verhohlenen Verlegenheit heraus, um sich abzulenken. Denn die Frage, die ihm auf der Seele brannte, wollte ihm nicht von den Lippen, und er überlegte fortwährend, wie er sie dem Manne, der ihm soviel Gutes erwiesen, beibringen, in welche Form er sie kleiden sollte, um ihn nicht zu verletzen.

»Richtig, was ich noch sagen wollte!« vernahm er da plötzlich dessen Stimme in dem gewohnt gleichmäßigen Tonfall, »deine Ariadne hatte ich einige Tage bei mir zu Gast –«

»Du hattest sie bei dir? In deinem Werke?«

Michael Alberti ließ das Eisen, mit dem er gerade hantierte, sinken.

»Jawohl. Es war ein unfreiwilliger Aufenthalt für die schöne Frau. Aber auf der Fahrt von Berlin war ihr bei wohl nicht ganz vorschriftsmäßiger Behandlung ein kleiner Unfall zugestoßen, der Bettelheim gedrahtet wurde und den mir dieser mit der Bitte weitergab, sie hier in Braunschweig in Empfang zu nehmen.«

»Ich hätte sie gern gesehen!«

Und dann in einer Aufwallung, wie sie seinem Wesen fremd war und sich nur in Augenblicken einer großen Erregung einstellte: »Es ist wunderbar, daß man mich nicht rief, zumal ich sie in ihrem Bronzeguß nicht kannte und ihr ein Schaden zugestoßen war –«

»Dein Gabriel wußte ja, daß sie da war. Warum sagte er es dir nicht?«

Ruhig war Klaus Rittlands Auge auf den anderen gerichtet. Etwas Prüfendes, Durchforschendes war in ihm.

Michael Alberti legte das letzte Gerät aus der Hand, wandte sich von seinem Joseph fort.

»Er hat es mir erst heute mitgeteilt.«

Also doch! dachte Klaus Rittland bei sich. Ich habe es nicht anders erwartet. Und es ist gut, daß ich ihm zuvorkam. Das ist immer die Hauptsache in solchen Dingen!

Laut aber sagte er: »Es war recht von ihm, es dir heute erst zu erzählen. Er kennt dich und wußte, daß er dir damit eine unnötige Aufregung ersparte. Jetzt aber muß ich schleunigst in mein Werk. Die Umwälzungen, die sich dort vollziehen, machen mir Arbeit.«

Michael Alberti hatte sich zu seinem Joseph zurückbegeben, die Geräte in die Hand genommen und an ihm herumgefeilt, bald hier, bald dort. In den nächsten Tagen sollte er fort, und der Abschied wurde ihm schwer.

Dann tauchten, noch in weiter, verschwommener Ferne, neue Gedanken in ihm auf, begleiteten ihn auf der Wanderung, die er wiederum durch sein Atelier antrat.

Bis er, wie von unsichtbarem Arm gehalten, vor der Kiste mit dem Modellierton stehenblieb, einige Hände voll von ihm nahm und, ohne daß er es wußte und wollte, langsam, sinnend zu bilden und zu formen begann. Dann setzte er sich an einen runden Tisch mit drehbarer Platte, um das eben Gewordene in nachdenklicher Ruhe zu betrachten.

Der geheimnisvolle Prozeß des Werdens begann und entführte den Meister, fort von mancher Frage und manchem Zweifel, der seiner arglosen Seele heute zum erstenmal aufgegangen war, in die Gefilde eines vom quälenden Diesseits und banaler Alltagssorge gelösten Schauens im lichtdurchflossenen Reich der Idee.

* * *

 


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