Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin – Lehrjahre
Lily Braun

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Zwanzigstes Kapitel

An einem schönen Sommersonntag besuchten uns die Eltern wieder. Sie berührten das Vergangene nicht mehr. Und von da an kamen sie oft, aber meist jeder allein. »Bei Euch ist's so schön ruhig!« pflegte Mama zu sagen, wenn sie sich tief in den Lehnstuhl gleiten ließ. »So viel Sonne habt Ihr!« bemerkte der Vater und stellte sich mit dem Rücken ans Fenster in die hellsten Strahlen, als fröstle ihn. Auch das Schwesterchen lief oft herüber. Sie war ein bildhübscher Backfisch geworden, mit einem suchenden Glanz in den Augen. »Papa brummt immer, – wir gehen ihm so viel als möglich aus dem Wege!« erzählte sie.

Sonntags mußte ich zu Tisch zu den Eltern kommen, oder zu Onkel Walters. Es war jedes Mal eine Quälerei, denn um zwecklosen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen, blieb mir nichts übrig, als zu schweigen, während mir das Blut oft vor Zorn in den Schläfen klopfte. Man vermied zwar von der Ethischen Bewegung zu sprechen, schimpfte aber um so mehr auf Juden, Kathedersozialisten und Egidyaner, als den »Hilfstruppen« der Sozialdemokratie, und die Tante besonders fand ein Vergnügen darin, mich durch ihre schwärmerische Kaiser-Verehrung zu reizen.

Einmal nahm mich der Onkel beiseite, und ich erwartete schon ein wohlgemeinte politische Belehrung, als er von Egidy zu sprechen begann. »Er ist ein Phantast, aber trotz alledem ein Edelmann und dein Freund,« sagte er, »da gehört sich's, daß du ihn vor Schaden bewahrst. Er hat sich droben bei uns mit einem meiner Nachbarn, einem notorischen Schwindler – Wohlfahrt heißt der Kerl zum Überfluß! –, wie ich höre, des Näheren eingelassen. Warne ihn, ehe es zu spät ist.« Ich ließ mir die nötigen Details geben und bat Egidy um seinen Besuch.

Wir hatten einander ein paar Monate lang nicht gesehen. Er aber sah um Jahre gealtert aus. Kaum hatte ich den Mut, diesem müden Gesicht gegenüber zu sagen, was ich wußte. Er starrte mich an, die Finger ineinandergekrampft, die Augen weit aufgerissen. Und plötzlich sank sein Kopf auf die gefalteten Hände, und seine breiten Schultern bebten, von lautlosem Schluchzen erschüttert. Fassungslos stand ich vor ihm: er, der dem Spott und Haß einer ganzen Welt getrotzt hatte, dessen sieghafter Glaube an die Menschen ihn unüberwindlich zu machen schien, – er saß hier vor mir, zusammengebrochen, als wäre ein Fels ihm auf den starken Nacken gestürzt, – und weinte!

»Meine Kinder – meine armen Kinder!« stieß er abgebrochen hervor – »alles habe ich diesem Menschen geopfert, – mein Letztes!«

Georg kam nach Hause. Egidy raffte sich auf, um ihn zu begrüßen, aber die Kniee wankten ihm. Und dann war's, als müßte er sein Herz ausschütten, aussprechen, was er vielleicht vor sich selbst noch verhehlt hatte: Wie seine Hoffnungen ihn betrogen, die Scharen seiner Gefolgschaft ihn verlassen hatten, sein Haus leer geworden war, seitdem er nicht mehr Wein und Braten aufzutischen vermochte.

»Jetzt erst, wo die Menschen Sie nicht mehr als einen Märtyrer bewundern, werden Sie zeigen können, daß Sie ein Mann sind!« sagte Georg, als er schwieg.

Mit einer raschen Bewegung, als wolle er jeden Rest von Schwäche verscheuchen, strich sich Egidy über die Stirn und reichte Georg die Hand: »Weiß Gott, – ich werde es beweisen!« Und sich zu mir sich wendend, fuhr er fort: »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen in Hannover sagte: ›Im schlimmsten Fall reite ich allein – langsamen Schritt vorwärts – nach Zählen – im Kugelregen.‹ – Leben Sie wohl.«

Mich ließ er schweren Herzens zurück. »Allein – im Kugelregen!« wiederholte ich leise und kreuzte fröstelnd die Arme unter der Brust.

»Meine Alix fürchtet sich?! – Vergiß niemals, was der große Sklavenbefreier William Lloyd Garrison sagte: Einer mit der Wahrheit im Bunde ist mächtiger als alle. In diesem Glauben siegte er!« Georgs blasse Haut leuchtete im Abenddämmer.

War ich so schwach, daß ich immer Menschen suchte – Gleichgesinnte? – und mich freute wie ein Kind, das hinter den Felsen hundert Gespielen wähnt, wenn irgendwo ein Echo meiner Stimme mir entgegenklang?

 

Der Verein Frauenrecht hatte mich trotz meiner Sünden in seinen Vorstand gewählt: Ich war ein »Name«, – damit hatte Frau Vanselow die Mitglieder für ihren Plan gewonnen. Und ich hatte trotz meiner inneren Abneigung die Wahl angenommen: der Verein war am Ende doch ein wirksames Mittel zum Zweck. Vor allem galt es eins durchzusetzen: die deutsche Frauenbewegung aus ihrem Veilchen-Dasein zu befreien. Fünfundzwanzig Jahre hatte ich selbst gelebt, ehe ich von ihrer Existenz etwas erfuhr. Die deutsche Presse nahm noch jetzt kaum je irgendwelche Notiz von ihr.

Es gelang mir zunächst – nachdem ich von vornherein die Arbeit dafür auf mich genommen hatte –, eine Zeitungs-Korrespondenz durchzusetzen, und ich hatte die Genugtuung, daß meine Notizen in zahlreichen Blättern Aufnahme fanden. Nun mußte ein Organ geschaffen werden, – eine weithin sichtbare Fahne für unsere Sache. Ich gewann den Verleger der Ethischen Blätter für die Idee und kam strahlend über diesen Erfolg in die Vorstandssitzung des Vereins. Aber statt allgemeiner Freude begegnete ich allgemeinem Widerstand. Über die Verantwortung, die wir damit auf uns nehmen müßten, jammerte die eine, über die »seit Jahren liebgewordenen« Vereinsmitteilungen, an deren Stelle die Zeitschrift treten sollte, die andere.

»Und die Frage der Redaktion ist doch vor allem eine schwer zu entscheidende,« meinte mit bedenklich hoch gezogenen Augenbrauen Frau Vanselow und sah mich prüfend an. Ich begriff.

»Selbstverständlich wird sie unserer verehrten Vorsitzenden anvertraut werden,« sagte ich rasch. »Und meine liebe Frau von Glyzcinski wird mir hilfreich wie immer zur Seite stehen,« ergänzte Frau Vanselow und streckte mir über den Tisch hinweg die Hand entgegen.

»Ich halte dies Vorgehen für unethisch,« tönte Frau Schwabachs scharfe Stimme dazwischen. Erstaunt sah ich auf: »Das begreife, wer kann!«

»Unser liebes, heute leider fehlendes Fräulein Georgi hat die Mitteilungen bisher als Schriftführerin zu unser aller Zufriedenheit und – unentgeltlich –« ein vielsagender Blick traf mich – »in selbstloser Hingabe an die Sache geleitet. Ich gebe meine Zustimmung nicht, wenn man sie beiseite schiebt!«

Empört fuhr ich auf: »Es handelt sich hier um die Sache und nicht um die Personen, um ein öffentliches Unternehmen und nicht um ein Vereinsblättchen! Jeder Fortschritt verletzt irgendwen, – und wenn Ihre Ethik im Gegensatz zum Fortschritt steht, so gebe ich sie preis und wähle diesen!«

Ich erhob mich rasch und überließ den Vorstand sich selber.

Vier Wochen später erschien die erste Nummer der »Frauenfrage« unter Frau Vanselows und meiner Redaktion. Georg eröffnete sie mit einem Artikel für das Frauenstimmrecht. Etwa zu gleicher Zeit versandte Helma Kurz ein Zirkular an die deutschen Frauenvereine, durch das sie zur Gründung eines nationalen Frauenbundes aufforderte, der sich dem bereits bestehenden in Amerika ins Leben gerufenen internationalen Verbande anschließen sollte.

Mit einem harten »Niemals« begegnete Frau Vanselow meiner Begeisterung für diesen Zusammenschluß. »Aufspielen will sich die Kurz, von sich reden machen, nachdem ihr angesichts unserer Erfolge längst schon die Galle überläuft . . .« Nur schwer gelang es mir, sie zu beruhigen und zur Teilnahme an den vorbereitenden Sitzungen zu bewegen. Ein Heer von Frauen, in der ganzen Welt zu einer Organisation zusammengeschlossen, – war das nicht die welterobernde Macht der Zukunft?! Hier würde die Arbeiterin neben der Bourgeoisdame, die Sozialdemokratin neben der Frau des Ostelbiers zu Worte kommen; im friedlichen Austausch der Ideen würde schließlich die lebenskräftigste siegen, – durch die Mütter der kommenden Generation würde leise und natürlich die Quelle in die Menschheit gelenkt werden, die bestimmt war, als Strom die Schiffe der Zukunft zu tragen!

»Also eine Ethische Gesellschaft der Frauen, – nach unserem Plan!« meinte Georg. Ich benutzte den nächsten freien Augenblick, um mit Martha Bartels die Sache zu besprechen. Seltsam: sie wußte von nichts, das Zirkular war ihr nicht zugegangen. »Und wenn ich es schon erhalten hätte,« sagte sie, »es ist mir zweifelhaft, ob meine Genossinnen eine Beteiligung für nützlich gehalten haben würden.«

»Aber bedenken Sie doch, welch ein Agitationsgebiet sich Ihnen eröffnen würde« – eiferte ich, auf das schmerzlichste überrascht durch ihre ablehnende Haltung, – denn daß die Aufforderung sie nur durch irgend einen Zufall nicht erreicht hatte, davon war ich überzeugt, – es war ja im Zirkular die Rede von »allen Frauen«.

»Unser Agitationsgebiet ist das gesamte Proletariat, – groß genug für die gewaltigsten Arbeitskräfte! Eine Vereinigung mit der bürgerlichen Frauenbewegung würde zersplitternd und verwirrend wirken. Die große Masse unserer Arbeiterinnen ist noch nicht so selbstbewußt, um sich den Damen gegenüber als Gleichberechtigte zu fühlen.«

Mir schien, als ob aus ihren Worten mehr Gekränktheit über die Zurücksetzung als Überzeugung sprach.

»Wir reden noch darüber,« sagte ich, innerlich ordentlich froh über die Aufgabe, die sich mir eröffnete: Ich sah sie schon erfüllt, sah in Gedanken Martha Bartels auf der Tribüne stehen und durch ihre schlichte Wahrhaftigkeit die Frauen gewinnnen. Ich schrieb an Helma Kurz, um sie auf das Versäumte aufmerksam zu machen, – ich erhielt keine Antwort. Bei dem Begrüßungsabend der deutschen Delegierten erwartete ich mit Ungeduld das Ende des Diners, um sie persönlich zu sprechen. Ich fand es zum mindesten geschmacklos, solch ein Werk bei Wein und Rehbraten in großer Toilette zu beginnen und einander durch Toaste anzuhimmeln, noch ehe irgend etwas geschehen war. Endlich erreichte ich Helma Kurz; sie wurde dunkelrot, als sie mich sah. »Hier ist nicht der Ort, prinzipielle Fragen zu erörtern,« sagte sie heftig und drehte mir den breiten Rücken zu.

Am nächsten Morgen in der Sitzung meldete ich mich als eine der ersten zur Debatte. Es wurden endlose Reden gehalten: über die Einigkeit aller Frauen, über die gemeinsamen großen Ziele, – vergebens wartete ich Stunde um Stunde, daß mir das Wort erteilt werden würde. Ich meldete mich noch einmal. »Sie müssen Ihren Antrag schriftlich formulieren.« schrie Helma Kurz mich bitterböse an. Ich tat es. Ein erregtes Tuscheln um den Vorstandstisch – »Ihr Antrag steht außerhalb der Tagesordnung« – verkündete die Vorsitzende. Ich versuchte mir gewaltsam Gehör zu verschaffen. Um mich kreischten erregte Stimmen: »Schweigen Sie!« – »Hinaus!« – »Wie unethisch!«

Majestätisch richtete sich die schwere Gestalt der Kurz hinter dem Vorstandstisch auf: »An dieser Störung unserer schönen Harmonie sehen Sie, meine Damen, wes Geistes Kind diejenige sein muß, die sie hervorrief!« erklärte sie mit feierlicher Würde, jedes Wort betonend. »Ich werde trotzdem, nicht aus Rücksicht auf die Delegierte des Vereins Frauenrecht« – sie lächelte spöttisch – »sondern auf unsere hier anwesenden bewährten Mitkämpferinnen die Erklärung abgeben, die in einer Weise gefordert wird, wie sie bis dato nur in sozialdemokratischen Radauversammlungen üblich war. Sämtliche deutsche Frauenvereine sind zu dieser Zusammenkunft aufgefordert worden, mit Ausnahme derjenigen natürlich, die nicht auf dem Boden unserer Staats- und Gesellschaftsordnung stehen.« – Ein langanhaltendes Bravo-Rufen unterbrach sie – »Ihre Teilnahme würde die Auflösung des Verbandes zur notwendigen Folge gehabt haben . . .« Ich sprang auf und warf noch einmal meine Karte auf den Vorstandstisch. »Im Interesse der ruhigen Fortführung unserer Verhandlungen haben wir beschlossen, Frau von Glyzcinski das Wort zu verweigern.« Erneuter allgemeiner Beifall – –

Ich hatte rasch einen Protest gegen den Ausschluß der Arbeiterinnenvereine zu Papier gebracht und benutzte die Pause zum Sammeln von Unterschriften. Aber wem ich auch in die Nähe trat, – schon vor meiner Person zog man sich scheu zurück. Entrüstet blitzte mich Frau Schwabach mit ihren klugen dunkeln Augen an: »Und Sie sind eine Ethikerin, die das allen Gemeinsame pflegen und betonen soll!« Ich fand in der großen Versammlung nur zwei Stimmen, die sich mir anschlossen, unter ihnen die Frau Vanselows. »Sie schicken das an die Presse? – Famos! Ein empfindlicher Schlag für Helma Kurz!« sagte sie.

»Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden,« tröstete mich Georg, als ich verstimmt und enttäuscht nach Hause kam. Es dauerte lange, ehe der heilende Trank seines Menschenglaubens mir die tiefe Verbitterung aus dem Herzen trieb. Aber den letzten Keim der Krankheit tötete er nicht. Was ich in unserer Zeitschrift und in der »Frauenfrage« veröffentlichte, wurde immer schärfer im Ton. Die Menschen, denen ich begegnete, die Bücher, die ich las, die dramatischen Werke, die ich sah, – ich beurteilte sie alle nur von dem einen Gesichtspunkt aus: ihrer Stellung zur sozialen Frage, zum Sozialismus.

 

Aus der Dichtung und aus der bildenden Kunst verschwand damals allmählich die Elendsschilderung, die in Hauptmanns Webern noch die Peitsche gewesen war, die rücksichtslos blutige Striemen zog, und in seinem »Hannele« das Bettlerkind schon in Märchenkleidern zeigte. Künstlerische Begeisterung entzündet sich an jungen Ideen, solange sie flackernde Flammen sind und die Gefahr des Erlöschens ihnen phantastisch-spannenden Reiz verleiht. Mit ihrer Reife erstarren sie zu Schwertern, die der Kämpferarme bedürfen, während das Seherauge des Künstlers schon sehnsüchtig nach neu auftauchenden Lichtern im fernen Dunkel Ausschau hält. Aber was Notwendigkeit ist, erschien mir wie Treulosigkeit und Schwäche, und der Ich-Kultus, der an Stelle des Kultus der Menschheit trat, wie ein frevelhafter Rückschritt.

Gegen eine Welt von Widersachern hatten die Ibsen und Nietzsche die Freiheit der Persönlichkeit verkündet, in jahrelangem, schmerzvollem Ringen hatten wir sie erobert; ein Heiligtum war sie uns, dessen ewige Lampe sich von unserem Herzblut tränkte. Und nun kamen die vielen lärmenden Leute und griffen nach ihr ohne Ehrfurcht, und nichts als ein neues Spielzeug war sie ihnen. Dem gebildeten Pöbel galt jeder als ein Freier, der schrankenlos seinen Begierden folgte. Die entgötterte Menschheit suchte nach Götzen, und jeder fand eine anbetende Gemeinde, der alte Werte mit Füßen trat.

»Die sexuelle Freiheit ist doch nicht die Freiheit an sich!« sagte ich einmal voller Empörung zu Polenz, der mir Hartlebens »Hanna Jagert« gebracht hatte. »Gewiß gibt es Frauen mit denselben sinnlichen Leidenschaften, wie Männer sie haben, aber in ihnen den großen freien Weibtypus der Zukunft zu suchen, ist ebenso frevelhaft, als wenn man den modernen Lebemann für das Ideal der Männlichkeit erklären würde.«

»Sie kennen eben unsere jungen Dichter nicht, die zumeist aus dem engsten Kleinbürgertum stammen und von da aus direkt der Großstadtbohême in die Arme laufen. Eine andere Welt ist ihnen fast allen fremd und bleibt ihnen fast immer verschlossen. Gerade Sie sollten es wagen, in die Höhle der Löwen zu kommen,« antwortete Polenz.

Ich zögerte noch, aber Georg, dem jedes Mittel willkommen war, das ihm geeignet schien, mich heiterer zu stimmen, redete zu, und so folgte ich eines Abends Polenz' Einladung. Er hatte eine heterogene Gesellschaft zusammen gebeten: alte Regimentskameraden und anarchistelnde Schriftsteller, sächsische Gesandschaftsattachés und die Blüte der berliner Kaffeehaus-Literaten. Eine unbehagliche Stimmung herrschte; die Herren von der Feder fühlten sich sichtlich nicht wohl in ihren Fräcken, und die Damen, die sich von ihnen etwas ungeheuer Interessantes erwartet hatten, vermochten trotz aller Mühe die genierte Steifheit der fremden Gäste nicht zu überwinden. Erst bei Tisch und beim Wein wurde es ein wenig lebendiger. Einer der modernsten und beliebtesten Schriftsteller, der mit einer gewissen Grazie die gewagtesten Dinge zu schildern pflegte, saß neben mir, ein anderer, der die Hoffnung der Moderne war, mit dunkler Brille über den lebhaften Augen, mir gegenüber. Ich ließ alle meine oft erprobten, geselligen Künste spielen, schlug alle Saiten an, von denen ich einen Ton erwarten konnte, – vergebens. Wie Backfische, die zuerst in Gesellschaft kommen, antworteten sie mit einem Ja, einem Nein und einem verlegenen Lächeln, wenn ich glaubte, gerade ihre Interessen berührt zu haben. Ich sah forschend die lange Tafel herauf und herunter: überall dasselbe Bild, – und langsam legte sich eine bleierne Langeweile über die zu krampfhaftem Höflichkeitsgrinsen verzerrten Züge. Man atmete schließlich erleichtert auf, als das Essen zu Ende war; und so rasch sie konnten, verschwanden die Herren im Nebenzimmer, von wo bei Kognak und Zigarren bald dröhnendes Lachen herrüberscholl.

Als ich, die Elektrische erwartend, auf der Straße stand, trat eine kleine Frau mit blitzenden Saphiraugen, ein Spitzentuch lässig über den dicken, blonden Schopf geworfen, auf mich zu. »Er ist wohl noch immer da drin, der Franzi,« sagte sie und wies mit dem Daumen zu der erleuchteten Etage herauf, die ich eben verlassen hatte. Überrascht sah ich sie an – »Juliane Dery! Was machen Sie denn hier?« – »Ich warte! – mit dem letzten Bissen im Munde wollte er diesem Menschenragout entlaufen. Aber es muß doch pikanter ausgefallen sein, als ich prophezeite . . .« Ich lachte hellauf und gab ihr eine Schilderung der letzten drei Stunden. »Und Sie dachten »wirklich an gedeckten Tischen, zwischen Grafen und Baroninnen, unsere jungen Genies kennen zu lernen?!« Sie konnte sich vor Vergnügen nicht fassen, amüsiert blieben die Vorübergehenden bereits neben uns stehen. »Kommen Sie!« mahnte ich leise und schob meinen Arm in den ihren.

»Richtig! – Wir haben ja schon einmal eine nächtliche Promenade gemacht! Seitdem sind Sie ethisch geworden und haben –« sie stockte ein wenig – »geheiratet!«

»Und Sie?« Ich frug ohne Interesse, im Grunde nur, um irgend etwas zu sagen.

»Ich? – Gott – Sie sehen: ich lebe! Was sollte unsereins auch sonst noch tun!« Ein düsterer Schatten verdunkelte einen Augenblick lang ihre Augen, dann lächelte sie wieder: »Wissen Sie was? Kommen Sie heute mit mir, – ich bin ein besserer Cicerone der Bohême, als Ihre Gastgeber eben! Überdies –« sie musterte mich unter der nächsten Laterne von oben bis unten – »werde ich mit Ihnen Furore machen.«

Bis zu unserem Ziel, einer kleinen Weinstube in der Friedrichstadt, erzählte sie mir mit der ihr eigenen sprühenden Lebhaftigkeit von all den freien Geistern, die ich finden würde. »Der große . . .«, »der geniale . . .«, »der einzige . . .«, – mit diesen Adjektiven begleitete sie Namen, die mir kaum bekannt waren.

Als wir eintraten, schlug ein Wolke dicken Rauches uns entgegen; ein paar Lampen, ein paar Lichtpünktchen brennender Zigaretten leuchteten hindurch. Ein Chor schwatzender Stimmen machte jedes Wort unverständlich. Erst als wir im Lichtkreis der Gasflammen standen, verstummte die Gesellschaft. Die Herren erhoben sich und umringten uns. Sie rochen nach Kognak, – unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Man hörte meinen Namen. »Bist wohl verrückt geworden, Juliane!« brummte eine Männerstimme, und ein Arm legte sich um ihre Taille. Ich setzte mich abseits in eine Ecke. Nach einer Weile schien ich vergessen und fühlte mich wie eine Zuschauerin vor der Bühne. Es war zweifellos ein interessantes Spektakelstück, das ich sah, und Menschen eigener Art, die darin spielten.

Zu Füßen eines großen, tiefbrünetten Mannes, um den sich allmählich die leeren Flaschen häuften, saß eine blasse Frau mit blonder Haarkrone auf dem vornehmen Köpfchen. Das mußte die dänische Gräfin sein, die der »satanische« Dichter, wie die Déry ihn nannte, entführt hatte. Wenn er redete, sah sie andächtig zu ihm auf, und die Nächststehenden schwiegen.

»Ja – was ich sagen wollte – –« er sprach mit einem scharfen slawischen Akzent – – »was – was war es doch?« Er goß sich roten Wein in das Glas, – ein paar Tropfen spritzten der Frau zu seinen Füßen auf die weiße Stirn, – er vergaß zu trinken und starrte sie an: »wie schön das ist: die Dornen deines unsichtbaren Kranzes haben dich verwundet, – wie ein Rubin leuchtet dein königliches Blut . . .«

»Zum Donnerwetter, was schweigt ihr,« brüllte er im nächsten Augenblick und stürzte den Wein hinunter, »was geht das Euch Kanaillen an?!« Die anderen lachten.

»Du hast uns deinen Helden schildern wollen!« sagte jemand.

»Meinen Helden!« begann er wieder, »das wird ein Kerl sein! Kein waschlappiger Schmachtfetzen, der die Weiber anhimmelt, sondern einer, der zupackt, wie ich!« – seine Riesenfaust umklammerte den Arm der blonden Frau, die schmerzhaft zusammenfuhr, – »keiner, der den Lahmen Krücken schenkt und den Blinden Brillen, sondern einer, der beiseite stößt, was ihm im Wege steht. Oder meint ihr, das Gesindel um uns sei was besseres wert?! Glaubt mir, wenn wir nicht empor kommen, die Starken, die Hartherzigen, dann wird das Gewürm, das Junge wirft wie die Kaninchen, uns auffressen. Den Schwachen helfen, winselt ihr mit dem verwässerten Christenblut in den Adern? Nein, sage ich: den Schwachen den Gnadenstoß geben, damit die Starken Platz haben!«

Ich hielt mich nicht länger. »Es muß sich aber erst erweisen, wer die Starken sind,« rief ich.

»Erweisen? Nein, schönste Frau, – wenn wirs nur von uns selber wissen,« antwortete er, stand auf und trat auf mich zu, – er schwankte ein wenig – »Sie sind ja so Eine, die sich opfert – der Menschheit – der Ethik – pfui Teufel! Mit so einem Gesicht und solcher Gestalt –« seine große Hand streckte sich, ich wich ihr erschrocken aus – »sich behaupten sollten Sie, – Glück schenken und Liebe, – das ist mehr als Traktätchen – und – und – Kinder kriegen –«

Er fiel wie ein gefällter Baum der Länge nach zu Boden. Ich strebte hastig der Türe zu. Juliane Déry kam mir nach und drängte ihr glühendes Gesicht dicht an das meine.

»So bleiben Sie doch – Schönste – Beste,« schmeichelte sie – ich fühlte ihre Hand auf meiner Hüfte. »Ist er nicht groß? – herrlich? Und jetzt wird es erst schön – komm! komm! – laß uns Freundinnen sein –« Sie versuchte mich zu küssen. Ich schüttelte sie ab. »Hochmütige Närrin –« knirschte sie.

»Sie – sie hat kein Herz – kein Herz – wie all die – die Tribünenweiber!« lallte der Betrunkene, der sich halb aufgerichtet hatte.

Ich lief hinaus wie gejagt und sprang in den nächsten Wagen. Warum nur brach ich schluchzend in den Kissen zusammen, – warum?!

Leise schlich ich in die Wohnung, in mein Zimmer. Zum erstenmal verschwieg ich Georg, was ich erlebt hatte; nur von dem Abend bei Polenz erzählte ich und von den Menschen dort, die »auch nicht die unseren sind«.

Er hörte kaum zu, seine Gedanken waren bei dem Brief, den er zwischen den Fingern rollte und mir lächelnd reichte.

»Hier werden wir die unseren finden!« sagte er.

Es war eine Einladung zu einem Festkommers »unserem verehrten Genossen Friedrich Engels zu Ehren«, von den Mitgliedern des Parteivorstands unterschrieben. »Du willst hingehen?« frug ich erstaunt, »als preußischer Universitätsprofessor?!«

»Die Freude will ich mir nicht entgehen lassen, einmal im Leben dazu zu gehören! – und den Kragen wird es nicht kosten!«.

 

Ein großer Saal. Grüne Girlanden, mit roten Blumen besteckt, schwebten in runden Bogen um die Galerien, von einer Säule zur anderen. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« leuchtete es in riesigen Goldbuchstaben auf rotem Grund von der Tribünenwand herab den Eintretenden entgegen. Unter Lorbeerbüschen glänzten die weißen Büsten von Marx und Lassalle. Als wir kamen, war der Riesenraum schon dicht gefüllt: Männer im Festtagsrock, Frauen und Mädchen in bunten Blusen und hellen Kleidern, die Gesichter verklärt, wie die der Kinder von Weihnachtsvorfreude. Ein Glanz der Jugend strahlte aus allen Augen und verwischte die Furchen, die Leidenszüge, die Kummerfalten, und gab den früh gebleichten Wangen die Röte der Kinder des Glücks.

Neugierig richteten sich alle Blicke auf uns: den bleichen Mann im Rollstuhl und die junge Frau ihm zur Seite. Der alte Bartels führte uns bis nach vorn, wo an gedeckten Tischen die Plätze für die Gäste reserviert waren.

»Daß ich das noch erlebe – Herr Professor – das noch erlebe,« wiederholte er immer wieder, mit dicken Freudentränen in den kleinen, zwinkernden Äuglein.

Brausende Hochrufe erschütterten die Luft. – Alles erhob sich – schwenkte die Hüte und wehte mit den Taschentüchern – auf die Tische und auf die Schultern wurden die Kinder gehoben, so daß ihre Köpfchen wie Blumen aus dichtem Wiesengrund über die Massen emporragten. Und durch den breiten Mittelgang, an dem sich rechts und links, eine undurchdringliche Mauer, die Menge staute, kamen sie alle, die alten Kämpfer, deren Namen ein blutiger Schrecken für die einen, ein Symbol künftiger Glückseligkeit für die anderen war.

Mein Blick blieb nur auf den vier Voranschreitenden haften, die ich um mich herum immer wieder flüsternd nennen hörte: Liebknecht – Bebel – Auer – Engels. Groß war der eine, mit grauem Vollbart, hoher Stirn, geistvoll sprühenden Augen, einen feinen Zug von Sarkasmus um den Mund, klein der andere, mit widerspenstiger voller Haarsträhne, die ihm immer wieder nach vorne fiel, so daß sein Blick sich noch mehr verschleierte, – jener merkwürdige Blick, wie ihn nur Dichter und Träumer haben. Einen breiten, hellen Germanenkopf trug der Dritte stolz auf den starken Schultern, ein paar Augen, die gewiß kampflustig zu blitzen verstanden wie die alter Häuptlinge, sahen über die Menge hinweg. Vorne aber ging der alte gefeierte Gast mit einem Lächeln so voll gerührter Güte und freudiger Menschenliebe, als wären das alles seine Kinder, die ihm entgegenjauchzten.

Gesang, Musik, Begrüßungsreden wechselten miteinander ab, wie bei einem großen Familienfest. Nichts Pathetisches, aber auch nichts, das an Aufruhr und revolutionäre Schrecken erinnerte, störte die Stimmung. Das Rot der vielen Schleifen und Fahnen im Saal schien heute nur die Farbe der Freude zu sein, nicht die des Bluts. Auch die ›Freiheit‹, die auftrat, mit der phrygischen Mütze auf dem schwarzen Krauskopf, ihre Verse skandierend wie ein Schulkind, glich mehr einem Boten des Frühlings als der Revolution.

Drunten im Saal, wie oben auf der Tribüne herrschte eitel Fröhlichkeit.

Von einem Tisch zum anderen begrüßten sich die Bekannten, und er, der Held des Tages, drängte sich mit den Freunden immer wieder durch die Reihen und schüttelte die Hände alter Kampfgenossen aus den schweren Zeiten der Verfolgung. Sie kamen auch zu uns und setzten sich um Georgs Rollstuhl, und seine Lippen zuckten, und seine Augen wurden feucht vor Bewegung. Mit einer altväterisch-chevaleresken Verbeugung schenkte mir Engels ein paar Blumen aus der Fülle, die ihm gegeben worden war. »Ein gefährliches Zeichen,« lachte Liebknecht und wies auf die rote Nelke darunter. »Eins des Sieges, wie ich hoffe,« antwortete ich.

Wir gingen still nach Haus. Eine große Freudigkeit erfüllte uns.

 

An einem grauen, naßkalten Dezembertag war es. Das Reichshaus sollte eingeweiht werden. Am Brandenburger Tor stand ich, Eindrücke zu sammeln für das, was ich schreiben wollte. Man lachte – schwatzte – höhnte rings um mich her: vom »Gipfel der Geschmacklosigkeit« sprach der Eine, – so hatte S. M. jüngst in Italien den Bau Wallots bezeichnet –, von der leeren Tafel über den Toren erzählte der andere, die auf die Inschrift »Dem deutschen Volke« vermutlich vergebens warten würde; – »den Junkern und Pfaffen, – wirds statt dessen heißen,« fügte bissig ein Dritter hinzu. »Wenn man die Umsturzvorlage det janze Dings nich umstürzen wird,« zischelte es dicht neben mir. Der stramme Polizeileutnant, der hier Wache hielt, wandte stirnrunzelnd den Kopf. In offenem Wagen fuhren die Abgeordneten vorüber: Zivilisten mit glänzenden Zylindern auf dem Kopf und bunten Bündchen im Knopfloch, auf den Zügen den Ausdruck ernsthafter Wichtigkeit, Geistliche in der schwarzen Soutane mit runden glänzenden Gesichtern; Reserveoffiziere, denen der enge Kragen das Blut blaurot in die Stirne trieb, und deren bunter Rock sich in Falten über Brust und Leib spannte. »Drum müssen sie ooch alle stramm stehen vor dem obersten Kriegsherrn, – die M. d. R.s –« zischelte dieselbe Stimme wie vorhin.

Aufgeregt sprengten die Polizisten noch einmal hin und her, – ihre Pferde drängten die angstvoll aufkreischenden Zuschauer zur Seite.

Vom Schloß die Linden hinunter trabte eine Schwadron Garde du Korps in glänzender Uniform mit wehenden Fähnlein. Da plötzlich ein klirrender Stoß – ein Schrei, – und zwei Reiter wälzten sich unter ihren Pferden.

Im gleichen Augenblick nahte ein Wagen: der Kaiser! Schweigend – erwartungsvoll – kaum, daß ein paar Hüte von den Köpfen flogen – harrte die Menge, – schwankend, mit totblassem Gesicht richtete der eine der gefallenen Soldaten sich auf die Kniee, – dicht vor ihm schlugen die Hufe des Viergespanns schon auf das Pflaster.

Das Bronzegesicht des Monarchen tauchte sekundenlang auf – ein einziger kalter Blick streifte den Garde du Korps – die feindselig-stumme Menge hinter ihm, – und vorüber raste der Wagen.

Erregt, mit verbissenem Grimm stoben die Menschen auseinander. Das war, so schien mir, der rechte Auftakt für das kommende Schauspiel: den Kampf um die Umsturzvorlage, die als erster Gesetzentwurf den Volksvertretern im neuen Hause zur Entscheidung vorlag.

Unter kriegerischem Gepränge war es heute geweiht worden, – Kriegszeiten standen bevor.

Auf dem Wege durch den feuchtdunstigen Tiergarten war mein Plan gefaßt, und noch ehe Georg aus der Universität zurückkam, lag meine »Erklärung« schon auf dem Schreibtisch. »Im Namen des weiblichen Geschlechts protestieren wir unterzeichneten Frauen gegen die Umsturzvorlage,« begann sie, und weiter hieß es darin: »›Beschimpfende Äußerungen gegen Ehe und Familie‹ gefährden das sittliche Leben des Volkes nicht so sehr wie die gesetzliche Sanktionierung der Unsittlichkeit; und nicht durch ›Kundgebungen‹ werden ›weite Bevölkerungskreise‹ zu dem Glauben verführt, daß die Grundlagen unseres Lebens auf ›Unwahrheit und Ungerechtigkeit‹ beruhen, sondern durch eine Gesetzgebung, die die Hälfte des Menschengeschlechts, die Mütter der Staatsbürger, mit Unmündigen, Wahnsinnigen und Verbrechern auf eine Stufe stellt und durch wirtschaftliche Zustände, die Millionen von Frauen in den Kampf ums Dasein treiben, das Familienleben zerstören, die Ehe erschüttern . . .«

Ich versandte noch an demselben Abend meine Erklärung mit der Bitte um Unterschriften an die Presse. Kaum war sie veröffentlicht, als Onkel Walter mich mit seinem Besuch überraschte. »Ich komme, dich zu warnen,« sagte er, »man hat ein Auge auf dich, man kennt im Polizeipräsidium deine geheimen Beziehungen zur sozialdemokratischen Partei, und heute im Reichstag hat der Minister des Innern mir im Vertrauen gesagt, daß, wenn die Umsturzvorlage oder ein dem Sinne nach ihr ähnliches Gesetz in Kraft treten sollte, du zu den Ersten gehören wirst, die davon getroffen werden; – vorausgesetzt natürlich –,« er sprach langsam und betonte jede Silbe – »daß du nicht klug genug bist, vorher andere Wege einzuschlagen.«

»Ich danke dir für deine Freundschaft, lieber Onkel, – aber daß ich deinem Rat folgen werde, wirst du von mir kaum erwarten.«

»So sind wir geschiedene Leute!« rief er, und krachend fiel hinter ihm die Tür ins Schloß.

Seltsam, – er hatte mir niemals nahe gestanden, und doch: in diesem Augenblick krampfte sich mir das Herz zusammen, – ein Stück der Kindheitsheimat nahm er mit sich fort. Was wird der Vater sagen, dachte ich furchtsam. Aber er kam nicht, er schrieb mir nur zwei Zeilen ohne Anrede und Unterschrift: »Nach Deinem letzten Benehmen wirst Du Dich nicht wundern, wenn wir Dir eine Zeitlang fern bleiben. Wir hoffen zu Gott, daß er Dich wieder auf den rechten Weg leiten möge! . . .«

 

Eisig fegte der Ostwind durch die Straßen, feine, schimmernde Eiskristalle tanzten in der Luft, und der Rauhreif wandelte den Tiergarten in ein Wintermärchen. Jeden Morgen begleitete ich jetzt Georg in die Universität. Seine Vorlesungen über soziale Ethik füllten das Auditorium bis in den fernsten Winkel und leidenschaftlich erregte Menschen – alte und junge – Männer und Frauen – begrüßten ihn mit heftigem Beifallsgetrampel. Hinter dem Pult war nichts von ihm zu sehen als der bleiche, dunkel umrahmte Kopf mit den strahlenden Kinderaugen. Er sprach, wie er noch nie gesprochen hatte, er geißelte die Sünden des Kapitalismus mit einer Schärfe, wie sie in diesen Räumen noch nie gehört worden war, und verteidigte die Rechte der Frauen und die der Arbeiter mit einer Begeisterung, die alles mit sich fort riß.

»Der Glaube, daß wir jetzt vor tief gehenden Wandlungen, vor einer Weltwende stehen, wie die Menschheit noch keine erlebt hat, ist eine Überzeugung, die immer weitere Kreise ergreift . . . Jetzt ist keine Zeit mehr zu beschaulichem Träumen . . .« – Seine Stimme hob sich in ungewohnter Kraft und bekam einen Klang wie eine tiefe Glocke. ». . . Wir müssen uns klar werden über die Lage der Dinge und wach sein für die Nöte des Tages . . . Wir müssen uns bewußt werden, wohin wir gehören . . .«

»Er spricht sein Todesurteil . . .« hörte ich leise flüstern. Kirchenstill war es. Er wurde vom Katheder heruntergehoben, sein Rollstuhl setzte sich in Bewegung, mit scheuer Ehrfurcht grüßten ihn die Studenten.

Fauchend schlug ihm der Wind in das heiße Gesicht, als wir ins Freie traten, und fröstelnd zog er sich den Pelzkragen höher. Vergebens bat ich ihn, sich aus seinem offenen Rollstuhl in einen geschlossenen Wagen heben zu lassen. Den ganzen langen Weg über die Linden, durch den Tiergarten, über den Lützowplatz kämpften wir mühsam wider den Schneesturm.

Vor unserem Hause ging ein Herr auf und ab: groß und schlank, den feingeschnittenen Kopf zurückgeworfen, den Bart keck in die Höhe gewirbelt, – »Hessenstein!« rief ich überrascht.

»Kein anderer, gnädige Frau!« sagte er und küßte mir die Hand – »ich warte auf Sie – ich konnte Europa nicht verlassen, ohne von Ihnen Abschied zu nehmen –«

Wir begaben uns zusammen in unsere Wohnung. Seltsam fragend betrachtete Georg den Gast, den ich so freudig willkommen hieß.

»Sie verlassen Europa?« frug ich, »und warum?«

»Seit meinen kriegerischen Erfahrungen im Bergwerksbezirk war mir nicht mehr wohl im bunten Rock –« antwortete er, während sein Blick sekundenlang peinlich überrascht zwischen Georg und mir hin und her flog – »und die neu eröffnete Aussicht, gelegentlich einmal auf Eltern und Geschwister schießen lassen zu müssen, hat meinen militärischen Ehrgeiz auch nicht wesentlich steigern können. – – Ich habe einen Bruder in Java, – dorthin will ich. Eigentlich auch kein erstrebenswertes Ziel! Aber – was soll man tun –, wenn man den Mut nicht aufbringt, unter die Roten zu gehen!«

»Dann ist Ihre Wahl sicherlich die beste,« sagte Georg mit feindseliger Schärfe. Rote Flecken brannten ihm über den Backenknochen.

Sichtlich verletzt, erhob sich Hessenstein. In dem Wunsch, gut machen zu wollen, was Georg verfehlt hatte, war ich doppelt herzlich.

»Vielleicht treffen sich unsere Wege doch einmal wieder! Möchten Sie recht, recht glücklich werden« – damit reichte ich ihm beide Hände. Er senkte tief den Kopf darauf. »Ich danke Ihnen!« flüsterte er bewegt.

Kaum war er fort, als Georg mich zu sich rief. Sein Kopf glühte – seine Hände waren heiß.

»Du fieberst!« rief ich erschrocken.

»Mir war schon diese Nacht nicht recht wohl,– ich wollte nur heute die Universität nicht versäumen –« ein harter Husten ließ ihn verstummen. »Aber es ist nichts, Kindchen, nichts, – ein Katarrh vielleicht!« Wieder eine Pause. – »Komm einmal her zu mir, Liebling, – ganz nah –« ich kniete neben ihm – sein rascher, heißer Atem berührte mein Gesicht – »du – du – liebtest wohl jenen Hessenstein?«

»Georg!!« Mir stieg das Blut in die Schläfen. »Wie kommst du darauf?«

»Ihr – ihr saht euch an – wie – wie Menschen, die zusammen gehören!«

Lächelnd drückte ich meine Wange an seine schmalen Hände. »Nie – Georg, – nie – gehörten wir zusammen!« meine Augen richteten sich klar auf ihn. »Und wenn es gewesen wäre, – bin ich heute nicht dein – nur dein?!«

»O du – du!« stöhnte er; seine Arme preßten sich um meine Schultern, – in meinen Haaren vergrub er sein Gesicht, – gegen meine Brust pochte sein Herz in wilden Schlägen.

Er hatte keine Ruhe mehr vor dem Schreibtisch, ich mußte ihn auf und ab fahren; der Husten nahm zu, und jedesmal, wenn er den armen Körper schüttelte, verzogen sich schmerzhaft die Züge. Ich schickte zum Arzt. Er untersuchte ihn und lächelte beruhigend, als Georgs Blick in angstvoller Frage den seinen suchte.

»Eine Erkältung. Halten Sie sich hübsch ruhig, – dann ists bald vorbei.«

In der Nacht stieg das Fieber. Er ließ meine Hand nicht los. Von Zeit zu Zeit sah er mich flehend an, und flüsterte kaum hörbar: »Küsse mich!«

Ich wich nicht von seiner Seite, drei Tage und drei Nächte lang.

»Sie müssen Hilfe haben,« – sagte schließlich der Arzt. Ich schüttelte nur den Kopf. Am Nachmittag des vierten Tages schien des Fieber zu sinken. Die Augen wurden wieder klar.

»Ich habe mit dir zu sprechen, meine Alix,« begann der Kranke mit ruhiger, fester Stimme. »Es geht zu Ende mit mir, – weine nicht, Kindchen, – bitte, weine nicht! – Ich habe, glaube ich, meine Schuldigkeit getan –; was ich ungetan ließ, – du, du wirst es vollenden! – – Du wirst mir treu sein, – im höchsten Sinne treu –« fassungslos brach ich neben ihm zusammen – seine Hände lagen auf meinem Kopf – »über alles in der Welt habe ich dich geliebt –.« Nur wie ein Hauch kamen die Worte über seine Lippen – »zum Paradiese hast du mir das Leben gemacht, – hab Dank, – Dank –.« Ich verlor die Besinnung – Auf meinem Bett fand ich mich wieder; es war tief in der Nacht, nur ein Licht brannte im Zimmer, die Mutter war neben mir, – so sanft und gut und leise, wie immer, wenn sie Kranke pflegte.

»Alix –« klang es tonlos aus dem Nebenzimmer. Ich stürzte hinein. Aufrecht auf seinem Stuhl saß Georg. Ich schlang den Arm um seine Schulter.

»Warum – warum läßt du mich sterben?!« flüsterte es vor meinem Ohr. Sein Kopf sank an meine Schläfe. Tiefe, röchelnde Atemzüge kamen aus seiner Brust.

Wie lange ich regungslos saß, – ich weiß es nicht. – Fahl dämmerte der Tag durch die Scheiben. Der Arzt trat ein und umfaßte die wachsbleiche Hand –

»Es ist vorüber –«

 


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