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Ernest Renan.
Bildquelle: es.wikipedia.org


Ernest Renan

(1880.)

Ich hatte nicht die Absicht, Renan aufzusuchen, als ich die Monate April bis September 1870 in Paris verbrachte; ich habe immer einen wahren Schrecken davor gehabt, unter dem Vorwand der Bewunderung berühmten Männern ihre Zeit zu rauben. Als aber Taine, der nächste Freund Renan's mich wiederholt aufforderte, »seinen Freund, den Philologen« zu besuchen, fasste ich mir ein Herz und fand mich, mit einem Empfehlungsschreiben von Taine versehen, eines Tages in dem Hause Rue de Vannes ein, wo Renan drei Treppen hoch wohnte. Seine Wohnung war einfach. Seit ihm der hebräische Lehrstuhl im Collège de France genommen wurde, war er ohne jegliche feste Einnahme, und nur seine erste populäre Schrift war sehr einträglich gewesen.

Nach den Werken und den Portraits Renan's hatte ich ihn mir ungefähr als einen feineren Jules Simon vorgestellt, philanthropisch, milde, den Kopf ein bischen schräg; ich fand ihn bestimmt, kurz und kühn in seinen Aeusserungen, entschieden in seinen Meinungen; er hatte Etwas von der Verschämtheit des Gelehrten, aber noch mehr von der Sicherheit und Ueberlegenheit des Weltmannes. Renan war damals 47 Jahre alt. Ich sah an dem Arbeitstisch einen kleinen, breitschulterigen, etwas gebeugten Mann mit einem schweren grossen Kopf; die Züge grob, die Haut unrein, tiefblickende Augen und ein kluger, auch im Schweigen beredter Mund. Das unschöne aber anziehende Gesicht mit dem Ausdruck des hohen Verstandes und des angestrengten Fleisses war von langen braunen, an den Schläfen in's Weisse übergehenden Haaren eingefasst. Seine Person erinnerte mich an einen Satz von ihm selbt: La science est roturière.

 

I.

In ganz jungen Jahren hatte ich mich von Renan's Werken zurückgestossen gefühlt; er ist überhaupt kein Schriftsteller für die Jugend. Sein »Leben Jesu«, das mir zuerst in die Hände fiel, ist ausserdem wohl sein schwächstes Werk; seine Sentimentalität, eine hier bisweilen störend hervortretende Salbung, dieser letzte Rest einer priesterlichen Erziehung, alles das, was einem Jüngling entweder weichlich oder unecht erscheinen musste, liess mich nicht zur gerechten Würdigung seiner grossen schriftstellerischen Eigenschaften kommen. Jener erste Eindruck hatte sich später verloren; die schöne Sammlung »Etudes d'histoire religieuse« hatte meine Augen für das fast weibliche Feingefühl geöffnet, das nur jugendlich spröden Geistern als etwas Unmännliches erscheinen kann, und ich fand es ganz natürlich, dass er, den man mit Recht »den Furchtsamsten unter den Kühnen« genannt hat, sich nicht ohne Wehmuth über seine Ausnahmestellung aussprach: »Die schlimmste Qual, durch welche der Mann, der sich zu einem Leben in der Reflexion durchgekämpft hat, für seine exceptionelle Lage büsst, ist die, aus der grossen religiösen Familie, der die besten Seelen der Erde gehören, sich ausgeschlossen zu sehen, und von den Wesen, mit denen er am liebsten in geistiger Vereinigung leben möchte, als ein verderbter Mensch betrachtet zu werden. Man muss seiner selbst sehr sicher sein, um nicht erschüttert zu werden, wenn die Frauen und die Kinder die Hände falten und Einem sagen: O glaube wie wir!«

Ich hatte mich jedoch in der Annahme geirrt, dass etwas von diesem elegischen Ton in Renan's alltäglicher Redeweise durchklänge. Der Grundzug seiner Unterhaltung war eine vollständige geistige Freiheit, die grossartige Flottheit des genialen Weltkindes. Der Nerv seiner Worte war eine so unbegrenzte Verachtung der Menge und des Haufens, wie ich sie nie früher bei Jemandem getroffen hatte, der weder Menschenhass noch Bitterkeit spüren liess. Schon das erste Mal, da ich ihn sah, führte er das Gespräch auf die menschliche Dummheit; er sagte, augenscheinlich um dem jüngeren Commilitonen Gemüthsruhe in den kommenden Stürmen des Lebens einzuflössen: »Die meisten Menschen sind gar nicht Menschen, sondern Affen«, aber er sagte es ohne Zorn. Géruzez's Wort fiel mir ein: L'âge mûr méprise avec tolérance. Man spürt diese ruhige Verachtung in seinen Vorreden; sie erhielt viele Jahre später einen dichterischen Ausdruck in seiner Fortsetzung von Shakespeare's »Der Sturm«; aber in seinem Aufsatze über Lamennais hat er sie fast definirt. Er schreibt hier: »Es findet sich bei Lamennais allzu viel Zorn und nicht genug Verachtung. Die literarischen Consequenzen dieses Fehlers sind sehr ernst. Der Zorn hat Declamation, Plumpheit, oft grobe Injurien zur Folge, die Verachtung dagegen bringt fast immer einen feinen und würdigen Styl hervor. Der Zorn hat das Bedürfniss, sich getheilt zu fühlen. Die Verachtung ist eine feine und durchdringende Wollust, die der Theilnahme Anderer nicht bedarf; sie ist diskret, sich selbst genug.«

Die Gesprächsweise Renan's hatte einen gewissen Schwung, etwas Lebhaftes und Ueberströmendes, ohne welches Niemand bei den Franzosen zu dem Lobe kommt, das in Paris immer Renan ertheilt wird, in Verkehr und Konversation »charmant« zu sein. Von dem Feierlichen, das sein Styl oft hat, war in seiner mündlichen Form nichts übrig. Er hatte gar nichts Priesterartiges und gar nichts von dem Pathos eines Märtyrers des freien Gedankens. Er leitete gern eine Einwendung mit seinem Lieblingsausruf Diable! ein, und war so weit entfernt, bittere und elegische Töne anzuschlagen, dass sein Gleichgewicht eher etwas olympisch Heiteres hatte. Wer die kindisch gehässigen Angriffe kannte, denen er täglich von orthodoxer Seite ausgesetzt war, und wer wie ich in dem Journalistenkreise Veuillot's Zeuge gewesen war, wie man dazwischen schwankte, ob das Aufgeknüpft- oder das Erschossenwerden die gerechte Strafe für seine Ketzerei sei, dem lag es nahe, zu fragen, ob Renan nicht recht viel für seine Ueberzeugung ausgestanden habe. »Ich!«, lautete die Antwort, »nicht das Geringste. Ich verkehre nicht mit Katholiken, ich kenne nur einen; wir haben nämlich einen in der Academie des inscriptions und wir sind sehr gute Freunde. Die Predigten, die gegen mich gehalten werden, höre ich nicht; die Brochuren, die gegen mich geschrieben werden, lese ich nicht. Welchen Schaden sollten sie mir denn zufügen?« Nach Renan's Ansicht würden die gläubigen Katholiken Frankreichs ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen und diese seien weit fanatischer als die katholischen Orthodoxen anderswo, weil der Katholizismus in Spanien und Italien fast als Gewohnheitssache zu betrachten sei, während er in Frankreich durch die intelligente Opposition gereizt werde.

Ich fand Renan im Juni 1870 durch die Begebenheiten in Rom sehr erheitert. »Man sollte Pius IX eine Statue errichten,« sagte er, »er ist ein ausserordentlicher Mann. Seit Luther hat Niemand der religiösen Freiheit so grosse Dienste geleistet wie er. Er hat die Sachen um dreihundert Jahre gefördert. Ohne ihn hätte der Katholizismus wie in einem geschlossenen Raum mit seinem Spinngewebe und seinem dicken Staub sich sehr gut noch dreihundert Jahre unverändert erhalten können. Jetzt lüften wir aus, und Jedermann sieht, dass der Raum leer ist, und nichts darin steckt.« Er hatte die Furcht gehegt, dass man während der Verhandlungen über die Unfehlbarkeit des Papstes noch im letzten Augenblick irgend ein Kompromiss abschliessen würde, durch welches Alles faktisch so bliebe, wie es sei; diese Möglichkeit war aber eben in jenen Tagen verschwunden, und es liess sich voraussehen, dass man keine Konsequenz scheuen werde, nicht einmal die von Renan angenommene, dass man eine ähnliche Zersplitterung innerhalb des Katholizismus hervorbringe wie die, in welcher der Protestantismus sich befindet. Es hat sich gezeigt, dass die Politik der katholischen Kirche richtiger war, als ihre Gegner im ersten Augenblick meinten. Die eingetretene Spaltung ist weder tief noch bedeutend gewesen und zu einer Zersplitterung, die sich nur annähernd mit dem Sektenwesen des Protestantismus vergleichen liesse, ist nicht die geringste Aussicht vorhanden. Renan, der am meisten an Frankreich dachte, hoffte aber besonders, dass die französische Bourgeoisie, die seit der Februarrevolution sich ganz in die Arme der Kirche geworfen hatte, und die mit unruhigen Blicken dem kulturfeindlichen Auftreten der päpstlichen Macht zuschaute, endlich die Augen aufmachen werde.

In dem interessanten Roman »Ladislaus Bolski« hat Victor Cherbuliez einen milden Spott mit gewissen Lieblingstheorien Renan's getrieben, indem er dem gutmüthigen aber zum Handeln ganz unfähigen Mentor des Helden die Renan'schen Lehren von der zarten Natur der Wahrheit und von der daraus fliessenden Nothwendigkeit, nur mit der äussersten Vorsicht und Umsicht sich ihr zu nähern, in den Mund gelegt hat. George Richardet glaubt wie Renan, dass es überall auf die Nuance ankommt, dass die Wahrheit nicht einfach weiss oder schwarz, sondern eine Nuance ist, und scheitert daran, dass man nicht in Nuancen handeln kann. George Richardet will im Leben die Idee verwirklichen, die Renan an einer Stelle unter vielen so ausgedrückt hat: »Man könnte ebenso gut ein geflügeltes Insekt mit einer Keule zu treffen versuchen, als mit den groben Klauen des Syllogismus die Wahrheit in einer Geisteswissenschaft fassen wollen. Die Logik ergreift die Nuancen nicht, aber die moralischen Wahrheiten beruhen ganz und völlig auf Nuancen. Es nützt deswegen nichts, mit der plumpen Gewaltsamkeit eines wilden Schweines sich auf die Wahrheit loszustürzen; die flüchtige und leichte Wahrheit entschlüpft und man verliert nur seine Mühe.« Wer mit Renan's schriftstellerischer Wirksamkeit vertraut ist, weiss, wie vollständig dieser Gedanke ihm gegenwärtig ist, wenn er schreibt. Wenn er aber spricht, wo sind dann seine lieben Nuancen! Während Taine, der in seinen Schriften so derb ist, im Gespräch unaufhörlich moderirt und dämpft, sich nur von den strengsten Gerechtigkeits- und Billigkeitsrücksichten leiten lässt, geht Renan, wenn er spricht, zum aeussersten und ist durchaus nicht der Ritter der Nuance. Nur in einem Punkte waren sie beide gleich entschieden in ihren Ausdrücken. Das war, wenn das Gespräch auf jene spiritualistische Philosophie Frankreichs kam, die ihre Stärke in ihrer Allianz mit der Kirche gesucht hat, die ursprünglich das Herz der Familienväter dadurch gewann, dass sie Dogmen und Tugend in ihrem Schilde führte und die statt der Entdeckung neuer Wahrheiten die Versehung des ganzen Landes mit guten Sitten als Frucht ihrer wissenschaftlichen Forschung versprach. Sie hatte ja damals noch alle Lehrstühle Frankreichs inne. In der Sorbonne war sie von Janet und Caro vertreten, von welchen Janet als der feinere und geschmackvollere Geist die Gegner zu verstehen und ihnen gerecht zu sein bestrebt war, während Caro als ächte Mittelmässigkeit mit Armbewegungen und kräftigen Schlägen gegen seinen breiten Brustkasten, durch Appelliren an die Freiheit des Willens den Beifall der Zuhörer errang. Für Renan, der doch in einem so eleganten Essay Cousin als Redner und Schriftsteller behandelt hat, war die ganze eklektische Philosophie mündlich nur »offizielle Suppe«, »Kinderbrei«, »Produkt der Mittelmässigkeiten, für die Mittelmässigkeit berechnet.« Ja, so hartnäckig war er in diesem Punkte, dass er, der Fürsprecher der Nuancen, sich niemals ausreden lassen wollte, dass der Spiritualismus absolut falsch sei. Für Taine dagegen hegte er eine Bewunderung, die fast leidenschaftlich war. »Taine, c'est l'homme du vrai, l'amour de la vérité même.« Trotz der so in's Auge springenden Verschiedenheit ihrer Naturen – Taine's Styl hat die Kraft eines Springbrunnens, Renan's Styl fiiesst quellenartig wie der Vers Lamartine's – erklärte Renan sich mit dem Freund in allen Hauptfragen einig. Und als ich eines Tages einen in Paris oft erörterten Gegenstand zur Sprache brachte, die Frage, wie weit die allgemeine Stimmung Recht habe, die immer über Frankreichs geistige Décadence klagte, kam Renan wieder auf Taine zurück: »Décadence! was heisst das? Alles ist relativ. Ist Taine z. B. nicht bedeutender als Cousin und Villemain zusammen? Es ist noch viel Geist in Frankreich«, und er wiederholte mehrmals diese Worte: »II y a beaucoup d'esprit en France.«

Wie fast alle gebildeten Franzosen war Renan ein fast ehrfurchtsvoller Bewunderer George Sand's. Diese ausgezeichnete Frau hatte vermocht, ihre Herrschaft über die jüngeren Generationen Frankreichs auszudehnen, ohne deswegen ihren Jugendidealen untreu zu werden. Einen Idealisten wie Renan gewann sie durch ihren Idealismus, einen Naturalisten wie Taine durch die geheimnissvolle Naturmacht ihres Wesens, den jüngeren Dumas, von dem man glauben sollte, dass die Helden und Heldinnen George Sand's, über die seine Dramen manchmal eine bittere Kritik üben, ihm ganz besonders zuwider seien, war vielleicht derjenige unter den nachromantischen Schriftstellern, der ihr persönlich am nächsten stand. Dumas' Begeisterung für George Sand war nur eine Folge seiner literarischen Empfänglichkeit überhaupt, der Enthusiasmus Renan's war von tieferer Art. Ebenso stark wie er Béranger hassen muss, in dem er eine Personifikation all' des Frivolen und Prosaischen in dem französischen Volkscharakter sieht, und dessen philisterhafter »Dieu des bonnes gens« dem Herder'schen, pantheistischen Denker und Träumer ein Dorn im Auge ist, ebenso lebhafte Sympathien musste er naturgemäss für die Verfasserin von »Lélia«, »Spiridion« und so vieler anderen schwärmerischen Schriften haben.

Trotz seines weiten Blicks ist Renan jedoch in seinen literarischen Sympathien nicht ohne nationale Bornirtheit. Er hatte in einem Gespräche über England durchaus nichts Gutes über Dickens zu sagen; nicht einmal für Billigkeit war er gestimmt. »Der anspruchsvolle Styl von Dickens«, sagte er, »macht auf mich denselben Eindruck wie der Styl einer Provinzial-Zeitung.« Sein bekannter ungerechter Artikel über Feuerbach setzt Einen weniger in Erstaunen, wenn man hört, in welchem Grade er über die Mängel bei Dickens dessen Vorzüge übersieht. Es ist derselbe bis zum Krankhaften entwickelte Sinn für eine klassische und temperirte Ausdrucksweise, der Renan die humoristischen Sonderbarkeiten in Dickens' Styl und die leidenschaftliche Form bei Feuerbach antipathisch macht; die geniale Manierirtheit des Engländers kommt ihm provinziell vor, die Gewaltsamkeit des Deutschen scheint ihm einen so zu sagen tabaksartigen Beigeschmack von der Pedanterie des studentischen Atheismus zu haben.

 

II.

Renan stand im Vorsommer 1870 in Begriff, eine Reise nach Spitzbergen in Begleitung des Prinzen Napoleon anzutreten. Kurz vor dieser Reise sprach er eines Tages von Politik. »Sie können«, sagte er, den Kaiser vollständig durch seine Schriften kennen lernen. Er ist ein Journalist auf dem Thron, ein Publicist, der immer die öffentliche Meinung ausfragt. Da seine ganze Macht auf ihr beruht, braucht er trotz seiner Inferiorität mehr Kunst als Bismarck, der sich über alles hinwegsetzen kann. Bis jetzt ist er nur körperlich, nicht geistig geschwächt, aber er ist äusserst vorsichtig geworden (extrêmement cauteleux) und hat ein Misstrauen in sich selbst, das er früher nicht kannte.« Renan urtheilte über Napoleon ungefähr wie Sainte-Beuve in dem bekannten Fragment über »Das Leben Cäsars.« Ollivier, den er sehr lange gekannt hatte, beurtheilte er mit Strenge. Er sagte: »Er und der Kaiser passen vorzüglich für einander, sie haben dieselbe Art von ehrgeiziger Mystik, sie sind so zu sagen durch die Chimäre verschwägert.« Schon im Jahre 1851 hatte Ollivier oft zu Renan gesagt: »Sobald ich ans Ruder komme, sobald ich Premier-Minister werde .....«

Wenn ich nun in diesen Gesprächen mit meinem einfachen politischen Grundgedanken, der Nothwendigkeit des obligatorischen Unterrichts, hervorrückte, einem Gedanken, den ich überall zu vertheidigen Anlass hatte und der überall wie eine Ungereimtheit oder eine alte längst aufgegebene Schrulle behandelt wurde, war Renan nach meinen Vorstellungen so paradox, dass ich oft kaum an seinen Ernst glauben konnte. Seine Argumente haben besonders deswegen Interesse, weil man sie überall von den hervorragenden Männern Frankreichs (nur in anderer Form) dargestellt hörte. Renan behauptete erstens, gezwungener Unterricht sei eine Tyrannei. »Ich habe selbst«, sagte er, »ein kleines Kind, das gebrechlich ist. Wie despotisch, es von mir zu nehmen, um es zu unterrichten!« Ich entgegnete, dass es durch das Gesetz Ausnahmen gebe. »Dann würde Niemand die Kinder in die Schule schicken«, antwortete er, »Sie kennen nicht unsere französischen Bauern. Sie würden sich nie was daraus machen. Lassen Sie sie die Erde bebauen und ihre Steuern zahlen oder geben Sie ihnen ein Gewehr in die Hand und einen Sack auf den Rücken, und sie sind die besten Soldaten von der Welt. Aber was für die eine Raçe passt, passt für die andere nicht. Frankreich ist kein Land wie Schottland oder Skandinavien; die puritanischen und germanischen Gewohnheiten finden hier keinen Boden. Frankreich ist z. B. kein religiöses Land und jeder Versuch, es dazu machen zu wollen, wird scheitern. Es ist ein Land, das zwei Sachen hervorbringt; was gross und was fein ist (du grand et du fin). Die respektable Mittelmässigkeit wird nie hier gedeihen. In diesen zwei Worten ist das ideale Bedürfniss der Bevölkerung ausgedrückt; im Uebrigen will sie nur eins, sich amüsiren, durch Vergnügungen empfinden, dass sie lebt. Und endlich, glauben Sie mir, es ist meine feste Ueberzeugung, dass der elementare Unterricht geradezu ein Uebel ist. Was ist ein Mensch, der lesen und schreiben kann, ich meine: ein Mensch, der nicht mehr als lesen und schreiben kann? Ein Thier, ein dummes und eingebildetes Thier. Geben Sie den Menschen einen Unterricht von 15 bis 20 Jahren, wenn Sie können, sonst Nichts! Was dazwischen liegt, ist so fern davon, sie klüger zu machen, dass es nur ihre liebenswürdige Natürlichkeit, ihren Instinkt, ihre gesunde Vernunft verdirbt, und sie unerträglich macht. Gibt es etwas Schlimmeres, als von Seminaristen regiert zu werden? Die einzige Ursache, warum wir uns jetzt mit dieser Frage beschäftigen müssen, ist, weil dieser Haufen Gassenbuben (ce tas de gamins) uns zu seiner Zeit das allgemeine Stimmrecht aufzwang. Nein, seien wir darüber einig, dass nur bei den Hochgebildeten die Bildung ein Gutes ist und dass die Halbgebildeten nur wie unnütze und hochmüthige Affen zu betrachten sind.« Ich sprach von Dezentralisation, davon, die Provinzialstädte, Lyon z. B., zu heben. »Lyon,« brach er in vollem Ernste aus, »es würde doch wohl Niemanden einfallen, die Provinz-Hauptstädte zu geistigen Brennpunkten zu machen, sie kämen sogleich unter die Bischöfe.« »Nein,« fügte er mit drolliger Ueberzeugung hinzu, »in solchen Städten wird man nie etwas anderes als Dummheiten machen.« Man wird nach diesen Aeusserungen des Mannes in Frankreich, der mehr als irgend ein anderer für eine Reform des höheren Unterrichtswesens gekämpft hat, vielleicht besser verstehen, warum da zu Lande die Gleichgültigkeit der Liberalen Hand in Hand mit dem Eifer der katholischen Geistlichkeit ging, wenn die Rede davon war, jener Unwissenheit der niedrigeren Klassen abzuhelfen, die sich später so gefährlich für die äussere und innere Sicherheit des Landes zeigte. Der alte Philarète Chasles, der doch wahrlich kein Chauvinist war, machte sich eines Abends im Mai 1870 bis zu dem Grad über mein Vertrauen in die wirksame Kraft des gezwungenen Unterrichts lustig, dass er ihn mein Revalenta arabica nannte und behauptete, ich hoffe, durch ihn das Menschengeschlecht für alle Zeiten glücklich zu machen. Auch fragte er mich, ob ich nicht meinte, dass die Bauern ohne Schulmeister hinlänglich gute Familienväter und gute Soldaten seien. Der Krieg lehrte bald diese Männer, dass es eine bis dahin nicht genug beachtete Stärke des Soldaten ist, dass er lesen und schreiben kann. Merkwürdig war es aber, zu sehen, wie Ideen, von denen man versucht war, sie ausschliesslich der katholischen Geistlichkeit zuzuschreiben, wie z. B. diese Idee von der absoluten Schädlichkeit unvollständiger Kenntnisse, nach und nach eine solche Autorität in einem von dem Katholizismus durchdrungenen Lande gewonnen hatten, dass sie mit einer geringen Formveränderung selbst die Gegner des katholischen Glaubens beherrschten.

Eine andere, ebenso interessante Anwendung der Renan'schen Lehre: dass, was in Deutschland oder im Norden gut sei, nicht desshalb für Frankreich tauge, hörte ich eines Tages in seinem Landhaus in Sèvres. Das Gespräch fiel auf die französische Convenienzehe. Eine deutschgeborene, Renan nahe stehende Dame, die ganz von seinen Ideen durchdrungen war, vertheidigte die französische Weise, auf eine Verabredung zwischen dem Freiwerber und den Eltern hin, nach ganz wenigen obligaten Besuchen die Hochzeit zu halten. »Diese Weise, die Ehen zu schliessen, sagte sie, würde nicht existiren, wenn sie nicht ihren guten Grund hätte. Obwol in Frankreich erzogen, habe ich, die ich deutsch geboren bin, mich nicht so verheirathet. So oft man mir vorschlug einen Freier in Augenschein zu nehmen, erklärte ich, ihn nicht sehen zu wollen; schon dass er als Freier kam, war genug, um ihn in meinen Augen abscheulich zu machen. Ich habe meinen Mann viele Jahre vor unserer Verheirathung gekannt. Wer kann aber etwas einwenden, wenn man sieht, wie ich es mit so vielen unserer Freunde gesehen habe – sie nannte diesen und jenen – dass man eine Woche vor der Hochzeit einander vorgestellt worden, und dass eine solche Ehe sich glücklich und befriedigend für beide Parteien gestaltet hat!«

Während ich in diesen Worten halbwegs eine Ausflucht sah, um nicht die Verhältnisse naher Freunde beurtheilen zu müssen, halbwegs ein Symptom der französischen Eigenschaft, jede Nationaleigenthümlichkeit, wie unglücklich sie auch sei, als unabänderliches Racenmerkmal darstellen zu wollen, legte ein Anwesender, einer der vorurtheilsfreiesten französischen Schriftsteller seine Hand auf den Kopf seiner kleinen Tochter, eines Kindes von zwei Jahren und sagte: »Sie meinen also, ich sollte mein kleines Mädchen dem ersten besten Manne geben, der, ohne sich an uns, ihre Eltern zu wenden, sich ihr Herz erschleichen könnte. Erinnern Sie sich doch, wie gross die Unerfahrenheit eines jungen Mädchens ist, vergessen Sie doch nicht die Beschaffenheit der wirklichen Welt, nicht, welche Schufte es gibt, nicht, welche Vorzeit, welche Krankheiten, welche bestialischen Neigungen ein junger Mann haben kann, Eigenschaften, die das Auge eines Vaters ahnt, deren Existenz aber das unschuldige Gemüth eines jungen Mädchens nicht für möglich halten kann oder darf. Die Welt ist ein Feind. Sollte ich denn nicht nach Kräften meine kleine Tochter gegen den Feind vertheidigen? Wenn einmal in fünfzehn Jahren sich Freiwerber für sie anmelden, so wollen wir, wenn wir bis dahin am Leben sind, uns solcherweise betragen: wir werden die aussondern, die nicht in Betracht kommen können, entweder wegen ihrer bürgerlichen Stellung oder wegen moralischer oder körperlicher Schwächen, wir werden eine Auslese (triage) unternehmen, und erlauben dann im Uebrigen, wie alle Eltern, dem jungen Mädchen, zu wählen, wie es will.« Als Voraussetzung dieser Betrachtungsweise muss man sich der abgesperrten Erziehung der Töchter in dem Kloster oder in der Pension erinnern. Mit dieser – selbst wenn jede Rücksicht auf die grössere Feurigkeit und Sinnlichkeit der romanischen Nationen genommen wird – ungereimten Voraussetzung vor Augen, wird die gezogene Konsequenz vielleicht vernünftig.

 

III.

Ich hielt mich zur Zeit der deutsch-französischen Kriegserklärung in London auf und da ich das Glück hatte, dort mit einigen unparteiischen Männern von grosser politischer Einsicht zu verkehren, ahnte ich früher als meine französischen Bekannten all' das Missgeschick, das der Krieg über Frankreich bringen würde. Bei meiner Rückkehr nach Paris war man dort voller Hoffnung und Zuversicht, ja man legte bekanntlich sogar einen Uebermuth an den Tag, der jeden Fremden unheimlich berühren musste. Dieser Uebermuth wurde jedoch nicht von den Männern der Wissenschaft getheilt. Noch war es zu keiner Schlacht gekommen; aber schon die Nachricht von dem Selbstmord Prévost-Paradol's in Nordamerika hatte einen Jeden, der ihn kannte und es wusste, wie genau die Vorbereitungen und Hilfsquellen Frankreichs ihm bekannt seien, mit den peinlichsten Vorgefühlen erfüllt. Denn Niemand bezweifelte, dass er, wenn auch nach einem Fieberanfall, so doch mit vollem Bewusstsein und vollem Vorsatz Hand an sich gelegt habe. Dass er nicht einfach sein Abschiedsgesuch eingab, hatte – so schien es – darin seinen Grund, dass er allzu stolz war um überhaupt jemals einen Irrthum einzuräumen; er that es nicht einmal in einem Wortwechsel; und jetzt hatte er den dreifachen Irrthum begangen: an die Aufrichtigkeit der konstitutionellen Tendenzen des Kaisers zu glauben, den Posten als Gesandter in Washington zu suchen und endlich diesen Posten nicht sogleich aufzugeben, als die hässliche Komödie der allgemeinen Abstimmung im Mai bewiesen hatte, was die konstitutionellen Velleitäten des Kaisers zu bedeuten hatten. Jetzt kam die Kriegserklärung, die ihm mit dem Untergang Frankreichs identisch vorkam, und er zog den Tod einer Stellung vor, in der er nicht verbleiben konnte, und aus welcher er sich nicht ohne eine Demüthigung, die ihm schlimmer als der Tod war, zu ziehen vermochte. Aber dieser einsame Pistolenschuss, der über den Ocean als ein Signalschuss der vielen Hunderttausende schrecklicher Salven tönte, erschütterte alle die Jugendfreunde und Genossen Prévost-Paradol's. Taine, der eine kurze Reise nach Deutschland gemacht hatte, um Materialien für einen Aufsatz über Schiller zu sammeln, der durch den Krieg vereitelt wurde, war durch den Gedanken an das Bevorstehende schmerzlich bewegt. »Ich komme eben aus Deutschland«, sagte er, »und habe mit so vielen arbeitsamen, zum Theil ausgezeichneten Männern gesprochen. Wenn ich bedenke, wie viel Mühe es kostet, ein Menschenkind zu gebären, es zu pflegen, zu erziehen, zu unterrichten und auszustatten, wenn ich ferner bedenke, wie viele Kämpfe und Beschwerden es selbst aushalten muss, um sich für das Leben vorzubereiten, und dann erwäge, wie alles dieses jetzt als ein Haufe blutigen Fleisches in eine Gruft geworfen werden soll, wie kann ich dann anders als trauern! Mit zwei Regenten von der Art Louis Philippe's hätten wir dem Krieg entgehen können; mit zwei ›Capitaines‹ wie Bismarck und Louis Napoleon war er nothwendig.« Er war damals der erste Franzose, den ich die Möglichkeit der deutschen Ueberlegenheit in Betracht ziehen hörte.

Dann kamen Schlag auf Schlag die ersten Nachrichten von grossen Niederlagen, nur gleich nach der Botschaft von der Schlacht bei Weissenburg durch falsche Siegesgerüchte unterbrochen. Düster und traurig war die Stimmung der Stadt an den Tagen, als die Proklamationen an den Strassenecken von geschlagenen Heeren und verlorenen Schlachten erzählten, aber fürchterlicher noch war die Stimmung in Paris an jenem 6. August, da die erste Hälfte des Tages in tollem Siegesrausche, die andere Hälfte in verschämter Abspannung verging – wie gross würde erst die Beschämung gewesen sein, wenn man von der in derselben Stunde gelieferten Schlacht bei Wörth etwas geahnt hätte! Als sich am frühen Morgen die Nachricht von einem grossen gewonnenen Siege verbreitete, bedeckte ganz Paris sich mit Fahnen; alle Leute gingen mit kleinen Flaggen an dem Hut; alle Pferde hatten kleine Flaggen an der Stirn. Ich sass vor einem Café dem Hôtel de Ville gegenüber und betrachtete die mit Hunderten von Fahnen geschmückten Häuser des Platzes, als plötzlich durch das Fenster eines mir nahen Hauses eine Hand sich zeigte, die eine herausgestellte Fahne zurückzog. Ich werde nie diese Hand und diese Bewegung vergessen. So gering der Vorgang war, er machte mich stutzig, denn diese Hand hatte etwas so trauriges, so enttäuschtes in ihrer Bewegung, dass mir augenblicklich der Gedanke kam: Die Siegesnachricht muss falsch sein! ... Bald zeigten sich ringsum in den Fenstern Hände, die Fahnen hereinzogen, und in einer Viertelstunde war der ganze Flaggenschmuck wie weggeweht. Eine Proklamation der Regierung hatte eben erklärt, »dass heute durchaus nichts vom Kriegsschauplatz verlaute und dass die Polizei auf den Spuren der Verbreiter falscher Nachrichten sei, um sie strengstens zu bestrafen«. Die Verbreiter falscher Nachrichten! Als ob nicht die hungernde Phantasie und die schmachtende Sehnsucht der grossen Stadt die einzigen Schuldigen wären!

Ungefähr eine Woche später, am 12. August, traf ich Renan. Er war vor der festgesetzten Zeit vom hohen Norden zurückgekommen. Ich habe ihn nie so bewegt gesehen. Er war verzweifelt, dies triviale Wort ist das einzig passende. Er war ausser sich vor Erbitterung. »Nie«, sagte er, »wurde ein unglückliches Volk so wie das unsrige von Dummköpfen regiert. Man sollte glauben, dass der Kaiser einen Anfall von Wahnsinn gehabt hätte. Aber er ist von den verächtlichsten Schmeichlern umringt; ich kenne hohe Offiziere, die es sehr wohl wussten, dass die preussischen Kanonen unsere gepriesenen Mitrailleusen übertreffen, die es aber dem Kaiser zu sagen nicht wagten, weil er sich mit diesen Sachen selbst beschäftigt, ein bischen an den Entwürfen gezeichnet hat, was in der offiziellen Sprache so ausgedrückt wird, dass er der Erfinder des Geschützes ist. Nie war so wenig Kopf (si peu de tête) in einem Ministerium des Kaisers; er hat es selbst eingesehen; ich kenne Jemand dem er es gesagt hat, und dann führt er Krieg mit solch einem Ministerium. Hat man jemals solche Tollheit gesehen, ist es nicht herzzerreissend? Wir sind ein Volk, das für lange Zeiten aus dem Sattel geworfen ist. Und nun zu denken, dass alles, was wir Männer der Wissenschaft in 50 Jahren aufzubauen bestrebt waren, mit einem Schlage zusammengestürzt ist, die Sympathien zwischen Volk und Volk, das gegenseitige Verständniss, das fruchtbare Zusammenarbeiten. Wie tödtet ein solcher Krieg die Wahrheitsliebe! Welche Lüge, welche Verläumdung des einen Volkes wird nun nicht auf's neue in den nächsten fünfzig Jahren mit Begierde von dem andern geglaubt werden und sie für unüberschauliche Zeiten von einander trennen! Welche Verzögerung des europäischen Fortschritts! In hundert Jahren werden wir nicht wieder aufführen können, was diese Menschen an einem Tage heruntergerissen haben.« Mehr als irgend einen andern musste die Spaltung der beiden grossen Nachbarn Renan schmerzen, der in Frankreich so lange als Vertreter der deutschen Bildung gestanden hatte. Niemand konnte sich auch mit grösserer Dankbarkeit über die deutsche Kultur aussprechen als Renan. Eine seiner Lieblingswendungen war: »Es gibt nichts, das so viel bergen kann, wie ein deutscher Kopf«. Er stellte in Abrede, dass die Deutschen als Volk von irgend einer Rechtsidee beseelt seien, er schien sie persönlich wenig zu mögen, aber von ihrer hohen Intelligenz sprach er immer mit Achtung. Nur schrieb er den Süddeutschen in jeder anderen Richtung als der administrativen, eine weit höhere Begabung als den Norddeutschen zu, eine Auffassung, die von der Mehrheit der gebildeten Franzosen getheilt wird.

Renan erzählte von seiner Reise. »Wir waren in Bergen, als die erste zweideutige Nachricht über den drohenden Krieg uns von Frankreich zukam. Keiner von uns wollte es für möglich halten. Der Prinz und ich sahen einander an. Er, der einen so seltenen und scharfen Verstand hat, sagte nur: »Das können sie nicht« und gab Befehl, dass wir weiter reisen sollten. Wir segelten nach Tromsöe. Als wir dahin kamen, lagen da zwei Depeschen an den Prinzen, eine von seinem Sekretär in Paris und eine andere von Emile Ollivier mit diesen Worten: Guerre inévitable! Wir hielten einen kurzen Rath, aber so unsinnig kam uns die Sache vor, nachdem Leopold von Hohenzollern seine Kandidatur zurückgezogen hatte, so unmöglich schien uns dieser Vorwand, der ganz Europa und besonders ganz Deutschland gegen uns aufhetzen musste, und endlich – so grosse Lust hatten wir, nach Spitzbergen zu segeln und ›das grosse Eis‹ zu sehen, dass wir uns entschlossen, am nächsten Morgen aufzubrechen. Wir gingen zu Bett. Mein Zimmer lag neben dem des Adjutanten des Prinzen. Am frühen Morgen höre ich den Kammerdiener mit einer Depesche den Adjutanten wecken. Ich stand auf, wir gingen an Bord, das Schiff setzte sich in Bewegung, und Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich sah, dass es gegen Süden ging. Der Prinz sass verzweifelt und stierte vor sich hin. Die ersten Worte, die er sagte, waren: ›Voilà leur dernière folie, ils n'en feront pas d'autres.‹ Er ist Prophet gewesen, es wird ihre letzte Tollheit sein. Ich selbst«, fügte Renan hinzu, »war derselben Ansicht. Ich wusste, wie schlecht wir vorbereitet waren, aber dass es so schnell gehen würde, wer hätte das geahnt! Sagen Sie nicht, dass wir noch siegen können. Wir werden nie mehr siegen, wir haben nie unter diesem Kaiser auf entschiedene Weise Völkerschaften besiegt, deren Ueberwindung als eine glückliche Vorbedeutung gelten kann, wenn von Preussen die Rede ist. Die Araber sind die schlechtesten Taktiker der Erde.« Mehr als ein Mal brach er aus: »Hat man jemals so etwas gehört! Armer Prinz! Armes Frankreich!« Er war so heftig, dass er sich in Flüchen über alle die leitenden Männer erschöpfte, die nach seiner diesmal sehr wenig »nuancirten« Auffassung alle zusammen Schwachköpfe oder Schufte seien: »Was ist dieser Palikao? ein Dieb, ein erklärter Dieb, dem alle guten Häuser verschlossen sind, und weiss nicht alle Welt von einem seiner Kollegen, dass er ein Verbrecher, ein Mörder ist, der nur durch Flucht in's Ausland sich einer Strafe wegen Todschlags entzogen hat! Und in den Händen solcher Menschen liegt unser Schicksal!«

Ich sah Thränen in seinen Augen und sagte ihm Lebewohl. Ich habe ihn seit dem Tage nicht wiedergesehen. Er gewann schnell seine Ruhe und seine Herrschaft über den Schmerz zurück. Aber in jenen Augenblicken war Renan ein anderer, als da er schrieb: »Der Gelehrte ist Zuschauer im Weltall. Er weiss, dass die Welt ihm nur als Studiengegenstand gehört, und selbst wenn er sie reformiren könnte, würde er sie vielleicht so seltsam finden, wie sie ist, dass er die Lust dazu verlöre.« Vollständig ernst hat Renan wol nie diese kühlen und aristokratischen Worte gemeint; wenn aber doch, so durchlebte er im Jahre 1870 Gemüthsbewegungen, während derer sie für ihn keinen Sinn mehr hatten.

Es ist schwer zu ermessen, welchen demoralisirenden Einfluss während des zweiten Kaiserthums das Leben unter der Herrschaft und dem Druck des »fait accompli« auf die französischen Gelehrten ausübte. Eine Neigung zum Quietismus und Fatalismus, zum Gutheissen alles einmal Vollbrachten kennzeichnet unter Napoleon III. die französische Geisteswissenschaft überhaupt. Spuren dieses Einflusses merkte man überall im geselligen Lehen, in den Gesprächen. Die völlige Freiheit von Enthusiasmus war mit Bildung und Reife fast synonym geworden. Ein junger Fremder hatte täglich Gelegenheit, über die Zurückhaltung und die Passivität selbst der Besten sich zu wundern, sobald die Rede auf irgend ein praktisches Ziel kam, und ich erinnere mich, dass ich eines Abends im Mai 1870, missmuthig nach Hause gekommen, in mein Notizbuch schrieb: »Es gab einmal ein anderes Frankreich.« Es hatte doch einmal ein waches, begeistertes, poetisches, für die ganze Menschheit fühlendes Frankreich gegeben. Es scheint, dass ein solches Frankreich nach und nach wieder aus der Erniedrigung hervorgehen wird, die, wenn sie auch nichts anderes gutes mit sich führte, wenigstens alle edel strebenden Geister auf's neue die Richtung nach der Wirklichkeit hin gegeben hat.

Mit wechselnden Gefühlen hat Renan der Entwickelung des republikanischen Frankreichs zugeschaut. Obwohl die Republikaner ihm fast sogleich seinen Lehrstuhl zurückgaben, zeigten sie sich doch Renan, wie den übrigen Freunden des Prinzen Napoleon gegenüber, ziemlich kühl und reservirt. Durch und durch aristokratischer Gesinnung wie er ist, gab er in »Caliban« der Demokratie zu verstehen, wie herzlich er sie im Grunde verachte, sagte jedoch nichts desto weniger kurz nachher in dem, seine Antrittsrede in die französische Akademie erklärenden Brief an einen deutschen Freund: »Wenn nun, während Eure Staatsmänner in dieses undankbare Geschäft (der Ahndung) vertieft sind, der französische Bauer mit seinem groben Verstande, seiner unübertünchten Politik, seiner Arbeit und seinen Ersparnissen glücklich eine ordnungsliebende und dauerhafte Republik gründete! Das wäre spasshaft!« Er ist Patriot und Philosoph genug, um sich zuletzt mit jeglicher Staatsform zu befreunden, welche die Mehrzahl seiner Landsleute befriedigt und ihrem geistigen Standpunkt entspricht.

Renan ist bekanntlich Bretagner und hat die Eigenschaften seiner Race. Die Bretagner in der neueren französischen Literatur haben einen gemeinschaftlichen Zug. Wie Chateaubriand und Lamennais, hasst Renan das Alltägliche, das Gutmüthig-Frivole, und hat, während er eine Beute des Zweifels ist, das heisseste Bedürfniss nach einem Glauben und einem Ideal. Er hegt für sein engeres Vaterland eine tiefe Anhänglichkeit. Hat er doch sogar in einem hoffnungslosen Augenblick seinen Stamm mit den Worten apostrophirt: »O du einfacher Clan von Ackerbauern und Seeleuten, dem ich es verdanke, in einem erlöschten Land die Kraft meiner Seele bewahrt zu haben!« Man darf diesen Stimmungsausbruch nicht allzu buchstäblich nehmen. Niemand empfindet tiefer als Renan, wie weit jenes Frankreich, von dem er an Strauss schrieb, es sei »als bleibender Protest gegen Pedanterie und Dogmatismus« für Europa nothwendig, davon entfernt ist, erlöscht zu sein. Aber das Wort ist für den zugleich hartnäckigen und unruhigen, schwärmerischen und skeptischen Bretagner bezeichnend. Gibt er seinen Glauben (wie hier den Glauben an Frankreich) an einem Punkte auf, so ist es nur, um anderswo mit um so wärmerer Begeisterung sich an ein Ideal anzuschliessen. Auch in der Religion hat er ein Bretagne, an welches er glaubt.


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