Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin – Lehrjahre
Lily Braun

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Achtzehntes Kapitel

Kranz, 15.6.92

Verehrter Herr Professor!

Wir sind wohlbehalten hier angekommen und ich benutze den herrlichen Morgen, um Ihnen gleich die erste Nachricht zu geben. Seit gestern Abend, wo Onkel Walter, kaum daß ich den Reisestaub abgeschüttelt hatte, mich bereits ganz gegen seine Gewohnheit in ein politisches Gespräch verwickelte, zweifle ich nicht mehr daran, daß nicht meiner Schwester Bleichsucht, sondern mein ›gefährlicher‹ Geisteszustand die Eltern veranlaßte, uns Beide so unerwartet rasch auf Reisen zu schicken. Der Onkel erzählte mir, daß die Regierung, d. h. heute kaum etwas anderes als S. M., Egidy, diesem ›kompletten Narren‹, nur aus Rücksicht auf seine Familienbeziehungen noch ›keinen Maulkorb‹ vorgebunden habe, man werde dafür bei Zeiten seinen Parteigängern an den Kragen gehen, die im Polizeipräsidium als Anarchisten wohl bekannt seien. ›Aber Dein Professor ist viel gefährlicher‹, fügte er dann hinzu, ›und er wäre längst beseitigt worden, wenn er nicht ein kranker Mann wäre.‹ Da mir die schlechte Gewohnheit des Schweigens inzwischen glücklich abhanden gekommen ist, gab es eine erregte Aussprache. ›Das kommt davon, wenn Frauen sich in Dinge mischen, die sie nichts angehen,‹ sagte der Onkel, als ich Ihre Stellung zum seligen Volksschulgesetzentwurf und zur Arbeitslosenbewegung verteidigt und als die meinige bezeichnet hatte. Wir seien nichts anderes als Helfershelfer der Sozialdemokratie, erklärte er mit der Hellsichtigkeit des Hasses. Und nun war es mir nicht nur höchst interessant, ihn seinen eigenen Standpunkt auseinandersetzen zu hören, sondern – lachen Sie mich bitte nicht aus! – zum erstenmal, seit ich ihn kenne, fing ich an, ihn ernst zu nehmen und zu begreifen. Wer, auch ohne den Dogmenglauben zu besitzen, gesättigt von dem ganzen Pessimismus des Christentums, alle Menschen für Sünder und die Welt für ein Jammertal, bestenfalls für eine fegefeuerähnliche Durchgangsstation hält, daneben aber sich der ungeheuern Vorteile alter Kultur und angestammter Herrenrechte voll bewußt ist, der kann den Sozialismus und alle seine Begleiterscheinungen nur für das Ende aller Dinge halten, gegen das er sich naturgemäß wehren muß. Offen gestanden, sind mir solch ehrliche Junker hundertmal lieber als die Richter und Konsorten, die wir ja eben zur Genüge kennen gelernt haben. Übrigens nahm ich die Gelegenheit wahr, um Onkel auf seinen Monarchismus hin festzunageln, ›der mir angesichts der Haltung seiner Partei gegenüber den Handelsverträgen einigermaßen fadenscheinig vorkäme.‹ – ›Unser Monarchismus besteht nicht in hündischer Treue gegenüber dem einzelnen Monarchen,‹ antwortete er, ›sondern in der Hochhaltung und Verteidigung alles dessen, was die Monarchie stützt und kräftigt, – auch gegen den Monarchen, wenn es sein muß!‹ Mich würde diese geistreiche Definition in seinem Munde verblüfft haben, wenn mir nicht rechtzeitig eingefallen wäre, daß in letzter Zeit seine ganze geistige Nahrung in den Apostata-Artikeln der ›Gegenwart‹ bestanden hat.

Hoffentlich höre ich bald von Ihnen, von Ihrem persönlichen Ergehen, von der Entwicklung der Beratungen. Soll ich Ihnen gestehen, daß ich ohne Bedenken auf die Teilnahme an ihnen verzichtet hätte, wenn meine Eltern mir dafür erlaubt haben würden, jeden Nachmittag bei Ihnen allein meine Tasse Kaffee zu trinken?!

Mit herzlichen Grüßen

Ihre dankbar ergebene

Alix von Kleve.«    

 

»Berlin, 18. 6. 92

Gnädigstes Fräulein!

So rasch eine Nachricht von Ihnen zu bekommen, war eine aufrichtige Freude, und Ihre Schilderung Ihres Gesprächs mit Ihrem Herrn Onkel interessierte mich natürlich lebhaft. Daß man die Ethische Bewegung ›oben‹ nicht ohne Besorgnis betrachtet, weiß ich. Geheimrat Althoff ließ sich dieser Tage von mir alles auf sie bezügliche Material kommen, und in der Universität, wo der Gestrenge mich, wenn wir uns begegneten, höchst liebenswürdig zu begrüßen pflegte, ging er heute stirnrunzelnd an mir vorüber.

Ihr Urteil über die Junker teile ich nicht. Nur der krasseste Egoismus ist es, der sie, die Jahrhunderte lang alle Vorzüge des Besitzes und der Kultur genossen haben, den Forderungen der neuen Zeit verschließt. Mit vollem Recht kann von ihnen verlangt werden, daß sie auf dem Wege wissenschaftlicher – das heißt in diesem Fall ethischer und sozialer – Einsicht zu denselben Überzeugungen kommen, die sich die Armen und Entrechteten nur durch die Erkenntnis ihrer ökonomischen Lage zu erwerben vermögen. Adel verpflichtet! Und sind wir nicht auch ›Junker‹?!

Die letzte Sitzung unserer Kommission verlief ziemlich stürmisch, und mir kamen wieder arge Bedenken über deren Zusammensetzung. Die einen forderten in erregtester Weise, daß die Religion innerhalb der Ethischen Gesellschaft überhaupt nicht berührt werden dürfte, die anderen, Professor Seefried an der Spitze, erklärten das Hineinziehen der sozialen Frage für außerordentlich bedenklich, worauf ich mich zu der Erklärung gezwungen sah, daß eine Ethische Gesellschaft, die ihr aus dem Wege ginge, nicht wert sei, zu existieren. Die milde, versöhnliche Art unseres Vorsitzenden goß Öl auf die Wogen unserer Erregung, aber was er zu berichten hatte, wirkte wieder wie ein Sturm. Eine hiesige Zeitung wollte aus ›bester Quelle‹ erfahren haben, die Haupttendenz unserer Gesellschaft sei eine antisozialistische; im Anschluß daran hielt Geheimrat Frommann eine höchst charakteristische kleine Rede, deren Hauptpunkte ich Ihnen nicht vorenthalten will. ›Ich kann nur insoweit mit der Sozialdemokratie mitgehen, als ich die Verstaatlichung des Grund und Bodens für notwendig und durchführbar halte,‹ sagte er, wobei ich ihn mit dem Zitat ›du wirst dich weiter noch entschließen müssen,‹ unterbrach. Die ›irdische Zukunftspoesie‹ der Sozialdemokratie erklärte er für utopischer als den Himmel der Frommen, und den Glauben an die Verwirklichung solcher Träume für eine gefährliche Ablenkung von ernster Arbeit. Ich ließ es bei meiner Erwiderung natürlich wieder an dem nötigen ethischen Maß fehlen. Was ich sagte, war etwa dies: daß ich das Emporkommen der Arbeiterklasse und einen sozialistischen Staat im Gegensatz zu dem so vielfach herrschenden anarchischen Individualismus für das erstrebenswerteste Ziel ansähe, das sich auch ohne Zweifel verwirklichen werde, – in vernünftiger Weise, wenn die leitenden Kreise vernünftig, in unvernünftiger, wenn sie einsichtslos bleiben; und ich habe hinzugefügt, daß ich mich sofort von einer Bewegung lossagen würde, welche dem Sozialismus direkt oder indirekt entgegenwirken wolle. Damit war der Anstoß zu einer erregten Sozialistendebatte gegeben, und Helma Kurz, deren Wirken in der Frauenbewegung sie mir so ungemein sympatisch machte, enttäuschte mich bitter, indem sie all ihre Waffen gegen die Sozis aus Eugen Richters Rüstkammer holte: ›Auflösung der Familie‹, – als ob es nicht der Kapitalismus wäre, der Väter, Mütter und Kinder in die Fabriken hetzt! – ›Weibergemeinschaft‹, – als ob nicht die heutige Gesellschaftsordnung die armen Frauen zur käuflichen Waare machte!

Da ich mich etwas beschämt als den eigentlichen Ruhestörer empfand, bin ich nachher still gewesen, und das endliche praktische Resultat unserer Sitzung waren der beifolgende Aufruf und Statutenentwurf. Sie werden selbst empfinden, wie wenig mir deren Farblosigkeit gefallen kann. Daß unsere Aufgabe sein soll, ›der Feindseligkeit und dem Unmaß in der Menschenwelt Schranken zu ziehen und eine entsprechende Gestaltung der Erziehung und der Lebensführung zu fördern‹, heißt, fürchte ich, Egidys Versöhnung noch übertrumpfen, und daß aus dem § 2 der Statuten die Worte ›Besitzlose‹ und ›Schutz vor Ausbeutung‹ gestrichen wurden, gab mir ordentlich einen Stich ins Herz. Für die Zukunft brauche ich dringend Ihre Unterstützung, wenn anders unsere Idee sich nicht allmählich in ihr Gegenteil verwandeln soll. Ich habe Sie darum als Kommissions-Mitglied vorgeschlagen und bin beauftragt, Sie um Annahme der erfolgten Wahl zu bitten. Ich hoffe bestimmt, daß Sie sich nicht auch jetzt noch durch falsche Bescheidenheit und ebenso falsche Rücksicht auf Ihre Eltern abhalten lassen, in den Dienst unserer Sache zu treten.

Übrigens hatte ich gestern die Ehre des Besuchs Ihrer Frau Mutter. Sie suchte mich zu bestimmen, meinen ›großen Einfluß‹ auf Sie geltend zu machen, um Sie wieder in den Schoß Weimars und unter den Schutz des weißen Falken zurückzuführen. Ich lehnte entschieden ab und betonte, daß Sie zu Größerem berufen seien, und daß es Pflicht der Eltern wäre, Ihnen vollkommen freie Bahn zu lassen. Daraufhin empfahl sich Ihre Exzellenz recht kühl und, wie es schien, verletzt.

Auch Egidy war vor ein paar Tagen bei mir. Ich fürchte, daß er mehr und mehr alle Distanz zu sich selbst und der Welt verliert. So sieht er uns – ernstlich! – als ein Konkurrenzunternehmen an und vermag in seiner ungeheuern Selbstüberschätzung nicht einzusehen, daß er doch nur, wie wir, einer der vielen Arbeiter ist, die von den Ruinen der Vergangenheit Stein um Stein abtragen, um dem Bau der Zukunft Platz zu machen.

Ich habe meine einsamen Zoo-Fahrten wieder aufgenommen. Auch zu Pfingsten war ich dort und ließ die Menschen an mir vorüberfluten. Diese Physiognomien könnten selbst mich beinahe glauben machen, daß wir vom Zukunftsstaat noch grenzenlos weit entfernt sind! – Alle alten Bekannten fanden sich um den Stammtisch ein, – wie schrecklich gleichgültig und langweilig sie mir doch inzwischen geworden sind! Wie gern ich auf sie und den ganzen Zoo verzichtete, wenn Sie auch nur einen einzigen Nachmittag wieder neben mir säßen!

Sie herzlichst grüßend, verbleibe ich

Ihr treuergebenster

Georg von Glyzcinski.

Allerlei Lektüre, auch der ›Vorwärts‹, folgt anbei!«

 

»Kranz, 29.6.92

Verehrter Herr Professor!

Haben Sie vielen Dank für Ihren Brief, den ich erst heute beantworte, weil wir inzwischen von einem sogenannten Vergnügen zum anderen hetzten und Ilschen den Rest meiner Zeit mit ihrer Kur in Anspruch nahm. Die Gesellschaft, in der ich mich ständig befunden habe und die doch eigentlich die meine ist, wird mir bis zur Verständnislosigkeit fremd. Ihre Atmosphäre legt sich mir beklemmend aufs Herz, wie die eines überfüllten Saales; und wenn ich versuche ein Fenster zu öffnen, so schreit alles, aus Angst vor Erkältung.

Nach Ihrem letzten Bericht über die Kommissionsverhandlungen und nach dem Empfang des Programms und der Statuten ist das glühende Feuer meiner Hoffnung freilich durch einen recht abkühlenden Wasserstrahl getroffen worden. Ich finde – verzeihen Sie mir meine Ehrlichkeit! –, daß beide stark nach Phrase schmecken. Der Ausdruck ›Unmaß in der Menschenwelt‹ stört mich besonders. Zu sehr Maß halten, zu ängstlich darauf sehen, es mit keinem zu verderben, mag an sich ethisch sein, kann aber zu sehr unethischen Konsequenzen führen. Und zu der Stellung von Professor Seefried und Helma Kurz kann ich nur sagen: wer nicht für uns ist, der ist wider uns.

Nach alledem ist es für mich selbstverständlich, daß ich die Wahl in die Kommission annehmen muß. Wenn ich nur nicht auch zu einer Enttäuschung für Sie werde! Es muß wohl doch nicht allein ein Ergebnis meiner Erziehung, sondern ein Teil meines Wesens sein, daß es mir so schrecklich schwer wird, vor Fremden meine innersten Gedanken zu entwickeln, – als ob ich mich vor allem Volk nackt zeigen müßte! Da ich aber einsehe, daß die geistige Nacktheit das große Opfer ist, das die Menschheit von denen verlangt, die sich in ihre Dienste stellen, so will ich versuchen, mich dazu zu erziehen.

Bei den Ausflügen, die wir in die Umgegend gemacht haben, bin ich durch das, was ich sah, in meinem Vorsatz bestärkt worden: wie viel Jammer und Elend auf dem Hintergrund des blauen Himmelsgewölbes und des unendlichen brandenden Meeres! Fast möchte man, wie die Menschen bisher, verzweifelt darüber die Hände untätig in den Schoß legen, oder, wie die Anarchisten, Vernichtung predigen, weil anders eine Rettung nicht möglich erscheint. Je mehr ich offenen Auges um mich sehe, desto mehr entwickelt sich bei mir ein Zug zum Fanatismus, und ich muß mir immerfort das Gebot der Toleranz und die Pflicht, leidenschaftslos zu urteilen, vorhalten. Von dem Augenblick an, daß man sich klar wird, – es mag vielleicht paradox klingen, aber die meisten werden sich wirklich niemals klar darüber! –, daß jenes in Schmutz, Hunger und Stumpfheit aufgewachsene Fischerkind auch ein Mensch ist, genau wie man selber, kein fremdartiges Geschöpf, – von dem Augenblick an beginnt man überhaupt erst zu sehen. Und wenn mir jetzt vorgehalten wird: die Leute empfinden ihr Elend nicht, – so kann ich mich nicht mehr dabei beruhigen. Ich fühle vielmehr, – und fühls mit allen Schmerzen peinigenden Selbstvorwurfs, – daß gerade dies, was ein Trost sein soll, das größte Unglück ist und jeder einzelne von uns die Verantwortung dafür trägt.

Das Erwecken der Menschen zu dem Bewußtsein ihres Elends ist sicher der erste Schritt zu ihrer Erhebung, und wenn ich jetzt den ›Vorwärts‹, dank Ihrer Güte, regelmäßig lese, so scheint mir das Hauptverdienst der Sozialdemokratie darin zu bestehen, daß sie überall die Sturmglocke läutet. Womit ich mich aber nicht befreunden kann, – das ist die unterschiedslose Verdammung aller Bestrebungen, die nicht von vornherein rot abgestempelt sind. Warum entdeckt der Vorwärts nicht, wie Dr. Brandt, die ›Ströme, die in sein Meer fließen‹? So ist sein Angriff auf die Ethische Bewegung ebenso töricht wie ungerecht. Er müßte uns wahrhaftig von Bildungsanstalten Richterscher und Stöckerscher Art unterscheiden können! Und warum Haß und hämischen Neid gegen die einzelnen Mitglieder anderer Klassen groß ziehen, – der nichts zur Folge hat, als lähmende Bitterkeit –, statt nur den Haß gegen die Zustände, der Mut und Kampflust auslöst? Gerade der Sozialismus lehrt doch, daß die Menschen Ergebnisse der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind; man setzt sich also in Widerspruch zu den eigenen Grundprinzipien, wenn man den Haß gegen Personen verbreitet, die doch so werden mußten, wie sie wurden.

Damit komme ich noch mit einem Wort auf unseren alten Streitpunkt, die Junker betreffend, zurück. Sie erinnern mich daran und werden es vielleicht jetzt wieder tun, daß wir beide doch auch Junker wären und uns trotzdem, lediglich auf Grund unserer ethischen Einsicht, zum Sozialismus bekennen. Nun denn – lachen Sie mich nur ruhig aus, ich höre Sie so gerne lachen! –, ich bestreite Ihre Behauptung! Sind wir nicht von Jugend an Abhängige gewesen, – wir und unsere Eltern, – von unserem Brotgeber, dem Staat? Hätten meine Eltern sich frei bewegen können, ohne sich den Kopf an der Mauer einzurennen, die der Staat um sie gezogen hat? Können Sie es? Und diese Abhängigkeit – macht sie nicht den Proletarier? Ich aber, die ich ein Weib bin, gehöre von Rechts wegen noch tausendmal mehr als Sie zu der großen, dunkeln, darbenden Masse der Enterbten!

Mich hat diese Erkenntnis mit neuer Freudigkeit erfüllt und mit neuer Hoffnung; gilt doch dann dasselbe für unseresgleichen wie für das arme Fischerkind: es bedarf nur der Erweckung, und Tausende neuer Kämpfer gesellen sich brüderlich zu denen, die vorangingen! Wie viele gibt es, deren ganzes Wesen nach Befreiung und Betätigung verlangt, deren geistige Kräfte, ihnen selbst vielleicht oft kaum bewußt, schon im Dienst der großen Menschheitssache stehen, – denken Sie nur an all unsere jungen Künstler und Schriftsteller!

Wenn der Kaiser jetzt gegen die moderne Kunst redet, Burgen mit Schießscharten baut und Wildenbruch und Lauff zu Hofpoeten macht, so spricht das nicht nur für seinen Scharfsinn, der die Revolution wittert, wo andere nur die blaue Blume neuer Dichtung sehen, sondern er zeigt sich abermals als unser bester Agitator, der nun auch die geistigen Arbeiter in die Schranken ruft. Wir sollten jetzt zur Stelle sein und das Eisen ihrer Entrüstung schmieden, solange es warm ist.

Vielleicht, daß ich demnächst nach dieser Richtung einen ersten Versuch machen kann. Eine alte Freundin von mir, einstiges Mitglied des Schweriner Hoftheaters, die mit einem Königsberger Professor verheiratet ist, lud mich ein. Zuerst zögerte ich, hinzugehen: sie konnte, solange sie Schauspielerin war, das gutbürgerliche Milieu, aus dem sie stammte, nicht vergessen; und nun, da sie dorthin zurückkehrte, klebt ihrem Wesen die Erinnerung an die Bühne an. Aber die Aussicht, Sindermann, einen jungen Schriftsteller, bei ihr kennen zu lernen, war entscheidend, und ich warte nur noch auf die Bestimmung des Tages, um hinzufahren. Ein Mann, der durch seine Werke der bürgerlichen Welt das Verdammungsurteil ins Gesicht schleudern konnte, gehört von vornherein zu uns und müßte der Bannerträger des Emanzipationskampfs der geistigen Arbeiter werden.

Verzeihen Sie den langen Brief. Ich habe hier niemanden, mit dem ich mich auszusprechen vermöchte, und Sie haben mich so sehr verwöhnt!

Meine Eltern sind seit gestern hier; vergebens bat ich sie, nach Berlin zurückkehren zu dürfen. Allein in unserer Wohnung zu sein, halten sie für unpassend, und zu Egidys zu gehen, die mich in freundlichster Weise einluden, ist ihnen auch bedenklich! Bin ich notwendig, so komme ich ohne ihre Erlaubnis.

Mit herzlichsten Grüßen

Ihre dankbar ergebene          

Alix von Kleve.«

 

»Berlin, den 1. Juli 1892

Mein liebes gnädiges Fräulein!

Wundern Sie sich nicht über meine rasche Antwort: jeden Tag häuft sich so viel an, was ich Ihnen sagen möchte, und Ihr Brief weckt überdies solch eine Menge Empfindungen und Gedanken, daß ich nicht anders kann, als schreiben, sobald ich Ihre Schrift vor mir sehe. Entschuldigen Sie nur meine häßlichen zitternden Krakelfüße, – ich bin nicht ganz auf dem Posten und muß ausgestreckt liegen.

Für die Annahme Ihrer Wahl danke ich Ihnen ganz persönlich: Sie werden unserer Sache von größtem Nutzen sein und – was mich besonders befriedigt! – das weibliche Geschlecht allein zu vertreten haben. Helma Kurz und Frau Schaper haben – infolge ›starker Arbeitslast‹! – ihre Ämter niedergelegt. Ich habe nun die Wahl von zwei Sozialdemokraten vorgeschlagen, so daß wir uns möglicherweise sehr verbessern werden. Sie werden dann auch Gelegenheit haben, sich mit diesen über Ihre Erweiterung des Begriffs Proletarier auseinanderzusetzen, der, wie ich glaube, durchaus im Rahmen marxistischer Entwicklungslehre liegt: der Arbeiter, der ›mit dem Hirne pflügt‹ wird als Gleichberechtigter und Gleichentrechteter neben den Handarbeiter gestellt.

Mit Ihrer Kritik des Vorwärts freilich würden Sie sich weniger in Übereinstimmung mit den ›Genossen‹ befinden, – auch mit Ihrem getreuen ›Genossen‹ Glyzcinski nicht! Ich kann seine Haltung uns gegenüber nicht verurteilen: ohne Zweifel werden in der Ethischen Gesellschaft alsbald viele sein, welche von dessen Urteil getroffen werden und nichts als ›Harmonieduselei‹ treiben wollen. Wer aber bürgt dafür, daß sie nicht schließlich herrschen und ›gefährliche‹ Elemente hinausdrängen?!

Suchen Sie Sindermann für uns zu gewinnen. Mein Vetter Paul, den Sie einmal bei mir sahen, und der dem Friedrichshagener Kreis angehört, hält zwar nichts von ihm und meint, Eitelkeit und Ehrgeiz würden ihn eher immer weiter von uns entfernen, als ihn uns näher bringen. Er rühmte mir dagegen den jungen Dichter des Dramas ›Vor Sonnenaufgang‹, den er für den ›Kommenden‹ hält; aber bei der Manier dieser Art junger Leute, aus jedem bunten Kälbchen einen Götzen zu machen, vor dem sie anbetend auf dem Bauche liegen, bin ich vorläufig noch sehr skeptisch.

Unsere Kommissionssitzungen sind einstweilen eingestellt worden. Alles denkt ans Reisen, und es wird im Zoo immer stiller. Wie schön und ungestört ließe sichs jetzt dort plaudern! Nicht wahr, Sie gönnen mir die Vorfreude und teilen mir zeitlich mit, wann ich Sie erwarten darf?

Mit herzlichsten Grüßen

Ihr treuergebenster

Georg von Glyzcinski.«

Ich vermochte den Brief kaum zu Ende zu lesen, nichts als leere Worte tanzten mir vor den Augen; denn nur ein Satz hatte sich mir schreckhaft eingeprägt: »ich bin nicht auf dem Posten – muß ausgestreckt liegen.« Und ich sah ihn deutlich vor mir, den kranken Mann mit dem Apostelkopf und dem wesenlosen Körper, wie er allein, von einem ungeschickten Diener kaum bedient, geschweige denn gepflegt, in seinem stillen Zimmer lag, die weißen schmalen Hände auf der schwarzen Pelzdecke, die Kinderaugen sehnsüchtig ins Weite gerichtet. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, und ich wußte auf einmal, wohin ich gehörte.

Mechanisch faltete ich einen zweiten Brief auseinander: von Lisbeth; – noch heute sollte ich zu ihr kommen, Sindermann habe sich zum Abend angesagt, schrieb sie. Ich ging in mein Zimmer, raffte das Notwendigste eilig zusammen und hinterließ meiner Mutter, die mit allen anderen auf ein Nachbargut gefahren war, zwei Zeilen: »Frau Professor Landmann lädt mich soeben ein, noch heute nach Königsberg zu kommen. Da ich Eurer Erlaubnis sicher zu sein glaube, fahre ich mit dem nächsten Zug.«

Unterwegs erst wurde ich Herr einer Erregung, die mich den fernen Freund schon mit geschlossenen Augen und erblaßten Lippen auf dem Totenbette sehen ließ. Ich hatte beschlossen, den Nachtzug nach Berlin zu benutzen, – aber konnte – durfte ich den Kranken durch meine überraschende Ankunft erschrecken? Sah das nicht doch vielleicht nach einem unwürdigen Sichaufdrängen aus? Ich errötete unwillkürlich. Auf dem Bahnhof bat ich ihn telegraphisch um Nachricht über sein Befinden und kündigte meine Rückkehr an. Dann erst fuhr ich hinauf in die stille Tragheimer Kirchenstraße mit ihrem ausgefahrenen Pflaster und ihren altersgrauen Häusern. Welch eine strenge, ernste Stadt ist doch dies Königsberg, dachte ich; eine Stadt, die in jedem Winkel an den Ernst des Lebens erinnert und ihre Bürger zwingt, still in sich selbst Einkehr zu halten. Wäre ich hier aufgewachsen, vielleicht hätte meine Sehnsucht nie über ihre Wälle und Grüben hinaus verlangt!

Im phantastischen Kostüm einer Zarewna, Augen und Wangen glühend vor Eifer, empfing mich Lisbeth. So – gerade so hatte ich sie einmal in Schwerin auf der Bühne gesehen. Was sie spielte, vergaß ich oder wußte es nie. »Wie schön sie ist!« hatte ich damals bewundernd geflüstert »Du – du bist viel tausendmal schöner –« war mir aus dem Dunkel der Loge heiß ins Ohr geklungen . . .

Ein Wortschwall zärtlicher Begrüßung entriß mich dem Taumel der Erinnerung. Still – ein bißchen verlegen, die Augen in offenbarer Bewunderung auf seine Frau gerichtet, stand ihr Mann daneben, der typische deutsche Professor, mit kurzsichtig zwinkernden Äuglein und linkischen Bewegungen. Ich wurde hineingezogen. In eine Laube von blühenden Sommerblumen war das Wohnzimmer verwandelt, grüne Girlanden hingen von der Decke herab, bunte Lampions schaukelten dazwischen. Und plötzlich trat hinter dem Epheugerank am Fenster ein weißes, goldhaariges Geschöpfchen lächelnd auf mich zu. Lisbeths sprudelndes Plaudern brach ab, ihr erhitztes Gesicht nahm einen Ausdruck still-seliger Verklärung an; – »mein Kind!« sagte sie leise und legte die Hand auf das schimmernde Haar des Kleinen. Mir stiegen Tränen, brennendheiße, in die Augen: Ihr Kind! – Wie reich mußte sie sein!

Wir brachten ihn gemeinsam zu Bett, den herzigen Buben; seine rosigen Füßchen, seine runden Ärmchen, die Grübchen in den Händen und in den Knieen mußte ich bewundern. Dann trat ich still beiseite: Mutter und Kind, die einander Gute Nacht sagen, sind wie inbrünstig-fromme Beter, die selbst der Ungläubigste nicht zu stören wagt. In diesem Augenblick lag es um mich wie ungeheure Einsamkeit.

Noch war ich zerstreut und bedrückt, als Sindermann kam.

Wir ertragen angesichts eines tiefen inneren Erlebens nur die Allernächsten, und seine Erscheinung wirkte völlig fremd. Ein »bel homme« – es gibt keinen deutschen Ausdruck, der denselben Sinn hätte – mit liebevoll gepflegtem schwarzem Vollbart, erzwungen aristokratischen Allüren, großen breiten Händen und runden fleischigen Fingern daran.

Es herrschte jene spezifisch norddeutsche Stimmung reservierter Verschlossenheit, die zu der phantastischen Umgebung und dem romantischen Kostüm der Hausfrau in demselben peinlich-komischen Gegensatz stand wie die Nüchternheit aller Ostelbier zum Karnevalstrubel. Nur einem Gegner pflegt sie allmählich zu weichen: dem Wein. Als in Lisbeths von dem gedämpften Kerzenlicht bunter Lampions erhellten künstlichen Garten die Erdbeerbowle auf dem Tische stand und die Ketten und die Rheinkiesel auf Kopf und Hals und Armen der falschen Zarewna leuchteten und glänzten wie Perlen und Brillanten, verschwand nach und nach jener erste Eindruck der Fremdheit.

Wir sprachen von allem, was die Zeit bewegte: von der Kunst der Moderne, von der Frauenfrage, von der Sozialdemokratie. »Ich bin Sozialist,« sagte Sindermann, »weil ein denkender Mensch heute nichts andres sein kann, –« schon klopfte mir das Herz höher vor Freude – »aber ich glaube nicht, daß die Ideen des Sozialismus sich in absehbarer Zeit erfüllen werden.« Und nun entwickelte ich die Prinzipien und die Zukunftshoffnungen der Ethischen Bewegung und führte all meine Gründe ins Feuer, um ihn zu einem der unseren zu machen. Er lächelte; in dem rötlichen Dämmer des Raums vermochte ich nicht zu unterscheiden, ob es das Lächeln des Spötters oder das tragisch-resignierte des Pessimisten war. »Wir Deutschen sind vorläufig unfähig, uns zu würdigeren inneren und äußeren Zuständen aufzuschwingen,« meinte er dann, »und so sehr ich alle Ihre Ideen anerkenne, so wenig glaube ich, daß Sie unter den Künstlern Proselyten machen werden. Nicht viele fassen ihre Aufgabe auf wie ich –« er schwieg und betrachtete nachdenklich seine Fingerspitzen. Dann warf er einen kurzen, erwartungsvollen Blick auf mich.

»Und Ihre Auffassung wäre?!« frug ich gespannt.

»Der Dichter muß das Leben wiedergeben, wie es sich ihm darstellt; das vermag er nur dann, wenn sein Herz weit genug ist, um das ganze Leid der Gegenwart mit zu fühlen. Während die Dichter der Vergangenheit Tugend und Laster auf die Bühne brachten und den Zuschauer dadurch befriedigten, daß eine vergeltende Gerechtigkeit den Schluß herbeiführte, zeichnet der moderne Dichter das wahre Bild des Lebens und ruft den Zuschauern zu: so ist es, geht hin und helft! Ich will mein Publikum nicht amüsieren, ich will ihm nicht die Zeit tot schlagen helfen, ich will es aufrütteln, will es zur Erkenntnis von Wahrheiten führen, denen es im Leben aus dem Wege geht. Heißt das nicht auch ethisch handeln?«

Ich war entzückt. So hatte ich mir das Wirken des Künstlers vorgestellt! Er wurde wärmer und lebhafter.

»Glauben Sie mir,« sagte er mit einer großen Geste, »wenn ich könnte, würde ich nur vor Arbeitern meine Stücke aufführen lassen, – die verstehen, die würdigen mich!« Und dann erzählte er von der berliner Gesellschaft der Kunstkenner, Ästheten und Mäcene, die wahl- und kritiklos jeder neu auftauchenden Größe nachliefen. »Bewundert haben mich alle als den berühmten Mann,« und wieder zeigte sich jenes unbestimmte tragisch-resignierte Lächeln, – ich erinnerte mich flüchtig eines Schauspielers, dem meine Altersgenossinnen in Posen um solch eines Lächelns willen zu Füßen lagen – »aber die meisten wußten nicht, ob dieses notwendige Salonrequisit ein Bildhauer oder sonst was wäre.«

Es mochte Mitternacht geworden sein, als auf sein neuestes Werk die Rede kam, das im nächsten Winter das Licht der Rampen erblicken sollte. Ich horchte um so gespannter auf, je mehr ich von seinem Inhalt erfuhr. Ein Weib sollte die Heldin sein, deren Künstlernatur sie aus dem engen Zuhause einer Offiziersfamilie hinaustrieb in die Welt.

Und meine Phantasie arbeitete noch rascher, als der Dichter zu erzählen vermochte: Ich selbst war dies Weib, das sich endlich losriß, um die Heimat seines Wesens zu finden, – war nicht am Ende auch der alte Oberst, der in der Verzweiflung zur Pistole griff, – mein Vater?! Die Heimat, – das ist das Schicksal, es vernichtet uns, wenn wir die Schwächeren sind, und es ist wie die antike Tragödie, die immer Tote auf der Wahlstatt läßt.

Ich war ganz still geworden, versunken in die Gedanken, die des Gastes Werk in mir ausgelöst hatte.

Draußen dämmerte der Tag. Die Blumen im Zimmer hingen erschlafft die Köpfchen; ein feiner Zigarettenrauch zog seine Kreise um die verglimmenden Kerzen. Und plötzlich übermannte uns bleierne Müdigkeit. Sindermann erhob sich. Verwirrt sah ich auf: da war er ja wieder, vom ersten Frühlicht beleuchtet, der »bel homme«, der Mann mit dem liebevoll gepflegten Bart, den großen Händen und den runden fleischigen Fingern daran. Seltsam, wie fremd, wie störend er wirkte. War er es wirklich gewesen, der mir eben mein Schicksal gedeutet hatte?

Zwei Stunden schlief ich den unruhigen Schlaf der Erschöpfung. Das rasche Klingeln des Telegraphenboten weckte mich: »Befinden wechselnd. Freue mich unbeschreiblich auf Ihre Rückkehr. Glyzcinski.« Ich hatte noch gerade Zeit, die Eltern schriftlich meines raschen Entschlusses wegen um Entschuldigung zu bitten. »Der Professor ist krank; Ihr wißt, sein Leben hängt nur an einem Faden; ich würde es mir nie verzeihen, wenn er einsam und ohne Pflege leiden und sterben müßte,« schrieb ich.

Am Abend war ich bei ihm. Er saß vor dem Schreibtisch am Fenster wie immer, und schon wollt' ich freudig überrascht auf ihn zueilen, als seine Augen mir entgegensahen: flackernde Fieberlichter brannten darin; auf seinen schmalen Wangen glühten rote Flecken, und die Hand bebte, die er mir bot. »Sie haben sich meinetwegen aus dem Bett gewagt!« rief ich erschrocken.

»Darf ich denn dies glückliche Ereignis nicht auf meine Art feiern?!« – sein ganzes Antlitz strahlte – »es geht mir ja besser, viel besser – und ich glaubte schon« – seine Stimme senkte sich – »ich glaubte, ich würde Sie niemals wiedersehen!«

Minutenlang blieb es still zwischen uns. Er lehnte den Kopf zurück, mit halb geschlossenen Augen, ich sah nichts als sein Gesicht, das ein Ausdruck seligen Friedens verklärte. Und dann hatten wir einander so viel zu sagen, daß selbst die schlagende Uhr uns an die vorrückende Stunde nicht zu erinnern vermochte.

Der Diener trat ein. »Es ist zehn Uhr, Herr Professor,« sagte er und sah mich halb verwundert, halb mißbilligend an. Erschrocken sprang ich auf: »Wie komm' ich nun ins Haus – und wie in die Wohnung!« Ich hatte vergessen, mich dem Mädchen anzukündigen.

»So bleiben Sie eben hier,« entschied Glyzcinski, »nebenan auf dem Sofa hat mein Bruder oft geschlafen, – Friedrich braucht Ihnen nur die Betten aus dem Schrank zu geben.«

War das eine stille Nacht! Nur aus der Ferne drang das Geräusch der Großstadt durch die offenen Fenster. Wie geborgen kam ich mir vor! Am nächsten Morgen beeilte ich mich, auf dem grünumbuschten Balkon den Frühstückstisch zu decken und achtete wenig auf das mürrische Gebahren des Dieners. Erst als er seinen Herrn im Rollstuhl hinausfuhr, traf mich aus zwinkerndem Augenwinkel ein hämisch-vielsagender Blick, vor dem mir fast der Morgengruß im Munde erstickte. Gott Lob – Glyzcinski bemerkte nichts. Seine Augen hatten den alten, klaren Schein, seine Wangen die gleichmäßige Färbung.

»So gut habe ich es in meinem Leben nicht gehabt!« sagte er und behielt meine Hand in der seinen.

Zu Hause fand ich ein Telegramm von der Mutter: »Papa über deine Abreise äußerst empört, verlangt sofortige Rückkehr oder Übersiedlung zu Egidys.« Noch am gleichen Tage zog ich auf Glyzcinskis Rat in die Spenerstraße. Egidy selbst war verreist, und so konnte ich, ohne zu verletzen, den Tag über abwesend sein. Fast immer war ich bei Glyzcinski. Wenn er es auch niemals zuließ, daß ich ihn pflegte, so konnte ich doch überwachen, ob die Vorschriften des Arztes befolgt, die verschiedenen Umschläge und Kompressen zur rechten Zeit gewechselt wurden. Meiner alten Kochkünste erinnerte ich mich wieder und freute mich wie ein Kind, wenn ich zusah, mit welch wachsendem Behagen der liebe Kranke meine Suppen aß. Einmal gelang es mir, den Arzt allein zu sprechen: »Nur der Geist hält diesen Körper aufrecht,« sagte er ernst. »Leidet er?« frug ich und lehnte mich, um meine Angst zu verbergen, tief in den dunkelsten Schatten der Treppe.

»Ein gewöhnlicher Mensch würde dies Dasein kaum ertragen, aber er, – wir Gesunden könnten ihn fast um das Glücksgefühl beneiden, das ihm unveränderlich aus den Augen strahlt.«

»Wird er genesen und – leben?« brachte ich mühsam hervor.

Mit einem prüfenden, langen Blick sah mir der Arzt ins Auge und reichte mir die Hand zum Abschied:

»Genesen, – niemals! Leben?! Glück und Liebe sind Elixire, die schon Sterbende ins Dasein zurückriefen. Verordnen können wir sie leider nicht!«

Glyzcinski wurde von Tag zu Tag frischer und froher. Morgens, wenn ich kam, begrüßte er mich, als wäre ich Jahre fort gewesen, und des Abends, wenn ich ging, zuckten seine Lippen, wie die kleiner Kinder, die weinen wollen. Unsere Tage verliefen in ruhigem Gleichmaß. Der Philosophie war der Vormittag gewidmet – »in einem Jahr müssen Sie Ihr Doktorexamen machen können,« hatte Glyzcinski mir versichert, und es war ein förmlicher systematischer Unterricht, den er mir erteilte. Er wollte dabei niemals zugeben, was ich immer deutlicher empfand: daß mir für große Gebiete des Wissens die sprachlichen und – noch mehr – die mathematischen und naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse fehlten. Oft wünschte ich, mich noch auf irgendeine gymnasiale Schulbank setzen zu können, aber dann lachte er mich aus: »Sie kennen das Leben, – das ist mehr wert, als aller Wissenskram; und Sie sollen handeln, – das ist besser, als mathematische Aufgaben lösen und den Plato im Urtext verstehen können.«

Während der Nachmittagstunden beschäftigten wir uns mit der Tagespolitik und der modernen Literatur. Die Militärvorlage warf damals ihre Schatten voraus; die sozialdemokratische Presse entfaltete eine lebhafte Agitation dagegen und kritisierte auf das schärfste das Verhalten der Regierung, die, statt alte feierliche Versprechungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik einzulösen, die Lebenshaltung des Volkes nur durch neue, ungeheure Lasten herabdrücke. Ich lernte durch dürre Zahlen belegte Tatsachen über Löhne, Lebensmittelpreise, Arbeits- und Existenzbedingungen kennen, durch die die graue Nebelwelt des Elends, wie ich sie hie und da vor mir hatte aufsteigen sehen, eine immer deutlichere, fest umrissenere Gestalt annahm. Meine philosophischen Interessen traten mehr und mehr zurück: hier war ein Gebiet, das empfand ich instinktiv, das zu erschöpfen die ganze Kraft erforderte. Und die Zeit, die mich trug, kam mir auch darin entgegen: von allen Seiten strömten mir in Form von Büchern, Broschüren und Zeitungsartikeln Aufklärungen aller Art zu. Wir vertieften uns mit brennendem Eifer in den ersten Band von Marx Kapital und in die Schriften von Friedlich Engels, wir lasen Paul Göhres »Drei Monate Fabrikarbeiter,« dessen ungewollte agitatorische Kraft uns mit sich fortriß; und als Dr. Brandt dem Professor eines Tages die Probenummer einer von ihm ins Leben gerufenen Zeitschrift zuschickte, die ausschließlich Fragen der Sozialpolitik behandeln sollte, las ich sie mit brennendem Eifer und sah von da an jeder Nummer mit einer Spannung entgegen, wie der Backfisch einer Romanfortsetzung. Auch Egidy, der inzwischen heimgekehrt war, erblickte nicht mehr in der Überwindung der Dogmen den Ausgangspunkt allen Heils, sondern im Kampf gegen Not und Unterdrückung.

»Es ist eine Lust, zu leben, wo alles sich rührt, und alles wächst, – dem gleichen Himmel zu, ob auch die Wurzeln im verschiedensten Erdboden stehen,« pflegte Glyzcinski zu sagen. Und wenn ich ungeduldig seufzte: »Könnten wir nur den Anfang der künftigen Ordnung der Dinge noch erleben,« so antwortete er: »Aber wir sind ja schon mitten darin!«

Tatsächlich schien diese eine Bewegung mit einer ungeheuern magnetischen Kraft alles an sich zu ziehen. Die Wissenschaft trat in ihre Dienste, die Kunst schmiedete Waffen für sie. Was waren Hauptmanns »Weber« andres, als ihr dröhnender Schlachtgesang?! Jener Fanatismus, der nichts sieht als sein Ziel, der ihm entgegenstürmt mit blutenden Füßen und keuchendem Atem, die stillen Stege nicht kennt, die abseits von seinem Wege auf duftende Blumenwiesen, in dämmernde Wälder und hoch auf die Berge der weiten Ausblicke führen, den kein Ausruhen lockt im Schatten der Dorflinde und der Kirchenpforten, – derselbe Fanatismus, der die ersten Christen zwang, die weißen Marmorleiber heidnischer Götter in die pontinischen Sümpfe zu werfen, hatte von mir Besitz ergriffen.

Und meine Seele schloß leise, daß keiner es merkte, die Pforte der Kammer zu, hinter der lebte, was zu tiefst mein Eigen war.

Fast wie eine Störung empfand ichs, als Sindermann mich zur Vorlesung seines nunmehr vollendeten Dramas einlud. Aber war er nicht auch einer, der mit uns kämpfte?

Wir fuhren miteinander hinaus nach Chorin, einem jener stillen melancholischen Waldwinkel der Mark, wo schwarze Kiefern sich in kleinen tiefen Seeen spiegeln, und in zerbröckelnde Klosterruinen der mattblaue Himmel hineinscheint. Freunde des Dichters erwarteten ihn hier, und ein fremder »Kollege«, wie er sich mit einem seltsam feinen Lächeln nannte, war dabei: Detlev von Liliencron.

Niemand ist in seiner Wahrhaftigkeit so unbarmherzig wie die Natur. Sie scheidet grausam Echtes vom Unechten, ihr Licht, das durch keine Schleier und keine Papierlaternen gedämpft wird, beleuchtet grell, was am Menschen ihr entspricht, und was ihn von ihr trennt. Frauen mit kunstvollen Lockengebäuden auf zarten Köpfchen, in modischen Kleidern und zierlichen Hackenschuhen, die in der Stadt schön sind und im Salon blenden, wirken, wo die Natur herrscht, plötzlich halb lächerlich, halb gespensterhaft. Und moderne Männer mit lüstern-blasiertem Lächeln und der »interessanten« Blässe endloser Kaffeehausnächte auf den Zügen, richtet sie ohne Nachsicht, als das, was sie sind. Werfen sich diese Damen und Herren in dem instinktiven, unbehaglichen Gefühl, zu sein, wo sie nicht hingehören, aber gar in Dirndlkostüme und Lodenjoppen und setzen naiv grüne Hütchen auf ihre gebrannten Haare und müden Glatzen, so tritt ihre gräßliche Disharmonie zur Natur in tragischer Deutlichkeit hervor, und von den geistreichen Helden und Heldinnen großstädtischen Lebens bleibt nichts übrig als die armselige Maske kleiner Vorstadtkomödianten.

Aber auch große Menschen vermögen der Natur nicht immer Stand zu halten. Wer zu sehen gelernt hat, dem enthüllen sie ihre Blößen, daß es einem beinahe wehe tut.

Wir gingen vom Bahnhof durch den Wald bis zu dem kleinen Wirtshaus am See. Warum hatte nur unser Dichter solch glänzend-schwarzen Bart und so geistreiche Augen – so fleischige Finger und eine so starke Männerhand? Auch hier war eine Disharmonie, die schmerzte. Wie ein Stück dieser märkischen Natur selbst schritt dagegen der andere, mir noch völlig fremde, neben uns, ein Mann aus einem Guß, bei dem alles zueinander paßte.

Ein Gewitter stand drohend am Himmel, als Sindermann zu lesen begann, und Blitz und Donner begleiteten die sich entwickelnde Katastrophe. Rasch war ich wieder im Bann des Werkes. Das war ja alles mein eigenes Erleben: wie dieser Maria die Heimat zur Fremde wurde, in der die Menschen eine unverständliche Sprache sprechen, wie sie sich selbst retten muß vor den Schlingen, die die Heimat wieder nach ihrer Freiheit auswirft. Und ich war es selbst, die sprach: »Es muß klar werden zwischen der Heimat und mir!«

Der Beifall in dem kleinen Kreis der Zuhörer war groß. Daß man jede Szene stundenlang unter dem Gesichtspunkt der Bühnenwirksamkeit besprach, verletzte mich freilich. Erst auf dem Rückweg zur Bahn fing man an, die Tendenz des Stückes zu erörtern.

»Daß das individualistische Prinzip darin zu so starkem Ausdruck kommt, befriedigt mich ganz besonders,« sagte einer.

»Diese Maria ist die Personifizierung der Idee Nietzsches!« fügte enthusiastisch ein anderer hinzu, »sie hat die Umwertung aller Werte für sich vollzogen, sie steht jenseits von gut und böse, sie ist der Übermensch, obwohl sie ein Weib ist!«

Der Übermensch, – diese Maria, die sich von einem Elenden hatte verführen lassen?! dachte ich. Und die Umwertung aller Werte sollte sie vollzogen haben, weil sie die Heimat überwand?! Wäre es möglich, daß ich meinen Nietzsche so gar nicht verstanden hatte? – Die Unterhaltung wurde lebhafter. Man sprach über die Notwendigkeit, den Sozialismus durch den Individualismus zu überwinden, die Sklavenmoral durch die Herrenmoral.

»Wir Künstler haben inmitten der gefährlichen Nivellierungsbestrebungen unserer Zeit die Aufgabe, das Recht der Adelsmenschen zu vertreten,« rief ein kleiner Mann mit einem Spitzbauch, während ihm die hellen Schweißtropfen über das runde Gesicht liefen.

»Und worin besteht dieses Recht?« frug ich neugierig, das Lachen mühsam verbeißend.

Verblüfft sah er mich an. »In dem Recht, sich zu behaupten, seine Persönlichkeit auszuleben,« sagte er schließlich und hieb sich mit der flachen Hand auf den breiten Sportgürtel, daß die dicke Goldkette klirrte, die weithin leuchtend darüber hing.

»Sofern man eine hat,« meinte Liliencron lakonisch, der bisher fast immer geschwiegen hatte.

»Gewiß – gewiß,« echote der erhitzte Individualist, sichtlich froh, daß der einfahrende Zug ihn einer weiteren Erörterung überhob.

Am nächsten Tag fiel mein philosophischer Unterricht aus: wir stritten uns über Nietzsche, und zum erstenmal seit unserer Bekanntschaft verteidigte Glyzcinski seine Ansichten mit offenbarer Heftigkeit. »Wie im Anarchismus die große Gefahr für die Verbreitung des Sozialismus in der Arbeiterklasse zu suchen ist,« sagte er, »so kann die Ausbreitung der Ideen Nietzsches die Wirksamkeit der Ethischen Bewegung in den oberen Klassen völlig untergraben. Die Ausbildung der Persönlichkeit als Selbstzweck steht zu unserem Ziel – dem größten Glück der größten Mehrheit – in direktem Gegensatz.«

»Verzeihen Sie mir, wenn ich das bestreite,« antwortete ich schüchtern, aber doch im Augenblick meiner gegenteiligen Ansicht sehr sicher. »Mir scheint nämlich, als ob gerade sie unser Ziel wäre. Höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit, – so ähnlich heißt es schon bei Goethe. Und der Sozialismus soll eben die Möglichkeit für alle schaffen, ein Glück sich zu erringen, das heute nur wenige genießen können.«

»Wenn der arme Nietzsche geistig nicht tot wäre,« lachte Glyzcinski, »so würde ihn diese Ihre Auslegung daran mahnen, zum Weibe nicht ohne Peitsche zu kommen! – Sehen Sie doch um sich: sind seine lautesten Anhänger nicht unsere ärgsten Feinde?«

»Weil sie es sind, die ihn mißverstehen, nicht ich! Sich ausleben, bedeutet doch nichts anderes, als alle Fesseln zerreißen und zersprengen, die uns hindern können, die Glieder im Dienst der Menschheit zu regen!«

»Das, mein liebes Schwesterchen, ist aber kein Originalgedanke Nietzsches, sondern eine Forderung, die schon Fichte und Kant und viele andere mehr ausgesprochen haben,« antwortete der Professor. »Ich fürchtete schon, wir beide könnten uneins werden, und nun sehe ich, daß selbst Ihre Verteidigung Nietzsches nur ein neuer Beweis unserer Einigkeit ist.«

Ein unbestimmter Widerspruch, über dessen Inhalt ich mir nicht klar zu werden vermochte, regte sich zwar noch in mir, aber ich war viel zu glücklich über die Brücke des Verständnisses, die wir betreten hatten, als daß ich weiter darüber hätte nachdenken mögen.

 

Die Eltern kehrten zurück. Die Stimmung des Vaters mir gegenüber wechselte täglich: er konnte zärtlich sein und voller Interesse für mich, meine Studien, meinen Verkehr; und in der nächsten Stunde schon wandelte sich seine Liebe in rauhen Zorn, seine Teilnahme in ungerechte Verdammungsurteile, wenn irgendein politisches Ereignis, eine sozialdemokratische Demonstration, eine Darstellung der Ethischen Bewegung in der konservativen Presse, den Aristokraten, den General, den Monarchisten in ihm über den Vater siegen ließen. Die Mutter dagegen blieb fast immer kühl, zurückhaltend, beobachtend. Klein-Ilschen ging mir scheu aus dem Wege. Und als ich sie nach der Ursache frug, gestand sie, daß der Konfirmandenunterricht ihr eine nähere Beziehung zu mir unmöglich mache.

Bisher hatte ich es stumm ertragen, die Rolle der ungern Geduldeten zu spielen, – an dem Tage aber, wo dies blonde Kind sich von mir wandte, weinte ich.

Die konstituierende Versammlung der Ethischen Gesellschaft stand vor der Tür. Aus allen Teilen Deutschlands strömten uns Begrüßungsschreiben, Beitrittserklärungen, Zustimmungskundgebungen zu, – es schien wirklich, als hätten sich viele im stillen nach einer geistigen Vereinigung auf dieser Basis gesehnt. Selten nur traf ich Glyzcinski nachmittags allein: Gelehrte und Ungelehrte, Leute mit berühmten Namen und mit Würden beladen erschienen neben armen Handwerkern, und Frauen aus allen Kreisen fanden sich ein. Es war ein anderes Publikum, als das bei Egidy gewesen war: entschiedener in seiner antireligiösen Gesinnung, von sozialem Pflichtbewußtsein stärker durchdrungen. Und die nahende Vollendung des lange vorbereiteten Werks gestaltete auch die letzten Kommissionssitzungen harmonischer. Wir waren alle voll Zuversicht und voll guten Willens, uns auf dem Boden »allgemein menschlicher Ethik« zusammenzufinden.

Von jener Begeisterung getragen, die die Geburtsstunde jeder neuen humanitären Schöpfung begleitet und die Teilnehmer glauben läßt, der Beginn sei schon die Vollendung, verliefen die offiziellen Gründungstage unserer Gesellschaft. Es tat förmlich weh, zu der Nüchternheit der Alltagsaufgaben zurückzukehren, und die meisten Menschen, die uns eben noch zugejubelt hatten, ergriffen vor ihnen die Flucht. Mir, die ich von der Welterlösung geträumt hatte, wurde es besonders schwer, an all den internen Beratungen und Zusammenkünften teil zu nehmen, wo über Fragen, wie die der Versammlungslokale, der Einkassierung der Beiträge, und dergleichen mehr oft stundenlang verhandelt wurde. Ich ging regelmäßig hin, um Glyzcinski darüber zu berichten, der nur ausnahmsweise an den Sitzungen teilnehmen konnte, und daher auch oft den Grad meiner Ernüchterung nicht verstand. In Rücksicht auf ihn, dessen Freundschaft mit mir kein Geheimnis war, mehr als in Anerkennung meiner sehr geringen Verdienste um die Gesellschaft, wurde mir, statt seiner – der jede Wahl von vornherein abgelehnt hatte – der Schriftführerposten im Hauptvorstand angeboten. Ich zögerte keinen Augenblick, ihn anzunehmen, da ich mir wohl bewußt war, gerade durch ihn den größten Einfluß gewinnen zu können. Zu Hause erzählte ich nicht ohne Stolz von der mir widerfahrenen Ehre. Der Vater kam gerade aus seinem Klub, und ich hatte in meiner Freude auf seine Mienen nicht geachtet und Mamas heimliche Zeichen nicht bemerkt.

»Wie –«, fuhr er los, »ein Mensch, der meinen ehrlichen Namen trägt, offizieller Vertreter dieser Gesellschaft internationaler Schwindler?!« Ich wollte ihn unterbrechen, aber er ließ mich nicht zu Worte kommen. »Habt ihr vielleicht nicht soeben, wie ich natürlich von Fremden erfahren mußte, für die wahnwitzige Utopie ewigen Friedens demonstriert, was nichts anderes bedeutet, als diesen Schuften, den Sozialdemokraten, Wasser auf ihre Mühle treiben!« Seine Stimme schwoll an, als stünde er auf dem Kasernenhof, »und die Religion wollt ihr schon den Kindern durch euren sogenannten Moralunterricht austreiben. Eine nette Moral das – wahrhaftig!« Er trat auf mich zu: »Ich verbiete dir ein- für allemal, mit diesen Gottesleugnern und Vaterlandsverrätern gemeinsame Sache zu machen – sonst –«

»Du erlaubst, daß ich mich entferne –« unterbrach ich den Tobenden und ging hinaus.

Am nächsten Morgen kam er mir entgegen: ganz blaß, mit überwachten, müden Augen. »Höre auf deinen alten Vater, mein Kind, der es gut mit dir meint, – du bist auf falschem Wege, – schneide dir nicht die Rückkehr ab, indem du dich öffentlich engagierst!«

»Laß mir Zeit zum Überlegen, lieber Vater,« bat ich stockend, innerlich fast schon überwunden; nur bei Glyzcinski wollte ich mir noch Rats erholen.

»Geben Sie nach, – für diesmal noch!« sagte er, »das geringste Maß von Schmerz sollen wir anderen zufügen. Und am schönsten ists, wenn der Gegner sich uns aus Überzeugung schließlich selbst ergibt.«

Meinen Vater überwältigte fast die Rührung, als ich ihm sagte, daß ich mich seinem Wunsche fügen wolle. Er ging selbst zum Professor und unterhielt sich ruhig und eingehend mit ihm, »wie ein vollendeter Ethiker.« Dann mußt ich mit ihm in die Stadt, um mir ein Kleid auszusuchen: »Ich will nicht, daß du durch die ewige Näherei in der Arbeit gestört wirst, die dir am Herzen liegt!«

Es dauerte jedoch nicht lange, und ich fühlte, daß es nur eines geringfügigen Anlasses bedurfte, um einen neuen Sturm heraufzubeschwören.

Ich schwebte in ständiger Angst. Schon der Tritt meines Vaters auf der Treppe machte mich zittern, und möglichst leise verließ ich nachmittags das Haus, um erst dann erleichtert aufzuatmen, wenn die Tür von Glyzcinskis Studierstube sich hinter mir schloß.

»Jetzt müßt' ich Sie pflegen können, wie Sie mich,« sagte er dann wohl, und sein warmer Blick voll Liebe und Mitleid ruhte auf mir.

Eines Novemberabends – ich hatte infolge eines heftigen Erkältungsfiebers ein paar Tage das Bett hüten müssen – kam ein Brief vom Professor:

»Mein gnädigstes Fräulein!

Wir haben schon oft miteinander besprochen, daß die Schaffung eines Ethischen Journals sich angesichts der Entwicklung der Gesellschaft als eine immer stärkere Notwendigkeit erweist. Dieser Tage habe ich innerhalb unserer literarischen Gruppe die Frage erörtert, und der Verleger unserer Flugblätter hat sich bereit erklärt, eine Zeitschrift, wie wir sie brauchen, in Gemeinschaft mit mir ins Leben zu rufen; da ich jedoch außerstande bin, sie allein zu leiten, – der Redakteur eines solchen Blattes muß persönlich bei wichtigen Vorkommnissen zugegen sein können –, liegt die letzte Entscheidung der Sache in Ihrer Hand. Die Stellung als mein Mitredakteur wird Ihre Arbeitskraft stark in Anspruch nehmen, und im Anfang ist der Verlag leider außerstande, Ihnen ein höheres Honorar, als etwa fünfzehnhundert bis zweitausend Mark jährlich zu bieten. Aber ich hoffe und glaube, daß Ihre Liebe zur Sache groß genug ist, um über diese Schwierigkeiten hinwegzusehen.

Mit verbindlichen Empfehlungen den Exzellenzen und herzlichen Grüßen an Sie

Ihr treuergebenster    

Georg von Glyzcinski.«

Das ist die Befreiung! jubelte ich – und zitterte doch vor Angst, als ich den Brief meinen Eltern gab. Die Szene, die folgte, war schlimmer als je vorher. »Solange du meinen Namen trägst, niemals – niemals!« Dabei blieb der Vater. Ich lief in die Nettelbeckstraße und brach, aufschluchzend, neben dem Stuhl des Freundes zusammen. Minutenlang vermochte ich nicht zu sprechen und fühlte nur, wie der schmalen Hand, die mir leise über die Stirne strich, wohltätige Ruhe entströmte. Und dann erzählte ich –

»›Solange du meinen Namen trägst‹ – das sagte Ihr Vater?« Glyzcinski wandte den Kopf und sah zum Fenster hinaus, wo die roten und gelben Blätter im Herbststurm tanzten. Es dunkelte schon, – eine Mahnung zum Aufbruch.

»Ich fürchte mich so –« murmelte ich mit neu hervorstürzenden Tränen. Und aus dem Zwielicht und der Stille hörte ich seine leise Stimme sagen: »Möchtest du bei mir bleiben, mein Schwesterchen?« – »Immer – immer –« stöhnte ich und preßte meine Lippen, ehe ers hindern konnte, auf die Hand, die weiß und unirdisch im Dämmer leuchtete.

Am frühen Morgen des nächsten Tages erhielt ich diesen Brief:

»Mein liebes, gnädiges Fräulein!

Schon vor Monaten habe ich mir oft gedacht: wenn Sie eine Anzahl Jahre älter geworden wären, ohne das Glück gefunden zu haben, das Sie in so reichem Maße verdienen, – wenn Sie sich mit dem Gedanken, auf Liebe und Glück verzichten zu müssen, vertraut gemacht hätten, dann wollte ich fragen: Liebe Freundin, wollen wir zueinander ziehen, Mann und Frau werden, dabei aber – wie es mir beschieden wäre – als Bruder und Schwester weiterleben?!

Der Umstand nun, daß sich jetzt ein Arbeitsplan für uns meldet, dessen Verwirklichung, nach dem Standpunkt, den Ihr Herr Vater einnimmt, zu schließen, durch jene Lebensvereinigung sehr erleichtert werden würde, ist der Grund, daß ich schon heut mit dieser Frage an Sie herantrete.

Wir würden keine Liebes-, sondern eine Freundschafts- und Arbeitsehe führen; sie würde für Sie alles andere eher als eine ›Versorgung‹ sein; wir würden wie die Zukunftsmenschen leben, wo auch die Frau sich durch eigene Arbeit erhält. Ich bin ohne Vermögen und habe nur ein geringes Einkommen. Im übrigen wissen Sie, daß mein Leben jeden Tag zu Ende sein kann.

Und nun dürfen Sie rasch ›nein‹ sagen. Meine Freundschaft zu Ihnen würde auch dann immer dieselbe bleiben. Das ›ja‹ würde jedenfalls eine lange Überlegung notwendig machen. Handelt es sich doch um etwas Ähnliches, als wenn ein Mädchen den Nonnenschleier nimmt. Sollten Sie trotz alledem einmal ›ja‹ sagen, so könnte es doch eine in ihrer Art schöne Ehe werden.

Ewig

Ihr treuer Freund      

Georg von Glyzcinski.«

Ich hatte kaum zu Ende gelesen – mit klopfendem Herzen und tiefen Atemzügen –, als ich schon am Schreibtisch saß und meine Feder über das Papier flog:

»Mein lieber Freund!

Es bedarf für mich keiner Überlegung, um meine Hand mit einem freudig-dankbaren Ja in die Ihre zu legen. Und es geschieht nicht im Gefühl, auf Glück und Liebe verzichten zu müssen: für mich gibt es nur ein Glück, und das ist bei Ihnen; und alles was an Liebe in mir ist, gehört Ihnen. Auch ich habe, wie die Kinder, einmal von einem Paradies geträumt, das dem Himmel der Frommen ähnlich sah. Jetzt könnte es mir fast wie die Hölle erscheinen, – während Sie mir bieten, was die Erfüllung meiner heißesten Wünsche in sich schließt.

Ich sehe einen Urwald, bewohnt von allerhand Raubzeug, oft undurchdringlich dicht, daß die Sonne nicht bis auf den Boden dringen kann. Und mitten darin wir beide, eng verbunden, mit den Beilen bewaffnet, die Du uns schmiedetest. Und aus der Nähe und aus der Ferne tönen die Axtschläge vieler anderer Arbeiter zu uns herüber. Das ist Musik für unser Ohr. Freilich fehlt es nicht an niederfallenden Ästen, die uns verwunden, an giftigen Schlangen, die uns umdrohen. Aber solange wir uns selber haben, solange uns das Werkzeug nicht entfällt, solange wir offnen Auges das Licht immer mächtiger in die Tiefen des Waldes fluten sehen, – solange ist er uns das Paradies unseres Lebens . . .«

Ich schickte meine Antwort voran und folgte ihr auf dem Fuße. Leise trat ich ins Zimmer – Georg bemerkte mich nicht. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag mein Brief, die Hände hatte er darüber gefaltet und die Stirn wie versunken darauf gepreßt.

»Georg –«

»Alix –«, er fuhr zusammen, ein Antlitz wandte sich mir zu, überströmt von Tränen. Und er nahm meine Hände und küßte sie und zog meinen Kopf zu sich hernieder, und ich fühlte, wie sein Mund sanft meine Augen berührte.

Mit ruhiger Fassung sah ich den Ereignissen entgegen, die nun folgen mußten, – daß meine Eltern gegen meine Heirat wesentliche Einwände erheben würden, nahm ich nicht an: Georg war von gutem, alten Adel – und im übrigen konnte es von ihnen nur als Erleichterung empfunden werden, mich endlich aus dem Hause zu haben. Ich war wie versteinert vor Schreck, als Georgs offizieller Brief an meinen Vater gekommen war und ich in seinem Zimmer vor ihm stand. Schwer atmend, mit dunkel gefärbtem Gesicht, die Augen rot unterlaufen, saß er auf seinem Stuhl, den Rock geöffnet, mit den Fingern ungeduldig an seinem Kragen zerrend, als fürchte er, zu ersticken. Heiser, ruckweise, mit einer Stimme, die die seine nicht war, begann er zu reden, während die Mutter, im Sofa zusammengekauert, leise vor sich hin weinte.

»Das mir – das mir! – – hat Gott mich nicht schon genug gestraft?! – Dich – dich – auf die ich so stolz gewesen bin! – Die du mein – mein Kind warst vor allem! – Dich, um die ein König noch hätte betteln müssen! – Dich will dieser – dieser – den Gott selbst als einen Ausgestoßenen brandmarkte – –«

»Papa –!« schrie ich und taumelte bis an die Tür zurück.

Er sprang auf, um sich im nächsten Augenblick, wie von einem Schwindel erfaßt, mit beiden Fäusten schwer auf den Tisch zu stützen. Den Kopf weit vorgestreckt, die Augen stier auf mich gerichtet, fuhr er mich an:

»Du läufst mir nicht wieder davon, – und wenn ich dich mit Gewalt festhalten müßte! Und deinen sauberen Galan –« er lachte grell auf – »ein Kerl, der nicht einmal ein Mann ist, – niederschießen tu ich ihn, wie einen tollen Hund – –.« Mit einem unartikulierten Laut fiel er in den Stuhl zurück. Ich lief nach Wasser, – benetzte ihm die Lippen, – rieb ihm die Stirn, – es war ja ein Kranker, den ich vor mir hatte! Aber kaum war er zu sich gekommen, stieß er mich auch schon von sich.

Mama, Ilse und der Diener brachten ihn zu Bett. Fast die ganze Nacht saß ich horchend vor seiner Schlafzimmertür. Wie eine Mörderin kam ich mir vor. Als der Morgen graute, schrieb ich ein paar Zeilen an Glyzcinski, und kaum daß der graue Novembertag mit schwerfällig-langsamen Schritten durch die Straßen geschlichen kam, hörte ich den Vater schon wieder in seinem Zimmer auf und nieder gehen. Er rief nach mir, – die Angst schnürte mir die Kehle zu, aber ich folgte. Wie entsetzlich sah er aus! In einer einzigen Nacht, – wie furchtbar gealtert!

»Fürchte dich nicht, – ich tue dir nichts –« sagte er und verzog den Mund mit den gesprungenen Lippen zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein sollte. »Ich will nur mit dir reden, will dir klar machen – was du nicht weißt – nicht wissen kannst, und was der Professor –« es war ihm offenbar unmöglich, den verhaßten Namen zu nennen – »vielleicht auch nicht weiß. Die einzige Entschuldigung, die ich ihm zubilligen kann!« Ich mußte mich neben ihn setzen, wie in früheren Jahren, und er behielt, während er sprach, meine Hand in der seinen.

»Ich sagte dir schon, – du bist mein Kind! Du hast meine Leidenschaften, mein heißes Herz, mein wildes Blut. Bist du die – die Frau dieses Mannes, so wird – ich weiß es genau, ganz genau! – eine Zeit kommen, früher oder später, wo dein Herz sich vor Qualen zusammenkrampft, wo dein Blut nach Liebe schreit – schreit!! – hörst du? – Nach einer Liebe, die dieser Mann dir nie wird geben können! – Dann wirst du unglücklich werden, totunglücklich – oder –,« er brachte nur mit äußerster Anstrengung die letzten Worte hervor – »eine Ehrlose, – eine – eine Dirne!«

»Papa, lieber Papa!« ich streichelte ihm die Hände »du könntest so nicht sprechen, wenn du mich besser kennen würdest! – Ich bin kein Kind mehr – ich habe viel erlebt, – sehr, sehr viel gelitten, mein Blut hat endgültig ausgetobt, mein Herz weiß von keiner anderen Liebe als von der, die Georg mir bietet!«

»Du irrst, – und dieser Irrtum wird dein Unglück werden. Ich kenne dich besser, als du dich in diesem Augenblick kennst –.« Seine überwachten Augen sahen ins Weite, er schien immer mehr zu vergessen, daß ich neben ihm saß. »Auch ich liebte – und verzehrte mich nach Liebe! Und warb ein viertel Jahrhundert lang um sie, die mein Weib war. Ich wollte nicht begreifen, daß all meine Leidenschaft sie nicht erwärmen konnte –! Bis ich ein alter Mann geworden bin, bis ich einsehen lernte, daß nichts – nichts im Leben mir Wort hielt, – auch meine Liebeshoffnung nicht! – –« Er schwieg, überwältigt von der Erinnerung.

»Verstehst du nun, daß ich den Gedanken nicht ertragen kann, dich ebenso – nein – noch viel unglücklicher werden zu sehen als mich? – Du wirst ja nicht einmal Kinder haben!«

Ich zuckte zusammen, – aber rasch und gewaltsam hatte ich die Empfindung auch schon niedergekämpft, die ihm Recht hätte geben können.

»Alle armen, alle verlassenen Kinder in der Welt werden meine Kinder sein –« antwortete ich, »für sie werde ich denken und arbeiten!«

Papa stand auf: »So habe ich dir nichts mehr zu sagen. Du bist majorenn, du bedarfst meiner Erlaubnis nicht. Nur um eins bitte ich dich, und deine Mutter wird dieselbe Bitte dem – dem Professor vortragen – ich selbst fühle mich nicht stark genug, ihn zu sehen –: Warte nur noch ein halbes Jahr, – prüfe dich währenddessen. Du kannst, ungehindert durch mich, deinen Verkehr in derselben Weise fortsetzen wie bisher, – bist du dann noch entschlossen, – so strecke ich die Waffen.«

Ich wollte danken, – war doch dies Zugeständnis weit mehr, als ich nach dem gestrigen Auftritt noch glaubte erwarten zu dürfen, – aber er entzog mir seine Hand und verließ hastig das Zimmer.

Noch am Abend schrieb mir Georg, den meine Mutter inzwischen aufgesucht hatte:

». . . Wir hatten eine lange ernste Unterredung miteinander, die mir um so größeren Eindruck machte, als kurz vorher der Oberst Glyzcinski hier gewesen war, dem ich mich in meiner Aufregung verriet, und der mir aus meinem Vorgehen die heftigsten Vorwürfe machte. ›Geschieht, was du in deiner Unkenntnis der Welt und der Menschen als dein Glück ansiehst, so geht Ihr zugrunde,‹ sagte er. Meine geliebte Alix, – sind wir nicht in einer Hinsicht wirklich unwissende Kinder? Es sollte doch keiner von uns zugrunde gehen! Wir haben doch beide eine Mission! Es gibt so gar wenige, die unseren Enthusiasmus für unsere Sache haben! Sollten wir uns beide nicht dieser Sache erhalten? Vielleicht ist es ein Verhängnis, das der schönen Tochter der Exzellenz den alten Professor zurseite schob und in ein stilles, beschauliches, von allen irdischen Freuden abgeschlossenes Gelehrtenleben plötzlich eine Fee hineinversetzte. Sollten wir dies Verhängnis nicht in ein segensreiches Schicksal verwandeln können, wenn wir, wenn vor allem ich mich selbst bezwinge? . . .

Drei Stunden täglich Liebe und Sonnenschein? Ist das nicht viel? Die armen Millionen, denen sie nimmer scheint, die liebe Sonne! Ich freilich dürste nach mehr, aber dann geht einer von uns zugrunde!! – Und lieber lebe ich dauernd in tiefster Nacht, als daß ich über das Haupt des liebsten Menschen solch Schicksal heraufbeschwöre!

Machen wir also den ernsten Versuch, geliebte Freundin, uns mit ein wenig Glück – für mich ist das schon überschwenglich viel! – und viel Arbeit zu begnügen, und bitte Deine Eltern, daß sie es Dir leicht machen sollen . . .«

Aber seine Blicke straften die scheinbare Ruhe dieser Verzichtleistung Lügen. Das strahlende Licht war aus seinen Augen verschwunden, wie das sonnige Lächeln um seine Lippen. Und verließ ich ihn des Abends, so hielt er mich oft mit einem Ausdruck fest, als litte er alle Qualen eines Abschieds auf immer. Wir sahen uns täglich. Bald aber merkte ich, wie mein Vater durch Einladungen und Verabredungen aller Art meine Besuche bei Georg zu hindern suchte. Erinnerte ich ihn an sein Versprechen, so wurde er heftig, setzte ich seinen Wünschen Widerstand entgegen, so konnte ich sicher sein, bei der Heimkehr die Mutter verweint, die Schwester verschüchtert, den Vater stumm und finster wieder zu finden. Blieb ich des Abends fort – Versammlungen und Kommissionssitzungen, über die ich in unserer Zeitschrift berichten mußte, machten es häufig genug notwendig –, so schlich ich mich in zitternder Furcht nach Hause, weil der Vater mich schon oft mit den ungerechtfertigsten Vorwürfen empfangen hatte. Jeder Artikel, den ich in unserem Blatt unter meinem Namen schrieb – die Anonymität war mir als eine Feigheit verhaßt –, gab Anlaß zu den peinlichsten Auseinandersetzungen, und die politischen Ereignisse der Zeit benutzte er, um das, was mir heilig war, maßlos zu verunglimpfen. Ich wurde schließlich von einem so dauernden, Angstgefühl gefoltert, daß ich oft meinte, vom Verfolgungswahn gepackt zu sein. Der täglich wiederholte Versuch, vor Georg heiter zu sein, mißlang immer vollständiger, und eines Tages gestanden wir einander das Unerträgliche unseres Zustands.

»So willst du wirklich – wirklich diesen Krüppel heiraten, den man im Mittelalter der Zauberei angeklagt, und ganz gewiß verbrannt haben würde?« sagte er mit ungläubigem Lächeln.

»Ich will!« antwortete ich fest »und wenn es sein muß, ohne den Segen der Eltern.« Da ich wußte, daß meines Vaters Heftigkeit mich nicht würde zu Worte kommen lassen, so schrieb ich ihm einen langen, liebevollen Brief, in dem ich ihm klar zu machen versuchte, daß ich alt genug sei, um nach eigener Überzeugung mein Leben zu gestalten, daß es im höheren Sinne gewissenlos und pflichtwidrig wäre, statt der eigenen Einsicht und dem eigenen Gefühl sklavisch dem Machtgebot anderer zu gehorchen, daß es schlimmer sei als töten, wenn ein Mensch den anderen zeitlebens zur Unmündigkeit und Unfreiheit verdamme.

Einen ganzen Vormittag lang schien mein Vater meinen Brief zu ignorieren, erst als ich das Haus verlassen wollte, trat er mir im Flur entgegen.

»Du bleibst!« rief er und umklammerte mein Handgelenk. »Die sechs Monate Frist, die ich dir gestellt habe, sind noch nicht um, – aber du zwingst mich, meine Bedingungen zu ändern. Du wirst von heute ab deine Besuche einstellen. Dieser sittenstrenge Ethiker soll mir nicht ganz und gar deine Seele vergiften.«

»Du brichst dein Versprechen, Papa –« stieß ich hervor und riß mich gewaltsam los. In demselben Augenblick griff er nach der alten Reiterpistole auf seinem Schreibtisch –.

»Ein Schritt noch und ich schieße –.« Aber schon lief ich die Treppe hinunter – über die Straße – über den Platz, – Menschen und Wagen und Häuser sah ich wie Schatten an mir vorüberfliegen.

Wie ich zu Georg kam, – ich weiß es nicht, – der gelle Angstschrei, den er ausstieß, als ich mitten in seinem Zimmer niederfiel, brachte mich zur Besinnung. Noch an demselben Abend fuhr ich zu Freunden von ihm, die mir auf alle Fälle ihr Haus schon zur Verfügung gestellt hatten. Ohne Angabe meiner Adresse teilte ich den Eltern mit, daß ich nicht mehr zu ihnen zurückkehren werde. Aber noch ehe mein Brief sie erreicht haben konnte, benachrichtigte mich Georg, daß Onkel Walter mich zu sprechen wünsche. Er erwarte mich im Reichstag. Ich ging hin. Und während im Plenarsaal die Redeschlacht um die Militärvorlage tobte, gingen wir ruhig und gemessen in der Wandelhalle auf und ab, und niemand konnte ahnen, daß sich hier ein Schicksal entschied.

»Hans war bei mir, – gleich nach jener Szene. Er sprach, dramatisch wie immer, von Verstoßen, Verfluchen und dergleichen,« begann Onkel Walter in geschäftsmäßigem Ton. »Ich habe ihm erklärt, daß es unser aller Pflicht sei, einen Familienskandal zu vermeiden, und daß ich – wenn er auf seinem Standpunkt beharren wolle – meine Nichte, die Tochter meiner Schwester, in mein Haus nehmen, und daß sie dort unter meinem Schutz heiraten würde. Ilse ist, Gott Lob, ganz meiner Meinung. Ein Zustand, wie der bisherige, ist für alle Teile auf die Dauer unhaltbar. Von mir aus ist Hans bei Geheimrat Frommann gewesen, der ihm zugeredet hat, nachzugeben, und dich und deinen Verlobten in den höchsten Tönen pries. Infolgedessen hat dein Vater sich wesentlich beruhigt. Er wird morgen meine Frau nach Pirgallen begleiten und erlaubte deiner Mutter, alle Vorbereitungen zu deiner Hochzeit zu treffen, an der er natürlich selbst nicht teilnehmen wird.«

Mir traten die Tränen in die Augen, – die Erschütterung dieses neuen plötzlichen Umschwungs war zu groß für mich!

»Du hast keine Ursache, mir zu danken,« schnitt Onkel Walter schroff jede Antwort ab, »ich tat nur meine Pflicht im Interesse der Ehre unserer Familie. Im übrigen ist es hohe Zeit, daß wir Ruhe vor dir haben.« Damit war ich entlassen.

Ich kehrte nach Hause zurück, nachdem mein Vater abgereist war.

Mit ihrem kühlsten Gesichtsausdruck empfing mich die Mutter. »Deiner Heirat steht nichts mehr im Wege,« sagte sie, »außer einer Kleinigkeit, die du natürlich vergessen hast: der Ausstattung. Wir sind, wie du weißt, nicht in der Lage, sie dir zu beschaffen, du wirst dich also mit der kleinen Summe aus der Kleveschen Familienstiftung begnügen müssen. Und was die Wohnung betrifft, so – –«

Ich mußte wider Willen lachen: »Das sind aber doch wirklich nichts als Kleinigkeiten, Mama!« unterbrach ich sie. »Wir haben, was wir brauchen, – und Georgs Wohnung ist viel zu hübsch, als daß ich sie aufgeben möchte!«

»Eine Hofwohnung – und nur drei Zimmer!« Mama kräuselte verächtlich die Lippen.

»Übergenug für uns! – du siehst: wenn das Aufgebot morgen erfolgt, können wir in vierzehn Tagen getraut werden – –«

»Selbstverständlich! – Ich werde heute noch mit Euren Papieren auf das Standesamt und womöglich auch gleich zum Geistlichen gehen.«

»Zum – Geistlichen?!« Ich starrte sie verständnislos an. Wir »dezidierten Nichtchristen« sollten uns geistlich trauen lassen?!

Georg ist Atheist –

»Schlimm genug!« rief die Mutter, »aber du heiratest unter dem Schutz deiner gläubigen Eltern und wirst es nach unserem Glauben tun – oder gar nicht.«

All meine Erklärungen und Bitten prallten an ihrem unbeugsamen Willen ab. Ich sah aufs neue die schwer erkämpfte Zukunft gefährdet. Aber als ich Georg mit vor Aufregung zitternder Stimme von der mütterlichen Entscheidung erzählte, zog nur ein leichter Schatten über seine Züge.

»Wenn deiner Mutter Herz an dieser Zeremonie hängt, so lassen wir ihr die Freude,« meinte er nach kurzem Überlegen. »Dürfen wir unser Leben und seine Aufgabe von einer bloßen Formel abhängig machen?!« Ich senkte stumm den Kopf, so recht aufrichtig hätte ich seiner Ansicht doch nicht zustimmen können.

Den nächsten Verwandten war meine bevorstehende Heirat mitgeteilt worden. Mit einer gewissen Genugtuung zeigte mir die Mutter, um deren Mundwinkel sich die Falten der Bitterkeit täglich tiefer gruben, ihre teils entsetzten, teils mitleidigen Briefe. An Tante Klotilde hatte ich selbst geschrieben; ein paar Tage vor der Hochzeit antwortete sie mir: »Was du tust, ist Wahnsinn, ja, schlimmer noch: ein widernatürliches Verbrechen. Auf welch traurigen Abwegen du dich befindest, habe ich schon durch deine Potsdamer Kusinen erfahren. Daß es aber soweit mit dir kommen würde, hätte ich nimmer gedacht. Wolle Gott, daß meine schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft nicht in Erfüllung gehen! Das ist der einzige Wunsch, mit dem ich deine Heirat begleite . . .«

Aber je näher ich meinem Ziele war, desto gleichgültiger ließen mich all die Nadelstiche des täglichen Lebens.

Als ich jedoch am Abend vor der Trauung zum letztenmal in die elterliche Wohnung zurückkehrte, stockte mir schon vor der Türe der Atem, und in den dunkeln Räumen legte sich mir die Luft zentnerschwer auf das Herz. In dem verlassenen Zimmer des Vaters war es totenstill, selbst die Uhr tickte nicht mehr; – hatte ich – ich, die Tochter, die er am meisten liebte, ihn nicht hinaus getrieben?! Stumm und in sich gekehrt saßen Mutter und Schwester und ich um den gedeckten Tisch und zerbröckelten das Brot zwischen den Fingern. Die Lampe wollte heute nicht leuchten, und der Teekessel summte schwermütig, – groß und vorwurfsvoll sah mir zuweilen das blaue Augenpaar der Schwester entgegen, – die Mutter vermied meinen Blick; und was sie sagte, kam ihr rauh und hart aus der Kehle. In mein Zimmer trieb es mich früher als sonst. Ich legte mechanisch meine letzten zurückgebliebenen Sachen in den Koffer. Da klopfte es leise – und in den unruhigen Schein der Kerze trat Klein-Ilse mit heißgeweinten Wangen, einen Kranz von Orangenblüten in der Hand und einen weißen Schleier. Sie wollte sprechen, – sie konnte es nicht, – unaufhaltsam flossen ihr die Tränen aus den Augen; – mit einer Bewegung, die Schmerz, Haß und Liebe zugleich zu diktieren schienen, warf sie ihre Gabe auf den Tisch und war im nächsten Augenblick wieder verschwunden. Ich lächelte müde, – einen anderen Kranz hatte ich mir wohl vor langen Jahren erträumt; – fort mit allem blassen Erinnern, – draußen stand die Arbeit, stand das Leben und begehrte meiner!

Noch einmal klopfte es: ein Brief von Georg:

»Mein Liebling! Zum letztenmal sag ich Dir aus der Ferne Gute Nacht. Von morgen ab wirst Du bei mir sein und bleiben. Eine heilige Lebensaufgabe liegt vor uns, die wir zum Wohle der Menschheit erfüllen wollen, und eine, die unsere bräutliche Ehe uns persönlich auferlegt.

Nach meinem Tode kannst Du – aber ganz aufrichtig, meine tapfere Alix! – der Welt erzählen, wie ihre Lösung gelang, – anderen zur Warnung, oder zur Nachahmung. Nur ein Versprechen verlange ich heute von Dir: sollte jene Liebe Dich jemals gefangen nehmen, vor der die Menschen uns warnen, und die sich auf mich, Deinen Gatten, nicht richten kann, – so denke, ich sei Dein Vater, und schenke mir Dein Vertrauen. Ich werde mich seiner würdig erweisen, und nie soll ein Stück Papier für Dich eine Fessel werden. In keiner Lebenslage würdest Du mich verlieren.

Dein in Zeit und Ewigkeit!

Georg.«

Und die Schatten der Vergangenheit zerstoben; ruhig und glücklich schlief ich dem Morgen entgegen.

Meine Kusine Mathilde war gekommen, – auch sie mit einem Gesicht, als sollte sie an einer Beerdigung und nicht an einer Hochzeit teilnehmen. Zu Fuß gingen wir vier in die Nettelbeckstraße. Wir gingen rascher – immer rascher, als wollte einer dem anderen entlaufen. Kein Wort der Liebe war meiner Mutter bisher über die Lippen gekommen. Vor der Haustür blieb sie aufatmend stehen. »Nun hast du deinen Willen durchgesetzt,« stieß sie zwischen den Zähnen hervor.

In meinem künftigen Schlafzimmer, einem großen Raum, dessen einziges Fenster auf den dunklen Hof hinaussah, zog ich mein Brautkleid an. Kranz und Schleier lagen bereit; niemand kam, mir zu helfen. Sie waren alle vorn und schmückten den Altar! Da hört' ich eine zaghafte Stimme an der Tür: »Darf ich?«, und eine kleine Frau schlüpfte herein, verlegen und lächelnd an der großen weißen Schürze zupfend, in den roten Händen einen bunten Nelkenstrauß. Ich kannte sie flüchtig: die Frau vom Tischler nebenan war's, dem Georg aus dem Elend geholfen hatte, und der jetzt täglich kam, um sich den »Vorwärts« zu holen. »Ich könnt' doch heut nicht fehlen,« stotterte sie, »ich mußt' doch dem gnädigen Fräulein zeigen, wie mächtig wir uns freuen, mein Karl und ich! So schön ist's, daß der gute Herr Professor nu nich mehr so alleinich is, – so heilig schön, daß Sie seine Frau werden!« Dabei faltete sie die Hände und sah mich aus ihren hellen runden Augen an, wie der gute Katholik ein wundertätiges Heiligenbild. Und dann nahm sie vorsichtig den Schleier und steckte ihn mir auf die Locken und legte mit ihren groben Arbeitshänden ganz leicht und zart den Kranz darauf: »Der liebe Gott segne Sie! –«

War es, weil ich aus dem Dunkel kam, oder weil helle Freudentränen mir in den Augen standen, – ich sah, als ich in Georgs Zimmer trat, nichts als Wogen goldschimmernden Glanzes. Wie Schattenbilder, die uns nichts angingen, bewegten sich die Menschen darin. Ich hörte Worte, mit denen sich mir kein Sinn verband, und leises Schluchzen, das von weit her kam. Um den Tisch hinter der schwarzen Gestalt des Pfarrers schwebte eine Woge weichen Blumendufts zu mir herüber, ein weißes Kreuz leuchtete auf grünem Grund, – es hatte einst auf Großmamas Schreibtisch gestanden – und die schwarze Schrift darauf war die Traupredigt, die ich allein vernahm: »Die Liebe höret nimmer auf.« Ein paar Händedrücke fühlt' ich noch, eine paar zeremonielle Küsse auf der Stirn – Kleiderrauschen – halblautes Schwatzen – Türen schlagen – und noch einmal den grellen Ton der Glocke: Ein Telegramm. »In zärtlichster Liebe bin ich bei dir und Georg. Dein Vater.«

Dann ward es still, ganz still bei uns. Wir waren allein.

 


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