Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin - Kampfjahre
Lily Braun

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Achtes Kapitel

Ottoo – addaa,« rief das helle Stimmchen meines Sohnes. Er saß auf meinen Knieen im Wagen und winkte unermüdlich nach rechts und links, als ob er in seiner Freude alles grüßen müßte, was er sah. Wir fuhren hinaus in den Grunewald. Es war ein strahlender Sommertag; Scharen von Radlern flogen an uns vorüber; selbst die Dampfstraßenbahn fauchte heut wie ein vergnügter Alter, weil sie so viel Jugend in hellen Kleidern ins Grüne fuhr.

Vor einem umzäunten Waldwinkel hielten wir. Ich setzte den Kleinen ins Moos, und verwundert tippte er mit den runden rosigen Fingern jeden Grashalm an und kroch den schillernden Käfern nach und sah mit einem jauchzenden »Da – da!« den Vögeln zu, die von Zweig zu Zweig hüpften. Die alten dunkeln Kiefern wiegten ihre Häupter im Winde, die Sonne malte runde goldene Flecke auf ihre braunen Stämme, ein paar kleine blaue Blümchen reckten neugierig die Köpfe, und ein gelber Schmetterling tanzte über ihnen, – es war eine große Sommer-Festvorstellung für mein Kind.

Wir erwachsenen Leute gingen indessen ernsthaft umher und betrachteten das grüne Erdenfleckchen, auf dem unser Haus stehen sollte. Der Baumeister war mit uns gekommen. Er war noch jung und ein echter Künstler; von allen, bei denen wir gewesen waren, hatte er uns am besten verstanden. Ich hielt das Bild des Häuschens in der Hand, das seinen Namen trug – Alfred Messel –, und sah es schon lebendig vor mir, mit seinen blumenbesetzten Fensterbrettern und seinem lachenden roten Dach. »Ein rotes Dach?« sagte der Baumeister. »Nein! Unter die schwarzen Kiefern paßt nur ein graues.« Schwarz und grau? Wie trübe klang das! Ich sah ihn erschrocken an, – mir war auf einmal die Freude vergangen.

»Schwester Alix!« rief es über den Zaun. Ilse stand an der Türe, die Hand auf der blitzenden Lenkstange ihres Rades, und neben ihr ein großer, überschlanker Mann. Errötend stellte sie ihn vor: »Professor Erdmann!« Sie hatte mir schon von ihm erzählt, dem aufgehenden Stern am Himmel des Kunstgewerbes, der in den Salons des Tiergartenviertels eine Rolle zu spielen begann, und Messel begrüßte ihn wie einen lieben Kollegen. Nach ein paar raschen Worten drängte Ilse zum Aufbruch: »Wir dürfen die anderen nicht verlieren,« sagte sie. »Ich find' es viel hübscher zu zweien,« meinte ihr Begleiter und sah sie mit einem Lächeln an, das auf ein tieferes Einverständnis der beiden schließen ließ. Sie fuhren davon. Das helle Köpfchen meiner Schwester hob sich empor zu ihm, seine lange Gestalt neigte sich zu ihr, – so flogen sie nebeneinander die sonnige Straße hinauf, bis der dunkle Wald sie verschlang.

 

Ottoo – addaa,« klang es wieder aus dem Wagen heraus, als wir heimwärts fuhren. Aber die Händchen grüßten nicht mehr nach rechts und links; krampfhaft umspannten sie einen Büschel grünes Gras, und unverwandt hafteten die Augen meines Kindes auf dem bunten Käfer, der sich gemächlich darin niedergelassen hatte. Auf einmal breitete er seine schillernden Flügel aus und flog mit surrendem Geräusch davon; entsetzt starrte mein Kind ihm nach, das Gras entfiel den Fäustchen – ein sehnsüchtig-schluchzendes »adda – adda« kam von dem zuckenden Mündchen, und verzweifelt weinte es vor sich hin. Mein Mann lächelte über den wilden Schmerz um den entflogenen Käfer. Tut er dem kleinen Seelchen nicht ebenso weh, wie wenn die großen Leute um den Verlust ihrer Eroberungen trauern? dachte ich und zog meinen Liebling mitleidig in die Arme.

 

Am nächsten Morgen in aller Frühe kam meine Schwester. Sie wollte mich allein sprechen. Ihr heißes Gesichtchen, ihr rascher Atem, drei mühsam hervorgestoßene Worte: »ich liebe ihn,« sagten mir genug. »Und die Eltern?« fragte ich. »Sie wissen von nichts,« stotterte sie und sah ganz verängstigt drein.

Ich dachte an meinen Vater: mit welch verächtlichem Naserümpfen hatte er früher über Künstlerehen gesprochen. Sollten für seine Töchter keine seiner heißen Wünsche in Erfüllung gehen?

»Du wirst dich auf harte Kämpfe gefaßt machen müssen, –« sagte ich, und mein Blick haftete auf ihren kleinen, kraftlosen Händen. »Ich laufe davon, wenn Papa es nicht zugibt,« rief sie.

Noch am selben Tage besuchte ich Erdmann. Mein Schwesterchen war einmal mein Kind gewesen, sie war es mir von dem Augenblick an wieder, wo sie schutzbedürftig vor mir stand.

Als der Mann, den sie liebte, mir in seinem Atelier entgegentrat, war mein erstes Gefühl das des Schreckens: wie bleich war er, wie groß und schmal, wie seltsam durchsichtig waren seine schlanken, langfingrigen Hände. Aber die Art, wie er mit mir sprach, ließ mich über den Menschen seine Erscheinung vergessen.

»Ich liebe Ihre Schwester und werde sie heiraten,« antwortete er auf meine Frage. »Freilich: Ilse stellte mir eine Bedingung, –« fügte er lächelnd hinzu, »du mußt Alix gefallen, sagte sie.«

»Das dürfte weniger schwer sein, als daß Sie ihren Eltern, vor allem dem Vater, gefallen müssen,« meinte ich.

»Gegen den härtesten Schädel hat sich noch immer der meine als der härtere erwiesen,« entgegnete er.

»Aber Ilse ist weich; ob sie schweren Kämpfen gewachsen sein würde?!«

»Gerade weil sie so zart ist, liebe ich sie, und nehme alle Kämpfe auf mich, – nur ihrer Treue muß ich sicher sein.« Dabei funkelten seine Augen. Ein starkes Temperament schien sich hinter den leichten Formen zu verstecken; würde die kleine Ilse es ertragen können?

»Sie ist noch sehr jung,« warf ich noch einmal ein. »Um so besser,« – ein warmer Glanz echter Freude verschönte seine Züge, – »wir Künstler brauchen leere Leinwand und unbehauenen Stein.«

Vor dem Abschied versprach er mir, sich meiner Mutter zu erklären, damit sie imstande sei, den Vater vorzubereiten. Ich ging nachdenklich heim. Ilse war ein leicht zu leitendes Kind gewesen, – fast zu leicht, denn mit dem Zuckerbrot der Liebe ließ sie sich willenlos hin- und herführen; aber hörte sie auch nur eine Peitsche knallen, so erwachte ein unbändiger Trotz in ihr, und in ihren Augen glühte der Haß gegen den, der sie meistern wollte. Würde die Liebe dieses Mannes, der nur aus von Energie gespannten Nerven und Sehnen zu bestehen schien, die richtige Grenze zu finden wissen?

Meine Mutter war zuerst außer sich, als Erdmann sich ihr eröffnet hatte. Sie kam zu mir und kämpfte mit den Tränen: »Nun bin ich es wieder, die Eurem Vater standhalten muß! Und ich habe es doch so satt!« »Dafür wirst du nachher um so mehr Ruhe haben,« suchte ich sie zu beruhigen. Ihre schmalen Lippen kräuselten sich, sie hatte wohl ein bitteres Wort auf der Zunge, aber sie sprach es nicht aus.

Erdmann verkehrte von nun an bei den Eltern. »Denk' nur, er gefällt Papa!« erzählte mir Ilse ganz glücklich, und die Mutter lebte wieder auf. Daß der Bewerber ihrer Tochter in guten Verhältnissen war, beruhigte sie vor allem. Und auch ich freute mich dessen; meine Schwester war ein verwöhntes Prinzeßchen; wie oft hatte nicht die Mutter vor ihr gekniet, um ihr die Stiefel zuzuschnüren, damit ihr nur ja der Rücken nicht schmerzte! Zu keinerlei Arbeit war sie jemals genötigt worden, – ich selbst hatte ihr nur zu häufig die Schularbeiten gemacht, damit das Köpfchen unter den schweren goldenen Flechten nicht gar zu müde wurde!

Eines Morgens kam die Nachricht: »Papa hat eingewilligt!« und daneben von der Mutter Hand: »Hans war ganz ruhig. Nur als Erdmann fort war, hat er sich stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen.« Er mußte doppelt gelitten haben, da er sich durch keinen Ausbruch seiner Leidenschaft mehr zu erleichtern vermochte. Ich konnte mich noch nicht freuen, weil ich nur seiner gedachte. Ob ich ihm schreiben dürfte, – ob ein verständnisvolles Wort von mir ihm zu helfen vermöchte?

Im Zoologischen Garten erwartete er täglich mein Kind. Er hatte immer die Taschen voll für den Kleinen; war das Wetter schlecht, so ließ er ihn zu sich kommen, setzte sich zu ihm auf den Teppich und baute dem Enkel Bleisoldaten in Schlachtordnung auf. Und stets ließ er mich grüßen, sagte das Mädchen. Er würde einen Brief von mir nicht zurückweisen! An einem blauen Bändchen knüpfte ich ihn meinem Jungen um den Hals, als er das nächste Mal zu »Opapa« fuhr. Auf dieselbe Weise brachte er die Antwort mit zurück:

». . . Hast es richtig getroffen, mein Kind: ein Auge weint, und das andere lacht nicht. Ich muß mich selbst überwinden. Wenn man das Fahrwasser kennt, dann hat die Hoffnung ihr Recht; aber das unbekannte Fahrwasser, in das man sein Letztes lassen muß, das gibt an keiner Stelle Ruhe. Daß Du mich verstanden hast, erfreut mich und macht mich dankbar.

Dein alter Vater.«

Meine Schwester strahlte vor Glück. Mit jener geistigen Beweglichkeit, die ihr von jeher eigen gewesen war, ging sie vollkommen auf im Künstlertum ihres Verlobten. Sie schien wirklich die leere Leinwand, der unbehauene Stein, aus dem erst unter seinen Händen ein lebendiges Werk werden sollte. Selbst ihre Kleidung richtete sie nach seinem Geschmack; sie war eine der ersten, die jene malerischen Gewänder trug, wie sie aus den Köpfen der jungen Vorkämpfer des aufblühenden Kunstgewerbes hervorgingen und von den Frauenrechtlerinnen aus hygienischen, von den Malern aus künstlerischen Gründen geschaffen wurden. Jedes Stück ihrer künftigen Einrichtung wurde nach den Zeichnungen Erdmanns angefertigt. »Oskars Stil entspricht so vollkommen meinem ästhetischen Empfinden,« sagte sie, und ihr Blick flog ein wenig hochmütig über unsere Möbel hinweg, »daß ich in einer anderen Umgebung nicht leben könnte.« Sie hatten nahe dem Kurfürstendamm eine Wohnung gemietet, die nach Erdmanns Angaben umgestaltet wurde. Kam das junge Paar mit der Mutter zu uns, so drehte sich das Gespräch um die Zukunftspläne mit all ihren reizvollen Details. Meine eigenen, die mich so glücklich gemacht, so ganz gefangen hatten, traten dabei zurück. »Du willst uns wohl mit eurem Haus überraschen, daß du so wenig davon erzählst,« meinte die Mutter einmal und ich nickte dazu.

Die Gründe, warum ich schwieg, waren freilich anderer Art. Das Haus, das inzwischen immer stattlicher aus der Erde herauswuchs, war zur Quelle neuer drückender Sorgen geworden. Wir hatten in unserer naiven Unkenntnis aller realen Forderungen des Lebens vorher nicht berechnet, daß doch auch während des Baues Zinsen zu zahlen waren, die unser Budget auf das Schwerste belasten mußten. Ich wußte oft nicht ein noch aus; dabei sah ich, wie mein Mann unter den Verhältnissen litt, und zwar um so mehr, je mehr er empfand, daß ich von ihnen betroffen wurde. Machte ich einmal irgend eine von der Angst diktierte Bemerkung, so fuhr er sich mit der Hand nervös durch das weiche, wellige Haar und sagte mit einem gequälten Ausdruck in den Zügen: »Kümmere dich doch nicht darum! Überlasse mir all diese Lappalien. Ich werde dir alles aus dem Wege räumen.«

 

Um jene Zeit kamen die Kinder aus den Ferien zurück. Ich fürchtete mich schon davor, denn noch Wochen nachher pflegten sie mir in naivem Egoismus zu erzählen, was alles bei ihrer Mutter besser und schöner gewesen war. Hörte es Heinrich, so schalt er sie, weil er sah, daß es mich kränkte, und eine bleischwere Stimmung herrschte um unseren Tisch. Diesmal stürmten sie besonders eilig die Treppe hinauf; – so freuen sie sich doch, nach Hause zu kommen, dachte ich. Wolfgang, der Leichtfüßigere, kam zuerst. Kaum ließ er sich Zeit, mich zu begrüßen. »Die Mutter läßt dir sagen,« rief er atemlos, »sowas dürfte nicht mehr vorkommen. Mützen hatten wir, wie sie in Österreich nur Portiers tragen, und Anzüge, über die die Bauernjungens lachten.« Ich fühlte, wie blaß ich wurde. Ich hatte sie wie immer für die Reise neu eingekleidet, um ja keinerlei Vorwurf auf mich zu laden. Und diesmal war es mir noch schwerer geworden als sonst. Bei Tisch fing auch Hans, der stets zurückhaltender war, zu erzählen an. »Warmes Abendessen ist viel gesünder, meint die Mutter,« sagte er, »und es schmeckt auch besser als immer bloß Wurst.«

Ich war so überreizt, daß ich mit den Tränen kämpfte, und als am nächsten Morgen auch noch ein Brief aus Wien kam, in dem mir die Mutter der Kinder über meine unzureichende Erziehung allerlei Vorhaltungen machte, war es zu Ende mit meiner Selbstbeherrschung. Konnte ich die Kinder denn überhaupt erziehen, wo ich ständig fürchtete, von ihnen als die böse Stiefmutter angesehen zu werden und damit jeden Einfluß zu verlieren?! Konnte ich sie strafen, wo ich wußte, daß sie sich bei der eigenen Mutter darüber beklagen würden?! Ich zeigte Heinrich den Brief und schüttete ihm, nicht ohne mich selbst all meiner versäumten Pflichten anzuklagen, mein Herz aus.

»Und das alles sagst du mir erst jetzt?« rief er. »All den Kummer schleppst du mit dir herum und sprichst dich nicht aus?« Er schlang den Arm um mich und küßte mir die Tränen aus den Augen. »Hier muß gründlich Wandel geschaffen werden, um deinetwillen . . .« »Vor allem um der Kinder willen, Heinz,« unterbrach ich ihn; »so gut geartet, wie sie sind, – schließlich müssen sie Schaden leiden.« Wir berieten, was zu tun sei.

In früheren Jahren hatte die Mutter wiederholt versucht, ihre Söhne bei sich zu behalten, aber immer wieder hatte Heinrich sie zurückgefordert. »Wie konntest du?!« sagte ich mit leisem Vorwurf. »Kinder gehören zur Mutter!« »Ich war sehr einsam, sehr liebebedürftig; ich hatte im Scheidungsprozeß mit Nägeln und Zähnen um die Kinder gekämpft,« antwortete er. »Jetzt aber ist die arme Frau viel einsamer als du, –« »– sie zu bemitleiden, habe ich keinen Grund,« entgegnete er hart, »sie war es, die zuerst ihre Kinder im Stiche ließ! Jetzt darf nur die Rücksicht auf dich und auf das Wohl der beiden Buben den Ausschlag geben.«

In der Nacht nach unserem Gespräch warf sich Heinrich im Bett schlaflos hin und her; im ersten Morgengrauen stand er leise auf, und ich hörte, wie er im Zimmer nebenan auf und nieder ging. Ich hätte doch nichts sagen sollen, dachte ich angstvoll. Er sah müde und vergrämt aus, als er wieder zu mir hereinkam.

»Ich habe mich entschlossen, ihr die Kinder anzubieten,« sagte er.

»Wollen wir nicht doch lieber alles beim alten lassen, – ich sehe vielleicht nur zu schwarz,« warf ich ein.

Ich dachte an die Stunde, da er mir mit der Bitte, sie recht lieb zu haben, seine Söhne anvertraut hatte. Er sah so finster drein! Jähe Furcht beschlich mich um meinen kostbaren Besitz: seine Liebe. Aber er blieb bei dem einmal gefaßten Beschluß.

Sein Anwalt schrieb in seinem Auftrag nach Wien. Die Antwort war keine rückhaltlos zustimmende: jede Verbindung, so wünschte die Mutter, sollte zwischen den Söhnen und dem Vater abgebrochen werden, sobald sie ihr Haus betreten würden. Wochenlang zogen sich die Verhandlungen hin, und die Korrespondenz nahm eine immer erbittertere Form an. Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie Heinrich litt, und all die Selbstvorwürfe, die mich quälten, nicht mehr ertragen.

Eines Abends benutzte ich meines Mannes Abwesenheit und fuhr mit dem Nachtzug nach Wien. Vom Hotel aus meldete ich mich bei der Mutter der Kinder an. Herzklopfend stieg ich die steinernen Stufen hinauf. In einem Salon mit schweren Renaissancemöbeln empfing sie mich, eine schlanke, dunkle Frau mit scharf geschnittenen, fast männlichen Zügen. Sie gab mir nicht die Hand, sie zögerte offenbar, mir auch nur einen Stuhl anzubieten.

»Ich komme, weil ich hoffe, daß eine mündliche Besprechung leichter zum Ziele führen wird,« begann ich.

»Er schickt Sie?« Ihre Stimme hatte einen merkwürdig leblosen, kalten Ton, als käme sie weit her aus dunkler Tiefe.

»Nein! Ich reiste ohne sein Wissen. Wir Frauen, meine ich, werden uns verständigen, – mit einigem guten Willen natürlich, – denn zwischen uns steht nichts –«

»Meinen Sie wirklich, daß zwischen uns nichts steht?!« Ein Blick voll Haß streifte mich. »Meine Kinder stehlen Sie mir!«

»Ich?! –« Aufs Äußerste erstaunt sah ich sie an. »Ich, die ich sie Ihnen wiederbringe?!« Aber sie hörte nicht auf mich. In leidenschaftlicher Erregung kamen die Worte, sich überstürzend, von ihren Lippen: »Habe ich nicht in diesem letzten Sommer tagtäglich hören müssen: ›Die Mama erlaubt das alles, – die Mama straft uns nicht, – die Mama schenkt uns dies und jenes‹?! Und jetzt soll ich vielleicht erleben müssen, daß meine eigenen Kinder sich fort wünschen von mir? Oder jedesmal unzufrieden heimkehren, wenn sie, wie ihr Vater es wünscht, zu den Ferien in Berlin gewesen sind?!«

Ich verstand sie, – so hatte ich auch ihr unbewußt Böses getan! »Sie wissen, mein Mann hat für das erste Jahr schon auf ein Wiedersehen verzichtet,« antwortete ich.

»Das ist aber auch das Allermindeste, was ich verlange! Im übrigen –,« sie nahm wieder den alten eisigen Ton an und zwang sich zur Ruhe, »muß ich umziehen, ehe die Kinder kommen. Sie sehen hier meine Wohnung –,« sie wies nach dem Eßzimmer nebenan, »ich habe keinen Platz für sie.«

Keinen Platz für die eigenen Kinder?! Sie schien zu fühlen, was ich empfand, denn rasch fuhr sie fort: »Ich wünsche, daß die durch Unordnung sowieso schon genug geschädigten Buben gleich in ein regelmäßiges Leben, eine zu ernster Arbeit gestimmte Häuslichkeit kommen.«

»Und wann, meinen Sie, dürfte das sein?« Drängte ich. »Die Situation ist für alle Teile unerträglich!«

Sie lächelte: »Finden Sie? Ich habe Schlimmeres ausgehalten!« Tiefe Falten gruben sich auf ihre Stirn, um ihre Mundwinkel. Wieder streifte mich ein Blick, – zum Fürchten. »Warten Sie nur, bis Sie fünf, sechs Jahre mit ihm gelebt haben werden!«

Ich erhob mich, – fast wäre der geschnitzte Stuhl bei meiner raschen Bewegung zu Boden geglitten. Hier hatte ich nichts mehr zu tun. Sie geleitete mich hinaus. Und als müßte sie mir zuletzt noch ihren Haß fühlen lassen, sagte sie: »Ich werde schwere Mühe haben, – die Kinder sind zu schlecht erzogen.«

Ich dachte an die Buben, – an ihre lustigen Knabenstreiche, an die ungebundene Freiheit, die sie genossen. Noch ein gutes Wort wollte ich bei der strengen Frau für sie einlegen und sagte bittend: »Sie werden ihnen nicht zu plötzlich die Wandlung fühlen lassen?«

»Wie können Sie sich erlauben –?!« rief sie fassungslos. »Wer ist hier die Mutter: Sie oder ich?!«

Krachend fiel die Flurtüre hinter mir zu. In der nächsten Nacht fuhr ich nach Berlin zurück. Nicht das mindeste glaubte ich erreicht zu haben. Ein Brief des wiener Anwalts folgte mir auf dem Fuße. Er enthielt den unterschriebenen Vertrag und übermittelte den Wunsch, den Kindern möchte die Reise nach Wien nur als ein Besuch dargestellt werden, »damit sie gerne kommen.«

Das war ein Jubel: Der Schule entrinnen, – und eine Reise nach Wien! Wir brachten sie zur Bahn und sahen den strahlenden Gesichtern nach, die grüßend aus dem Kupeefenster nickten, bis der Zug unseren Blicken entschwand.

 

Kaum drei Wochen später kehrten sie zurück, – still und blaß. Wolfgangs rundes Kindergesicht war schmal geworden, in Hans' dunkeln Augen hatte sich der Ausdruck von Melancholie noch vertieft. Ihr Aufenthalt in Wien war wirklich nur ein Besuch gewesen. Ob die einsame Frau das Glück nicht ertragen hatte? Ob die Forderungen eines Lebens für andere sie erdrückt haben mochten? In die größte, die letzte Einsamkeit hatte sie plötzlich der Tod entführt.

Aber noch darüber hinaus wirkte ihr Haß: das Testament bedrohte die Kinder mit Enterbung, wenn sie im Hause des Vaters bleiben würden. Und so mußten sie wieder fort, da sie der Wärme, der Liebe am meisten bedurften.

Von einer neuen Schule im Harz hatten wir erfahren, wo die Jugend in schöner Abwechselung von Spiel und Arbeit, von der Übung körperlicher und geistiger Kräfte sich frei und fröhlich zu entwickeln vermag, einer Schule, deren Leiter den Mut hatte, dem Geist engherzigen Preußentums den Eintritt bei sich zu verwehren. Dorthin brachten wir sie. Es war das beste, das wir hatten finden können, und doch so schrecklich wenig für die, denen die Mutter gestorben war.

 

Nun war es still bei uns im Hause. Ottochen, der sich inzwischen auf seinen eigenen Füßchen zu bewegen gelernt hatte, lief im Zimmer der Brüder von Stuhl zu Stuhl, guckte in die Schränke und unter die Betten und rief vergebens »Wof« und »Ans«. Zuerst weinte er, weil sie nicht kamen, um mit ihm zu »pielen«, dann erinnerte er sich ihrer nur noch, wenn er auf meinem Schoß am Schreibtisch saß und ich ihm ihre Bilder zeigte. Er war ein unbändiger kleiner Kerl, der nie lange an einem Platz aushielt. Ein Sonnenstrahl im Zimmer, eine Fliege am Fenster, Hundegebell und Pferdegetrappel auf der Straße, – alles erregte seine brennende Neugierde; wenn aber gar Soldaten vorübermarschierten, so zappelte er mit Händen und Füßen vor Freuden, und rief, so laut er konnte: »Daten! daten!«

Seitdem der Großvater sich dem Enkel zu Liebe einmal in die alte Generalsuniform gezwängt hatte, ging er noch einmal so gern in die Ansbacherstraße. »Apapa Dat, Apapa Dat,« hatte er mir mit erstaunten Augen und einem Ausdruck von Ehrfurcht in dem Gesichtchen damals erzählt. Und »Apapa dehn!« schrie er mit Stentorstimme, wenn wir nicht ruhig genug mit ihm spielten.

Eines Abends im Herbst kam meine Mutter und erzählte mir, der Vater habe heute, ohne sie zu fragen, die Wohnung gekündigt. »Er will im Grunewald mieten,« fügte sie hinzu, »um Ottochen nahe zu sein.« Mir wurden die Augen feucht: so ersetzte ihm der Enkel die Tochter, die er verloren hatte.

Kurze Zeit darauf bekam ich einen Brief von ihm:

»Liebes Kind! denke doch nicht, daß es mir genügt, Deinen Jungen bei mir zu sehen. Alte Leute brauchen viel Wärme, darum sagte ich Ottochen heute, daß er Papa und Mama das nächste Mal mitbringen soll. Er sah mich so ernsthaft an, daß ich glaube, er hat mich verstanden.

Dein treuer Vater.«

Und so trat ich mit meinem Kind auf dem Arm in die alte Wohnung. Die Schwester kam mir entgegen: »Nun wird meine Hochzeit erst ein richtiges Fest für mich sein,« sagte sie und küßte mich stürmisch. Sie öffnete die Tür zum Zimmer des Vaters. »Er kommt gleich,« flüsterte sie und lief davon. Ich mußte mich setzen; die Kniee zitterten mir. Alles hatte ein Gesicht, ein liebes, vertrautes: die verblichenen Sessel, die so einladend die Armlehnen nach mir ausstreckten, der alte, grüne Teppich, der sich warm und weich unter meine Füße schmiegte, die dunkeln Bilder an der Wand, die zu lächeln schienen. Auf dem Schreibtisch lagen wie einst in Reih und Glied die sorgfältig gespitzten Bleistifte und die Gänsefedern, die der Vater sich selbst zu schneiden pflegte, und der »Soldatenhort«, für den er schrieb. Und in der Ecke – die alte Reiterpistole! Aus dem Zimmer war ich einmal geflohen vor ihr! – Der sie auf mich gerichtet hatte, rief mich heut zurück! Nein, – mich nicht! Nur dieses süßen blonden Kindes Mutter!

Die Türe ging auf. »Apapa!« rief der Kleine und streckte ihm die Ärmchen entgegen. Im nächsten Augenblick fühlte ich uns beide umfaßt: Die Lippen zitterten, die meine Stirn berührten. »Wir wollen einander nicht weich machen, Alix,« sagte er leise. »Wir wollen so tun, als wärst du gar nie weg gewesen.«

Von nun an sahen wir uns oft. Mühsam, mit schwerem Atem, auf jedem Treppenabsatz minutenlang innehaltend, kam er immer häufiger zu uns herauf, und meist um die Stunde, die er früher im Kasino zuzubringen pflegte. Er hatte stillschweigend auch diese alte Gewohnheit aufgegeben, und als die Mutter ihn darnach fragte, sagte er: »Was soll ich mich jetzt noch über Menschen und Zeitungen ärgern?!«

Mein Mann, der sich nie als »Schwiegersohn« fühlte, sondern stets sehr zurückhaltend, sehr förmlich blieb, gefiel ihm. »Du ahnst ja kaum, wie der Frieden auf mich wirkt,« schrieb er mir einmal. »Ich bin Dir die Erklärung schuldig, daß dein Mann, dessen vollendeter Takt mir so wohltuend ist, ganz auf mich zählen kann.«

Zuweilen fuhr er mit uns in den Grunewald, wo er zum Frühjahr in unserer Nähe eine Wohnung gemietet hatte. Er strahlte vor Freude, wenn er unser Häuschen wachsen und werden sah.

»Wie mich das glücklich macht, dich so ohne Sorgen zu wissen,« sagte er zu mir, während er unermüdlich über die Balken kletterte und jeden Raum in Augenschein nahm. Dann drückte er Heinrich die Hand: »Daß du meiner Alix solch eine Heimat schaffst!«

Draußen im Garten freute ihn jeder Strauch, der gepflanzt wurde. »Hier muß Ottochen einen großen Sandhaufen haben,« – meinte er, »und eine Schaukel und eine Kletterstange, damit seine Muskeln straff werden. Daneben aber baut mir eine Laube, in der ich im Sommer, ohne euch zu stören, sitzen und mit meinem Jungen spielen kann.«

 

An einem dunkeln Spätherbsttag, kurz vor der Hochzeit meiner Schwester, kam ich nach Hause. »Exzellenz ist beim Kleinen,« sagte das Mädchen. Ich nickte lächelnd. Ottochen war nicht ganz wohl und durfte des schlechten Wetters wegen nicht ausgehen. Nun kam der Großvater zu ihm. Ich trat in sein Zimmer. Auf dem Teppich saß mein Kind, vertieft in die neuen Soldaten, die ihm »Apapa« mitgebracht haben mochte; im Lehnstuhl lag der Vater tief zurückgelehnt und schlief. Der sonst so lebhafte Junge bewegte sich leise zwischen dem Spielzeug und sah erschrocken auf, als ich näher trat. »Pst, pst!« machte er und legte ein Fingerchen auf die Lippen. »Apapa baba!«

Der graue Schatten des frühen Abends kroch durch die Fenster. Schwer lag er über den Zügen des Schlafenden, verwischte jede Lebensfarbe, ließ jede Falte tiefer erscheinen. Ich faltete unwillkürlich die Hände: Wie alt, wie blaß, wie müde sah er aus! Und war doch ein so starker Mann gewesen und den Jahren nach kein Greis! Ich sank in die Kniee und küßte die herabhängende Hand. Der Kummer um mich war es gewesen, der ihm ein Stück seines Lebens gekostet hatte.

 

Ende November wurde Ilse im Elternhaus mit Oskar Erdmann getraut. Nur die nächsten Verwandten waren geladen worden, und auch von ihnen hatten manche abgesagt, als sie erfuhren, daß wir zugegen sein würden. Meine Schwester sah aus wie eine Frühlingselfe. Alles Licht im Raum ging von ihren goldenen Haaren aus, deren Glanz selbst der keusche Brautschleier nicht zu dämpfen vermochte. Erdmann schien mir noch schmaler als sonst. Ein unbestimmtes Angstgefühl beschlich mich. Meiner Schwester »Ja!« klang so froh, so hell an mein Ohr, daß es die Sorge verscheuchte. Als aber der Geistliche sich fragend an ihn wandte, verschlang ein rauher Husten, unter dem ich seinen Rücken beben sah, seine Antwort. Mir war, als wechselten seine Geschwister, die neben uns standen, einen erschrockenen, vielsagenden Blick. Doch wie das junge Paar sich uns zuwandte, überstrahlte ihr Glück auch diesen Eindruck.

Vor der Hochzeitstafel überkamen mich alte Träume. Sie stiegen aus den schlanken Kelchen, die einst aneinanderklangen, während Walzermelodien mich umrauschten, sie schimmerten in den silbernen Jardinieren, in denen so viel Rosen, – duftende Zeugen meiner Balltriumphe –, verblüht waren.

Jemand schlug ans Glas. Nun, wußte ich, wird meines Vaters klare Stimme die Luft in rasche Schwingung versetzen, sein Geist und sein Witz wird alle bezaubern, und alle verdunkeln, die nach ihm reden werden. Erwartungsvoll sah ich ihn an.

Seine Finger zerdrückten unruhig die Serviette, seine Lippen öffneten sich einmal – zweimal, bis daß ein Ton sich ihnen entrang, der rauh und heiser war. Und dann sprach er, – langsam, schwerfällig, wie eingelernt. Meine Erwartung verwandelte sich in Staunen, mein Staunen in Angst. Seine Hand hob sich wie zu einer jener alten Gesten, die so wirksam zu unterstreichen pflegten, was er sagte, – gleich darauf sank sie schlaff herab, die Lippen zuckten, – der begonnene Satz zerriß; – eine qualvolle Pause; – dann griff er hastig nach dem Kelchglas, hob es empor, wobei die Tropfen zitternd über den Rand spritzten: »Die Familie Erdmann lebe hoch – hoch – hoch!« – In den Stuhl sank er zurück; seine Augen wanderten wie um Verzeihung bittend von einem zum anderen, und als sein Blick den meinen traf, sah ich die Träne, die ihm in den Wimpern hing.

 

Im Winter ging es meinem Vater Woche um Woche schlechter. Es duldete ihn nicht im Hause; schon früh trieb ihn eine unerklärliche Unruhe fort; versuchte die Mutter, ihn zurückzuhalten, so setzte er ihren Bitten einen so heftigem Widerstand entgegen, daß sie ihn gehen lassen mußte. Er besuchte meine Schwester und schleppte sich bis zu uns herauf, obwohl es ihm täglich schwerer wurde. Es war, als ob er das Alleinsein mit der Mutter nicht ertrüge. Nur wenn sein Enkel bei ihm war, wich seine innere Unruhe einem Ausdruck stillen Friedens. Zuweilen verließ ihn das Gedächtnis, dann nannte er den Kleinen »Alix« und war noch zärtlicher zu ihm als sonst. Einmal kaufte er eine Puppe, um sie »Alix« zu schenken; als ihn die Mutter auf den Irrtum aufmerksam machte, geriet er in helle Wut. »Alle Freude willst du mir verderben,« schrie er und sprach stundenlang nicht mit ihr. Irgendeine Pflege duldete er nicht; er schloß sich im Schlafzimmer ein, wenn der Arzt kommen sollte.

Ich sah, wie meine Mutter sich mühte, ihm alles recht zu machen. Aber die Sorgfalt, mit der sie ihn umgab, hatte etwas Kühles, Fremdes, – als ob das Herz nicht dabei wäre. Sie litt unter seiner Heftigkeit; es kam vor, daß ihre starre Selbstbeherrschung zusammenbrach; dann weinte sie bitterlich, aber es waren Tränen des Zornes, nicht des Leides. »Er ist so böse zu mir, so böse!« kam es krampfhaft zwischen ihren fest geschlossenen Zähnen hervor. Hilflos stand ich vor der Offenbarung der Ehetragödie meiner Eltern. Manches Erlebnis, das meine Jugend verbittert hatte, tauchte in der Erinnerung wieder auf, und ich fand jetzt den Schlüssel dazu.

»Die Ehe hat sie zerstört,« sagte ich zu meiner Schwester, als wir darüber berieten, wie ihnen vielleicht noch zu helfen sei.

»Ja, – das glaube ich gern,« antwortete sie mit einem grüblerischen Ausdruck, der ihrem weichen Gesichtchen sonst fremd war.

Ich horchte auf; – kaum zwei Monate war sie verheiratet! Von da an führte mein Weg, wenn ich zu den Eltern ging, regelmäßig bei ihr vorüber. Ich hatte sie in ihrem jungen Glück nicht stören wollen, jetzt trieb mich die Sorge, zu sehen, ob es nicht schon gestört war. Aber ich fand sie stets heiter inmitten ihrer schönen Häuslichkeit, die in Formen und Farben so harmonisch zusammenstimmte, daß eine Vase, ein Blumenstrauß schon störend zu wirken vermochte, wenn sie nicht in bewußtem Einklang damit gewählt worden waren. Und ich fand ihren Mann zärtlich um sie besorgt, – in einer Art freilich, die ich nicht vertragen hätte, die der Natur Ilsens aber zu entsprechen schien. Er bestimmte ihre Kleidung, er beaufsichtigte die Hauswirtschaft, er ordnete den Tisch, wenn Besuch erwartet wurde. Und alles nahm unter seiner Hand den Charakter seines Künstlertums an: der Vornehmheit, die jedes äußeren Schmuckes entbehren konnte, weil sie das Wesen des Materials zu reinstem Ausdruck brachte; der jedem lauten Ton abholden Ruhe, die wie Sonnenuntergang am Tage durch die orangeseidenen Vorhänge klang und am Abend in den Falten der grünen, die sich darüber breiteten, träumte; und der Liebe zur Natur, die sich in allem, was ihn umgab, widerspiegelte, – in den dunkelroten Kastanienblättern der Tapete, den zarten Pflanzen- und Vögelstudien japanischer Holzschnitte, dem Wandteppich mit dem stillen Waldbach, auf dem die Schwäne ziehen. Es war gut sein bei ihnen, und wer davon ging, dem kam die Welt draußen doppelt häßlich, unharmonisch, laut und herzlos vor. Aber es ging auch etwas wie eine Lähmung von dieser Umgebung aus, etwas, das vom wirklichen Leben gewaltsam abzog.

Die Gäste des Hauses entsprachen dieser Stimmung; keine der Fragen, die uns bewegten, traten mit ihnen über seine Schwelle. Die Kunst stand im Mittelpunkt all ihres Denkens und Fühlens; nicht jene nebenabsichtslose, die wächst wie ein Baum, gleichgültig, ob nur einsame Wanderer ihn finden, oder ob Scharen unter seinem Schatten ruhen, sondern jene märchenhafte Treibhausblume, die nur für die Auserwählten gezogen wird. Sie vertraten alle den Individualismus, aber hinter ihrer Forderung der höchsten Kultur des Individuums verbarg sich nur sein Kultus. Man sprach mit halber Stimme, man las Bücher, die in numerierten Exemplaren nur für einen kleinen Kreis von Freunden gedruckt wurden; am Flügel saß häufig ein katholischer Priester, der in dem milden Wachskerzenlicht des zartgetönten Salons Palestrinas feierliche Weisen ertönen ließ.

Dieselbe Atmosphäre, die sich weich um die Stirne legt, herrschte hier, wie im Theater, wo Hofmannsthals Hochzeit der Sobëide jenen Haschischrausch hervorrief, der der Welt entrückt. Und am Ende des Jahrhunderts jauchzte die Jugend den neuen Göttern ebenso stürmisch zu, wie wir die Ibsen und Gerhart Hauptmann empfangen hatten. Flüchteten die Menschen nur im Gefühl ihrer Schwäche aus der Wirklichkeit, oder waren nicht unter denen, die sich abseits des rauhen Lebens in einem weißen Tempel versteckten, auch solche, die als geweihte Priester der Menschheit wieder aus ihm hervorgehen werden?

Ich hätte die Frage nicht entscheiden können, aber mein Optimismus glaubte gern an Keime neuen Werdens, wo andere Fäulniserscheinungen sahen. Auch Erdmanns Persönlichkeit berechtigte dazu. Er selbst wurzelte zu bewußt im Boden der Erde, als daß er seine Kunst ihr hätte entreißen können. Er behandelte die jungen Männer, die seine genial geknoteten Krawatten nachahmten, von seinem tiefsten Wesen aber wenig wußten, mit leiser Ironie. Die l'art pour l'art-Devise war für ihn nicht das Letzte.

»Wir müssen den Snob benutzen,« sagte er, als wir einmal unter uns waren, »um allmählich zum Volk zu kommen. Es ist mit dem Kunstgewerbe wie mit der Mode: Das Neueste ist zuerst ein Vorrecht der Wenigen und nach einem Jahr die Gewohnheit der Massen.« Lebhaft hin- und hergehend setzte er uns dann seine Zukunftspläne auseinander: Handwerkerschulen wollte er schaffen, in denen nicht alte Klischees immer wieder benutzt werden, sondern die neuesten und schönsten Errungenschaften der Kunst zu Mustern dienen.

»Es ist bewundernswert, wie verständnisvoll all die kleinen Handwerker, die ich jetzt schon zusammengesucht habe, meinen Ideen entgegenkommen. Sie sind in ihrem Geschmack weniger verdorben, sie haben vor allem weit mehr Gefühl für das Material, das sie bearbeiten, als die meisten unserer Kunstgewerbetreibenden, die vor lauter theoretischem Wissenskram jede persönliche Stellung zu den Dingen verloren haben –.« Ein heftiger Hustenanfall unterbrach ihn, rote Flecken zirkelten sich auf seinen eingefallenen Wangen ab. Meine Schwester erblaßte, lief hinaus und brachte ihm eine Tasse Tee, die er entgegennahm, wie etwas längst Gewohntes. »Der berliner Winter, – dies ekelhafte Regenwetter –,« sagte er dann und lehnte sich müde in den Stuhl zurück, während seine Brust sich noch krampfhaft hob und senkte. »Ich war um diese Zeit immer im Süden –,« fügte er halblaut wie zu sich selbst hinzu.

Wir gingen. Meine Schwester begleitete uns bis zur Tür. Ich sah sie fragend an. Sie nickte, um ihren Mund zuckte es verräterisch: »Ich weiß, – wir sollten fort, aber er will nicht. Er kann seine Arbeiten nicht im Stiche lassen, sagte er. Aber später, in Jahr und Tag, wenn er sehr viel verdient haben wird, –« dabei lächelte sie wieder hoffnungsvoll, – »dann wollen wir reisen –« »Ilse!« klang es ungeduldig von innen. Sie fuhr erschrocken zusammen: »Nun wird er wieder böse sein!« und lief, sich hastig verabschiedend, hinein.

Wochenlang war er an das Zimmer gefesselt. Nun ging meine Mutter zwischen dem Mann und dem Schwiegersohn unermüdlich hin und her. »Ilschen ist viel zu zart für solch eine Pflege,« meinte sie, während sie selbst dabei immer magerer wurde. Bat ich sie, sich zu schonen, so hatte sie nur die eine Antwort: »Solange mir Gott Pflichten auferlegt, habe ich sie zu erfüllen.« Dabei rückte der Umzugstermin näher; er mußte pünktlich inne gehalten werden, denn die Wohnung der Eltern war vermietet. In der Nacht, wenn der Vater schlief, kramte und packte die Mutter, um ihn nur ja bei Tage damit nicht zu stören.

Bei uns sah es ähnlich aus, denn unser Häuschen war inzwischen fertig geworden, und der Tag des Einzugs war festgesetzt. Aber die Freude fehlte, mit der ich ihm vor Monaten entgegengesehen hatte.

»Sind wir erst draußen, so wird alles gut werden,« versicherte mir Heinrich immer wieder, wenn meine sorgenvollen Mienen ihm meine Stimmung verrieten. »Glaubst du, daß wir Taler von den Kiefern schütteln können, wie das Kind im Märchen?« antwortete ich. »Wertvollere jedenfalls,« meinte er gereizt. »Deines Kindes und deine Gesundheit, deine Arbeitskraft sind doch wohl wichtiger, als die paar blauen Lappen, die du momentan vermißt.« Ich zuckte die Achseln. Die Sorgen waren ja meine Krankheit, und sie gedeihen auch in der besten Luft.

 

Hans geht es schlecht, kommt bitte gleich –« Meine Mutter schickte diese Zeilen. Wir fuhren in die Ansbacherstraße. Auf seinem Lehnstuhl saß der Vater, halb angezogen, mit blaurotem Gesicht und blutunterlaufenen Augen. Gepackte Kisten standen umher, öde starrten uns die vorhanglosen Fenster entgegen, grauer Staub lag auf den abgeräumten Tischen.

»Ich will nicht zu Bett, – ich will nicht,« stöhnte der Kranke. Der Mutter liefen die Tränen über die abgehärmten Wangen.

»Er stößt mich zurück, wenn ich ihm helfen will,« flüsterte sie. Der Arzt trat ein. Mit gewaltsamer Anstrengung erhob sich der Vater, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch vor ihm und schrie, während die Augen ihm aus den Höhlen zu treten schienen: »Hinaus – hinaus! Ich mag keinen Quacksalber!« –

Dann brach er zusammen, krallte die Hand in die linke Seite, – langsam wich die Farbe aus seinen Zügen; willenlos ließ er sich ins Schlafzimmer führen, den Kopf tief gesenkt, schwankend, mit kleinen, unsicheren Schritten. Im Bett lag er ganz still. Nur die Augen, die merkwürdig groß und klar geworden waren, sprachen, was die Lippen nicht sagen konnten.

Während Heinrich und Erdmann von den neuen Mietern der Wohnung, die sich zu einem Aufschub des Einzugs nicht verstehen wollten, zum nächsten Krankenhaus fuhren, um die Übersiedlung dorthin vorzubereiten, und die Mutter mit Ilsens Hilfe draußen das Notwendigste zusammenpackte, war ich allein bei dem Kranken.

Wir redeten miteinander. Seine Augen bohrten sich forschend in meine Züge. »Du kannst ruhig, – ganz ruhig sein, lieber Papa. Ich bin vollkommen glücklich –,« versicherte ich. Sie leuchteten auf, um sich gleich darauf in jäher Angst, halb geschlossen, wieder auf mich zu richten. »Ich liebe dich, Papa, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben,« antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. Um seine blassen Lippen zuckte ein leises Lächeln, seine schwache Hand versuchte, die meine zu umschließen, die Lider deckten sekundenlang die stahlblauen Pupillen, – dann zuckten sie schreckhaft wieder empor. Eine einzige, ungeheure, verzweifelte Frage starrte aus diesen Augen, in die das ganze Leben sich zu einer letzten Zuflucht zusammendrängte. Ich verstand. Vorsichtig löste ich meine Hand aus der seinen und ging hinaus – »Mama!« rief ich leise. Sie kam. Ich sah noch zwei Hände, die sich zitternd ihr entgegenstreckten, – dann zog ich die Türe hinter mir ins Schloß . . .

Als der Krankenwagen vorfuhr, trat sie aus dem Zimmer, bleich, regungslos, wie versteinert. »Er schläft,« sagte sie. Ich beugte mich über ihn: wie ein Hauch schwebte der Atem nur noch von seinen Lippen. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht weiß und still, beherrscht von einem Ausdruck feierlichen Ernstes.

 

Zu Hause lief mir mein Kind entgegen. »Apapa dehn!« schrie es ungeduldig. Es war die Stunde seiner täglichen Ausfahrt. Ich schüttelte traurig den Kopf. Da fing es an herzbrechend zu schluchzen.

 

Noch zwei Tage atmete der Sterbende. Mit einer Ruhe, von der ich nicht wußte, ob ich sie bewundern oder mich vor ihr entsetzen sollte, ordnete die Mutter alles an, als wäre er schon gestorben.

Angstvoll sah ich hinüber zu dem starren Gesicht in den weißen Kissen. »Er ist ohne Bewußtsein,« hatte der Arzt versichert. Zuweilen aber schien mir, als hörte er noch, als sähe er mit geschlossenen Augen, als ginge ein Beben durch seinen Körper.

In der dritten Nacht starb er.

 

Droben an der Hasenhaide, wo der Riesenleib der Stadt sich gigantisch den Hügeln zu Füßen hinstreckt und der Sturm ungehindert durch die alten Bäume pfeift, ist die letzte Garnison der Soldaten. Von den Schießständen grüßen die Flintenschüsse herüber, von den Kasernenhöfen die Trompetensignale, und vom Tempelhofer Feld klingen zuweilen die Kriegsmärsche in den Frieden des Kirchhofs.

Dorthin trugen alte Regimentskameraden den Sarg, in dem der Tote schlief, gehüllt in den Mantel, der in allen Feldzügen sein unzertrennlicher Begleiter gewesen war. Es war ein stilles Begräbnis. Für die alten Freunde war er gestorben, als er sich mit mir, der Abtrünnigen, versöhnte.

Auch der Kaiser hatte des Mannes vergessen, der seinem Ahnherrn in Frankreichs blutgetränkter Erde die Krone des deutschen Reiches erobern half.

 

Acht Tage später verließen wir die Wohnung, in der die Sonne durch alle Fenster hatte fluten können, in der mein Sohn geboren worden war. »Ottoo – addaa –« jauchzte er wieder, als wir davonfuhren; aber die Fenster des Wagens waren geschlossen, und der Frühlingsregen peitschte an das Glas. Im Walde draußen empfing uns die neue Heimat: Unter dem tiefen grauen Dach unseres Hauses schauten die kleinen Fenster wie Augen unter schattenden Wimpern hervor, geheimnisvoll lockend und feindselig abwehrend zugleich. Darüber wiegten die Kiefern ihre schwarzen Kronen. Es war wie ein Stück der stillen, ernsten Natur, die es umgab. Und still und ernst trat ich über seine Schwelle.

 


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