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John Stuart Mill.
Bildquelle: de.wikipedia.org


John Stuart Mill

(1879.)

 

I.

Eines Tages, im Juli 1870, als ich in Paris in meinem Zimmer lesend auf und ab ging, hörte ich ein bescheidenes Klopfen an der Thüre. Der Uhrmacher! dachte ich. Denn es war eben die bestimmte Stunde, wo ein Mal in der Woche auf den Glockenschlag ein Gehilfe des Uhrmachers sich einzufinden pflegte, um alle Tafeluhren in dem kleinen Hotel garni aufzuziehen.

Ich öffnete die Thür, und draussen stand ein ältlicher, hoher, magerer Mann in einem ziemlich langen schwarzen Rocke, der um die Taille zugeknöpft war. »Treten Sie näher«, sagte ich, ohne ihn genauer anzusehen, und griff wieder nach meinem Buche. Aber der Mann blieb stehen, hob den Hut und nannte fragend meinen Namen. »Ich bin es«, antworte ich, und bevor ich wieder fragen konnte, hörte ich die mit gedämpfter Stimme gesagten Worte: »Ich bin Stuart Mill«. Hätte sich der Herr als König von Portugal vorgestellt, wäre ich kaum mehr erstaunt gewesen, und ich weiss nicht, was er hätte sagen können, das mir im Augenblicke mehr Freude gemacht hätte. Mein Gefühl war das, welches unter dem ersten Kaiserreiche ein Corporal von der jungen Garde empfand, wenn der grosse Napoleon während einer seiner Runden im Lager ihm mit einem Zupfen am Ohrläppchen die Gnade erwies, seine Existenz zu bemerken.

Ich hatte versucht, Stuart Mill in meinem Vaterlande bekannt zu machen, und er hatte mir deswegen wiederholt geschrieben und noch häufiger Broschüren und Zeitungen, die ein Interesse für mich haben könnten, sowohl nach Kopenhagen wie nach Paris zugeschickt. Er wusste also meine Adresse, und da er sich gerade auf der Durchreise in Paris befand und, sonderbar genug, keinen einzigen Bekannten in dieser Stadt besass, so hatte er nicht Anstand genommen, den langen Weg vom Windsor Hotel nach Rue Mazarin zurückzulegen, um seinen jungen Correspondenten mit einem Besuche zu beehren. Als er mir seinen Namen genannt hatte, erinnerte ich mich sogleich seines Portraits. Das gab aber so wenig eine Vorstellung von Gesichtsausdruck und Hautfarbe wie von der Weise, wie er ging und stand. Obwohl 64 Jahre alt, hatte er die frische und reine Haut eines Kindes. Er hatte diesen Kinderteint und diese rothen Wagen, die man fast nie bei älteren Männern des Festlandes, nicht selten aber bei den weisshaarigen Gentlemen beobachtet, die Mittags im Hydepark spaziren reiten. Seine Augen waren klar und tief dunkelblau, die Nase schmal und krumm, die Stirne hoch und gewölbt mit einem stark hervorspringenden Knoten über dem linken Auge; es sah aus, als hätte das Arbeiten der Gedanken ihre Organe gezwungen, sich zu erweitern und mehr Platz zu schaffen. Das Gesicht mit den stylvollen und grossen Zügen war einfach, aber nicht ruhig; nervöse Zuckungen liefen ab und zu darüber hin und schienen das unruhig zitternde Leben der Seele zu verrathen; er suchte nach den Worten und stotterte bisweilen am Anfange eines Satzes. Sitzend sah er mit dieser frischen, prächtigen Physiognomie und dieser gewaltigen Stirn wie ein noch junger und kräftiger Mann aus. Als ich ihn später auf der Strasse begleitete, bemerkte ich jedoch, dass sein Gang trotz seiner Schnelligkeit etwas hinkend war und dass das Alter trotz des schlanken Wuchses Spuren in seiner Haltung hinterlassen hatte. Sein Anzug machte ihn älter, als er war. Der altmodische Rock, den er trug, bewies, wie gleichgültig ihm seine äussere Erscheinung geworden. Er war schwarz gekleidet und hatte an seinem Hute einen Flor, der viele unregelmässige Falten schlug. Nach so vielen Jahren ging er noch in Trauer um seine verstorbene Frau.

Im Uebrigen zeigte seine Person weiter keine Nachlässigkeit; ein stiller Adel und eine vollendete Selbstbeherrschung sprachen aus ihr. Auch ohne seine Werke gelesen zu haben, musste man sehen, dass es einer der Könige des Gedankens war, der dort im rothen Sammtfauteuil Platz genommen hatte, neben dem Camin mit jener Tafeluhr, die aufziehen zu wollen ich ihn in so unbegründetem Verdachte gehabt hatte.

 

II.

Er sprach zuerst von seiner Frau, deren Grab in Avignon er eben verlassen hatte. Er hatte sich ein Haus in jener Stadt, wo sie gestorben war, gekauft und brachte dort immer die Hälfte des Jahres zu. Schon in der Einleitung zu ihrem Aufsatze »Enfranchisement of women«, welche die Grundlage seines eigenen Buches über »Die Hörigkeit der Frauen« bildet, hatte er seiner Begeisterung für die Hingeschiedene einen öffentlichen Ausdruck gegeben. Er hatte dort gesagt, dass der Verlust der Verfasserin sogar in rein intellectueller Hinsicht weder ersetzt, noch gemildert werden könne; er hatte erklärt, dass er lieber den Aufsatz ungelesen, als mit der Vorstellung gelesen sähe, dass in demselben auch nur das schwächste Bild ihrer Seele sich finde; denn diese Seele sei durch ihre Vereinigung der seltensten und anscheinend unvereinbarsten Vorzüge ohnegleichen gewesen, ja er hatte »die höchste Poesie, Philosophie, Rhetorik und Kunst« neben ihr »trivial« genannt und mit der Prophezeiung geschlossen, dass, wenn das Menschengeschlecht sich fortdauernd zum Besseren entwickle, würde die Geschichte nichts als »eine fortschreitende Verwirklichung ihrer Gedanken« sein. In diesem Tone sprach er auch in meinem Zimmer über sie. Man kann meinen, dass der Mann, der so sprach, kein grosser Portraitmaler war, und man kann die objective Richtigkeit seines Urtheiles bezweifeln; man kann aber nicht, wie es wegen seines ultrarationalistischen Standpunktes in der Frauenfrage mehrfach geschehen ist, ihn beschuldigen, die Ehe als blosen Contract betrachtet zu haben. Grosse Dichter, wie Dante und Petrarca haben den von ihnen phantastisch geliebten Frauen in ihrer Dichtung ein phantastisches Denkmal gesetzt; aber ich weiss nicht, dass jemals ein Dichter der liebevollen Verehrung eines weiblichen Wesens einen so wahren und so warmen Ausdruck gegeben, wie Mill in den Worten, in welchen er den Werth seiner Frau und ihre bleibende Bedeutung für ihn gefasst hat. Die Inschrift, die er auf ihren Grabstein in Avignon hauen liess, ist kein Zeugniss einer künstlerischen Begabung für den Lapidar-Styl; sie hat zu viele und zu lobpreisende Worte. Wie energisch und schön ist aber der Satz, womit sie endigt: »Were there even a few hearts and intellects like hers, this earth would already become the hoped-for heaven.«

Ich fragte Mill, ob seine Frau anderes als das von ihm Herausgegebene geschrieben hätte. »Nein«, antwortete er, »aber ringsum in meinen Schriften finden Sie ihre Ideen; die besten Partien in all' meinen Büchern sind von ihr«. »Auch in der Logik?« fragte ich wieder. »Nein«, gab er halb entschuldigend zur Antwort, »die Logik schrieb ich, bevor ich mich verheirathete«. Ich konnte nicht unterlassen, bei mir selbst zu denken, dass die Beiträge der Frau Stuart Mill zur inductiven Logik auch in dem entgegengesetzten Falle kaum beträchtlich gewesen wären; ein wenig muss doch Mill selbst erdacht haben. Die ehrerbietige Unterwürfigkeit, die in diesem Gespräche hervortrat, war aber für das Naturell des grossen Denkers eigenthümlich.

Sein Gemüth hatte die entschiedene Neigung, nicht einer Sache allein, sondern einer persönlichen Incarnation derselben zu dienen, und so wurde er dazu gebracht, nach einander zwei Persönlichkeiten zu verehren, die, wie selten und bedeutend sie auch sein mochten, ihm durchaus nicht überlegen waren, seinen Vater und seine Frau. Zu dem Vater (und Bentham) sah er in seiner ersten Jugend auf, zu seiner Frau in seinem ganzen übrigen Leben.

Wer Mills Selbstbiographie gelesen hat, wird die dunkle Schilderung nicht vergessen haben, die er von dem verzweifelten Schlaffheitszustande gibt, der bei ihm das Mannesalter einleitete. Es war eine lange und schmerzhafte Krisis, während welcher seine Natur gegen die durch abnorme Erziehung hervorgerufene Ueberentwicklung seiner Fähigkeiten reagirte. Anstatt die vollkommene geistige Organisation zu bewundern, die Mill aus einer so überlastenden und gefährlichen Schule, wie die seines Vaters, unverletzt hervorgehen liess, liebte es die englische Durchschnittsbildung, ihn wegen eben dieser Treibhauserziehung als eine Abnormität zu bezeichnen, die zum Lehrer und Vorbild nicht geschaffen sei. In dem unglaublich grossen Vorrathe von Kenntnissen jeder Art, die ihm schon als Knaben beigebracht wurden, fand man den Beweis der Unnatürlichkeit seiner Lehren und der »Unmenschlichkeit« Stuart Mills. Was könnte man von einer Lesemaschine erwarten, die, drei Jahr alt, griechisch las und im dreizehnten Jahre einen Cursus der Staatsökonomie durchging? Die Krisis, welche der Ueberbürdung folgte, ist nicht weniger missdeutet worden als die encyklopädische Erziehung des Knaben. Die Symptome derselben waren völlige Gleichgültigkeit gegen alle Zwecke, die der junge Mann früher begehrenswerth gefunden hatte, und eine ununterbrochene Freudlosigkeit, während welcher er sich selbst fragte, ob die vollständige Verwirklichung seiner Ideen und Ausführung der Reformen, für die er geschwärmt, ihm eine wirkliche Befriedigung verschaffen würde, und diese Frage verneinend zu beantworten sich gezwungen sah. Philosophen haben hierin einen Widerspruch der Natur gegen die Mill'sche Nützlichkeitslehre gefunden, indem selbst die Verwirklichung des grösstmöglichen Glückes für die grösstmögliche Zahl nach seinem eigenen Geständnisse ihn nicht glücklich gemacht hätte; Theologen haben in jener Krisis ein Einbrechen jener geheimen Melancholie, jener tiefliegenden Verzweiflung gesehen, in welcher, auch ohne es zu wissen, der immer lebe, welcher nicht glaube. Es ist jedoch kaum ein Zeugniss gegen die Glücksmoral, dass Moral allein nicht glücklich macht, und es dürfte ein schlechtes Zeugniss für die Unentbehrlichkeit des Dogmenglaubens abgeben, dass ein hochbegabter und eminent kritisch angelegter Jüngling von 20 Jahren (der sowohl früher wie später mit heiterem Gemüthe sich ohne dogmatischen Glauben durch die Welt half) einen Winter hindurch unter der tiefen Unlust zum Handeln und unter der Qual der Existenz zusammenbrach, mit welcher jeder grübelnde Geist zu kämpfen hat, und die fast Jedermann wenigstens ein Mal in seinem Leben überwinden muss. Es gibt unter reicher entwickelten Männern nur wenige, die jenes Selbstaufgeben nicht gekannt hätten; bei einzelnen ist es von kurzer Dauer, bei anderen chronisch; nur der äussere Anlass, der es hervorruft, wie die Waffen dagegen sind verschieden. Jeder hat seinen Panzer gegen den Missmuth, einer den Arbeitstrieb, ein anderer den Ehrgeiz, einer das Familienleben, ein anderer den Leichtsinn; aber durch die Fugen dieser Panzer bohrt sich der Lebensüberdruss seinen Weg. Bei Stuart Mill war nun augenscheinlich dieser Panzer die Gewissheit, in dem Geiste eines anderen Menschen zu handeln, den er weit höher schätzte als sich selbst. Man darf seine eigene Aeusserung nicht übersehen, dass, wenn er zu jener Zeit »Jemand tief genug geliebt hätte, um diesem Anderen seine Qual anzuvertrauen, er sich nicht in dem Zustande befunden haben würde, in welchem er sich befand«. Hätte Mill damals seine zukünftige Frau gekannt, so würde die Krisis gewiss nicht jenen acuten Charakter angenommen haben, sie hätte ihm sicherer als Dogmen und Moralsysteme über die tiefe Niedergeschlagenheit fortgeholfen. Das sieht man schon aus den treffenden Worten, mit welchen er seinen Zustand geschildert hat: »Ich war am Anfange meiner Reise gescheitert, denn mein Schiff, dem weder gute Ausstattung, noch ein Steuer fehlte, hatte keine Segel.« Das Segel dieses Schiffes, das so reiche und kostbare Ladung führte, war und blieb eben jene schwärmerische Neigung, zu vergöttern und sich zu unterwerfen. Zu jener Zeit war der Einfiuss des Vaters in starkem Abnehmen, der der Gattin hatte noch nicht angefangen; folglich stand er still.

So viel ging schon aus dem allerersten Gespräche mit Mill hervor, dass das Gewinnen jener Freundin das grosse Loos seines Lebens war. Nur an einer einzigen Stelle, wo er von ihr spricht, ist es ihm gelungen, eine Vorstellung von der Eigenthümlichkeit ihres Wesens zu geben, das ist, wo er sie mit Shelley vergleicht. Ein weiblicher Shelley – so stand sie vor ihm in seiner Jugend; später schien ihm sogar Shelley, der so früh fortgerissen wurde, in Denkvermögen und intellectueller Reife nur ein Kind im Vergleiche mit ihr. Er gibt mehrmals in bestimmteren Ausdrücken an, was er ihr verdankt: den Blick für die fernsten Zwecke, d. h. für die letzten Consequenzen der Theorie, und für die nächsten Mittel, d. h. für das unmittelbar zu Erreichende in der Praxis. Die ursprüngliche Begabung, die er sich selbst zugesteht, war nur auf das Verbindende dieser Extreme, auf die mittleren moralischen und politischen Wahrheiten gerichtet.

Es kommt mir jedoch nicht als sehr wahrscheinlich vor, dass Frau Stuart Mill ihrem Manne direkt neue Gedanken eingeflösst habe. Ihre wesentliche Bedeutung für ihn muss, glaube ich, in zwei anderen Punkten gesucht werden. Erstens hat sie seinen Denkmuth gestärkt, und mehr als die Neuheit der Gedanken ist es auch der Denkmuth, welcher den classischen unter seinen Schriften, z. B. dem Buche »Ueber die Freiheit«, ihren Charakter gibt. Mehrmals kam er, schon in unserem ersten Gespräche, mit Bedauern auf den Mangel an Muth zurück, welcher überall die Schriftsteller von der Vertheidigung neuer Ideen zurückhält. Er sagte: »Es gibt Talente ersten Ranges wie George Sand, deren wesentlichste Originalität in dem Muthe besteht. Ich sehe – fügte er hinzu – von ihrem unbeschreiblich schönen Style ab, dessen Musik nur mit dem Wohllaute einer Symphonie verglichen werden kann.« Schon durch die Sicherheit, welche das Gefühl der Uebereinstimmung mit einem fremden Gedanken hervorbringt, hat die Gattin Stuart Mills jenen bei George Sand gepriesenen Muth in ihm erhoben.

Zweitens hat sie durch ihre weibliche Universalität Mill davor geschützt, sich in irgendwelches Vorurtheil zu verrennen. Sie hat in seinem Gemüthe eine gewisse Skepsis bewahrt, im Eise der Doctrin eine nie zufrierende Stelle offen erhalten und, indem sie ihn skeptisch stimmte, hat sie bewirkt, dass er fortschritt. Während die Mehrheit sogenannt freisinniger Männer fast immer relativen Freisinn auf einem Punkte mit doppelter Verstocktheit in anderen Rücksichten erkauft, war Mill immerfort gegen conventionelle Vorurtheile auf seiner Hut, ja ging sogar bis zu seinem Tode angriffsweise gegen dieselben vor, suchte sie unerschrocken, um sie zu erklären und zu vernichten, in ihren Verschanzungen auf.

Darüber kann schliesslich kaum ein Zweifel sein, dass Frau Mill einen grossen Antheil an dem Auftreten ihres Mannes, zu Gunsten der gesellschaftlichen Lage der Frauen, gehabt hat. Es interessirte mich, zu erfahren, ob er seinen Angreifern in der Frauenfrage geantwortet hätte. Er hatte ihnen keine Antwort gegeben und wollte es nicht thun. »Warum«, sagte er, »immer dasselbe wiederholen; keiner von ihnen hat etwas von Werth hervorgebracht.« Ich berührte den Widerstand vieler Aerzte, die Einwendungen, die sich auf die Naturnothwendigkeiten, welchen das Weib unterworfen ist, berufen. Er sprach sich sehr hart und absolut gegen ärztliche Vorurtheile im Allgemeinen aus. Lange und mit Vorliebe verweilte er dagegen bei der Lust und dem nicht seltenen Berufe der Frauen, ärztliche Beschäftigung zu treiben. Er nannte Miss Garrett, die sich neulich in Paris einem ärztlichen Examen unterworfen hatte, und lobte sie als die erste Frau, die diesen Muth zeigte. In einem Briefe an mich hatte er einmal die Frauenfrage als »die in seinen Augen wichtigste aller politischen Fragen der Gegenwart« bezeichnet; sie war jedenfalls in seinen letzten Lebensjahren eine von denen, die ihn persönlich am meisten erfüllten.

Er scheute weder schriftlich, noch mündlich die stärksten Ausdrücke, um seine Auffassung des Unnatürlichen in der Abhängigkeit der Frauen in das rechte Licht zu stellen. Hatte er ja nicht gefürchtet, das Lachen durch die starke Behauptung herauszufordern, dass, da wir die Frau noch nie in Freiheit gesehen hätten, wir bis jetzt noch gar nichts über das Wesen des Weibes wüssten, als ob Raphael's sixtinische Madonna, Shakespeare's junge Mädchen, die ganze von Frauen verfasste Litteratur uns über die weibliche Natur gar nicht belehrten. In diesem einen Punkte war er fast fanatisch. Er, der in allen Verhältnissen zwischen Mann und Mann die Feinheit und die Delicatesse selbst war, liess sich zu fast beleidigenden Aeusserungen hinreissen, wenn Andersdenkende in seiner lieben Fundamentalfrage eine abweichende Meinung äusserten. Ich befand mich eines Tages bei einem berühmten französischen Gelehrten, als eben der Postbote einen Brief von Stuart Mill brachte. Es war die Beantwortung eines Schreibens, in welchem der Franzose mit Rücksicht auf die in »The subjection of women« ausgesprochenen Gedanken die Ansicht geäussert hatte, dass die hier angestrebte Veränderung in der gesellschaftlichen Stellung des Weibes vielleicht in England, wo sie mit dem Racencharakter übereinstimme, vorzüglich ausfallen könne, in Frankreich aber, wo die Anlagen und Neigungen der Frauen so ganz abweichend seien, gewiss keinen Erfolg haben werde. Mills bündige Antwort lautete so: »Ich sehe in Ihren Aeusserungen ein Symptom jener Verachtung vor dem Weibe, die in Frankreich so durchgehend ist. Alles, was ich darüber sagen kann, ist, dass die französischen Frauen den französischen Männern diese Verachtung mit Zinsen zurückgeben.«

Das Eigentümliche des Mill'schen Standpunktes in dieser Emancipationsfrage war, dass er sich ganz und gar auf eine sokratische Unwissenheit stützte. Er sprach den aufgehäuften Erfahrungen von Jahrtausenden jede Beweiskraft in Betreff der Grenzen des so lange geknechteten weiblichen Geistes ab und behauptete, dass wir a priori über das Weib nichts wüssten. Er ging von keinem doctrinären Begriffe besonderer weiblicher Fähigkeiten aus, stützte sich auf den einfachen Satz, dass die Männer kein Recht hätten, den Frauen irgend eine Beschäftigung, die sie reize, zu verbieten, und erklärte jede Bevormundung nicht nur für ungerecht, sondern für unnütz, da die freie Concurrenz von selbst die Frauen von jeglicher Arbeit, wozu sie untauglich seien oder in welchen sie der Mann entschieden übertreffe, ausschliessen würde. Er hat Viele dadurch verscheucht, dass er gleich das erste Mal, wo er die Frage zur Sprache brachte, die letzten logischen Folgerungen seiner Lehre zog und z. B. die directe Theilnahme der Frauen an der gesetzgebenden Wirksamkeit befürwortete; doch hatte er als Engländer Wirklichkeitssinn genug, um die praktische Agitation auf einen einzigen Punkt zu beschränken. Ich erinnere mich, dass ich ihn fragte, warum man in England und America mit Uebergehen der, wie mir vorkam, zuerst erforderlichen wirtschaftlichen Emancipation der Frauen, alle Bestrebungen auf das doch viel schwieriger erreichbare politische Stimmrecht concentrirt habe. Er antwortete: »Weil, wenn das erlangt ist, alles Uebrige daraus folgt.«

 

III.

Er stand auf, um zu gehen, und da er wusste, dass ich nach London zu reisen beabsichtigte, fragte er mich, ob ich die Reise mit ihm machen wolle. Um mich nicht zudringlich zu zeigen, gab ich eine verneinende Antwort und erhielt eine Einladung, ihn in England zu besuchen. Ich hatte eben damals Mills meisterhaftes Werk über die Philosophie William Hamiltons gelesen, war davon sehr erfüllt und hatte tausend philosophische Fragen auf dem Herzen; es freute mich desswegen sehr, dass eine so seltene Gelegenheit, meine Zweifel mit dem Verfasser selbst zu discutiren, sich darbot, und eine Woche nachher schellte ich an dem Gartenpförtchen vor Mills Landhause in Blackheath-Park bei London, diesem Pförtchen, vor welchem ich nie ohne frohe Erwartungen gestanden und das ich niemals ohne das Gefühl, geistig bereichert zu sein, hinter mir schloss.

Meine Universitätserziehung in Kopenhagen war abstract-metaphysisch gewesen; die philosophischen Professoren waren Männer, die, obwol sie sich gegenseitig befehdeten und vermeintlich polar entgegengesetzte Standpunkte vertraten, in allem Wesentlichen dasselbe Schulgepräge trugen. Sie hatten beide ihre Laufbahn als Theologen begonnen und waren danach Hegelianer geworden, der eine von der Hegel'schen Linken, der andere von der Hegel'schen Rechten beeinflusst. Sie hatten demnächst, wie alle Welt in der damaligen Zeit, sich »von Hegel emancipirt«, was doch so zu verstehen war, dass Hegel immer in ihrem Gedankenkreise das Erste und das Letzte blieb; seine Methode wurde bald naiver, bald sophistischer angewendet, auf den Kathedern gepredigt, die dem Cultus des Absoluten, des Subject-Objects geweiht waren, seine Werke wurden citirt, seine paar Witzwörter wiederholt und eine ermüdende, endlose Polemik gegen seine vermeintlichen Irrthümer geführt, von denen wir erfuhren, dass sie fast alle in seiner Unterschätzung des Realen, besonders in seiner mangelhaften Einsicht in die Naturwissenschaften begründet gewesen. Aber selbst seine Irrthümer mussten dem Schüler köstlicher als die Wahrheiten anderer Denker erscheinen, denn um zur Wahrheit zu gelangen, war es, wie schon das Beispiel des Herrn Professors zeigte, immer nothwendig, zuerst durch einen Irrthum Hegels zu kriechen. Der Kopenhagener Universität galt, den sonstigen nicht allzu freundlichen Gesinnungen gegen Deutschland zum Trotz, der Satz als unbestritten, dass die moderne Philosophie eine deutsche, wie die antike eine griechische Wissenschaft sei. Die Existenz des englischen Empirismus und des französischen Positivismus war auf der Universität nicht anerkannt; von englischer Philosophie insbesondere hörten wir nur als von einer durch Kant längst überwundenen und todtgemachten Richtung. Es war mir nur durch eine gewisse Kraftanstrengung möglich geworden, mich, so gut es eben ging, aus den Banden der in Dänemark herrschenden Schule loszuwinden, und ich stand damals noch zwischen speculativen und positivistischen Tendenzen schwankend. Ich machte Stuart Mill gegenüber kein Hehl aus meiner Unsicherheit.

»Sie kennen also Hegel so genau«, sagte er, »Sie verstehen Deutsch?«

»Gewiss, ich lese es fast eben so leicht wie meine Muttersprache.«

»Ich verstehe die deutsche Sprache nicht«, antwortete er, »und habe von der deutschen Literatur nie eine Zeile im Original gelesen; ja ich kann so wenig Deutsch, dass ich in Deutschland sogar bei Reisen auf Eisenbahnstationen Mühe gehabt habe mich zurechtzufinden.«

»Sie kennen die deutschen Philosophen aus Uebersetzungen?«

»Kant habe ich in einer Uebersetzung gelesen, von Hegel weder im Original, noch in Uebersetzung das Geringste. Ich kenne ihn nur aus den Referaten und Gegenschriften, am besten durch die kurzgefasste Darstellung, die der einzige Hegelianer Englands, Sterling, gegeben hat.«

»Und welchen Eindruck haben Sie so von Hegel erhalten?«

»Den, dass die Schriften, in welchen Hegel seine Principien anzuwenden versucht hat, vielleicht etwas Gutes enthalten können, dass aber alles rein Metaphysische, was Hegel geschrieben hat, Nonsens ist,«

Ich wurde bei dem Worte stutzig und meinte, dass diese Aeusserung doch wohl cum grano salis zu verstehen sei.

»Nein, ganz nach dem Wortlaute«, antwortete er. Er verweilte bei dem Grundrisse des Systems, bei den ersten Anfängen, der Lehre vom Sein, das mit dem Nichts identificirt wird, und rief aus: »Was wollen Sie, dass aus dem Ganzen herauskommen soll, wenn man mit einem solchen Sophismus anfängt? Haben Sie wirklich Hegel gelesen?«

»Gewiss, sogar die meisten seiner Werke.«

Mill (mit einer höchst ungläubigen Mine): »Und Sie haben ihn verstanden?«

»Ich denke wenigstens in allen Hauptzügen.«

Er (mit fast naiver Verwunderung): »Aber gibt es denn wirklich da etwas zu verstehen?«

Ich versuchte diese sonderbare und weitläufige Frage, so gut es ging, zu beantworten, und Mill sagte, nicht eben überzeugt aber entgegenkommend: »Ich begreife sehr wohl die Pietät oder Dankbarkeit, die Sie gegen Hegel fühlen. Man ist immer denen dankbar, die uns das Denken lehrten.«

Niemals habe ich so, wie während dieses Gespräches gefühlt, wie völlig Mill ein Mann aus einem Gusse war, ein echter Engländer, eigensinnig und hartnäckig, mit einer sonderbaren knochigen Willenskraft ausgerüstet und der Gabe eines geschmeidigen kritischen Aneignens absolut beraubt. Was mich aber bei dieser Gelegenheit am meisten ergriff, das war der tiefe Eindruck der Unwissenheit, in welcher noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bedeutendsten Männer der verschiedenen Länder, selbst der paar Hauptländer, über ihre gegenseitigen Verdienste schweben. Ich fühlte, dass man bis zu einem gewissen Grade schon dadurch nützlich sein könnte, dass man diese grossen Geister, die einander nicht verstehen, studire, confrontire und verstehe.

Ich versuchte die Anschauungsweise, die ich meiner Universitätserziehung verdankte, gegen die Principien der empirischen Philosophie in's Feuer zu führen. Zu meinem Erstaunen waren alle Argumente, die ich vorbrachte und von deren Wirkung auf Mill ich mir viel versprochen hatte, ihm längst bekannt. »Das sind«, sagte er, »die alten deutschen Argumente«; er führte sie alle auf Kant zurück und hatte seine Beantwortung derselben bereit.

Es würde hier nicht am Platze sein, die Realität der grossen, zwischen den beiden modernen Schulen schwebenden Streitfrage zu behandeln, eine Frage, die in Deutschland ausserdem von fast allen Denkern im deutschen Sinne gelöst wird; natürlicherweise wollte Stuart Mill durchaus nicht einräumen, dass David Hume von Kant widerlegt sei, eine Anschauung, die ich jetzt vollständig theile und die, wie ich glaube, wenn die jetzige Kant-Vergötterung ein bischen nachgelassen hat, allgemein durchdringen wird. (Ich finde schon eine Spur dieser veränderten Auffassung in Deutschland in dem vorzüglichen Werke Fr. Paulsens über »Kant's Erkenntnisstheorie«.) Damals ahnte ich zwar schon, dass die rationalistische und die empiristische Erkenntnisslehre sich irgendwie vermitteln liessen, aber ich kannte noch nicht Herbert Spencer's einfache Lösung des Räthsels. Mill sprach sich kurz, aber entschieden gegen alle Vermittlungsversuche aus und schloss mit den eigentümlich bescheidenen, aber festen Worten, die mir im Gedächtnisse geblieben sind: »Ich glaube, dass man zwischen den Theorien wählen muss.«

In diesem Geiste äusserte er sich auch über die verschiedenen modernen Philosophen, die ihm nahestanden. Er empfahl mir, Herbert Spencer kennen zu lernen, doch wollte er mir den Rath nicht geben, die späteren Werke Spencer's zu studiren; er meinte, dass er sich in diesen von »der guten Methode« entfernt habe; er empfahl mir dagegen eindringlich Spencer's »Principles of Psychology« und namentlich die beiden Hauptwerke »The senses and the intellect« und »The emotions and the will« von seinem nach meiner Auffassung weit weniger geistvollen Meinungsgenossen Bain. Er schenkte mir ein Exemplar von der »Analysis of the human mind«, seines vielbewunderten Vaters (die von ihm und Bain besorgte und mit Anmerkungen versehene Ausgabe), mir dieses Werk als das Hauptwerk der englischen Schule in diesem Jahrhunderte rühmend, und da ich ihm von meiner Bewunderung seiner Kritik der Hamilton'schen Philosophie gesprochen hatte, schickte er mir Tags darauf noch dieses Buch. Fast von selbst musste das Gespräch auf Taine's eben erschienene Werk »De l'intelligence« fallen, in welchem Mill so eifrig studirt, benützt und widerlegt wird und in welchem die englische Richtung in der französischen Philosophie sich vielleicht ihr dauerndstes Denkmal gesetzt hat. Mill lobte Taine; nannte sein Buch eines der gründlichsten und bedeutendsten des neuen Frankreich und sagte mir darüber ungefähr, was ich später in seiner Besprechung dieses Werkes (»Fortnigthly Review«, Juli 1870) wiederholt fand; das Buch als Ganzes war ihm lieb; gegen die letzten Capitel desselben hatte er dieselbe Art von Einwendungen zu machen wie gegen die späteren Werke Herbert Spencers. Man musste ja nach seiner Ueberzeugung zwischen dem bedingten Wissen der Empirie und der absoluten Gewissheit der Intuition ein für alle Mal entschieden »wählen«, und Taine hatte in dem letzten Buche seines Werkes über die Intelligenz eben versucht, Axiome aufzustellen, die sich nicht aus der Erfahrung herleiten liessen und desswegen für das ganze Universum, unabhängig von den Grenzen unserer Erfahrung, Gültigkeit hätten. Mill selbst meinte bekanntlich, sogar den Lehrsätzen der Algebra und der Geometrie, deren empirischen Ursprung er darzustellen suchte, nur einen beschränkten Herrschaftskreis sichern zu können. Er lobte mir das kleine Buch »Essays by a Barrister«, von dem er selbst einige Sätze citirt hat. Der Barrister findet es vollständig denkbar, dass sowol unser Einmaleins wie unser Euklides in anderen Sonnensystemen keine Gültigkeit haben. Die Frage ist, sagt dieser, ob unsere Gewissheit, dass das Einmaleins wahr ist, von der Erfahrung oder von einer transscendenten Ueberzeugung von dieser Wahrheit herrührt, die wohl durch Erfahrung erweckt wird, aber der Erfahrung vorausgeht und sie formt; er stellt, um der ersteren Anschauung das Wort zu führen, einige zum Denken anregende Beispiele auf:

»Es gibt eine Welt, in welcher, wenn zwei Paar Dinge entweder einander nahe gebracht oder zusammen beobachtet werden, ein fünftes Ding unmittelbar geschaffen und in den Gesichtskreis dessen gebracht wird, der beschäftigt ist, zwei und zwei zusammenzulegen. Dies ist gewiss nicht unfassbar, denn wir können leicht, wenn wir an gewöhnliche Taschenspielerkunststücke (oder an Schalttage, möchte ich hinzufügen) denken, dieses Resultat fassen. Eben so wenig kann man sagen, dass die Sache über die Kräfte der Allmacht gehe. In einer solchen Welt würde nun gewiss zwei und zwei fünf ausmachen. Dies zeigt, dass diese Addition durchaus nicht unfassbar ist, und doch ist es auf der anderen Seite völlig leicht, zu sehen, warum wir absolut überzeugt sind, dass zwei und zwei vier ausmachen. Es gibt vermuthlich kaum einen Augenblick unseres Lebens, in welchem wir nicht diese Thatsache erfahren. Wir sehen sie, so oft wir vier Bücher, vier Tische oder Stühle, vier Männer auf der Strasse oder die vier Ecken eines Pflastersteines zählen, und wir fühlen uns von dieser Thatsache versicherter als davon, dass die Sonne sich morgen erheben werde, weil unsere Erfahrung über jene Thatsachen so viel häufiger ist und auf eine solche Unzahl von Fällen ihre Anwendung findet. Es ist auch nicht wahr, dass alle Personen, die jene Addition gemacht haben, von ihrer Richtigkeit gleich fest überzeugt sind. Ein Knabe, der eben das Einmaleins gelernt hat, ist völlig sicher, dass zwei und zwei vier sind, ist aber oft äusserst unsicher, ob sieben mal neun 63 sind oder nicht. Wenn sein Lehrer ihm sagte, dass zwei mal zwei fünf sind, würde seine Gewissheit sehr beeinträchtigt werden.

Man könnte sich auch eine Welt denken, in welcher es allgemein angenommen sei, dass zwei gerade Linien einen Raum einschliessen. Man stelle sich einen Mann vor, der nie durch irgend einen seiner Sinne eine Erfahrung über gerade Linien gemacht hätte, und man denke sich ihn plötzlich auf eine Eisenbahn gestellt, die sich in völlig geraden Linien in's Unendliche fort in beiden Richtungen erstreckte. Er würde die Schienen – die ersten geraden Linien, die er jemals sähe – an beiden Horizonten sich begegnen oder sich dem Zusammentreffen nähern sehen; und er würde in Mangel jeder anderen Erfahrung schliessen, dass sie wirklich, wenn weit genug fortgesetzt, einen Raum einschliessen würden. Erfahrung allein könnte ihn enttäuschen. Eine Welt, in welcher jeder Gegenstand rund wäre, eine gerade, aber unzugängliche Eisenbahn allein ausgenommen, würde eine Welt sein, in welcher jedermann von zwei geraden Linien glaubte, dass sie im Stande seien, einen Raum zu umspannen.«

Mill spendete diesen humoristischen, von Spencer sehr fein kritisirten Sophismen, an die er mich erinnerte, mündlichen Beifall. »Wenn wir den Gesichtssinn ohne den Fühlsinn hätten, würden wir – sagte er – keinen Zweifel darüber hegen, dass zwei oder mehrere Körper sich an demselben Orte befinden können, so völlig hängen jene sogenannt apriorischen Axiome von der Beschaffenheit unserer Organe und Erfahrungen ab.«

 

IV.

Das Gespräch fiel eines Tages auf die damaligen Verhältnisse in Rom. Ich verglich den religiösen Zustand in Italien mit dem in Frankreich, erinnerte Stuart Mill an das von uns beiden in Paris beobachtete Zusammenströmen der Beaumonde zu einer Kirche und sagte: »Sie haben in ihren »Dissertations and Discussions« einige Worte geschrieben, die Sie jetzt kaum gelten lassen würden; Sie sagen: »Man kann, was die höheren Stände betrifft, Frankreich eben so gern ein buddhistisches wie ein katholisches Land nennen; das letztere ist nicht wahrer als das erstere! Wollten Sie heute noch diesen Satz vertheidigen?« Er antworte: »Es war damals wahrer als jetzt; es ist in unseren Tagen eine neue Reaction gekommen, deren Möglichkeit ich mir nicht denken konnte. Ich glaubte in meiner Jugend nicht daran, dass die Menschheit zurückgehen könne, jetzt aber weiss ich's.« Einen Theil der Schuld an dieser geistigen Reaction schrieb er der französischen Universitätsphilosophie zu. Er sprach mit einer Geringschätzung, die in seinem Munde nicht verwundern konnte, von Cousin und seiner Schule. »Trotz alledem – schloss er, verbleibe ich bei meiner alten Ueberzeugung: Die Geschichte Frankreichs in der neueren Zeit ist die Geschichte des ganzen Europa.«

Diese Ansicht, die in Stuart Mills Schriften überall durchscheint, ist nach meiner Meinung eine Einseitigkeit, die sich durch seine Unkenntniss der deutschen Sprache und Litteratur und durch seine Unterschätzung der englischen Verhältnisse, in welchen er selbstredend am leichtesten die Schäden entdeckte, recht wol erklären lässt. Er war sehr jung nach Frankreich gekommen; er erzählte mir, dass er sein fünfzehntes Jahr dort verbracht, und damals schon soviel Französisch gelernt habe, wie er jetzt könne. Da die französische Sprache die einzige fremde war, welche er fliessend und häufig (wenn auch nicht ohne starken englischen Accent) sprach, da er sein ganzes Leben hindurch bemüht gewesen, französische Ideen in England einzuführen und seinen Landsleuten Liebe zum französischen Nationalgeiste beizubringen, musste Frankreich nothwendiger Weise für ihn fast wie für einen eingebornen Franzosen Europa vertreten.

Unter allen Franzosen, die Mill kannte, war, glaube ich, Armand Carrel ihm der liebste gewesen; der Aufsatz, den er ihm gewidmet, ist vielleicht auch der schönste und gefühlvollste, den er je geschrieben hat. Aus der grossen Verehrung, mit der er Armand Carrels gedachte, erkläre ich mir zum Theile seinen heftigen Widerwillen gegen Sainte-Beuve. Nie konnte er Sainte-Beuve vergeben, dass er, der einmal Mitarbeiter des »National« und Freund Carrels gewesen war, sich mit dem Kaiserreiche befreundete und zum Senator wählen liess. Und doch würde dies vereinzelte Factum nicht genügen, um so harte Worte über Sainte-Beuve zu begründen, wie er sie in meiner Gegenwart fallen liess. Sainte-Beuve war ihm zuwider aus derselben Ursache, aus welcher Carrel ihm so sehr gefiel. Er hatte ihn eben nicht gründlich studirt, sein »Port-Royal« z. B. niemals gelesen. Aber ein Geist von so principienfester Schärfe wie der seinige fühlte sich von dem schmiegsamen und wogenden Naturell Sainte-Beuve's ganz abgestossen; denn Stuart Mill war ein fast eiserner Charakter, steif, eckig und fest; der Geist Sainte-Beuve's dagegen war wie ein See: weit, weich, elastisch und von grossem Umfange, bewegte sich aber in lauter kleinen und unbestimmt abgegrenzten Wellen. Desswegen war Stuart Mill wie geschaffen zur Autorität; sein Ton war der eines Befehlshabers, und selbst wenn er sich am kühnsten benahm, schien er durch die Bündigkeit und Sicherheit, mit welcher er seine Resultate feststellte, jeden Widerspruch abzuweisen. Sainte-Beuve dagegen hat sich nie ganz und ohne Vorbehalt einer Sache angeschlossen; er ist nie ganz katholisch oder ganz Romantiker oder ganz kaiserlich oder ganz Naturalist gewesen; nur eines war er ganz: Sainte-Beuve, d. h. der Kritiker mit der femininen Sympathie und der immer lauernden Skepsis. Er war vom Tigergeschlechte, doch er war kein Tiger. Er schloss sich an niemand und an nichts vollständig an, aber er rieb sich an allem und dieses Sich-Reiben lockte Funken hervor. Der Unwille Mills ihm gegenüber war die Antipathie des Hundes gegen die Katze. Es war Sainte-Beuve unmöglich, einfach zu schreiben; er konnte kein Urtheil abgeben, ohne es durch ein ganzes System von Nebensätzen zu bedingen; er konnte kein noch so kurzes Lob aussprechen, ohne es mit allerlei Malice zu würzen. Der nach seinem Tode grösste Kritiker Frankreichs sagte mir einmal: »Ein lobender Satz von Sainte-Beuve ist ein wahres Nest von Blutegeln.« Man vergleiche nun die Denkweise und den ganzen Styl Stuart Mills: seine Gedanken immer gross angelegt, das Allgemeine umspannend, das Individuelle durchschlüpfen lassend, sein Vortrag schmucklos, kunstlos, nackt wie eine Landschaft, deren einzige Schönheit in den einfachen und gewaltigen Terrainformen besteht.

An einem der letzten Tage meines Aufenthaltes in London drehte sich das Gespräch mit Stuart Mill um das Verhältniss zwischen Litteratur und Theater in England und Frankreich. Er sprach die in unserer Zeit so häufige Behauptung aus, dass die Franzosen, die im 17. Jahrhundert die spanischen Ideen, im 18. Jahrhundert die englischen und im 19. Jahrhundert die deutschen Ideen sich angeeignet haben, im Grunde keine andere litterarische Originalität besitzen als die, welche in der Form liege. Stuart Mill, dem für das eigentlich Aesthetische der Sinn so ziemlich fehlte und der mehr die Ideen in der Kunst als die Kunst um der Kunst willen liebte, schien durchaus nicht zu fühlen, dass die poetische und künstlerische Originalität der Franzosen selbst durch diese (allzu starke) Begrenzung ihrer Erfindungsgabe keiner Einschränkung unterliegen würde; denn wo Form und Inhalt unzertrennlich sind, ist die Ursprünglichkeit in der Formgebung mit der Ursprünglichkeit überhaupt identisch. Ohne mich im Gespräche auf diesen Gesichtspunkt einzulassen, antwortete ich nur, dass eine Eigenschaft, die man den Franzosen vorzuwerfen pflegt, ihre sogenannte Oberflächlichkeit, ihnen in hohem Grade zugute kommt, wenn sie nachahmen. Denn die Nachahmung ist nur scheinbar. Mit einem starken Drange, sich von allem Fremden beeinflussen zu lassen, verbinden die Franzosen in der Regel einen fast vollständigen Mangel an Fähigkeit, das Fremde objectiv aufzufassen, und deshalb bleibt das nationale Gepräge überall unter einem leichten Anstriche des fremden Firnisses erkennbar. Ich nannte beispielsweise Victor Hugo als Nachahmer Shakespeare's, Alfred de Musset als Nachahmer von Byron. »Uebrigens«, fügte ich hinzu, »will ich herzlich gern die Vorzüge, welche die englische Poesie vor der französischen voraus hat, eingestehen, wenn Sie mir zum Ersatze die Ueberlegenheit der französischen Schauspielkunst über die englische einräumen wollen.« Ich hatte eben am Abend vorher der Aufführung von Molière's »Le malade imaginaire« unter dem Titel »The robust invalid« im Adelphi-Theater beigewohnt und, da ich das Stück sehr oft in Paris gesehen, reichliche Gelegenheit gehabt, die englische Spielweise mit der französischen zu vergleichen. In London wurde das Stück grob, karikirt, ohne den geringsten Versuch einer Charakterauffassung gespielt. Der Kranke und das Dienstmädchen erlaubten sich allerlei plumpe Uebertreibungen, brüllten, um den Sinn recht deutlich zu machen, auf die roheste Weise, ja hatten sogar die Frechheit, zwei der Acte mit einem Cancan abzuschliessen, und das während gleichzeitig aus englischer Prüderie die Scenen mit der Klystierspritze und alle Ausdrücke, welche die Decenz verletzen könnten, ausgelassen waren. »Ja«, sagte Mill, »das Theater ist bei uns in Verfall gerathen. Was die Komödie betrifft, liegt es vielleicht daran, dass das englische Wesen so formlos und untheatralisch, unsere Gesten so steif und so selten sind, während die Franzosen auch in ihrem täglichen Leben sich immer als Schauspieler benehmen; aber in tragischer Richtung haben wir doch grosse Namen aufzuweisen. Wer weiss, ob nicht in unseren Tagen die Lectüre überhaupt den Theaterbesuch verdrängen und ersetzen wird.«

Er führte das Gespräch vom Theater auf die englischen Schriftsteller und besprach mit Wärme zwei von ihm so verschiedene Männer wie Dickens und Carlyle. Wie sehr er auch selbst Verstandesmensch war, er wusste so gut wie nur jemand den Dichter mit dem grossen, warmen Herzen und den Historiker mit der springenden, visionären Einbildungskraft zu schätzen. Dickens war damals gerade gestorben; ich hatte in jenen Tagen eben in der Westminster-Abtei an dem Orte gestanden, wo seine Leiche hinuntergesenkt ward. Dieses eine Grab war mit lebenden Rosen bedeckt, während ringsum schwere, kalte Steindenkmäler die anderen Gräber deckten; es wirkte wie ein Symbol. Ich theilte Mill meinen Eindruck mit, und er sprach mit Bedauern davon, dass er Dickens nicht persönlich gekannt und nur durch Andere von seiner Liebenswürdigkeit im privaten Verkehre etwas erfahren hatte.

Die letzten Worte, die wir wechselten, galten dem unmittelbar bevorstehenden deutsch-französischen Kriege, dem Mill mit bösen Vorahnungen entgegensah. Er betrachtete ihn als ein Unglück für die ganze Menschheit, für die ganze europäische Cultur.

Ich sah ihm lange in seine tiefen, blauen Augen hinein, bevor ich mich überwinden konnte, ihm zum letzten Male Adieu zu sagen. Ich wollte versuchen, mir diesen so ernsten und strengen, aber zugleich so kühnen Blick einzuprägen, der noch so frisch wie der eines Jünglings war. Ich wollte mir es gern unmöglich machen, die besondere Grösse, die über der Gestalt des Mannes lag und seine Worte prägte, zu vergessen. Es hat Bedeutung für die Auffassung des Charakters eines Schriftstellers, in welchem Verhältnisse der Eindruck seines menschlichen Wesens zu dem seines Schriftstellerwesens steht. Ich habe keinen grossen Mann gekannt, bei welchem diese beiden Eindrücke sich so vollständig deckten, wie bei Mill. Ich habe keine Eigenschaft bei ihm als Schriftsteller gefunden, die man nicht im persönlichen Verkehre mit ihm wiederfände, und ich habe seine verschiedenen Eigenschaften in beiden Sphären nach derselben Ordnung und auf dieselbe Weise einander über- und untergeordnet gefunden. Es gibt Schriftsteller, bei welchen eine bestimmte Eigenschaft, z. B. die Philantropie oder der Witz oder die Würde, eine grössere Rolle spielt, wenn sie schreiben als sonst in ihrem Leben, andere, bei welchen Eigenschaften, wie Humor oder freie Menschlichkeit, die sie im Privatleben liebenswürdig machen, in den Schriften nicht zu spüren sind. Die meisten stehen weit hinter ihren Büchern zurück. Bei Stuart Mill fand sich keine Ungleichheit solcher Art, denn er war die fleischgewordene Wahrhaftigkeit selbst. Es kommt in Mills »Autobiography« eine Situation vor, die den Höhegrad dieser Wahrhaftigkeit messen lässt. Ich denke hier an seine Lage, als er, der allem demagogischen Wesen so fernstehende Socialreformator, in einer aus lauter Arbeitern bestehenden Wählerversammlung als Parlamentscandidat gefragt wurde, ob er die Worte geschrieben und veröffentlicht habe, dass die arbeitenden Classen in England »in der Regel noch lügenhaft seien«. Er antwortete sogleich und kurz »I did«. »Kaum«, fügt er hinzu, »hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ein gewaltiger Beifall durch die Versammlung rauschte. Die Arbeiter waren offenbar so gewohnt, von denen, die sich um ihre Stimmen bewarben, zweideutige und ausweichende Antworten zu hören, dass, wenn sie statt dessen ein directes Geständniss von etwas ihnen Unangenehmem erhielten, sie, weit entfernt, beleidigt zu werden, den Schluss zogen, dass sie diesem Manne vertrauen könnten.«

Mill gibt die bescheidenste Deutung des Vorganges. Aber der Leser ahnt, welche Glorie der Wahrhaftigkeit in jenem Augenblicke den umstrahlen musste, dem Männer, die von den Schmeicheleien der Demagogen verwöhnt waren, eine Beschuldigung durchgehender Lügenhaftigkeit mit solchem Beifallssturme lohnten. Auch im täglichen Leben trug Mill jenen unsichtbaren Nimbus der hohen Wahrheitsliebe. Von seinem ganzen Wesen strahlte die Reinheit des Charakters aus. Man muss auf die erhabensten philosophischen Charaktere des Alterthums, auf Marcus Aurelius und seinesgleichen, wenn es sonst seinesgleichen gibt, zurückdenken, um eine Parallele zu Mill zu finden. Er war gleich wahr und gleich gross, ob er in einem weltberühmten Werke an einen über den Erdball verbreiteten Leserkreis reiflich überlegte Gedanken richtete, oder ob er in seinem Heim, ohne jemals seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen, an einen fremden Besucher eine zufällige Aeusserung hinwarf.


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