Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin - Kampfjahre
Lily Braun

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Sechzehntes Kapitel

Wie die Hasen auf der Treibjagd werden die Revolutionäre von den Soldaten zusammengeschossen,« – »fünfzehntausend Gefallene bedecken Straßen und Barrikaden –,« so meldete der Telegraph aus Moskau; »die Regierung hat uns betrogen! Der Zar hat sein Versprechen gebrochen! Die Knute der Kosaken herrscht wieder über uns,« – so klangen die Verzweiflungsschreie der Freiheitskämpfer über die Grenze. Und schwer und dumpf grüßten die Glocken das Jahr 1906.

Auf den eroberten Gebieten des Absolutismus hatten unsere russischen Brüder ihre Siegeszeichen aufgepflanzt, und an ihnen waren die üppigen Ranken unserer Hoffnung wuchernd emporgewachsen. Jetzt lagen sie am Boden. Die Soldaten der Reaktion traten darauf.

 

Und doch bedurften wir in dem Kampf, den wir führten, der Siegeszuversicht. Ein rocher de bronce war Preußen noch immer, dem er galt, denn als die Frage der Abänderung des Dreiklassenwahlrechts im Landtag endlich zur Besprechung kam, da erklärte die Regierung: das Reichstagswahlrecht ist unannehmbar, und fügte der Absage durch den Mund des Ministers von Bethmann Hollweg die versteckte Drohung hinzu: »das Gefühl der Unlust besteht ja auch im Reiche, wo wir noch dieses angeblich ideale Wahlrecht besitzen.« Noch! – Wir hatten achtzig Abgeordnete im Parlament, und doch würde Preußens Reaktion sie mit einer Handbewegung beiseite schieben. Es klang wie ein Hohn unserer Ohnmacht, wenn der Kanzler die Machtmittel des Staats für ausreichend erklärte, um »Pöbelexzesse zu verhindern.« Er hatte recht. Es kam zu keinen Exzessen.

 

Die Einführung des Zolltarifs stand vor der Türe. Mit neuen Steuern und Abgaben drohte eine Reichsfinanzreform. Im Hintergrund lauerte das Raubtier des Kriegs, und die Diplomaten, die mondelang in Algeciras beisammensaßen, um es in Ketten zu legen, schienen es statt dessen groß zu füttern. Für neue Kriegsschiffe agitierten die Regierungsparteien und malten den Weltbrand glutrot auf die leere Leinwand der Zukunft. Aber das Volk hörte gleichgültig zu, als ginge es das alles nichts an. Wo es im Laufe der letzten Jahre bei Nachwahlen zum Reichstag um sein Verdikt gefragt worden war, hatte es Junkern und Junkergenossen das Feld überlassen.

»Mir ist eine kleine Schar überzeugter Genossen lieber, als eine große Menge unsicherer Mitläufer,« hatte Bebel wiederholt gesagt. Das sollte ein Trost sein und war bei Licht besehen nur die Konstatierung einer Tatsache, denn der Zuzug aus bürgerlichen Kreisen hatte sich verlaufen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, – das war der Trunk gewesen, an dem sich deutsche Träumer von jeher berauscht hatten. Diesmal war er von der Sozialdemokratie kredenzt worden. Als sie aber erwachten und die Welt noch immer nicht ihren Dichteridealen entsprach, und die Genossen die Ritter vom heiligen Gral nicht waren, die sie in ihnen gesehen hatten, da versanken sie wieder in politische Gleichgültigkeit.

In die Maienpracht junger Hoffnungen war der Reif der Enttäuschung gefallen. Es schien fast, als ob alle Knospen daran sterben sollten.

An jenem »roten Sonntag«, der in ganz Preußen der Demonstration gegen das Dreiklassenwahlrecht gewidmet war, sprach ich in einem kleinen Fabrikort Brandenburgs. Es war ein trüber Abend; der Saal lag abseits zwischen hohen Mauern in einem feuchten Grunde. Mein Appell an die Begeisterung, an die Widerstandskraft verhallte wirkungslos. Und es war nicht nur meine Schuld, daß das Feuer nicht brennen wollte. Regenschauer hatten das Holz naß gemacht, so daß es nur knisterte. Wir protestierten gemeinsam gegen die preußische und gegen die russische Reaktion, aber mir schien, als stünde hinter diesem Protest nicht der Wille zur Tat, sondern ein resigniertes Gefühl der Ohnmacht.

 

Die Neue Gesellschaft führte die Sprache der Kraft. War sie nicht mehr die der Massen, daß sie sie nicht hören wollten?

Frühling und Sommer zogen an unseren Fenstern vorbei. Wir saßen gebückt am Schreibtisch und wagten nicht, einander in das Antlitz zu schauen. Zuweilen war mir wie einem, der in eine Hütte mit blinden Scheiben gesperrt ist und nichts sieht als den Staub und die Dürftigkeit der nächsten Nähe. Dann durstete ich so sehr nach Luft und Sonne, daß ich jeden Hauch, der durch die Türe drang, jeden Strahl, der sich hinein verirrte, wie einen Boten der Erlösung begrüßte.

Meine Schwester hatte sich verlobt.

»Jetzt erst weiß ich, was Liebe ist,« hatte sie mir mit glühenden Wangen und heißen Augen zugeflüstert. Das Leben war ihr viel schuldig geblieben, darum glaubte ich freudig daran, und ihr Glück ließ mich ihr gegenüber freier atmen, darum unterdrückte ich jeden Zweifel. Sie fühlte uns ihren Verlobten zu, einen jungen Arzt, hinter dessen auffallender Schweigsamkeit ich den Menschen zu sehen mich zwang, den sie lieben konnte. Sie heirateten bald. Auf den Höhen der Schwäbischen Alb übernahm er die Leitung eines Sanatoriums. Sie schrieb Briefe, die ein einziger Jubel waren, und sandte Bilder mit Bergen und Wäldern und weiten Blicken über friedliche Täler. Aber es fiel auf meine Seele nur wie ein Sonnenstrahl aus dem Gewölk, das sich danach nur noch dichter und dunkler zusammenzog.

 

Um jene Zeit erging von einem aus den Anhängern der verschiedensten Parteien bestehenden englischen Komitee, dem unter anderen auch eine große Zahl englischer Parlamentsmitglieder angehörte, an die Zeitungen aller deutschen Parteien die Einladung zu einem Besuch nach England. Angesichts der gewissenlosen Hetze und der Kriegstreiberei höfisch-militärischer Kreise und ihrer Werkzeuge in der Presse sollte diese Veranstaltung dazu dienen, die wahre Gesinnung des englischen Volkes kennen zu lernen und die freundschaftlichen Beziehungen der beiden Länder wieder fördern zu helfen. Keir Hardie, der Führer der englischen Arbeiterpartei, hatte die Einladung mit unterzeichnet. Auch bei der Redaktion der Neuen Gesellschaft lief sie ein, von einem Brief meines alten Freundes Stead begleitet, der die Hoffnung aussprach, wir würden ihr Folge leisten.

England! Wieviel Erinnerungen wurden in mir wach! Es war mir das Sprungbrett des neuen Lebens gewesen. Vielleicht, daß es mich nun aus seinem Labyrinth wieder ins Freie zu führen vermöchte! Meine Hoffnung sah einen Weg aus der Not und der Enge heraus, – und wenn's nur ein flüchtiges Aufatmen wäre in freier Luft! Mein Mann legte die Einladung beiseite wie etwas selbstverständlich Abgetanes.

»Meinst du nicht, daß ich sie annehmen könnte, – in unserem Namen,« fragte ich zögernd. »Ich möchte fort, – hinaus, ein einziges Mal nur!« –

Er sah verwundert von der Arbeit auf. »Wenn dir soviel daran liegt, bedarf es gar nicht der tragischen Gebärde!« antwortete er ruhig.

Nun erschien mir mein Wunsch doch im Lichte sträflicher Vergnügungssucht. Ich mußte mich und ihn beruhigen, der nicht anders denken mochte: »Ich werde Berichte schreiben, – neue Beziehungen anknüpfen. Vielleicht verschaffe ich mir sogar bei der Gelegenheit die Korrespondenz für ein englisches Blatt.«

Der Gedanke besonders elektrisierte mich: das wäre doch eine Sicherheit, wenn die Neue Gesellschaft zusammenbräche.

Kurz vor meiner Abreise besuchte uns Reinhard. »Ich lese Ihren Namen unter denen der Journalisten, die nach England fahren,« begann er erregt.

»Gewiß,« entgegnete ich, »und was haben Sie dagegen? Keine der berühmten bindenden Parteitagsresolutionen hindert mich daran!«

»Aber Ihr Gefühl müßte es tun,« brach er los; »wollen Sie sich denn gewaltsam jeden Vertrauens berauben?! Kein Genosse wird es begreifen, daß Sie mit einer Reihe unserer ärgsten Gegner gemeinsame Sache machen!«

»Schlimm genug, wenn dem wirklich so sein sollte!« rief ich aus. »Haben wir nicht auf dem Heimarbeiterschutzkongreß mit Gegnern zusammen gearbeitet, tun wir es nicht dauernd im Parlament? Und mir sollte es verdacht werden, wenn ich mich an einer Reise beteilige, deren Zweck durchaus im Interesse der Partei liegt? Wir Mitreisenden sollen uns doch nicht untereinander verbrüdern; uns wird nichts als die Gelegenheit geboten, es mit aufrichtigen Friedensfreunden in England zu tun.«

»Das mag alles so sein, wie Sie sagen,« antwortete er, »trotzdem dürfen Sie – gerade Sie, deren Stellung doch schon schwierig genug ist – nicht als einzelne der Empfindung der Massen entgegenhandeln.«

Ich warf den Kopf zurück. Jetzt erst wußte ich, daß diese Reise nicht nur meine persönliche Angelegenheit war. »Ich verstehe Ihre gute Absicht,« sagte ich, »aber wenn etwas mich in meinem Vorhaben noch bestärken könnte, so sind es die Gründe, durch die Sie mich davon abbringen wollen. Nichts ist mir von jeher so verächtlich gewesen wie Lakaiengesinnung, gleichgültig ob sie vor dem einzelnen oder vor der Masse zum Ausdruck kommt –«.

»Ich mute Ihnen doch nicht Lakaiengesinnung zu!« unterbrach er mich heftig.

»Was ist es anderes, wenn Sie verlangen, ich sollte mich der Empfindung der Masse beugen, nicht weil sie die rechte, sondern weil sie die herrschende ist?! Wir kommen nie vom Fleck, wenn wir unsere bessere Einsicht nicht zur Geltung bringen; wir erziehen dadurch im Volk nur einen noch beschränkteren, noch despotischeren Herrscher, als unsere Fürsten es sind.«

»Im Grunde bin ich ja Ihrer Meinung,« lenkte er ein; »es handelt sich doch in diesem Fall nur um eine kleine Konzession, für die Sie größere Werte eintauschen werden.«

Ich lachte spöttisch auf: »Meinen Sie?! Man wird mir nicht mehr vertrauen und mich nicht weniger verleumden, wenn ich auf die Reise verzichte. Aber man wird wissen, daß ich kein Zeug zum Demagogen habe, wenn ich auf meinen Entschluß beharre, – auch jetzt, wo mir die Folgen klar sind.«

Reinhard verabschiedete sich kühl und fremd. Er war einer der Besten und Selbständigsten unter den Genossen. »Ich fürchte, wir haben ihn verloren,« sagte mein Mann. Ich unterdrückte einen schweren Seufzer.

 

Mitte Juni reisten wir ab. Schon im Zuge, der uns nach Bremerhaven führte, freute ich mich der Gegenwart Theodor Barths; – ein freier Mensch und ein Gentleman, also einer der Seltenen, mit denen sich über alle trennenden Schranken der Politik verkehren läßt. Auf dem Schiff fanden sich die übrigen Reisegefährten ein: neunundvierzig Journalisten, unter denen ich die einzige Frau war. Ich empfand, wie meine Anwesenheit sie beunruhigte. Sollten sie mich als Dame oder als Sozialdemokratin behandeln? Sie entschlossen sich in der Mehrzahl, ihrer politischen Gesinnung auch auf dem neutralen Boden unseres Dampfers unverfälschten Ausdruck zu geben. Offenbar störte es sie nur, daß ich ihnen durch mein Benehmen keinen besseren Anlaß dazu bot.

Ich kümmerte mich wenig um sie; mit durstigen Zügen atmete ich die frische Salzluft ein, und mit jeder Meile, die wir uns von der Küste entfernten, fiel mehr und mehr von mir ab, was lastend und quälend mein Herz bedrückte. Ich stand lange am Zwischendeck, wo sie beieinander hockten, all die Männer, Frauen und Kinder, die das Vaterland ausgestoßen hatte. In dem Antlitz der meisten blitzte etwas wie Zukunftshoffnung auf. Fast dünkte es mich beneidenswert: das alte Leben hinter sich zu lassen und nur mit dem leichten Bündel unter dem Arm einem neuen entgegen zu gehen.

In London hatte Beerbohm Tree in seinem Theater für die deutschen Gäste den ersten Empfang bereitet. Ich ging nicht hin; unsere heimische Bühnenkunst hat uns den Geschmack für ein Komödiantentum verdorben, das vielleicht vor fünfzig Jahren auch bei uns noch das herrschende war. Ich erwartete statt dessen Stratfords Besuch.

»Wissen Sie noch, wie wir damals voneinander gingen?« fragte er nach der ersten Begrüßung.

Ich nickte lächelnd: »Ein Mann, wie Sie, gehört der Sache des Sozialismus, sagte ich Ihnen.«

»Wären nur nicht der Fesseln so viele, antwortete ich, und Sie riefen mir zu: ›wir werden sie beide zerbrechen müssen‹ – nun haben wir sie zerbrochen!«

Überrascht sah ich ihn an.

»Ich kandidiere als Vertreter der Arbeiterpartei für das Parlament,« fügte er mit einem Aufleuchten in den hellen Augen hinzu.

Ich drückte ihm die Hand.

Er schien einen Ausdruck größerer Freude erwartet zu haben. »Haben Sie das Kettenbrechen bereut?!« fragte er zweifelnd.

»Nein, lieber Freund,« antwortete ich mit starker Betonung, »nein! Ich erinnerte mich nur der wunden Hände, die es kostet.«

Am nächsten Morgen sprach ich John Burns auf der Themseterrasse des Parlaments. Mir schien, als sei es gestern gewesen, daß er mir auf den Marmortisch die Situation der deutschen Sozialdemokratie aufgezeichnet hatte.

»Habe ich nicht recht behalten?« fragte er im Laufe des Gesprächs.

»Nicht ganz,« entgegnete ich; »der Druck von außen preßt uns zwar zusammen, aber er hindert nicht nur die Wirkung über seinen Ring hinaus, er trägt auch dazu bei, daß wir unsere Kräfte im gegenseitigen Kleinkrieg verzetteln.«

»Sie übertreiben,« meinte er leichthin. »Jeder Kampf ist Leben und weckt Leben! Sie sind wie der Akteur auf der Bühne, der das Ganze nicht übersehen kann, während wir, die Zuschauer, von fern mit unserem Opernglas Handlung und Szenerien begreifen. Der deutsche Revisionismus siegt nicht nur, – er hat schon gesiegt.«

Ich lächelte ein wenig von oben herab zu seinen apodiktischen Sätzen und lenkte die Unterhaltung auf sein eigenes Wirken.

»Ich bin nach wie vor Sozialist, gerade weil mich keine Arbeit schreckt, wenn es gilt, meiner Überzeugung auch nur einen Fuß breit Boden zu gewinnen,« sagte er, »ich scheue nichts, wenn der Preis dafür mehr Macht ist. Wer immer nur zuschaut und schimpft und kritisiert und dazwischen moralische Bomben wirft, ist in meinen Augen Anarchist.«

Einer der deutschen Englandfahrer näherte sich in respektvoller Haltung. Unser langes Gespräch setzte ihn offenbar in Erstaunen. Er wartete darauf, vorgestellt zu werden. Und erst jetzt fiel mir ein: der John Burns von heute war ja Minister!

Der Gastfreundschaft, mit der uns die Engländer empfingen, entzog ich mich von da an nur selten. Ich hatte meine leise Freude an den verblüfften Gesichtern meiner Reisegefährten, die allmählich einsahen, daß im Lande alter Kultur nur die Erziehung, nicht aber die politische Stellung des Einzelnen gesellschaftliche Unterschiede herbeiführt, und ich merkte erst jetzt, wo ich einmal wieder als Gleiche von Gleichen behandelt wurde, wieviel ich entbehrt hatte.

Eines Vormittags besichtigten wir den Tower. Schon als ich aus dem Hotel trat, war mir aufgefallen, daß die photographischen Kameras der englischen Reporter sich plötzlich auf mich richteten.

Auf dem Wege kam Bernard Shaw mir entgegen und reichte mir mit einem sarkastischen: »Da haben Sie wieder einmal ein unverfälschtes Zeugnis der deutschen Sozialdemokratie,« ein englisches Morgenblatt.

Es enthielt ein Telegramm aus Berlin: »Der ›Vorwärts‹ beschuldigt Frau Alix Brandt, die einzige Vertreterin der sozialdemokratischen Presse bei der Englandreise deutscher Journalisten, des Parteiverrats und kündigt ihr an, daß sie ihres unbotmäßigen Verhaltens wegen zur Rechenschaft gezogen werden würde.«

Ich ballte das Blatt Papier heftig zusammen und schleuderte es zu Boden. »Das glaube ich nicht,« stieß ich zornig hervor.

Shaw lachte: »Und doch ist nichts gewisser, weil nichts folgerichtiger ist! Die deutsche Partei ist von nichts freier als von – Freiheit. Sie ist die konservativste, die respektabelste, die moralischste und die bürgerlichste Partei Europas. Sie ist keine rohe Partei der Tat, sondern eine Kanzel, von der herab Männer mit alten Ideen eindrucksvolle Moralpredigten halten. Mit Millionen von Stimmen zu ihrer Verfügung, widersteht sie den Lockungen des Ehrgeizes und denen realer Vorteile, die ein öffentliches Amt mit sich bringt, und bezeichnet denjenigen, der sich von den Freuden tugendhafter Entrüstung zu den Arbeiten praktischer Verwaltung wendet oder auch nur an einer allgemeinen Veranstaltung in öffentlichem Interesse teilnimmt, als einen Abtrünnigen und Verräter. Freiheit vom Dogmenglauben ist eines der Grundprinzipien des echten Sozialismus, – die Deutschen sind dogmatischer als die Kirchenväter. Der Wille zur Macht ist ein anderes, – die Deutschen machen den Willen zur Phrase daraus. Die Herrschaft des Geistes ist ein letztes, im Gegensatz zur Herrschaft des Kapitals, – die Deutschen stellen das auf den Kopf und verlangen die Unterwerfung unter die Herrschaft der Masse.«

Ich hatte seinen raschen Redefluß, den der Zorn diktierte, nicht unterbrochen. Ich hörte den gleichen Ton heraus wie bei den Worten von Burns, und in mir begann eine Saite, die schon lange leise tönte, lebhaft mitzuschwingen.

Noch am selben Abend bekam ich einen Brief von Keir Hardie.

». . . Ich bin ganz außerstande, zu begreifen, welches der Grund sein konnte, Ihre Teilnahme an der Englandreise zu verurteilen,« hieß es darin. »Es ist für uns Sozialisten in England eine selbstverständliche Gewohnheit, gelegentlich mit Nichtsozialisten zusammenzugehen, wenn es im Interesse der Förderung einer großen und guten Sache gelegen ist. Unsere Erfahrung hat uns bewiesen, daß der Sozialismus dadurch nur gestärkt werden kann. Ich will damit nicht behaupten, daß unsere deutschen Genossen unserem Beispiel unbedingt folgen müßten, aber im vorliegenden Fall bleibt ihre Haltung Ihnen gegenüber mir vollständig unverständlich . . .«

Ich stand nun plötzlich im Mittelpunkt des Interesses und wurde von Interviewern belagert, die von der ganzen Sache keine andere Auffassung hatten, als daß die große deutsche Arbeiterpartei sich dadurch dem Gelächter der Welt ausgesetzt habe. Und ich gab ihnen stets die gleiche Antwort: »Die Sozialdemokratie, der ich stolz bin anzugehören, hat mit den Quertreibereien einzelner von preußischem Polizeigeist durchseuchter Genossen nichts zu tun.« Als aber mein Mann mir die Zeitungen schickte, – nicht nur den »Vorwärts«, sondern eine ganze Anzahl anderer Parteiblätter, – da schämte ich mich und ging den Interviewern so weit als möglich aus dem Wege, um nicht reden zu müssen. Und doch war es weniger die beleidigende Form der Angriffe, die mich verletzte, als die Gehässigkeit, die dabei zum Ausdruck kam. Wie stark mußte sie sein, um alle Klugheit, alle Rücksicht auf das Ansehen der Partei beiseite zu schieben? Oder gab es etwas Lächerlicheres, als meine Reise, – gleichgültig, ob man sie verurteilte oder nicht, – zu einem Parteiskandal aufzubauschen? Nur eine tiefe, innere Krankheit konnte solche Symptome zeitigen. Ich kämpfte noch mit mir, ob es nicht meiner unwürdig wäre, mich gegen Ausbrüche der Pöbelgesinnung zu verteidigen, als ich die Antwort erhielt, die mein Mann der Parteipresse hatte zugehen lassen. Das waren Rutenstreiche, – es blieb mir nichts zu sagen übrig. Seltsam nur, daß die Ritterlichkeit, mit der er für mich eintrat, eine alte Wunde aufs neue bluten machte, statt sie zu schließen.

Der Schatten, der sich mir über Englands schöne Sommertage breitete, wich nicht mehr.

 

Ich hatte immer gegen Massen-Museumsführungen, gegen Gesellschaftsreisen und dergleichen eine ausgesprochene Abneigung gehabt. Wem Kunst und Natur mehr sein soll als ein Gesprächsthema, der muß ihnen Auge in Auge still und allein gegenüberstehen. Und wer vor den Heiligtümern der Menschheit seine Andacht verrichten will, der kann es nur in Gegenwart derer, die seine Nächsten sind.

Wir traten zusammen an Shakespeares Grab, – es war wie ein Sakrileg. Wir kamen in sein Geburtshaus und in die blumenumrankte, strohgedeckte Hütte seiner Liebsten, – aber Shakespeares Geist floh vor uns.

Wir kamen nach Cambridge, jener alten Universität, die sich den Typus der mittelalterlichen Klosterstadt noch erhalten hat. Wer ihre Säulenhallen um alte Gärten allein betreten könnte, dem müßten die Bäume in den Weisen derer rauschen und flüstern, die hier dichteten: eines Marlowe, Milton, Byron. Und wer sich still an einen alten Pfeiler lehnen und in die dämmernden Bogengänge blicken dürfte, dem würde aus dunkel geschnitzten Pforten Erasmus von Rotterdam entgegentreten, und Cromwell, und Newton.

Wir sahen nur freundliche Professoren und Photographen und hörten Reden und Tellergeklapper.

 

Als die Mehrzahl der Geladenen England wieder verlassen hatte, sprach ich meinen Freund Stead, der als Reisemarschall der Gäste unaufhörlich in Anspruch genommen gewesen war, zum erstenmal allein.

»Ihnen geht es gut,« sagte er, als wir einander in seinem Heim gegenüber saßen.

»Woher wissen Sie das?« fragte ich mit einem bitteren Gefühl im Herzen.

»Sollten Sie etwa noch den alten Glücksbegriffen huldigen?« fragte er dagegen.

»Jeder hat seine persönlichen,« antwortete ich ausweichend.

»Und sollte nur einen haben, aus dem sich alle anderen entwickeln: leistungsfähig zu sein,« ergänzte er. War ich schon so alt, daß er mir solch einen Glücksbegriff zumutete, der mir nur mit äußerster Selbstverleugnung Hand in Hand zu gehen schien?

»Sie mißverstehen mich,« meinte er. »Ich begreife darunter die stärkste Selbstbehauptung: die Entwicklung aller Fähigkeiten zum äußersten Maß ihrer Leistungskraft . . .« Wir wurden unterbrochen; es war gut so, denn um so stärker prägten sich mir seine Worte ein.

Nun blieb mir noch übrig, ehe ich heimfuhr, zu erreichen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich verhandelte mit verschiedenen Redaktionen wegen der Übernahme einer deutschen Korrespondenz. In den Briefen meines Mannes spürte ich immer deutlicher den schweren Atem der Sorgen. Um irgend eine ihrer Lasten erleichtert, mußte ich nach Hause kommen. Aber so oft ich auch durch die glutheißen Straßen Londons von einem Bureau zum anderen ging, meine Abreise immer wieder aufschiebend, weil eine neue leise Hoffnung mich festhielt, das Ergebnis blieb ein negatives. Inzwischen war auch die bürgerliche Presse Deutschlands meiner Reise wegen über mich hergefallen, – die vereinzelten Stimmen der Verteidigung waren im Chor der Schreier verhallt, – das mochte die höflich ablehnende Haltung mit verursachen. Ich mußte mich entschließen, mit leeren Händen zurückzukehren. Nur einer Einladung wollte ich noch Folge leisten.

In Warwick, einem Städtchen am Avon, das von den dicken Türmen einer uralten Burg überragt wird, fand eines jener historischen Festspiele statt, an denen sich alljährlich in den verschiedenen Gegenden Englands die ganze Bevölkerung beteiligt. Ich fuhr hin und sah im Park des Schlosses die Darstellung jenes glanzumflossenen Teiles der englischen Geschichte, von dem seine Mauern noch erzählen. Auf der weiten, von mächtigen Bäumen zu beiden Seiten abgeschlossenen Rasenfläche, mit dem Fluß in der Mitte, der zwischen blühenden Rosenbüschen und hängenden Weiden lautlos vorüberzieht, und dem Hintergrund einer sanft verschwimmenden Hügellandschaft zogen Jahrhunderte vorüber. Und zuletzt vereinigten sich noch einmal zweitausend Menschen zu Fuß und zu Pferde in den Rüstungen und Gewändern aller Zeiten. Nun kommt die Schlußapotheose, dachte ich, mit der Büste des Königs und einem »Rule Britannia« aus allen Kehlen. Ich erhob mich, um zu gehen.

Aber da sah ich, wie die Ritter und Edeldamen, die Fürsten und Könige langsam und leise hinter Bäumen und Büschen verschwanden. Nur einer blieb zurück, allein, weltbeherrschend, als wäre die jahrhundertelange Entwicklung nur notwendig gewesen, um diesen einen hervorzubringen, der größer ist als alle: William Shakespeare.

 

Der Wille zur Macht, – die höchstmögliche Entwicklung der Persönlichkeit als Ziel des einzelnen, – der Übermensch als Ziel der Menschheit –: zu einem einzigen vollen Akkord vereinigten sich plötzlich die Klänge, die mir diesmal in England entgegengetönt hatten. Mein Herz schlug zum Zerspringen wie das eines Gefangenen, dem die Ketten vom Fuße gelöst werden und die Pforten sich öffnen zur freien Wanderschaft. Er sieht nichts wieder als die alte vertraute Welt seiner Jugend, und doch erscheint sie ihm wie ein Wunder so neu. Ein halbes Kind war ich gewesen, als ich aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft den ersten Ruf persönlicher Befreiung vernahm: »Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; sondern dir! sondern dir!« – Galt nicht derselbe Ruf heute der Menschheit?

 

Am letzten Tage meines londoner Aufenthalts traf ich auf der Straße eine Kapitänin der Heilsarmee, die mich herzlich begrüßte.

»Sie kennen mich wohl nicht mehr?« fragte sie lächelnd; »aber der Nacht in Whitechapel vor elf Jahren erinnern Sie sich gewiß.«

Im Augenblick sah ich das Weib wieder vor mir, die, von den Gefährten ihres Jammers umringt, im Schmutz der Gasse geboren hatte. Ich streckte meiner einstigen Führerin erschüttert die Hand entgegen.

»Sie würden mir heute, nach all den Reformen des Grafschaftsrats, nichts Ähnliches zeigen können,« sagte ich.

»Man hat aufgeräumt, – gewiß,« antwortete sie ruhig, »und an Stelle mancher elenden Häuser neue gebaut, aber das Elend ist immer dasselbe. Die einen sterben, andere wandern zu . . .«

»Entsetzlich!« rief ich aus. »Wie können Sie das nur ertragen?! Erscheint Ihnen nicht Ihre ganze Arbeit hoffnungslos?!«

Sie lächelte freundlich: »Ich habe viele Seelen gewonnen, denen für allen Erdenjammer der Himmel offen steht.«

Noch nie war mir der Christenglaube so grausam erschienen als in diesem Augenblick. Wie eine Zyklopenmauer richtete er sich auf zwischen den Menschen und ihrer Erlösung. Ich verabschiedete mich rasch. Den vollen Akkord, den ich eben noch vernommen hatte, durchtönte eine schrille Dissonanz. Ich war der schaffende Künstler nicht, der die einheitliche Lösung hätte finden können. Als ich aber dann heimwärts fuhr, beherrschte mich nicht mehr jene niederdrückende Empfindung, mit leeren Händen zu kommen.

 

Mein Mann empfing mich mit wehmütiger Zärtlichkeit, sodaß ich ihm angstvoll forschend ins Auge sah. »Es ist nichts, Kind, nichts!« wehrte er in nervöser Erregung ab. »Ich bin nur abgespannt, – nur müde.« Aber allmählich erfuhr ich doch, was geschehen war: eine Gruppe von Parteigenossen seines Wahlkreises forderte von ihm die Niederlegung seines Mandats, weil – ich mich an der Englandreise beteiligt hatte, und ein außerordentlicher Kreistag sollte darüber entscheiden.

Glühende Sommerhitze brütete über der Mark; an den Bäumen in den Straßen hingen die Blätter schon gelb und tot; kein Lüftchen rührte sich, und doch umgaben dichte Staubwolken den Wagen, der uns von Gusow nach Platkow führte. In dem kleinen Saal herrschte unerträgliche Schwüle. Er war schon gefüllt, als wir kamen: von lauter schweigenden Menschen mit harten Zügen und finsteren Blicken. Unsere alten Kampfgefährten rührten kaum an die Mütze bei unserem Eintritt. Einen Augenblick lang umklammerte ich den Arm meines Mannes, – außer ihm hatte ich hier keinen Freund mehr. Die Anklage wurde verlesen. Es war die Sprache des »Vorwärts«, den sie führte. »Das hat Berlin diktiert!« rief Heinrich. Die Falten auf der Stirn unserer Richter vertieften sich.

Mein Mann antwortete zuerst. Er erinnerte daran, wie häufig schon hervorragende Parteigenossen sich mit politischen Gegnern zu gemeinsamer Arbeit vereinigt hätten, wie es auch an Beispielen für das harmlosere Zusammensein zu geselligen Zwecken nicht gefehlt habe. Und als einer wütend dazwischen schrie: »Die Monarchentoaste!« erklärte er, daß die Teilnahme an dieser Form internationaler Höflichkeit um so weniger als eine Verleugnung der republikanischen Gesinnung angesehen werden könne, nachdem wir uns den viel ernsteren Treueiden der Landtagsabgeordneten unterwerfen müßten. Als er geendet hatte, hoben sich ein paar Hände zu schüchternem Applaus; die Mehrzahl der Genossen aber verharrte weiter in finsterem Schweigen. Die nach ihm sprachen, hatten ihre Reden alle auf einen Ton gestimmt: daß die Partei durch uns geschädigt worden sei.

»Für uns jibt's nur ein rechts und links,« rief der Maurer Metten; »die Akademiker, die nich Fleisch sind von unserem Fleisch, die zieht's eben immer wieder zu den Bourgeois. Ich aber sage Euch, Jenossen« – dabei hieb er mit der breiten Faust auf den Tisch – »sowas dürfen wir uns nich länger jefallen lassen, am wenigsten von unserem Abgeordneten. Was wäre verloren, wenn die Jenossin Brandt nich nach England jefahren wäre?! Es wäre ooch noch so! Nu aber, wo sie hinfuhr, sehen wir, daß sie kein proletarisches Bewußtsein hat; daß sie den Klassenkampf in Harmonieduselei verwandeln möchte und statt gegen die Gegner neben uns zu stehen mit ihnen bei Schampagner un Braten techtelmechtelt . . .«

»Bravo, Bravo« – klang es von allen Seiten, während mein Mann wütend vom Stuhl sprang und ein »Unverschämt!« zwischen den Zähnen hervorstieß. Mich packte ein jäher Schreck, als habe sich plötzlich vor mir die Erde gespalten: standen wir allein auf der einen Seite und jenseits die selbsterwählten Gefährten?!

»Die Genossin Brandt hat das Wort,« hörte ich wie von weit her sagen. Ich sammelte mich rasch. Aller Augen sah ich auf mich gerichtet.

»Mein Vorredner,« begann ich, »hat einen konsequenten Standpunkt vertreten, er hätte nur hinzufügen müssen, warum bei uns zum Verbrechen gestempelt wird, was anderen kein Härchen krümmte: wir sind des Revisionismus verdächtig. Das Schauspiel, das Sie hier aufführen, wäre noch kläglicher, als es so wie so schon ist, wenn nicht im Hintergrund tiefere Differenzen schliefen. Sie stehen auf dem Boden des Klassenkampfes, – wir auch; Sie hassen die kapitalistische Wirtschaftsordnung, – wir auch. Aber ihrer selbst unbewußt, führen Sie den Klassenkampf im Sinne des Krieges; Sie wollen den Gegner niederzwingen, Sie wollen sein Land erobern. Sie, die Sie seit Jahrtausenden die Lastträger der Menschheit sind, würden es schon als gerecht empfinden, wenn nur die Rollen der Unterdrücker und Unterdrückten vertauscht würden. Sie sehen in jedem Vertreter der herrschenden Gesellschaft einen Feind, weil Sie ihm als die Abhängigen, Unfreien gegenüberstehen, weil Sie ihm schon das bloße Sattsein neiden müssen. Wir können Ihren von der Bitterkeit des eigenen Herzens genährten Haß nicht mitfühlen, denn nicht persönliches Leiden machte uns zu Ihren Genossen. Uns ist das Ziel des Kampfes nicht die veränderte Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern die uneingeschränkte Herrschaft der Menschheit über die Natur. Die Erde wollen wir erobern, um gleiche Entwicklungsbedingungen für alle zu schaffen, nicht Feindesland, das Unterworfene beackern sollen . . .«

Ein unwilliges Gemurmel erhob sich. Im Saal fing es an zu dämmern. Ich unterschied nur noch die Zunächstsitzenden. Sonst war alles eine schwarze Masse, aus der nur hie und da ein kahler, breiter Schädel, ein weißer Bart, der glühende Punkt einer Zigarre herausleuchtete.

»Die Diktatur des Proletariats!« klang es mit tiefer Stimme drohend aus dem dunkelsten Winkel.

Die Jakobiner! antwortete es in meinem Innern. Ich fühlte, die Luft war geladen mit Sprengstoff gegen mich.

Den Faden meiner Rede hatte ich verloren, und unsicher und leise fuhr ich fort: »Ich habe Schulter an Schulter mit Ihnen gekämpft, – was bedeutet das gegenüber der Tatsache, daß ich mit politischen Gegnern auf demselben Schiff nach England fuhr! Wir haben zusammen diesen Wahlkreis erobert, und in jener Nacht, da die alte rote Fahne als Zeichen des Sieges über uns flatterte, hat uns ein starkes Gefühl, wie ich glaubte, auf immer verbunden, – aber was bedeutet das gegenüber dem Verbrechen der Kaisertoaste! Der Zweck der Reise war nichts anderes, als was im Interesse des Sozialismus gelegen ist, – was bedeutet das gegenüber der Sünde, mit Nichtsozialisten an einem Tische gesessen zu haben! Dafür ist's nicht genug, daß unsere Presse mich beschimpfte, wie kein bürgerliches Blatt jemals zuvor, – nein, es muß auch noch ein Exempel statuiert werden: der Genosse Brandt muß fallen! . . . Nicht um unsertwillen, denn nicht wir sind die Unterlegenen, wenn Sie den vorliegenden Antrag annehmen, sondern im Interesse der Partei erwarte ich von Ihnen seine Ablehnung. Leisten Sie ihm Folge, so enthüllen Sie eine schwärende Wunde, und das in einem Augenblick, wo die bürgerliche Welt gierig darauf wartet, uns bei einer Schwäche ertappen zu können . . .«

Keine Hand rührte sich. Die Petroleumlampe, die von einem roten Papierschirm umgeben, von der Decke herabhing, flammte auf und warf ein unsicher flackerndes Licht über heiße Gesichter.

Mein Mann sprach noch einmal, – kalt, zornig. »Ich verlange nicht nur, daß Sie den Antrag ablehnen, sondern daß Sie ihn zurückziehen,« sagte er.

Der Geruch der qualmenden Lampe machte mich schwindeln. Während der Pause, die die Genossen zur internen Beratung anberaumt hatten, verließen wir den Saal. Draußen empfing uns die stille, mondhelle Nacht. Das Armenhaus gegenüber warf einen breiten, schwarzen Schatten auf den Sand.

»Der Antrag, den Genossen Brandt zur Niederlegung seines Mandats zu veranlassen, ist zurückgezogen,« erklärte der Vorsitzende, als wir wieder eintraten.

Die Versammlung ging ruhig auseinander. Wir verabschiedeten uns mit einem förmlichen Gruß. Auf unserem Wege nach der Station geleitete uns niemand.

Kaum waren wir ein paar Tage lang in unsere Arbeit wieder vertieft, als ich erfuhr, daß die Berliner Parteileitung mich aus der offiziellen Rednerliste der Partei gestrichen habe. Ich legte Protest ein und verlangte, gehört zu werden.

Man lud mich vor. Rings um den Saal saßen die Männer, in der Mitte an einer langen Tafel die Frauen, Wanda Orbin an ihrer Spitze. Sie waren meine Ankläger gewesen. Martha Bartels war der Staatsanwalt. Sie zählte alle meine Sünden auf, von einer Agitationsreise an, die ich vor vier Jahren hatte absagen müssen, bis zur Englandfahrt. Aber auch meine Verteidigung war eine Anklage: ich verschwieg nichts. Mitten in meiner Rede erhob sich Wanda Orbin ungestüm von ihrem Platz; ich sah, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, wie der Zorn ihre Züge verzerrte. Im nächsten Augenblick stand sie vor mir und erhob die Faust, – einer der zunächst sitzenden Genossen sprang dazwischen.

»So diskutieren wir nicht!« rief er empört.

Der Beschluß, meinen Namen von der Rednerliste zu entfernen, wurde aufgehoben. Das Verhalten Wanda Orbins mochte die Genossen stutzig gemacht haben. Trotzdem war mein Sieg nur ein scheinbarer; in seinen Folgen blieb der Beschluß bestehen.

Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich meiner. Jeder Kampf um Ideen wirkt erfrischend, selbst wenn er mit den schärfsten Waffen geführt wird. Aber was ich erlebte, war so eng, so klein, hinterließ einen so arm, mit einem so bitteren Geschmack auf der Zunge. Nicht Gewitterschwüle war's, die lastend auf mir ruhte und die Hoffnung auf Blitz und Wolkenbruch weckt, sondern feuchtwarmer Nebel, ganz dichter, undurchdringlicher. Und er umschlang mit seinen langen Armen, die sich nicht greifen, noch weniger zurückstoßen lassen, die ganze Partei.

 

Unter dem Zeichen der siegreichen russischen Revolution hatte der Jenaer Parteitag gestanden, eine tiefe Erregung, die nach Taten schrie, hatte sich aller bemächtigt; die Resolution zum Massenstreik hatte angesichts dieser Stimmung, so vorsichtig sie gefaßt war, wie eine Fanfare geklungen. Und nun war der Rausch vorüber; die Ernüchterung allein blieb. In kleinlichem Hader, in gegenseitigen Vorwürfen machte sie sich Luft.

Mit steigendem Mißbehagen empfanden die Nur-Politiker den leisen Hohn, mit dem die Gewerkschafter ihnen begegneten. Sie hatten von jeher dem Theoretisieren über den Massenstreik skeptisch gegenübergestanden, und auf ihrem Kongreß in Köln sprachen sie sich rückhaltlos aus; von der Unfruchtbarkeit der Partei, von dem stagnierenden Sumpf der gegenwärtigen Situation, von der kläglichen Lage, in die wir durch die wirkungslos verpuffte Landtagswahldemonstration gekommen seien, von dem Mißverhältnis zwischen Worten und Taten war viel die Rede. Nicht ohne berechtigten Stolz wiesen sie darauf hin, daß die anderthalb Millionen gewerkschaftlich Organisierter eine stärkere Macht repräsentierten als die viermalhunderttausend Mitglieder der sozialdemokratischen Wahlvereine.

»Ich habe die Möglichkeit einer Spaltung der Partei immer weit von mir gewiesen,« sagte einer der gewerkschaftlichen Führer; »aber wenn die Dinge sich weiter entwickeln wie jetzt, dann reißt uns, weiß Gott, die Geduld! Die Radikalen, die, wenn man den Firnis abkratzt, nichts sind als gewöhnliche Spießer, bilden sich ein, wir tanzen nach ihrer Pfeife, bloß weil sie so laut ist. Sie sollen sich wundern!«

Auf dem Parteitag zu Mannheim kam es zu einem Duell zwischen Bebel und Legien. Keiner war unbestrittener Sieger, Wunden trugen beide davon, die sogenannte Einigungsresolution war nichts als ein Pflaster. Und die schweren Nebelschwaden senkten sich tiefer.

Plötzlich aber erhob sich ein Sturm, den kein Wetterkundiger vorausgesehen hatte: die Regierung forderte einen Nachtragsetat für den Krieg gegen die Hereros, der im Verhältnis zu den Millionen, die die Reichstagsmehrheit bisher für die Kolonien bewilligt hatte, eine Lappalie war. Von den Rednern des Zentrums und der Sozialdemokratie wurde dabei die ganze Kolonialpolitik mit ihren Gewaltmaßregeln, ihren Grausamkeiten aufgerollt, und zu allgemeiner Überraschung wurde der Kredit für Südwest-Afrika abgelehnt. Das erschien der Regierung als der geeignete Moment, dem Volke durch die Tat zu beweisen, daß der Konstitutionalismus in Deutschland nur auf dem Papiere steht: nicht der Kanzler und die Minister danken ab, wenn die Volksvertreter sie desavouieren, sondern die Volksvertreter werden mit einem Fußtritt hinausgeworfen, wenn sie das persönliche Regiment nicht jasagend anerkennen.

Wir erfuhren die Nachricht der Reichstagsauflösung, als wir mit Romberg im Kaffee des Kaiserhofs saßen. Und hier, wo eine Anzahl der politischen Berichterstatter größerer Zeitungen zu verkehren pflegten, rief sie einen Aufruhr hervor, wie ihn Berlin sonst nicht kannte.

»Eine unglaubliche Dummheit der Regierung!« rief der eine stirnrunzelnd, der andere frohlockend.

»Nun geht's in den Kampf –« Ich mußte an mich halten, um es nicht jubelnd herauszustoßen. Ich sah wieder entwölkten Himmel, weiten Horizont.

»Wenn die Partei sich selbst zerfleischt, so ist noch immer die Regierung zugesprungen, um die Wunden zu heilen,« sagte mein Mann. Romberg zuckte die Achseln:

»Die Kolonialfrage als Wahlparole?! Ich fürchte, Sie täuschen sich über ihre Bedeutung.«

 

Der Winter war ungewöhnlich hart damals. Gerade die Not, die ihn zum Gefolge hat, macht ihn zu unserem Agitator, dachte ich. Alle unsere Gegner, an ihrer Spitze der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie und der Flottenverein, rüsteten sich bis an die Zähne wider uns. Ich war überzeugt: das steigere nur unsere Kampflust und festige unsere Einigkeit wieder. Fürst Bülow selbst trat auf das Schlachtfeld und rief die staatserhaltenden Kräfte gegen die Sozialdemokratie auf. Dieses Eingreifen des höchsten Staatsbeamten wird selbst unsere lauen Anhänger zu hellem Zorn entflammen, – dessen war ich gewiß.

Und der Kampf begann. Über knirschenden Schnee flog der Schlitten, der mich von einem Dorf zum anderen trug. Oft bestieg ich ihn, glühheiß von der eben gehaltenen Rede, und die Luft, die mir den Atem am Munde gefrieren ließ, schien mir eine Wohltat. In den niedrigen Sälen fanden sich die Menschen ein wie sonst, aber der Sturm, der in den Schornsteinen heulte, der Schnee, der in dichten Flocken gegen die Fenster flog, trieb ihnen kühle Schauer über den Rücken.

Je näher der Tag der Entscheidung rückte, desto fieberhafter arbeiteten wir. Den Husten, der mir des Nachts den Körper erschütterte, suchte ich zu ersticken, meine Stimme, die versagen wollte, zwang ich unter meinen Willen. Wir glaubten an den Sieg. Und in Augenblicken selbstvergessener Hoffnung, wo die bösen Geister der Sorge vor unserer Zuversicht die Flucht ergriffen, wo alle Furcht sich verkroch wie Schakale vor der aufgehenden Sonne, da fühlte ich, wie mein Herz heiß wurde und der Aberglaube Gewalt über mich bekam: von der Entscheidung hingt auch unsere Zukunft ab.

 

Wieder, wie vor vier Jahren, saßen wir am Abend der Wahl im Gewerkschaftshaus zu Frankfurt. Und wieder hatte die Gärtnersfrau den Korb voll roter Nelken neben sich, und die Fahne lehnte eingerollt an der Wand. Aber die Genossen, die sich allmählich hereindrängten, machten ernste Gesichter, und die Boten, die kamen, brachten lauter Hiobsposten. Kein Ort, ohne einen Rückgang unserer Stimmen! Dazwischen die Depeschen aus anderen Kreisen: Verlust um Verlust. Noch ehe die letzten Nachrichten gekommen waren, leerte sich die Straße unter unseren Fenstern, und aus dem Saal schlich sich leise einer nach dem anderen. Es schlug Mitternacht, – die Nelken welkten schon im Korbe. Wir waren nur noch ein Häuflein in dem großen öden Raum, – wir wollten uns nichts ersparen: die Schlacht war endgültig verloren.

Wenige Tage später – in der Nacht nach den Stichwahlen – gingen wir durch die Straßen Berlins: da kamen sie in langen Zügen, unsere Überwinder – kein Polizeisäbel, kein Schutzmannskordon hielt sie auf. Vor dem Königsschloß sammelten sie sich in schwarzen Massen. »Heil dir im Siegerkranz –« brausend stiegen die Töne durch die klare Winterluft zu dem hellen Fenster empor, an dem der sich zeigte, der heute in Wahrheit der Sieger war: der Kaiser.

 


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