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Berlin, 28. 12. 90
Liebe Mathilde!
Du beklagst Dich über mein monatelanges Schweigen, und solltest doch froh sein, daß ich Dich während einer Zeit innerer und äußerer Zerrissenheit mit Briefen verschonte. Womit ich nicht behaupten will, daß ich Dir jetzt das Bild abgeklärter Weisheit geben könnte. Aber ich habe zum mindesten den Taumel überwunden und sehe das Verwirrende, Vielgestaltige des neuen Lebens. – Doch Du willst zunächst seinen Rahmen kennen lernen. Er ist – um ihn mit zwei Worten zu kennzeichnen – bronzierter Gips, den der Fremde für vergoldete Holzschnitzerei zu halten verpflichtet ist. Wir wohnen – natürlich! – im ›vornehmen‹ Westen, aber an jener Grenzscheide, wo die neuesten Mietskasernen mit ihren dunkeln Höfen und protzigen Fassaden sich mit den Kartoffelfeldern begegnen. Unsere Wohnung hat einen Aufgang ›nur für Herrschaften‹ und ist selbstverständlich ›hochherrschaftlich‹: über den Türen tanzen Stuckamoretten mit verrenkten Armen und Beinen, die Öfen sind Prachtgebäude aus den buntesten Kacheln, das Eßzimmer – ein wahrer Tanzsaal – hat Holzpaneele und eine Holzdecke aus Papier, der Salon weist gar eine imitierte Seidentapete auf, die der Wirt uns als ganz besonders ›vornehm‹ anpries, und das Herrenzimmer prunkt im papierenem Leder! Dazu hat der Tapezier die Gardinen von acht Zimmern an die Fenster und Türen dieser drei Räume gehängt, so daß die Üppigkeit eine geradezu überwältigende ist und unsere verschossenen Möbel und zertretenen Teppiche in einem vorteilhaften Zwielicht Glanz und Reichtum vortäuschen. Die nüchterne Wahrheit beginnt erst mit dem langen dunkeln Korridor, an den sich drei Kammern – Schlafzimmer genannt – anlehnen. Eine davon bewohne ich. Es ist mir gelungen, sie mittelst Kretonnevorhängen in zwei Räume zu verwandeln, die sich freilich beide mit einem Fenster begnügen müssen und von der Existenz des Himmels keine Ahnung haben, geschweige denn von der der Sonne.
Und doch muß zwischen meiner Seele und der Sonne irgendein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen: mein Denken und Fühlen friert ein ohne sie. Wenn ich arbeiten will, muß ich darum immer zuerst über Felder und Sturzäcker laufen, wo kein Haus und kein Baum Schatten werfen. Trotzdem will meine Arbeit nicht so recht hell und warm werden.
Bald nach unserer Ankunft besuchte uns Professor Fiedler. Mein Artikel über Großmamas Goethe-Erinnerungen gefiel ihm – unter uns gesagt: mir gar nicht! –, und für alles, was ich sonst noch von ihr habe, war er aufs höchste interessiert. Er empfahl mich an Rodenberg, an Lindau, an Westermanns Monatshefte, und ich habe auf Monate, vielleicht auf Jahre hinaus zu tun, ohne daß der Eintritt in die Literatur mir irgendwelche Schwierigkeiten gekostet hätte. Auch sonst bin ich vom ›Glück‹ begünstigt: Meine Brennarbeiten hat der Offizierverein zum Verkauf angenommen, und meine Erfindung – die Vereinigung von Brennen und Malen auf Sammet und Tuch – hat eine Frauenzeitung geschildert und mich dabei als Verfertigerin empfohlen. Ich habe meinen Eltern infolgedessen das Taschengeld schon ›kündigen‹ können, und dieser erste Schritt zur Selbständigkeit ersetzt mir etwas den Mangel an seelischer und geistiger Befriedigung. Da ich den Eltern überdies durch Schneidern, Putzmachen und Gouvernantenspielen bei Ilse ein Mädchen für alles und ein Fräulein erspare, so kann ich mir einbilden, mich bereits selbst zu erhalten. Nur daß dies bloße Erhalten des Lebens vom Leben selbst weit entfernt ist.
Ich sehe dich heimlich lächeln. ›Ihr fehlt einmal wieder der Mann‹, sagst Du. Du irrst: ich komme mir mit meinen 25 Jahren so alt vor, daß ich bereits großmütterlich mitleidig lächle, wenn andere von Liebe reden. Besinnst Du Dich auf Vetter Fritz in Brandenburg? Du warst damals sittlich entrüstet, daß ich dem guten Jungen den Kopf verdrehte. Nachdem er in den letzten acht Jahren meinen Geburtstag nicht einmal vergessen hatte, stellte er sich hier wieder bei uns ein, – noch immer derselbe kindliche Mensch, trotz seiner Gardeulanenuniform. Mit Blumen und Blicken wirbt er um mich, und seine Treue rührt mich oft so, daß ich mich frage, ob es nicht das Beste wäre, seine Frau zu werden. Dann hätte die liebe Seele Ruhe, und allen Ambitionen und Befreiungsgelüsten wäre ein für allemal ein Riegel vorgeschoben. Die gesamte Familie – die durch Onkel Walters und Maxens, durch Tante Jettchen und ihre Kinder und Enkel erschreckende Dimensionen angenommen hat – unterstützt natürlich im stillen die Sache, und das reizt mich zum Widerspruch.
Na, überhaupt die Familie! Die Familiensonntage vor allem, wo man sich mittags und abends genießt, meist fünfzehn bis zwanzig Mann hoch! Nur eins ist für mich dabei wohltuend: daß ich mich wieder einmal so recht intensiv als das einzige schwarze Schaf empfinde.
Seit Stöckers Abschied ist der Antisemitismus geradezu epidemisch geworden, gerade so, wie der Kultus Bismarcks – wenigstens in den Kreisen meiner lieben Verwandtschaft – erst nach seinem Sturz ins Kraut schoß. Und ein Staatsanwalt würde Karriere machen, wenn er das Geschimpfe auf S. M. mit anhören könnte, – vorausgesetzt, daß die Delinquenten nicht preußische Edelleute, sondern internationale Sozis wären! Der adlige Klub am Pariser Platz, wo nur die Alleredelsten der Nation aufgenommen werden und Papa und die Onkels täglich verkehren, ist der Mittelpunkt der Fronde; Ströme von Skandalösem stießen aus seinen Türen in die Welt, und ich könnte aus lauter Widerspruchsgeist – der zuweilen zur Objektivität erzieht – fast zur Verteidigerin des ›neuen Herrn‹ werden, wenn er nicht selbst der sich kaum schüchtern entwickelnden Anerkennung immer wieder einen Fußtritt gäbe, so daß sie zusammenknickt wie ein Veilchen unter dem Nagelschuh. Du kannst Dir denken, wie es mich z. B. begeisterte, als er in der Schulreform die Initiative ergriff, und welche Hoffnungen ich an die Konferenz knüpfte. Und dann stellte ihr S. M. keine andere Aufgabe, als die Schule in ein Kampfmittel gegen die Sozialdemokraten zu verwandeln und blindwütigen Hurrapatriotismus noch mehr als bisher zu verbreiten. Natürlich bestand die Antwort der zusammengerufenen ›Führer der Jugend‹ in devotester Verbeugung vor dem allerhöchsten Willen, und befriedigt von dem »Erfolgs des ›offenen‹ Gedankenaustausches schloß S. M. die Versammlung mit einer Verbeugung seinerseits vor der Kirche.
Für Egidy war dies Ereignis, seit er den Abschied bekam, wohl der größte Schmerz. Ich stehe mit ihm in Briefwechsel, und so sehr ich mich im Gegensatz zu vielen seiner Grundanschauungen befinde, genieße ich diese lebens- und glaubensstarke Individualität, wie ein Durstiger frisches Quellwasser. ›So schwer auch die Gegenwart mich belastet‹ schrieb er mir kürzlich, ›so kraftvoll ich auch ringen muß, um die Erinnerung niederzukämpfen, die gerade in diesen Tagen furchtbar an mir zehrt, da das Regiment, das acht Wochen nach dem Erscheinen der Ernsten Gedanken das meine werden sollte, sein Jubiläum feiert, – so beseelt mich doch die Hoffnung, daß ich dem Vaterlande, der Welt noch dienen kann, und daß das, was ich tat, nicht fruchtlos war. Auch auf den Kaiser ist meine Hoffnung unzerstörbar, – es gilt nur sein Ohr zu erreichen . . .‹
Doch im sehe, daß mein Brief sich zu einem Buch auszuwachsen beginnt, – hoffentlich ein Beweis für die künftige Regsamkeit unseres Briefwechsels.
Was soll ich Dir nun ohne Phrase und ohne Komödie zum neuen Jahre wünschen? Glück? Wer glaubt daran? Befriedigung? Wer findet sie, solange das Blut noch heiß durch die Adern rollt! Soll ich auf ewige Seligkeit vertrösten? Ein schwacher Trost für den, der die irdische noch nicht durchkostet hat. Lerne dich bescheiden, werde so rasch wie möglich alt und kühl, – ist das nicht am Ende der beste Wunsch?!
In treuer Freudschaft
Deine Alix.
Berlin, 20.2.91
Liebe Mathilde!
Seit meinem letzten Brief und Deiner Antwort – die meiner Erwartung vollkommen entsprach, alldieweil Du meine Arbeitswut nur als Intermezzo zwischen zwei Romankapiteln betrachtest – sind wieder einige inhaltreiche Wochen vergangen. Ich fange allmählich an, den Pulsschlag des Weltlebens zu empfinden und den meinen auf denselben Takt einzustellen, wobei ich allerdings immer deutlicher den Gegensatz zwischen mir und der lieben Verwandtschaft empfinde, deren Blut so träge fließt, daß es eigentlich Anno 70 noch kaum überwunden hat. Der jüngste Familienzuwachs ist nach der Richtung besonders charakteristisch. Du entsinnst Dich, daß Papa einen jüngeren Bruder hatte, der Geistlicher war und im Irrenhaus starb. Er hinterließ eine Wittwe mit fünf Kindern in bedrängtester Lage, und Tante Klotilde mußte sich wohl oder übel entschließen, das Ihre zur Erhaltung der Familie beizutragen, was sie natürlich von vornherein gegen sie einnahm. Die mütterlichen Verwandten taten desgleichen; Papa verschaffte den Söhnen ein Unterkommen im Kadettenkorps, Mama erreichte, daß eine der Töchter die mir zugedachte Freistelle im Augustastift bekam, so daß Tante Marie schließlich nur für ein Kind zu sorgen hatte. Jetzt wills das Unglück, daß die Mädchen erwachsen sind und die Söhne in die Armee eintreten, und was das Malheur voll macht: die ganze Gesellschaft ist aus der Art der Kleves geschlagen. Tante Klotilde entrüstet sich darüber, und Papa schimpft wie ein Rohrspatz, daß die mütterliche Verwandtschaft das Blut verdorben hat und er nun genötigt ist, die Jungens weiter zu bringen. Er war ja von je der hilfreiche Geist, wenn irgendein Vetter durch das Einjährige bugsiert werden oder in ein anständiges Regiment Aufnahme finden sollte. So hat er denn für Erich, den ältesten dieser mißratenen Kleves, sein altes Regiment gefügig gemacht und ihm – in der goldenen Zeit der eigenen Korpshoffnungen! – die nötige Zulage versprochen. Das Einlösen dieses Versprechens wird ihm jetzt gewaltig sauer, und es macht mir eine Riesenfreude, daß ich bald imstande sein werde, einen Teil davon auf mich zu nehmen.
Tante Marie lebt mit ihren Töchtern in Potsdam, die Söhne sind in Lichterfelde und Frankfurt, und diese Nähe verschafft uns das Glück ihrer Sonntagsbesuche. Ich sitze dabei immer wie auf Nadeln in Erwartung von Papas sarkastischen Bemerkungen und überbiete mich in Liebenswürdigkeit, wenn mir auch gar nicht darnach zumute ist. Alle miteinander sind kaiserlich bis in die Knochen, ist doch Tante Marie mit der neuen Hofclique verschwägert, mit den Eulenburgs vor allem, die nahe daran sind, das Hausmeiertum an sich zu reißen. Infolgedessen sind sie natürlich auch kirchlich-orthodox; – darnach kannst Du Dir die Harmonie unserer Beziehungen ungefähr vorstellen! Mama, mit ihrem oft ganz fanatischen Gerechtigkeitsgefühl ist die einzige, die sie aus Überzeugung verteidigt und es sogar unternahm, Tante Klotilde, die jede persönliche Zusammenkunft mit ihren Neffen und Nichten bisher vermieden hat, freundlicher zu stimmen. Sie wirft mir Herzlosigkeit vor, weil ich sie darin nicht unterstützen mag, und zankt sogar mit ihrem Lieblingsbruder, der sie warnte, sich ›kein Kuckucksei ins Nest zu legen‹. Die Gefahr ist, scheint mir, sehr gering, denn um bei Tante Klotilde etwas zu erreichen, müßte Mama ungefähr das Gegenteil von dem verlangen, was sie erreichen will. Außerdem würde ich den armen Würmern einen tüchtigen Anteil an Tante Klotildes Reichtümern von Herzen gönnen.
In schroffem Gegensatz zu diesem Zwangsverkehr steht ein anderer, den ich mir erkämpft habe, – obwohl Du mich bereits vorher vor meinen ›jüdischen Beziehungen‹ warntest: der im Hause Fiedlers und Rodenbergs. Papa war zuerst entrüstet, als ich ihn um die Erlaubnis bat, den freundlichen Einladungen der beiden, meine literarische Tätigkeit so lebhaft unterstützenden, folgen zu dürfen. Nach einigem Brummen, Räuspern und Toben – wobei ich verängstigt wie immer aus dem Zimmer floh, während Ilschen lachte und den Papa zu meinen Gunsten umschmeichelte – entschloß er sich freiwillig zu offiziellen Familienvisiten und gestattete mir dann, die Gesellschaften allein zu besuchen. Nun genieße ich den geistig anregenden Verkehr ungeheuer und fange an, meine Schüchternheit angesichts dieser mir doch sehr neuen Menschen und fremden Verkehrsformen zu überwinden. Ich bin seit langem daran gewöhnt, meine Ansichten nur im höchsten Affekt auszusprechen, so daß ich erst eine gewisse Schwerfälligkeit niederkämpfen, ja sogar mit dem Ausdruck ringen muß. Das steigert sich, wenn Namen genannt und Ereignisse lebhaft erörtert werden, von denen ich keine Ahnung habe.
Im Mittelpunkt des Interesses steht auf der einen Seite die neue literarische Bewegung, die sich in der Freien Bühne ein eigenes Theater schuf, und deren Vertreter stark realistische und sozialistische Tendenzen haben, und auf der anderen der neu aufsteigende Stern am Dichterhimmel – Sudermann –, dessen Dramen, wie Du sicher aus den Zeitungen weißt, wahre Stürme für und wider hervorrufen. Ich kenne von alledem noch nichts. Onkel Walter erklärt, daß ›ein junges Mädchen‹ Sudermanns Werke unmöglich sehen könne, – aber ins Residenztheater und in den Wintergarten werde ich ohne Bedenken mitgenommen! –, und im Kreise meiner literarischen Bekannten steht man den Jungen von Friedrichshagen – einem Vorort von Berlin, wo sie, wie man munkelt, ein gemeinsames Leben führen, das das kommunistische Prinzip sogar auf die Frauen ausdehnt! – skeptisch gegenüber. Ich bin zwar sehr geneigt, mich, wenn auch nicht der Autorität Onkel Walters, so doch dem reifen Urteil meiner neuen Freunde von vornherein anzuschließen, um so mehr, als Dr. Friedrich, der hervorragendste Kritiker Berlins und ein tiefer Goethe-Kenner, an ihrer Spitze steht, aber mich interessiert jede moderne Erscheinung viel zu sehr, als daß ich sie nicht aus eigner Anschauung kennen lernen wollte.
Wegen Vetter Fritz sei ganz ruhig. Ich habe besseres zu tun, als zu kokettieren. Meine Haltung ihm gegenüber ist eine ganz passive: ich empfinde mit wohligem Behagen die Atmosphäre seiner Zuneigung, und vielleicht ist solch ein sich lieben lassen für mich ein Lebensbedürfnis, ebenso wie das sich bescheinen lassen von der Sonne.
Von Herzen
Deine Alix.
Meine Mutter pflegte sich Onkel Walters Ansichten fast immer zu unterwerfen, weil es im Grunde stets die ihren waren. Aber in Bezug auf meine Theaterbesuche geriet sie in einen Zwiespalt mit ihrer eigenen Neigung und mit ihrem Pflichtgefühl. Das Theater wurde mehr und mehr ihre Leidenschaft, – es war, als suche diese kühle, harte Frau das Leben, weil sie selbst nicht gelebt hatte –, aber für sich allein und ihr persönliches Vergnügen Geld auszugeben, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Also nahm sie mich mit, beruhigte ihr Gewissen damit, daß »uns doch niemand sehen wird«, und schärfte mir ein, nicht darüber zu sprechen. So sahen wir »Die Ehre« und »Sodoms Ende«, dessen ursprüngliches Verbot auf des Kaisers direkten Eingriff zurückgeführt wurde und den Erfolg des Werks von vornherein gesichert hatte. Der tiefe Eindruck, den wir empfingen, setzte sich aus Verblüffung, Entsetzen und Ergriffenheit zusammen. Aber während er sich bei meiner Mutter durch den befreienden Gedanken auflöste, daß hier der verdorbenen Bourgeoisie und den verhaßten Parvenüs ein gräßliches Spiegelbild vorgehalten werde, das sie im Grunde nichts anging, wirkte er in mir schmerzhaft nach. Ich sah in meinen Träumen Alma, das verdorbene Mädchen aus dem Hinterhaus, und Frau Adah, die arme Reiche, die nach Glück und Liebe lechzte, während ihr Mann sich mit Straßendirnen umhertrieb. Sie waren nichts als Typen der modernen Gesellschaft, und ihre Wahrhaftigkeit erschütterte mich.
Und dann las ich mit demselben Feuereifer, mit dem ich einst in Posen meine heimlich erworbenen Reklambändchen verschlang, die Werke der »Jungen«. Jedes Buch riß mir einen neuen Schleier von den Augen. Kretzers »Meister Timpe«, Holz-Schlafs »Familie Selicke«, Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«, – mit welcher Grausamkeit enthüllten sie ungeahnte Tiefen des Elends! Dazwischen fielen mir in bunter Reihe Bücher in die Hände – von Strindberg, von Garborg, von Przybyszewski –, die mit demselben brutalen Wahrheitsfanatismus blutende Herzen und zuckende Sinne bloßlegten. Und in diesem grellen Licht, das nur tiefe Schatten und blendende Helle schuf und milde, zart verschwimmende Dämmerung nicht duldete, enthüllte sich nun auch die Welt in mir. Hatte ich die zehrende Glut meines Innern, all die Qualen meiner jungen Sinne doch nur vergebens mit den Feuerlöscheimern des Verstandes und der Pflichterfüllung zu ersticken gesucht.
Das Leben hatte in tausend und abertausend bunten Farbenflecken unruhig, blendend, vor meinen Augen geflirrt; jetzt erst entdeckte ich, daß sie alle notwendig zueinander gehörten und zu einem einzigen, riesigen Gemälde zusammenschossen. Es galt nur, die Blicke fest und mutig darauf zu richten, nicht zu schaudern vor der Wahrheit, die im zerschlissenen, blutbefleckten Gewande der Not der schier endlosen Schar der Hungernden und Blinden, der Lahmen und Verkrüppelten, der Irren und der Kettenträger voranschritt. Wer sehend war, erkannte unter ihrem Bettlermantel das Königskleid, und ihm wandelte sich die Geißel, die sie trug, zur Fahne des Sieges.
Das Grauen verschwand, ein Gefühl unbezwinglicher Kraft überkam mich. O, ich war stark genug, um, Seite an Seite mit den anderen, Ruinen einzureißen und Felsen aufeinander zu türmen!
War ich es wirklich?! Beugte ich mich nicht ängstlich jenem pedantischen Schulmeister, dem Alltag, der mich jeden Morgen aus meinen Träumen weckte, mich zwang, zwanzig alte, muffig riechende Bücher zu durchstöbern, um über irgend einen vergessenen Zeitgenossen Goethes einen kleinen Artikel zu schreiben, oder meinem Schwesterchen beim Rechnen beizustehen, oder Mamas Winterhut neu zu garnieren, oder für ein Dutzend überraschender Abendgäste den Tisch zu decken?!
In der Goethe-Zeitschrift waren inzwischen meine Aufsätze erschienen, und von den Weimarer Freunden und Verwandten meiner Großmutter wurde mir eitel Anerkennung zu Teil. Auch der Großherzog ließ mir sagen, wie sehr ihn interessiere, was ich schreibe, und legte mir nahe, nach Weimar zu kommen, wo ich zu neuen Studien und Arbeiten alle Türen offen und alle Menschen hilfsbereit finden würde. Mein Vater strahlte über diesen Erfolg und begriff nicht, wie ich auch nur einen Moment zögern könne, der Anregung Folge zu leisten.
»Du bist doch nun einmal dem Tintenteufel verfallen,« meinte er, »nun kannst du es wenigstens auf eine standesgemäße Weise sein.«
Ich schwieg. Sollte ich ihm den Schmerz bereiten und ihm sagen, daß die Fesseln des »Standesgemäßen« mir schon jetzt schmerzhaft genug ins Fleisch schnitten?
Auch im Kreise der Goethe-Zeitschrift verstand man mich nicht.
»Der Großherzog selbst fordert Sie auf und bietet Ihnen seine Hilfe an, und Sie haben noch Bedenken, nach Weimar zu gehen?!« sagte Professor Fiedler, als ich einmal wieder zu einer größeren Abendgesellschaft bei ihm war. »Nur Ihre schriftstellerische Jugend bietet mir eine Erklärung dafür! Was viele Gelehrte vergebens wünschten – Zugang zu den verschlossenen Schätzen Weimars –, wird Ihnen hier entgegen getragen, und Sie greifen nicht mit beiden Händen zu! Das bedeutet doch nichts anderes, als eine Sicherstellung Ihrer literarischen Zukunft, als den Beginn einer großen Karriere.« Ich hatte ihm und seiner Unterstützung schon zu viel zu verdanken, als daß sein Zureden ohne Eindruck hätte bleiben können.
»Sie haben persönliche Beziehungen zum Großherzog von Sachsen-Weimar?« mischte sich ein anderer Gast ins Gespräch, der mich bisher von der Höhe seiner Berühmtheit und seiner vielbewunderten Ähnlichkeit mit Goethe kaum eines flüchtigen Grußes gewürdigt hatte. Ich erzählte von Großmamas Freundschaft mit Karl Alexander. Der Kreis um mich vergrößerte sich. Man erging sich in Lobeserhebungen des Fürsten, über den ich in meinen Kreisen immer nur hatte lachen und spotten hören.
»Wenn Sie sich seiner Gunst weiter erfreuen, – welche Dienste können Sie dann der Wissenschaft leisten!« sagte der Mann mit dem Goethe-Kopf. Seltsam, wie er plötzlich von meiner Leistungskraft überzeugt schien, obwohl er alle Zusendungen meiner Artikel mit Stillschweigen übergangen hatte! Er führte mich zu Tisch, und ich, die ich bis jetzt eine bescheiden abseits Stehende gewesen war, sah mich auf einmal im Mittelpunkt der Gesellschaft. Das verletzte mich aufs tiefste: waren das die freien, geistig hoch stehenden Menschen, zu denen ich bewundernd aufgesehen hatte, deren Verkehr mich in den Strom geistigen Fortschritts reißen sollte?
Auf das angenehmste überrascht wandte ich mich daher meinem Nachbarn zur Rechten zu, der meinen Aufsatz in der Goethe-Zeitschrift gelesen zu haben schien und ein paar kritische Bemerkungen darüber machte. Er war ein bekannter österreichischer Dichter, dessen tapfere Bücher, aus denen das ganze Leid des jahrhundertelang verfolgten und unterdrückten Judentums herausschrie, mich ihn schon lange bewundern ließen.
»Wie stolz müssen Sie sein, so wertvolle Andenken an Goethe Ihr eigen zu nennen, wie die Gedichte an Ihre Frau Großmutter, wie den Ring aus der Hand des Olympiers,« meinte er.
Ich zog den schmalen Goldreif vom Finger. Er machte die Runde um den Tisch. Alles schien entzückt, dankbar, voll Bewunderung.
»Muß man das dem Fräulein glauben?!« rief plötzlich eine helle Stimme von der anderen Seite der Tafel. Halb verletzt, halb erstaunt, suchte ich mit den Augen die Sprecherin, – sie hatte offenbar nicht den mindesten Respekt vor meinen fürstlichen Beziehungen.
»Juliane Déry« – flüsterte mir mein Tischherr zu, »ein überspanntes, hypermodernes Frauenzimmer. Sie kennen doch ihre Novellen?«
Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Aber ihre Unart gefiel mir. Nach dem Souper sprach ich sie an.
Sie saß hingekauert zu Füßen des österreichischen Dichters und maß mich mit einem feindseligen Blick, während sie ungeduldig den tief herabgesunkenen Ärmel ihres ausgeschnittenen nilgrünen Kleides auf die Schulter zurückschob.
»Ich habe kein Interesse für Goethe und nicht das mindeste für die Goethe-Philologie,« sagte sie gereizt.
»Fräulein von Kleve sieht mir aber auch nicht aus, als ob sie mit Haut und Haaren der Philologie verfallen wäre,« lachte der Dichter, ein wenig verlegen ob der Ungezogenheit seiner Gefährtin.
»Ich danke Ihnen für die gute Meinung,« antwortete ich und setzte mich auf einen geraden Holzstuhl, der mit ein paar anderen seinesgleichen, einigen von Zeitschriften beladenen Tischen und schlichten Bücherregalen die Einrichtung des Raumes bildete. Es schien als sei diese Einfachheit wohlerwogene Absicht, denn um so gewaltiger und beherrschender traten die Goethe-Bilder hervor, die die Wände schmückten. »Tatsächlich habe ich gar keine Neigung zur Philologie, – sehen Sie nur, wie all der aufgehäufte papierne Wissenskram schon vor dem bloßen Abbild des lebendigen Goethe zusammenschrumpft! Es widerstrebt mir geradezu, ihn zu vermehren.«
»Warum tun Sie's denn?!« rief die junge Schriftstellerin, spöttisch lachend. Ich schwieg. Ich hatte die Empfindung, schon viel zu viel von mir selbst verraten zu haben. Der Dichter, bemüht, zwischen mir und dem Mädchen zu seinen Füßen eine Brücke zu bauen, lenkte ein: »Seien Sie ihr nicht böse. Sie ist viel besser, als sie sich gibt, und mit der borstigen Außenseite will sie nur das allzu Weiche ihres Inneren verstecken.«
»Sie will?!« Juliane Déry sprang auf und wühlte mit nervösen schmalen Fingern, die merkwürdig wenig zu der kurzen breiten Hand und dem vulgären Handgelenk paßten, in ihrem wirren Haarschopf. »Sie will gar nicht. Aber zuweilen muß sie. Und das Müssen widert sie an. Nicht verbergen, bloßlegen, was ihr im Innern lebt – ganz nackt und bloß –, daß Ihr guten anständigen Leute eine Gänsehaut kriegt, das will sie, – das wollen wir alle, die wir jung sind, und dem Leben dienen, und keinem toten Götzen.« Mir stieg das Blut in die Schläfen. Das Zimmer hatte sich gefüllt. Wie konnte man vor all diesen fremden Menschen die Pforten seiner Seele aufreißen, dachte ich, und doch beneidete ich sie, weil sie es konnte.
Sie hatte einen Funken ins Pulverfaß geschleudert. Eine allgemeine Unterhaltung über das Wollen und Können der Jungen entspann sich, bei der die scheinbar ruhigsten Menschen in leidenschaftliche Erregung gerieten, – jene Erregung, die immer verrät, daß der Kampf aufhört, objektiv geführt zu werden. Ich hörte mit steigendem Erstaunen zu. Verteidigten sie nicht im Grunde ihre persönliche Ruhe, wenn sie mit Keulen auf alle diejenigen losschlugen, die die Wahrheit vom Leben verkündigten?
»Der Pöbelruhm Zolas und Ibsens ist den Leuten zu Kopfe gestiegen,« eiferte Dr. Friedrich, der von vielen als zweiter Lessing gepriesen wurde, und sein schmales bartloses Gesicht rötete sich. »Man spekuliert auf die ganz gemeine Freude am Schmutz, und hat damit natürlich die Masse auf seiner Seite. Was würde der Große hier sagen« – er wies mit einer theatralischen Gebärde auf die Bilder an den Wänden – »wenn er diese Entartung der deutschen Literatur hätte erleben müssen!«
Eine Pause trat ein. Juliane Déry stampfte mit dem Fuß und biß sich die vollen Lippen wund, aber auch sie schwieg. Die Autorität des gefürchteten Mannes wirkte lähmend auf alle. Ich allein war noch viel zu naiv, um von seiner Macht eine Ahnung zu haben.
»Ich glaube, niemand würde die Jungen besser verstehen und würdigen als er,« begann ich leise und stockend, während ängstliche, warnende und spöttische Blicke sich auf mich richteten. »Sein Werther, sein Meister, sein Faust und sein Gretchen vor allem mögen die meisten seiner Zeitgenossen durch ihre Wahrhaftigkeit nicht minder verletzt haben als die Enthüllungen des äußeren und inneren Elends der Gegenwart Sie heute verletzen. Mir scheint, Dichter und Künstler müssen uns die Wahrheit zeigen, wie sie ist, weil wir selber nicht den Mut haben, sie aus eigener Kraft zu sehen.«
Man unterbrach mich; Rufe der Entrüstung wurden laut, ich wollte schon verschüchtert schweigen, als ein kühler, herausfordernder Blick Dr. Friedrichs mich traf, der jetzt dicht vor mir stand.
»Reden Sie nur weiter, gnädiges Fräulein, reden Sie! Es ist psychologisch interessant, einmal zu sehen, wie die Dinge auf Menschen wirken, die, wie Sie, dem Leben so fern stehen.«
»Ich stehe ihm näher, viel näher, als Sie glauben –« nun flossen mir die Worte rasch und klar von den Lippen – »und ich weiß, daß wir nicht weiter kommen – der Einzelne nicht und die Gesamtheit nicht –, solange wir uns scheuen, das Böse und Widerwärtige, das Häßliche und Schmerzhafte zu sehen, wie es ist. Erst daran erprobt sich die Lebenskraft. Kein größeres Zeichen der Dekadenz gibt es als die Furcht vor dem Schmerz. Sie ist unsere Krankheit, und an ihr geht unsere Welt zugrunde, wenn sie sich von den Ibsen und Zola und Nietzsche und denen, die ihresgleichen sind, nicht heilen läßt.« Ich atmete tief auf. Jetzt erst sah ich wieder, wer um mich war: man lächelte, halb verlegen, halb mitleidig, man zuckte die Achseln.
»Wenn nichts anderes, so haben Sie doch eins bewiesen, meine Gnädigste,« spöttelte Dr. Friedrich, »Sie haben Ihren Beruf verfehlt: eine Rednerin ist an Ihnen verloren gegangen.«
Ich fühlte mich gedrückt und verlegen und mochte den Mund nicht mehr auftun.
Auf dem Nachhausewege schloß sich mir plötzlich Juliane Déry an und schob ihren Arm in den meinen.
»Sie sind eine tapfere kleine Person,« sagte sie, »aber furchtbar dumm sind Sie auch! – Das vergißt Ihnen der Friedrich nie!«
»Wenn meine ganze Dummheit darin besteht, – die Folgen will ich auf mich nehmen.«
»Na – allerhand Achtung vor Ihrer Kurage! – Aber – da wir zwei die Wahrheit zu vertragen scheinen, so sag ichs frei heraus: Ihre Dummheit ist noch nicht erschöpft. Sie haben Ihr Gewissen sogar mit einem Verbrechen beladen. Sie haben der Kunst ethische Motive angedichtet. Die Kunst ist Kunst, – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie hat eine neue Schönheit entdeckt, die der Wahrheit – der Häßlichkeit meinetwegen –, die muß sie darstellen. Im Wort, im Bild, im Ton. Aber nützen und bessern will sie nicht, soll sie nicht.«
»Mag sein, daß das nicht ihre Absicht ist. Auch die Blume blüht und duftet und ist schön und vollendet, selbst wenn sie nicht zur Frucht werden wollte. Aber die Frucht kommt ohne ihre Absicht.«
Es zuckte ironisch um die Mundwinkel meiner Begleiterin. »Ihr Vergleich hinkt. Die Blume muß sterben, soll die Frucht ihre Folge sein. Die Kunst aber blüht und ist immer Frucht und Blume zugleich.«
Wir waren über kaum angelegte Straßen, an Kartoffelfeldern vorbei bis zu der alten Linde gelangt, die mitten in der Straßenkreuzung des Kurfürstendamms und der Tauenzienstraße stand, ein letzter Zeuge jener Vergangenheit, wo die lauernde Schlange der Großstadt die Natur noch nicht bis zum letzten Rest in ihrer Umarmung erdrosselt hatte.
Wir trennten uns mit einem Händedruck und doch eben so fremd wie vorher. Nicht zu jenen gehörte ich, deren Gast ich eben gewesen war, und nicht zu ihr. Wohin denn? . . .
Am nächsten Morgen schrieb ich an meine Verwandten nach Weimar und kündigte meinen Besuch an. In die Arbeit wolle ich mich stürzen, das würde wieder das Beste sein.
Vor meiner Abreise kam die Familie noch einmal vollzählig bei uns zusammen: Onkel Walter mit seiner Frau, die Potsdamer Kleves, Vetter Fritz und Vetter Hermann Wolkenstein, der als Offizier auf keine Karriere zu rechnen hatte und daher zur Diplomatie übergegangen war. Auch Tante Jettchen, das Familienorakel, war gekommen, sehr alt, sehr gebrechlich, aber mit ihren scharfen klugen Augen doch noch alles sehend, alles beobachtend, und in ihrem Urteil härter denn je. Ihr Kopf schien nichts als ein Lexikon der Familie zu sein. Sie kannte die Schicksale der entferntesten Verwandten. Mich mochte sie nicht: daß ich als Kind auch nur wochenlang eine jüdische Schulfreundin gehabt hatte, war ein unauslöschlicher Makel in meiner Erziehung. Heute jedoch ließ sie sich meinen Handkuß auf das gnädigste gefallen.
»Es freut mich, freut mich sehr, daß du nach Weimar gehst,« sagte sie, »für verschrobene Köpfe wie deinen ist das gut – sehr gut. Literarisch angehauchte Frauenzimmer haben dort Aussicht auf Hofkarriere.« Ich lächelte unwillkürlich: Professor Fiedler hatte auch von der »Karriere« gesprochen!
Die Unterhaltung drehte sich zunächst um Familienereignisse. Von den Vettern, die um die Ecke gegangen waren, und die, statt wie früher nach Amerika, jetzt nach den Kolonien abgeschoben wurden, um als Kulturträger aufzutreten; von den sitzengebliebenen Kusinen, die Krankenpflegerinnen wurden, weil andere Berufe sich doch nicht schickten, war die Rede. »Besser sich die Finger mit Blut als mit Tinte beschmutzen,« krähte die hohe Greisenstimme Tante Jettchens. Und dann wurde das unerhörte Ereignis kräftig glossiert, daß ein Golzow die Tochter eines Großindustriellen geheiratet hatte. Die erste Unadelige in der Familie, und noch dazu der Sprößling eines »Kohlenfritzen!«
»Und der Kerl, der Ernst, hat noch die Frechheit gehabt, mir seine Verlobungsanzeige zu schicken.« Auf Tante Jettchens runzligen Wangen brannten rote Flecke. »Aber freilich, wenn von oben das Beispiel gegeben wird! – Wenn Se. Majestät selbst mit dem Kanonen-Krupp und den Hamburger Kaffeesäcken fraternisiert! – Und amerikanische Milliardärstöchter, deren Väter noch mit dem Bündel auf dem Rücken durchs Land zogen, hoffähig werden!« – Ihre Stimme überschlug sich, der stockende Atem zwang sie zum Schweigen. Und nun erst griff die rechte Stimmung Platz, ohne die eine Gesellschaft unserer Kreise kaum noch möglich schien: Jeder wußte einen neuen Hofklatsch, eine neue Variation einer der vielen Kaiserreden oder flüsterte dem Zunächstsitzenden – aus Rücksicht auf die anwesenden jungen Mädchen – einen neuen derben Spaß zu, durch den irgendein Eulenburg oder Kessel die Lachlust Sr. Majestät gereizt und sich eine neue Gunstbezeugung errungen hatte.
»Für das Modell des Doms, mit seiner überladenen Pracht, hat er selbst die Zeichnungen entworfen,« sagte der eine, »dem Darsteller des großen Kurfürsten in Wildenbruchs neuem Spektakelstück, dem ›neuen Herrn‹ – das übrigens ein unglaublich taktloser Angriff auf Bismarck ist – hat er persönlich gezeigt, wie ein Hohenzoller sich bewegen und benehmen muß,« – fügte ein anderer hinzu, »kurz, der liebe Gott kann alles, aber der Kaiser kann alles besser,« lachte Onkel Walter. Und die alte Tante schüttelte sich vor Vergnügen: »Als roi soleil hat er sich ja auch schon malen lassen!«
Nur die Kleves waren verlegen und still, und Papa hatte sich mit bezeichnenden Blicken auf die jungen Offiziere schon oft vernehmbar geräuspert.
»Nun aber genug des grausamen Spiels,« unterbrach er schließlich den allgemeinen Redefluß. »Ich komme gewiß nicht in den Verdacht, ein Sachwalter des neuen Kurses zu sein, wenn ich daran erinnere, daß wir doch auch Ursache haben, dem jungen Herrn zuzustimmen. Schien er im Überschwang jugendlicher Gefühle den Herren Sozialdemokraten Konzessionen zu machen und den Arbeitern die Backen zu streicheln, so hat er doch beizeiten gestoppt und andere Saiten aufgezogen – –«
Doch die Verteidigung steigerte nur die Heftigkeit des Angriffs. Merkwürdig, welche Reizbarkeit alle Menschen befallen hatte, wie es fast unmöglich schien, eine ruhige Unterhaltung zu führen.
»Du siehst die Dinge wirklich nur von außen, lieber Hans,« rief Onkel Walter, der sich als Reichstagsmitglied fühlte und sich gern das Ansehen gab, als wäre er in alle politischen Kulissengeheimnisse eingeweiht; »tatsächlich steuert man direkt in den Sozialismus hinein, und das um so rascher, je mehr man uns, die einzigen Stützen der Monarchie, vor den Kopf stößt. Ist es erhört, daß von einem preußischen Könige Ausdrücke wie der von der Rebellion der Junker kolportiert werden können, daß Reden gehalten werden, wie auf dem brandenburgischen Provinziallandtag, die nichts anderes sind, als ein Kriegsruf gegen uns?!«
Meine Mutter stimmte eifrig zu. »Der Geist der Unzufriedenheit, von dem der Kaiser sprach, und der die Seelen vergiftet, ist wahrhaftig anderswo zu suchen!« sagte sie und lenkte die Unterhaltung auf die moderne Literatur. Seitdem sie »Die Ehre« und »Sodoms Ende« gesehen hatte, schien sie von dem Eindruck ganz beherrscht zu sein und schwankte zwischen der Empörung, die die traditionelle Auffassung von dem, was sich schickt, ihr auspreßte, und zwischen der Anerkennung, zu der ihr Gerechtigkeitsgefühl sie zwang. Sie wünschte sichtlich ihre Empörung zu stärken, aber unsere Gäste hielten dies Thema nicht für der Mühe wert, um sich deswegen zu erhitzen. »Wie kannst du dergleichen ernsthaft nehmen,« meinte Onkel Walter achselzuckend; »eine neue Form amüsanter Schweinereien – nichts weiter.« Nur Tante Jettchen ereiferte sich: »Anständige Leute gehen in solche Stücke nicht.« Und erleichtert über die Wendung des Gesprächs, sekundierte ihr die fromme Tante aus Potsdam.
Am Tisch der Jugend, wo man indessen Schreibspiele gespielt hatte, saß ich in steigender Erregung. Plötzlich trafen mich die scharfen Augen des Familienorakels. »Ich glaube gar, das Küken möchte mitreden, wo sie nicht einmal hinhören sollte.« Ich wurde rot. Auf der faltigen Stirn der alten Frau erschienen hundert neue Runzeln. »Du erlaubst dir am Ende, eine andere Meinung zu haben?!« forderte sie mich heraus. Verlegenheit vor all den Blicken, die sich auf mich richteten, Angst vor dem Skandal, den ich erregen würde, ließen mich schweigen. Aber als wir Jugend beim Abendessen, getrennt von den anderen, zusammensaßen und Hermann Wolkenstein eine wegwerfende Bemerkung machte, die mir in seinem Munde doppelt lächerlich vorkam, verteidigte ich die moderne Richtung in Kunst und Literatur, und zwar um so schärfer, je mehr mich die Beschränktheit und der dumme Hochmut der anderen empörte.
»Weiß Tante Klotilde um deine Ansichten?« frug unvermittelt eine der Potsdamer Kleves und streifte mich mit einem schiefen, lauernden Blick.
»Ich würde vor ihr am wenigsten Anstoß nehmen, sie zu entwickeln,« antwortete ich und warf den Kopf zurück.
»Von dir wundert mich schon gar nichts mehr,« meinte Hermann naserümpfend. »Wer sich mit jüdischen Literaten intimiert . . .«
»Beleidige doch deine Vorfahren nicht noch im Grabe –« spottete ich.
Er warf mir einen bösen Blick zu. Die anderen, ihrer tadellosen Ahnenreihe bewußt, lächelten leise. Das reizte ihn noch mehr. Er hieb mit der riesigen, weißen, gepflegten Hand auf den Tisch, daß sein Kettenarmband klirrend unter der Manschette hervorsprang.
»Und du spiel' dich nicht auf,« zischte er zwischen den Zähnen hervor; »mit deiner Vergangenheit hast du am wenigsten Grund dazu.« Ein unartikulierter Laut ließ mich den Kopf rasch zur anderen Seite wenden, Fritz hatte ihn ausgestoßen. Er saß da, kreideweiß im Gesicht, mit zuckenden Lippen.
»Sie werden meine Kusine um Verzeihung bitten, Baron Wolkenstein,« herrschte er Hermann an. »Habe gar keine Ursache, Herr von Langenscheid,« antwortete dieser, lehnte sich breit in den Stuhl zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. Ich umklammerte hastig die heißen Finger meines Verteidigers. »Mach doch keine Geschichten, Fritz –, Hermann ist taktlos wie immer – bitte, mir zuliebe, beruhige dich! – das ist ja gräßlich – hier, im Hause meiner Eltern!«
In diesem Augenblick fingen die Verwandten im Nebenzimmer an, sich zu verabschieden. Fritz zog mich beiseite. Er zitterte vor Erregung.
»Und du verteidigst dich nicht einmal gegen solche Gemeinheit,« flüsterte er mit erstickter Stimme.
»Verteidigen?! Vor solch einem Menschen?!! Soll ich ihm vielleicht eingestehen, daß ich einmal im Leben liebte, – mit ganzer Seele und mit vollem Herzen?! Soll vor den Leuten, die gar keiner starken Empfindung fähig sind, mein Inneres entblößen, was ich vor mir selbst zu tun kaum den Mut habe?«
»Alix!« von weit her schien jemand meinen Namen zu rufen, mit einem Ausdruck, der mir in die Seele schnitt.
Im nächsten Moment beugte ich mich zum Abschied über die welke Hand Tante Jettchens, hörte mit halbem Ohr ein allgemeines Stimmengewirr und fühlte schließlich noch Papas Lippen auf meiner Stirn.
»Gott Lob,« murmelte er, »den Abend hätten wir hinter uns!«
Verträumt und erstaunt sah ich um mich, als ich acht Tage später in Weimar ankam. Stand die Zeit hier seit zehn Jahren still?! Derselbe helle Maienabend wie damals empfing mich. Und in dasselbe alte Haus an der Ackerwand führte mich die Hofequipage, wie einst, als die Großmutter ihr Enkelkind zum erstenmal hergeleitete. Sie freilich war nicht mehr da, und doch war mirs, als ob ihr Kleid neben mir die Treppe hinauf rauschte. Auch ihr Bruder war lange tot, und doch schien's, als wäre der schöne, tief brünette Mann mit den schmalen Händen und dem leicht gebeugten Nacken, der mich empfing, kein anderer als er.
Im Rokokosalon mit den vielen Miniaturen über dem graziösen Sofa und den verblaßten Pastellbildern an der mattblauen Seidentapete erhob sich aus dem goldgeschnitzten Lehnstuhl am Fenster ein schlankes Frauenbild und streckte mir mit einem süß-zärtlichen Lächeln ein weißes Händchen entgegen. War das wirklich die Gräfin Wendland – meine Tante –, oder war es nicht Frau von Stein, deren Schatten sich aus dem Nebenhaus hierher verirrt hatte?! Dann kamen die Kinder und begrüßten mich, – lauter kleine Elfen mit allzu schweren Haaren auf den feinen Köpfchen und allzu großen Blauaugen über den schmalen Wangen.
Draußen vor meinem Zimmer plätscherte der Brunnen, wie vor uralten Zeiten, und die Bäume rauschten feierlich, als träfe ihre Kronen niemals ein Wirbelsturm.
Am nächsten Morgen besuchte mich der Großherzog. Er kam zu Fuß und unangemeldet, mit den raschen elastischen Schritten eines jungen Mannes; ich hatte kaum Zeit, ihm bis zum Treppenaufgang entgegenzugehen. Und dann saß er mir im Rokokosalon gegenüber, und je länger er sprach – mit heller Stimme und in dem eleganten Französisch des ancien régime –, desto tiefer versank die Gegenwart, und in mystischem Halbdunkel stieg die Vergangenheit empor. Von der Großmutter erzählte er mir zuerst, wie schön und wie gut und wie klug sie gewesen wäre, wie sie Weimars Geist in sich verkörpert habe, wie er nie habe verstehen können, daß sie anderswo als in ihrer Seelenheimat zu leben imstande gewesen war. Zuweilen legte er die Hand über die Augen, eine gelbliche, blutleere muskellose Hand, die gewiß niemals fest zuzupacken vermocht hatte, und lehnte sich, als käme plötzlich die Erinnerung an das eigene Alter über ihn, tief in den Stuhl zurück. Aber gleich darauf reckte sich sein schmaler Oberkörper krampfhaft auf, die Hände umschlossen die Seitenlehnen, die Augen weiteten sich, und mit dem stereotypen angelernten Fürstenlächeln, das über jede Empfindung hinweg täuschen soll, begann er wieder zu reden. Nun war ich nicht mehr das Enkelkind der Freundin seiner Jugend, sondern die Schriftstellerin, von der er die Erfüllung eines langgehegten Wunsches erwartete. Die Geschichte der Gesellschaft Weimars sollte ich schreiben, jener Gesellschaft, die seit Goethes Ankunft in der Residenz Karl Augusts »getreu ihrer Tradition, Künstler und Dichter als gleichberechtigte aufgenommen und ihnen den Weg zum Ruhm gebahnt hat.« Und von den Vielen erzählte er, denen Weimar ein Sprungbrett ins Leben gewesen war, die hier zuerst die Anerkennung fanden, die die Welt draußen ihnen versagte. Er begeisterte sich an seinem eigenen Gedankengang, sein farbloses Gesicht überzog sich mit einer ganz feinen bläulichen Röte, und in seinen verschleierten Augen entzündete sich ein stilles Licht.
»Sie sind prädestiniert, dies Werk zu schaffen: Getränkt mit Weimars Erinnerungen, erzogen in Weimars Geist, geleitet von dem unfehlbaren Takt der Aristokratin,« sagte er, indem er sich erhob und mir die Hand reichte. »Von Ihnen brauche ich keine jener widerwärtigen Enthüllungen zu fürchten, die die Kunst beschmutzen, das Leben vergiften. Meine Archive stehen Ihnen offen; dasselbe glaube ich auch im Namen der Großherzogin versprechen zu dürfen. Ich hoffe, Sie oft zu sehen – –«
Zu einer Antwort ließ er mir keine Zeit mehr, – daß ich nicht nein sagen könnte und dürfte? war ihm selbstverständlich. Ich hatte mich nur noch tief und dankbar zu verneigen.
Und immer enger spann sich Weimars Zaubernetz mir um Geist und Sinne. Mit offenen Armen, wie eine Heimkehrende, ward ich überall aufgenommen. Während langer Audienzen besprach die Großherzogin meine Arbeit im Goethe-Archiv mit mir. Sie blieb stets in jedem Wort und jeder Bewegung die unnahbare Fürstin, und doch lag ein mütterlicher Ausdruck auf ihren Zügen, wenn ich eintrat. Der kleine, derbe Erbgroßherzog, in allen Stücken das Gegenteil seines Vaters, glich ihm mir gegenüber in der Freundlichkeit, die durch seinen breiten Weimarer Dialekt und seine mit einer gewissen Absichtlichkeit übertriebene Verachtung aller Form noch um einen Schein herzlicher war, und seine gute, dicke Frau, die gewiß eine prächtige Landpastorin abgegeben hätte, unterstützte ihn darin. Mit der halben Hofgesellschaft verbanden mich verwandtschaftliche Beziehungen; Vettern und Kusinen sechsten und achten Grades behandelten einander hier in dem festgeschlossenen Kreise wie nahe Blutsverwandte. Wir waren in großer Gesellschaft, wenn kaum einer unter uns nicht »Du« zu dem anderen sagte.
Wie ein süßer Duft verlöschter Wachskerzen schwebte die Erinnerung an das achtzehnte Jahrhundert über all diesen Menschen und ihrer Umgebung. Alles war verblaßt, was damals in Farben und Gefühlen gejauchzt und geschwelgt hatte: die Rosenteppiche, – die gemalten Wangen, – die Liebe. Und die raschelnden bauschenden Gewänder, die Schönpflästerchen, die bunten Westen, die weißen Perücken und Galanteriedegen hatten die Damen und Herren abgelegt. Sie sahen darum oft recht dürftig und ungeschickt aus. Nur wenn im Schloß die Lüster brannten und das blanke Parkett und die hohen Spiegel ihr Licht tausendfältig wiedergaben, schienen sie sich des alten Lebens bewußt zu werden. Sie tanzten und lachten und neigten sich und nippten vom süßen Weine, und ich selbst mitten darin kam mir vor wie ihresgleichen: ein Schatten der Vergangenheit.
Auch in die Bürgerhäuser kam ich, wo Erinnerungen alter Zeiten in vergilbten Briefen, zärtlich-himmelblauen Stammbüchern, Ringen aus den Haaren der Liebsten, Prunktassen mit den Bildern der Unsterblichen verwahrt wurden. Der freundliche, ein wenig sentimentale, ein wenig enge Geist der dreißiger Jahre herrschte hier. Keine moderne Renaissance hatte die gradlinigen Biedermeiermöbel und die hellen Mullgardinen verdrängt, und trotzdem der Rausch der Farben und der Töne eines Böcklin, eines Liszt und Wagner ihr Auge und ihr Ohr getroffen hatte, standen sie inmitten der weichen Märchenträume Schwindscher Wälder, und in ihrem Inneren klangen die Volksweisen Felix Mendelsohns.
Ich arbeitete jeden Vormittag in den Räumen des Goethe-Archivs, hoch oben im linken Schloßflügel, durch dessen Fenster der Blick weit über den Park hinweg schweifen konnte und das Ohr nichts vernahm als das leise Geschwätz zwischen der plätschernden Ilm und den grünen Baumblättern über ihr. Die gelehrten Herren, die mit mir arbeiteten, behandelten mich mit jener ausgesuchten Höflichkeit, die Mauern aufrichtet zwischen den Menschen. Sie beantworteten meine Fragen, sie brachten mir, was ich brauchte, sie verbeugten sich tiefer vor mir, als es nötig gewesen wäre, aber ich fühlte trotzdem die Geringschätzung des deutschen Gelehrten vor dem Weibe, das in seine Kreise dringt. Doch je länger ich in Weimar war, desto dichter umhüllte mich eine Atmosphäre des Weihrauchs, die mich nicht nur unempfindlich, sondern auch unnahbar hochmütig machte. Nur einer, der Direktor, ein geistvoller Sonderling, begegnete mir wie ein Mensch dem Menschen. Zuweilen aber kam es vor, daß ich seine väterlichen Ermahnungen, seine klugen Ratschläge, seine sarkastischen Kritiken nicht mehr vertrug. Nicht nur die Eitelkeit, die in der Treibhausluft der Salons so üppig gedieh, auch die Ungeduld, die mich oft mitten in der Arbeit packte, trug daran die Schuld.
»Man degradiert sich zum Lumpensammler bei dieser ewigen Papierkorbarbeit,« rief ich einmal empört, als ich eine Notiz, die mir fehlte, durchaus nicht finden konnte.
Der Direktor, der mir während der letzten Stunden geholfen hatte, sah mich stirnrunzelnd an.
»Sie sind sehr jung und sehr voreilig, gnädiges Fräulein,« sagte er scharf. »Wer zur Vollendung eines Mosaikbildes ein einziges Steinchen braucht und Kisten und Kasten, selbst Bergwerke darnach durchforscht, der leistet eine wertvollere Arbeit, als mancher, der ein ganzes Gemälde in zwei Stunden hinpatzt. ›Beschränkung ist überall unser Loos‹ sagt unser Meister, und mit vollem Bewußtsein einseitig werden, ist der Ausgangspunkt tüchtiger Leistung.«
»Beschränkung ist überall unser Loos«, – das bohrte sich in mein Gehirn – ich suchte von da an meine Steinchen und unterdrückte mein Murren.
An einem Lenztag, der so reich war, als hätten alle Lieder der Sänger Weimars sich in Duft und Glanz und Farben verwandelt, fuhren wir hinauf nach Belvedere. Der Großherzog hatte uns zum Frühlingsfest in sein Schlößchen geladen. In eine Laube von Maiglöckchen und Rosen war der runde Gartensaal verwandelt; durch die weit geöffneten Türbogen lachte der blaue Himmel, auf dem blinkenden Silber und den geschliffenen Kristallen der Tafel glänzte die Sonne, die Zahl der Tischgäste überstieg nicht die der Musen, und ein heiteres Gespräch, das wie der Wiesenbach alle Ecken und Kanten meidet und selbst die Steine streichelt, die ihm im Wege liegen, flutete hin und her. Warum nur meine Gedanken zuweilen den Faden verloren, und der Märchenwald am grünen Badersee mir wie eine Fatamorgana erschien und kühler Bergwind mir die Stirn umstrich? – der Duft der Maiglöckchen war es wohl, der den Zauber hervorrief.
In den Park geleitete uns unser Gastgeber nach dem Diner. Er zeigte mir das Labyrinth und die Naturbühne und wies mit liebevoller Bewunderung auf die sanften waldigen Hügelketten, die sich weit bis in die Ferne dehnten. »Das ist Schönheit,« sagte er, »ruhig-vornehme Schönheit, ein reiner Rahmen für echte Kunst, wie wir sie in Weimar gepflegt haben und pflegen werden. Ich freue mich, daß Sie uns helfen wollen. – Sie werden in Weimar bleiben, nicht wahr?« Ich antwortete ausweichend. Er verstand mich falsch: »Eine Stellung zu finden, die Ihnen entspricht, dürfen Sie mir überlassen,« und mit einem freundlichen Händedruck wandte er sich anderen zu. Auf dem Heimweg gratulierten mir meine Verwandten. Graf Wendland, der hinter den Allüren eines tadellosen Hofmannes einen klugen, merkwürdig freien Menschen verbarg, meinte mit einem feinen Lächeln: »Der weiße Falke wird der Hofhistoriographin nicht fehlen. Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, nicht wahr?!«
An demselben Abend war ich bei einer meiner vielen Tanten zum Souper. Aber es war eine, die nicht wie die vielen war, – ein Original, über das die Familie die Achseln zuckte und die Köpfe schüttelte. Sie hatte sich schon in ihrer frühen Mädchenzeit Weimar zum Trotz ihr eigenes Leben geschaffen. Sie suchte sich ihre Hausfreunde unter den Künstlern und Dichtern, die sonst in Goethes Stadt doch nur zu wirksamen Dekorationsstücken der Hofgesellschaften verwendet wurden. So war sie allmählich zur mütterlichen Freundin all der jungen Menschen geworden, die hier auf der steilen Leiter zum Ruhm die ersten Schritte taten oder künstlerische Offenbarungen suchten. Und wem der Zwang des Hofes lästig wurde, wer frischere Luft brauchte, wem ein freies Wort auf der Zunge brannte, der kam zu ihr.
Heute waren sie alle um ihren Teetisch versammelt, die Alten und Jungen: Lassens jovialer Künstlerkopf tauchte neben dem schönen Schillerprofil Alexander von Gleichens auf; ein paar auswärtige Freunde, Schriftsteller und Theaterdirektoren, die zum bevorstehenden Goethe-Gesellschaftstag schon angekommen waren, fanden sich ein; Richard Strauß stand schüchtern in einer Ecke, der blasse junge Kapellmeister, den die meisten verlachten, und der hier bei der gütigen Frau, die ihn eben in schwerer Krankheit gepflegt hatte, wie Kind im Hause war. Und schmal und blaß wie er, in altmodischem Sammetkleid und glattgescheiteltem Haar tauchte ein Mädchen – nicht jung, nicht alt – in der Türe auf, das mir die Tante schon oft als großes dichterisches Talent gepriesen hatte: Gabriele Reuter. Und eine junge Sängerin kam, eine bayerische Oberstentochter, die trotz ihrer schönen Stimme auf der Bühne nicht heimisch werden konnte und ängstlich, wie ein verirrter Vogel, nach Menschen suchte, die sich ihrer annahmen. Die Hausfrau dirigierte wie ein Feldherr die bunte Gesellschaft und das Gespräch, – und warf ein geistvolles Wort hinein, wenn es auf die Landstraße allgemeinen Klatsches zu geraten drohte. Schließlich stritt man sich hitzig über Weimars Bedeutung für das geistige Leben der Gegenwart.
»Künstler bedürfen der Ruhe,« sagte Gleichen, »aber sie verkommen und versauern, wenn sie nicht immer wieder mit einer Ladung von Ideen aus der Welt draußen hierher zurückkehren.«
Lebhaft widersprach Werner von Eberstein, ein junger Historiker, der im großherzoglichen Hausarchiv tätig war. »Für den Mann der Wissenschaft gibt es nichts Besseres, als in diesen sicheren Port einzulaufen, wo nichts ihn von seinen Studien ablenkt.«
Die Tante ergriff lebhaft Gleichens Partei. »Alten Leuten mag das entsprechen. Euch Jungen aber muß der Sturm erst tüchtig um die Nase blasen,« sagte sie. »Ausgegangen sind viele von hier, mit Schaffenskraft gesättigt, aber etwas geworden sind sie erst außerhalb unserer milden Luft. So gern ich Euch habe, Kinder, – hinaustreiben möcht ich Euch alle miteinander,« und damit nickte sie dem schmalbrüstigen Musiker und der schüchternen kleinen Schriftstellerin zu, um sich gleich darauf an mich und an Eberstein zu wenden, der neben mir saß und ihr Neffe war:
»Ihr seid beide schon in Vorschußlorbeeren eingewickelt bis an den Hals, aber trotzdem gebe ich euch noch nicht auf. Habt die Selbstverleugnung, sie abzureißen! Hofluft erstickt Talente, genau so wie die der Hinterhausstuben.«
»Sie sind ganz blaß und still geworden, liebes Fräulein,« sagte Gleichen, als er mich spät in der Nacht nach Hause begleitete. »Glauben Sie, ich hätte meine verrückten Krautgärten malen können, wenn ich die Blumen und die Sonne nicht anderswo gesehen hätte als hier?!«
Er kam mir vor wie ein alter Freund, obwohl ich ihm zum erstenmal begegnet war.
»Aber vielleicht bedeutet Weimar für mich, was für Sie die übrige Welt bedeutet: Leben – Befreiung?!« antwortete ich.
»Nein,« sagte er energisch und drückte mir die Hand. »Nein – Sie brauchen größeren Spielraum für Ihre Freiheit.«
Ich wurde müder von Tag zu Tag. War es die tägliche stundenlange Morgenarbeit in den Archiven, war es die ununterbrochene Geselligkeit am Mittag und am Abend, die mich allmählich erschlafften? Ich wurde mir nicht klar darüber. Aber ich sehnte mich in die Stille der Berge, wo ich mit Hilfe der aufgehäuften Materialien mein Buch zu beginnen die Absicht hatte. Nur die Goethe-Tage wollte ich noch abwarten. Sie fielen in diesem Jahre mit dem Jubiläum des alten Theaters zusammen und zogen Berühmtheiten aus aller Herren Ländern nach Weimar. Auch meine Berliner Freunde fehlten nicht.
»Habe ich ihnen nicht gut geraten?« meinte Professor Fiedler mit ehrlicher Freude, als er mich im Mittelpunkt der Gesellschaft, von Anerkennung und Schmeichelei umgeben, wiedersah.
»Welch eine Ehre für mich, mein gnädiges Fräulein,« sagte der Mann mit dem Goethekopf, als er bei einem Diner neben mir saß.
Und ich sah mit wachsendem Mißvergnügen, wie tief all die Männer der Kunst und Wissenschaft die grauen Köpfe vor den Fürsten neigten, wie sie erwartungsvoll, stumm und aufgeregt in Reih und Glied standen und ein Ausdruck von Beglückung das Gesicht jedes Einzelnen belebte, wenn der Großherzog ein paar nichtssagende Worte an ihn richtete. Ich wurde mißtrauisch gegen jeden, der mich zuvorkommend behandelte. Selbst die Freude an den Versen, die der greise Bodenstedt an mich richtete, verbitterte mir der Gedanke, daß nur der Glanz der Krone, in deren hellem Umkreis ich stand, mich dem Dichter als das erscheinen ließ, was er besang.
Mit mir selbst zerfallen, saß ich am Vorabend meiner Abreise im dunklen Hintergrund der kleinen Hofloge des Theaters und sah den Faust. Wie seltsam geschah mir: Acht Wochen hatte ich in Goethes Stadt gelebt, hatte täglich die Luft geatmet, die droben im Archiv sein Lebenswerk in seinen Schriften umgab, und nun plötzlich sprach er selbst, und – ich kannte ihn nicht! Als hätte ich sie niemals gelesen, niemals auswendig gewußt, trafen seine Worte mein Ohr; lauter grelle Blitze, die das Dunkel erhellten, lauter Donnerschläge, die mich erbeben ließen.
Das war des Menschen Schicksal, das an mir vorüber rollte; mein eigen kleines Leben sah ich darin verflochten mit seinen Kämpfen und Niederlagen. Und vor einer Niederlage stand ich wieder. »Nur der verdient sich Freiheit, wie das Leben, der täglich sie erobern muß« dröhnte es mir in den Ohren.
Am Ausgang des Theaters traf ich Gleichen. Ich drückte ihm die Hand. »Leben Sie wohl«, sagte ich. »Sie reisen?« Er sah mich forschend an. »Ja, – und ich werde nicht wiederkommen.«
Auf dem Frühstückstisch fand ich am nächsten Morgen zwei Briefe: vom Großherzog, der mich aufforderte, den Hof nach Wilhelmstal zu begleiten, von Tante Klotilde, die mir mitteilte, daß sie mich in diesem Sommer in Grainau nicht erwarten könne, weil sie, dem Rate meiner Mutter folgend, eine der Potsdamer Nichten zu sich gebeten habe. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als habe mir jemand hinterrücks einen Schlag ins Genick versetzt. »Also werd' ich nach Pirgallen gehen,« sagte ich laut, wie zu mir selbst.
»Nach Pirgallen?!« frug die kleine Rokokogräfin erstaunt. »Man rechnet doch auf dich für Wilhelmstal!« »Ich werde ablehnen müssen, – mein Buch soll zum Herbst fertig werden, – ich brauche den Sommer zur Arbeit,« antwortete ich ein wenig zögernd. Es war ein paar Augenblicke still in dem weißen, von der Morgensonne hell durchfluteten Speisesaal. Nur der Teekessel sang, und draußen über das holprige Pflaster rasselte eine Hofequipage.
»Überlege es dir reiflich,« begann Graf Wendland langsam und sah mit gerunzelter Stirn auf seine blanken Fingernägel. »Es ist vielleicht eine Lebensentscheidung, die du triffst«, – ein langer prüfender Blick traf mich, – »du weißt wohl noch nicht – Prinz Hellmut hat am Mariental das Schloß seiner eben verstorbenen Tante übernommen . . .«
Wieder war es still. Ich hörte das Summen einer Biene am Fenster und sah, wie schwarz und schwer das alte eichene Büffet sich von der weißen Wand abhob. Mein Herzschlag setzte aus, um im nächsten Moment atemlos zu toben, wie eine rasende Maschine. Hellmut – –! Er hatte mich gehen heißen, als ich mich ihm geben wollte – –! Aber hatte er nicht, wie ich, unter dem Zwang großer, selbstverleugnender Liebe gehandelt – –? Doch warum kam er nicht wieder – jetzt, da er ein freier Mann war? – Ich strich mir mit eiskalten, zitternden Fingern die Locken aus der Stirn:
»Mein Entschluß steht fest, – ich gehe nach Pirgallen!«
Und nun saß ich in Großmamas stillem, grünem Zimmer unter dem weißen Marmorbild ihres Vaters, und aus dem Garten grüßten die Jasminsträucher mit großen, süß duftenden Blüten. Niemand störte mich in dieser Einsamkeit. Onkel Walter fürchtete die Räume der Toten, als ginge ihr Geist darin um. Mama glaubte mich bei der Arbeit, der Vater ritt mit dem Schwesterchen durch die Wälder, wie einst mit mir. Ich hatte arbeiten wollen. Bücher und Notizen lagen in großen Stößen auf dem Tisch der Altane. Aber sobald ich sie aufschlug, schrumpften mir alle Gedanken ein. Tot und leer waren all die vielen Papiere, – wie sollte je etwas Lebendiges aus ihnen hervorgehen. Und was gingen mich im Grunde die fremden Dinge und Menschen an? Was würde die Welt davon haben, wenn ich des langen und breiten von denen erzählte, die im Dunkel geblieben wären, wenn nicht ein ganz Großer sie in seine Nähe gezogen hätte?
In Großmamas Bücherschrank standen Goethes Werke in langer Reihe mit grünen Einbänden und weißen runden Schildern auf dem Rücken. Ich begann zu lesen – stundenlang, tagelang, wochenlang –. Und je mehr ich las, desto mehr zog ich mich in die Räume zurück, die eine stille Insel waren mitten im Weltgetriebe. Täglich schmückte ich sie mit frischen Blumen, wie Großmama es getan hatte, und zog des Nachts die dunkeln Sammetportieren vor Türen und Fenster und steckte die Ampel an mit der großen Flamme unter dem sonnengoldnen Seidenschirm. Wenn ich dann halb die Augen schloß, sah ich das Zimmer erfüllt wie von einem flimmernden Nebel, aus dem die Statue Goethes immer größer und lebendiger hervorwuchs.
»Rede zu mir, Meister!« flehte meine Seele. Und er redete.
»Dein Leben sieht einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich,« zürnte er.
»Ach, welch ein Werk bleibt mir zu tun?!« schrie meine Seele.
»Bleibe nicht am Boden haften – frisch gewagt und frisch hinaus,« hörte ich die Stimme des Mahners, »dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm, – tätig zu sein, ist seine Bestimmung!«
»So zeige meiner Kraft eine Tat –«, und sehnsüchtig streckte meine Seele die gefalteten Hände empor zu ihm.
»Ein edler Held ists, der fürs Vaterland, ein edlerer, der für des Landes Wohl, der edelste, der für die Menschheit kämpft . . . .«
Zu einem Tempel weitete sich das Zimmer, und von den Marmorwänden klangen dröhnend die Worte seines Hohenpriesters wider.
Der Boden leuchtete wie ein einziger Rubin, – tränkte ihn der Menschheit ganzes, blutrotes Leiden?
Hingestreckt lag meine Seele vor dem Altar.
»Nenne mir Ziel und Maßstab meines Strebens!« flüsterte sie.
». . . Solch ein Gewimmel möcht ich sehn – auf freiem Grund mit freiem Volke stehn . . . .«
Nicht mehr der eine war es, der also sprach, es war ein Chor von Millionen Stimmen, und alle Hoffnung der Verlassenen, alle Sehnsucht deren, die zu leben begehren, tönte darin.
Ein Brief von Egidy, erfüllt von den Ereignissen der Gegenwart und seinen Plänen für die Zukunft, gab mich der Wirklichkeit zurück, und in unsicheren Umrissen sah auch ich ein Feld der Betätigung vor mir. »Ihre Übersiedelung nach Berlin freut mich außerordentlich,« antwortete ich ihm, »und wenn ich Ihnen heute auch noch mit keinem Ja auf die Frage, ob ich Ihre Mitkämpferin werden kann, zu antworten vermag, so steht das Eine für mich fest: ich werde meine Kraft nicht im Durchstöbern alter Folianten verzehren und die Luft nicht durch Aufwirbeln ruhenden Staubes verdunkeln. Ich weiß, daß dem Christentum des Wortes das der Gesinnung und der Tat folgen muß, – nur zweifle ich noch, ob wir dann auf den Namen Christentum noch ein Recht haben.
Mein Entschluß, Weimar endgültig aufzugeben, hat in meiner Familie viel Entrüstung hervorgerufen. Meine Mutter sieht darin einen neuen Beweis für meine Charakterschwäche. ›Alix ist noch niemals konsequent bei der Sache geblieben, – sie wechselt ihre Neigungen für Menschen und Dinge wie alte Handschuhe,‹ meinte sie. Ich selbst aber fange an zu glauben, daß in dieser Inkonsequenz die einzige Konsequenz meines Lebens liegt. Alles und Alle sind Stufen, und ich bin noch keine rückwärts gegangen. Papa war traurig –, was mir immer am meisten weh tut. Mein Onkel dagegen hat mir eine Rede gehalten, deren Quintessenz war, daß ich lieber heiraten solle, statt modernen Schwarmgeistern zu verfallen.
Wir reisen nächste Woche nach Haus.
Ich gehe noch einmal alle alten Wege, und oft steigen mir plötzlich die Tränen in die Augen, wenn ich den breiten efeuumsponnenen Turm von Pirgallen vor mir sehe. Er war etwas Lebendiges für mich; ein treuer, starker Freund, ein Wahrzeichen vieler Kinderjahre, die zu seinen Füßen wuchsen und in seinem Schutz. Nun hat er die Seele verloren, seit Großmama ihn verließ. Es ist auch für mich Zeit, zu gehen. Aber soviel Stärke auch die Erkenntnis verleiht und der Entschluß, – der Abschied von den Toten tut weh. Und mir ist, als sähe ich sie nie wieder . . . .«