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* * *

 

Ich hatte kaum mehr als sechs Schritte zurückzulegen, aber es handelte sich, wie ich erst jetzt merkte, um ein Hindernisrennen, denn eine Unmasse von Körben voll Kohlköpfen und Zwiebeln trennten mich von meinem Ziel, so daß der Schiffer Zeit fand, dem Jungen zuzurufen:

»Es sind Flußpiraten – denen wollen wir es mal zeigen, Tonio!«

Ich hatte es also mit einer Kämpfernatur zu tun, der eine kleine Keilerei Spaß machte – das würde die Sache zwar schwieriger gestalten, hatte aber andererseits den Vorteil, daß der Mann nicht um Hilfe rief, und das war wichtig, denn am Ufer hätte man seine Bullenstimme sicher gehört.

Mein Gegner war aufgesprungen und hatte einen Revolver gezogen, ich holte mit meinem Ruder aus, doch er fing es mit dem Arm auf, so daß es mir entglitt. Mir war klar, daß es mein Ende bedeuten würde, wenn der Mann zum Schuß kam, und darum sprang ich über die Lattenkiste, die noch zwischen ihm und mir stand, und trieb meine Faust vorwärts mit einer Wucht, wie ich sie noch nie gegen ein menschliches Wesen angewendet hatte. Alle Kraft, die ich besaß, legte ich in diesen einen Schlag, meine ganze Zuneigung zu dem Kleinen, meine Bewunderung für die schöne Carmelita, meine Angst vor dem Señor und meine Abscheu vor dem ›Tiger‹.

Der Schlag saß denn auch fabelhaft – zum größten Teil war das natürlich Glücksache, aber am guten Willen hab' ich es wahrhaftig auch nicht fehlen lassen.

Ich dachte, der große Kerl würde umfallen, doch er ließ nur den Arm mit der Waffe sinken, stand aber im übrigen so fest, als wäre er angenagelt und von hinten durch einen Pfahl gestützt.

Da niemand am Steuer war, hatte sich der Kahn in den Wind gedreht und trieb nun mit flatterndem Segel in der Strömung – irgend etwas mußte also geschehen, ich mußte also, so leid es mir tat, noch einmal zuschlagen. Da mich der rechte Arm schmerzte – ich hatte das Gefühl, als sei mir das Schultergelenk ausgekugelt – nahm ich den linken, holte aus, zielte, traf, und diesmal sank der Mexikaner zusammen wie eine Schießbudenfigur. Der erste Treffer hatte ihn offenbar betäubt, ihn aber trotzdem nicht zu Boden gehen lassen – ähnliches habe ich wiederholt schon im Boxring beobachtet.

Jetzt lag er jedenfalls ausgestreckt auf dem Rücken, starrte mich wie spöttisch grinsend an, aber die Augen zeigten, daß er besinnungslos war. Ich nahm rasch den Revolver, der ihm entfallen war, auf und machte kehrt, um zu sehen, wie es auf dem Vorderdeck aussah.

An den Mast gelehnt stand die Carmelita, den Griff eines zerbrochenen Ruders in der Hand. Denny mühte sich ab, wieder auf die Füße zu kommen, eine dritte Gestalt, also der Schifferjunge, lag zusammengekrümmt auf den Planken, der verlassene Nachen aber trieb schon weit von uns in der Strömung flußabwärts.

Als ich hinzueilte, sah ich am Kopf des Jungen Blut, die Carmelita war blaß und schien jede Sekunde in Ohnmacht fallen zu wollen.

»Mein Gott, hab' ich ihn totgeschlagen?« ächzte sie. »Liebster, bester José, sagen Sie, hab' ich ihn getötet?«

Mit ›José‹ meinte sie natürlich mich – ›Joe‹ war ihr ein unbekannter Begriff.

Nein, getötet hatte sie den Jungen nicht, aber gerade im richtigen Augenblick entscheidend eingegriffen, denn, wie es ja eigentlich nicht anders zu erwarten gewesen war, unser Kleiner hatte glänzend versagt. Er war allerdings so brav und tapfer wie nur irgendeiner drauflos gestürmt, vorwärts für die Freiheit und die Dame seines Herzens – aber all seine Begeisterung hatte ihm nichts genützt. Sein erster Schlag war fehlgegangen, und schon wurde er von einem Paar Armen gepackt, die ihn drückten, als ob er ein junges Mädchen wäre. Eine halbe Minute später lag er auf dem Rücken und sah über sich die Klinge eines Messers blitzen, das der wilde mexikanische Bengel gezückt hatte und mit dem er dem vermeintlichen Flußpiraten bestimmt die Kehle durchgeschnitten hätte, wenn ihm nicht die Carmelita das abgebrochene Ruder auf den Schädel geschmettert hätte. Sie hatte zwar meine Anordnung nicht genau ausgeführt, sondern war aus Angst um den Geliebten früher übergeklettert, als sie eigentlich sollte, aber das verzieh ich ihr in Anbetracht ihrer Heldentat nur zu gern.

Jedenfalls waren wir nun unumschränkte Herrscher des Gemüsekahns. Denny, der etwas vom Segeln verstand, ging ans Steuer, brachte das Fahrzeug wieder richtig an den Wind, der inzwischen noch aufgefrischt war, und so ging es in flottem Tempo stromaufwärts.

Die Carmelita bemühte sich inzwischen um ihr Opfer, dem nichts weiter fehlte, als ein leichter Verband um den Kopf, denn er war aus dem gleichen widerstandsfähigen Holz geschnitzt wie sein Vater, der sich jetzt aufsetzte, sich das Kinn rieb und uns verdutzt anblinzelte.

Ich hielt ihm den eigenen Revolver unter die Nase und erklärte ihm:

»Wir sind auf der Flucht vor dem Señor, und darum werden wir Ihnen die Hände binden und, wenn es nötig ist, Sie auch knebeln, damit Sie uns nicht schaden können. Im übrigen aber wollen wir Ihnen und Ihrem Sohn kein Leids antun und uns auch an der Ladung Ihres Schiffes nicht vergreifen. Verhalten Sie sich still, dann werden wir Ihnen, wenn wir uns trennen, eine Entschädigung für Ihren Zeitverlust und ein so anständiges Schmerzensgeld zahlen, daß Sie wünschen werden, allnächtlich einen Schlag ins Gesicht zu bekommen.«

Während dieser kleinen Ansprache hatte er seine Augen immer weiter und weiter aufgerissen, und als ich fertig war, sagte er:

»Sie sind also Herr Warder!«

Das war natürlich sehr unangenehm, denn da er meinen Namen kannte, wußte er auch bestimmt, daß er zweimal zehntausend Pesos verdienen konnte, wenn er uns verriet. Er schien mein Schweigen für eine Bestätigung seiner Annahme zu halten, denn er fuhr fort:

»Seltsam ist dabei nur, daß ich noch am Leben bin – aber ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie die Faust genommen haben und keine Schußwaffe, wenngleich eine Kugel sicher auch nicht schmerzhafter gewesen wäre.«

Wir fesselten den Schiffer und seinen Sohn, obwohl sie hoch und heilig schworen, nichts gegen uns unternehmen und keinen Laut von sich geben zu wollen, der uns verraten könne. Ich war überzeugt, daß es ihnen damit bitter ernst sei, denn sie befanden sich ja vollkommen in unserer Gewalt.

Plötzlich riß der Sohn, der bis dahin benommen geschwiegen hatte, Mund und Nase auf, starrte wie entgeistert unsere Begleiterin an und schrie auf:

»Vater, das ist ja die Carmelita, die Señorita Alvarado!«

Daß die beiden sie kannten, war kein Wunder – jeder Mensch in San Clemente und Umgebung hatte sie schon auf der abendlichen Promenade der ›Plaza Municipal‹ bewundert.

Der Schiffer schüttelte bedenklich den Kopf – ihm ging es sichtlich genau so nahe, wie seinem Sohn, daß die berühmte Schönheit, der Stolz ihrer Stadt, gerade von zwei Ausländern entführt wurde.

Denny, der inzwischen seinen Platz am Steuer wieder eingenommen hatte, rief mich zu sich und riet mir dringend, unseren Gefangenen auf alle Fälle einen Knebel in den Mund zu schieben, man könne doch nicht wissen ...

Ich lehnte lachend ab – die beiden seien grundanständige Kerle, denen ich diese Qual unbedingt ersparen wolle. Das war, wie sich bald zeigen sollte, ein großer Fehler und hat mich veranlaßt, in Zukunft erheblich weniger vertrauensselig zu sein.

San Clemente lag jetzt hinter uns, der Fluß war hier schon bedeutend breiter, da entdeckte ich auf dem rechten Ufer einen kleinen Heckraddampfer, der unter Dampf an einem Landungssteg lag – mehr als ein Dutzend Bewaffneter waren an Bord, denn ich sah deren Gewehrläufe im Mondschein aufblitzen. Man mußte uns bemerkt haben, denn plötzlich machte ein Boot los und kam mit raschen Schlägen auf uns zu – vier Mann ruderten, ein fünfter stand aufrecht vorn am Bug.

Ich wußte natürlich, daß man uns anrufen, vielleicht sogar das Schiff durchsuchen würde, aber wir hatten doch wenigstens wieder Waffen, denn in der kleinen Kajüte, in der ich die Carmelita untergebracht, hatte ich ein gutes Repetiergewehr und einen zweiten Revolver gefunden, der zwar unbedingt einmal frisch geölt hätte werden müssen, aber auf kurze Entfernungen sicher noch ganz gut schießen würde. Diesen gab ich dem Kleinen, der ja doch nicht viel treffen würde, während ich die beiden besseren Schußwaffen für mich behielt. Dennys glitzernde Goldstickereien hatte ich vorsichtshalber unter einem alten Wettermantel, sein verräterisches Blondhaar unter einer Kappe verborgen.

Nachdem ich den Sohn unauffällig zwischen den Körben versteckt und ihm gedroht hatte, ihn sofort zu erschießen, wenn er einen Laut von sich gäbe, ging ich zu seinem Vater zurück und fragte ihn, ob er es übernehmen wolle, den Leuten, die da ankämen, über das Woher und Wohin Auskunft zu geben, ohne uns zu verraten. Er sagte das zu, obwohl er zehn Jahre beten und den Heiligen geweihte Kerzen stiften müsse, um sich die Lügen, zu denen ich ihn zwänge, verzeihen zu lassen. Ich schenkte ihm fünfzig Dollar als Abschlagzahlung auf diese Kerzen, und er nickte mir befriedigt zu.

Inzwischen war das Boot so nahe, daß ich in dem vorn stehenden Mann den Señor erkannte. Ich konnte mir nicht helfen, in diesem Augenblick bewunderte ich ihn – nicht nur wegen der sorglosen Unbekümmertheit, die seine Haltung und sein ganzes Wesen zeigten, sondern wegen der klugen Berechnung, die sein Vorgehen bewies.

Die übrigen Ausgänge hatte er seinen Leuten zur Überwachung überlassen, da aber, wo wir wirklich den Durchbruch versuchten, war er selbst!

*

Der Schiffer war übrigens auch ein ganzer Kerl, denn obwohl er wußte, daß ich, dicht an die Bordwand gepreßt, mit dem Finger am Abzug des Gewehrs dalag und bei der geringsten zweideutigen Bewegung oder dem ersten verräterischen Wort unbedenklich losdrücken würde, stand er lässig an den Mast gelehnt da und gab dem Señor unbefangen Auskunft.

»Wer sind Sie?« erkundigte sich dieser.

»Juan Niño heiß' ich.«

»Den kenn' ich«, sagte einer der Ruderer. »Fragen Sie ihn doch mal, wieso er hier ist, denn gewöhnlich bringt er sein Gemüse in San Clemente selbst auf den Markt.«

»Haben Sie das gehört?« rief der Señor.

»Gewiß – ich fahre nach Los Gatos«, erwiderte der Schiffer und bewies, daß er von Natur ein glänzender Lügner war, dadurch, daß er hinzusetzte: »Ich habe nämlich genug von den Preisen in San Clemente – das ist ja eine Stadt, in der die Reichen nur immer noch reicher, die Armen aber immer noch ärmer werden.«

»Wer ist da am Steuer?«

»Mein Sohn.«

»Du kennst also den Mann?« wandte sich der Señor an den von seinen Leuten, der vorher gesprochen hatte.

»Jawohl, sehr genau – es gibt keinen anständigeren Menschen auf dem ganzen Fluß als Juan Niño.«

»Für die schöne Auskunft erlaß' ich dir zehn Pesos von dem, was du mir noch schuldig bist«, rief der Schiffer lachend.

Die ganze Bootsmannschaft fing an zu kichern, nur das Gesicht des Señors blieb steinern, wie ich feststellen konnte, da ich durch einen Spalt in der Bordwand nach ihm spähte.

»Jedenfalls werden wir uns mal überzeugen, ob er wirklich so anständig ist«, sagte er, »dreht einmal bei! ... Wie steht's, Niño, haben Sie sonst noch jemanden an Bord?«

»Keinen Menschen«, erwiderte der Schiffer, »aber bitte, vergewissern Sie sich nur selbst, es wird mir eine Ehre sein, den Señor auf meinem bescheidenen Kahn zu begrüßen.«

Das Boot lag fast dicht an dem Segler, ich richtete den Lauf des Gewehres auf den Señor, um sofort zu schießen, falls er herüberklettern sollte, doch da sagte er nach einem flüchtigen Blick:

»Zwischen den Körben hier sind sie jedenfalls nicht – kehrt und zurück zum Ufer!«

Das Boot stieß ab, der Señor fuhr davon, und dabei stand sein Bruder, den er suchte, aufrecht am Steuer! Zweifellos war das der größte Fehler, den der ›große‹ Patrick je in seinem Leben begangen hat.

Ich atmete auf, die Spannung meiner Muskeln und Nerven ließ nach, ich legte das Gewehr beiseite – die frische Brise trieb uns rasch stromaufwärts.

Das Ruderboot hatte gerade den Dampfer wieder erreicht, da fing der junge Niño aus Leibeskräften zu brüllen an.

»Hilfe, Señor!« schrie er. »Die Carmelita und die zwei Ausländer sind hier an Bord! Hilfe, Señor – zu Hilfe!«

Ich war so starr, daß ich mich buchstäblich nicht zu rühren vermochte, der Schiffer aber sagte mit einer geradezu unglaublichen Gelassenheit:

»Sie sehen, mein Sohn opfert mich, um ein reicher Mann zu werden, denn daß ich jetzt sterben muß, weiß er. Ich verzeihe es ihm, also lassen Sie ihn, bitte, leben, denn zu ändern ist ja nun doch nichts.«

Ich hatte im Augenblick auch wahrhaftig anderes zu tun, als mich an diesem Vatermörder zu rächen – ich war aufgesprungen, brachte rasch das Segel in die entsprechende Stellung und rief dem Kleinen zu, das Schiff dicht am Ufer zu halten und so lange als irgend möglich stromaufwärts zu fahren. Lange würden wir das natürlich nicht können, denn der Señor und die Rudermannschaft waren inzwischen an Bord des kleinen Heckraddampfers gegangen, und da dieser unter Dampf lag, nahm er die Verfolgung sofort auf.

Mit unheimlicher Geschwindigkeit brauste er heran, ich gab dem Kleinen den Befehl, sofort ans Ufer zu gehen, schnitt dem Schiffer mit dessen Messer die Fesseln durch, reichte ihm die Hand und sagte:

»Kommen Sie mit uns, wenn Sie wollen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich will lieber in der Heimat sterben als in der Fremde leben«, sagte er. »Leben Sie wohl, Herr Warder – ein Mann, der solche Fäuste hat wie Sie, wird schon durchkommen.«

Dieser einfache Schiffer war, meiner Ansicht nach, einer der wackersten Männer, denen ich je begegnet bin.

Die Carmelita war natürlich längst aus der Kajüte auf Deck gekommen und wußte, worum es ging – der Kiel des Bootes knirschte in den Sand, wir drei sprangen über die Bordwand und eilten in das dichte Weidengestrüpp. Im Laufen sah ich nach der Uhr: es war erst ein Viertel nach eins – aber was hatte sich in dieser Nacht nicht alles ereignet!

Unglücklicherweise gerieten wir bald in sumpfiges Gelände, trockene Stellen wechselten mit Wassertümpeln ab, aus denen Gase aufstiegen, wenn wir durch sie hindurcheilten. Das schlimmste war, daß in der schlechten Beleuchtung das Wasser oft wie festes Land, dieses aber wie durchsichtiges Wasser aussah. Nach unendlichen Mühen erreichten wir schließlich freies Feld, jagten durch einen Wald und kamen in eine bewohnte Gegend, denn hier waren die Äcker eingezäunt.

Ich war ein wenig vorausgelaufen, um den besten Weg auszusuchen, und als ich mich jetzt umwandte, sah ich, wie die beiden Seite an Seite über einen Stacheldrahtzaun kletterten. Dieser Anblick hatte etwas unendlich Rührendes für mich – wie zwei hilflose Kinder kamen sie mir vor.

Dabei hielt sich die Carmelita ganz hervorragend, sie lief so leicht und beschwingt, als hätte sie ihre Freizeit stets beim Training auf der Aschenbahn, aber nicht bei dem blöden Herumstolzieren auf der ›Plaza Municipal‹ verbracht. Jedesmal, wenn Denny zu ihr hinüberschaute, lächelte sie ihm wie aufmunternd zu – sie war schon ein ganz prachtvolles Mädel!

Lange durften wir natürlich nicht so offen querfeldein rennen, denn zweifellos wimmelte es hier von Anhängern des Señors, wir mußten uns unbedingt Pferde verschaffen – aber wie und wo?

An einer hohen Dornenhecke versagte die Carmelita jetzt doch, sie kam einfach nicht über sie hinweg, und ich mußte zurück, um ihr hinüberzuhelfen. Dabei hörte ich in einiger Entfernung Stimmen – die uns verfolgende Schiffsmannschaft mußte schon bedenklich nahe sein.

Kurz hinter der Hecke fanden wir eine staubige Straße – abgesehen davon, daß wir auf ihr schneller vorwärtskommen würden, führte sie auch nach Norden, wohin wir ja wollten.

Wie neubelebt jagten wir durch den samtweichen Staub dahin, und wir hatten gerade eine Wegbiegung hinter uns, da hörte ich näherkommenden Hufschlag und bald darauf leisen Gesang. Plötzlich erhob sich in der Ferne wildes Geschrei, offenbar hatten unsere Verfolger den Wagen, der da heranrollte, gesehen und riefen dessen Lenker an – verstehen konnte man die Worte nicht, so daß der einzige Erfolg des wüsten Gebrülles war, daß der Kutscher sein Gespann anhielt, gerade als es um die Ecke bog. Dadurch erleichterte er mir meine Aufgabe ungemein, denn ich brauchte ihm nur entgegenzuspringen und ihm meinen Revolver unter die Nase zu halten. Es war ein großer, dicker Kerl, der trotz seinem mächtigen Wanst mit der Behendigkeit einer erschreckten Katze vom Bock sprang, über die Dornenhecke setzte und spurlos verschwand.

Wir kletterten auf den leichten Wagen, und schon ließ ich die beiden schlanken Gäule in einem scharfen Trab lossausen. Bald fiel mir aber ein, daß im Augenblick diese große Eile nicht notwendig sei, denn vor der uns nachjagenden Schiffsmannschaft hatten wir nun einen genügenden Vorsprung, um die Kräfte der Tiere schonen zu können. Ich mäßigte also das Tempo, reichte dem Kleinen, der mit der Carmelita auf dem Rücksitz saß, das Gewehr und ermahnte ihn, scharf Ausschau zu halten.

Als ich mich nach einer Weile davon überzeugen wollte, ob er meinen Auftrag auch gewissenhaft ausführe, und mich zu diesem Zweck umwandte, hielt er zwar nicht Ausschau, aber dafür sein Mädel im Arm, und ich wurde unfreiwillig Zeuge ihres ersten Kusses. Nun hatten sie ja eigentlich nach allem, was sie bisher durchgemacht, eine kleine Erholung verdient, ich schnauzte ihn aber doch an, diesen Unfug jetzt gefälligst sein zu lassen, denn vor dem ›Tiger‹ seien wir erst sicher, wenn der Rio Grande hinter uns läge.

Der Name des Indianers genügte, sie beide sofort zur Vernunft zu bringen – Hand in Hand sitzend, hielten sie nun wirklich nach allen Seiten Ausschau.

*

Je höher wir in die Berge kamen, um so schlechter wurde die Straße – daß die Räder unseres Wagens das dauernde Anprallen gegen vorstehende Felsstücke so lange aushielten und nicht längst zerbrochen waren, blieb mir ein Rätsel. Wenn der Weg gar zu holprig oder die Steigung gar zu steil wurde, mußten wir Schritt fahren, die Stellen, an denen wir leicht traben konnten, wurden immer seltener – mir war bald klar, daß wir auf diese Weise den Reitern des Señors, die sicher schon von San Clemente aus zur Jagd auf uns aufgebrochen waren, nun und nimmer entfliehen würden.

Als wir den ersten Grat des Gebirges erreichten, drehte ich mich um und sah zum letztenmal auf die unter uns liegende Stadt zurück. Der Mond stand schon sehr tief, aber in seinem Schein glitzerten die weißen Mauern und der weite Bogen des Flusses auf, die meisten Lichter waren erloschen, nur auf der ›Plaza Municipal‹ brannten noch die zwischen den Bäumen hängenden Kugellampen.

Plötzlich gewahrte ich auf einem der unteren Hügel ein rotflammendes Feuerzeichen, und als ich mich wieder umwandte, loderte ein ebensolches vor uns auf dem Gipfel des höchsten Berges auf.

Das bedeutete für uns voraussichtlich den Anfang vom Ende, denn offenbar hatte der Señor nicht nur die Leute des ›Tigers‹ alarmiert, sondern diese Signale zeigten ihnen auch den Weg, den wir eingeschlagen hatten. Geradeaus, wie es meine Absicht gewesen, durften wir also auf keinen Fall weiterfahren, und so bog ich nach links ab, wenngleich hier kein eigentlicher Weg war, sondern nur eine Art Schneise, auf der früher wohl einmal die hoch oben im Gebirge gefällten Baumstämme zu Tal gebracht worden waren.

Obwohl das Quietschen der Räder, das Schnauben der ermüdeten Gäule und das Knarren ihrer Geschirre uns schon auf eine weite Strecke hin verraten haben würden, unterhielten wir uns ganz leise und gedämpft. Das Mädel meinte nämlich, wir sollten diesen Jammerkarren aufgeben und uns lieber auf unsere Füße verlassen; ich widersprach diesem Vorschlag, und wenn ich sie auch nicht ganz zu meiner Meinung bekehren konnte, gelang es mir doch, den beiden etwas Mut zuzureden und ihre schlimmen Befürchtungen, die ich innerlich natürlich durchaus teilte, vorläufig zu zerstreuen.

Wir erreichten denn, wenn auch sehr langsam, so doch ohne jeden Zwischenfall die nächste Anhöhe, und von hier aus neigte sich ein bedeutend breiterer und auch anscheinend besserer Weg abwärts, um dann wieder aufwärts auf den Kamm des Gebirges hinaufzuführen. Die Föhren auf dieser Seite des Berges, die früher offenbar in dichten Reihen gestanden hatten, waren stark ausgeholzt worden, so daß die einzelnen Bäume bedeutend dicker und breitästiger geworden waren, da sie mehr Raum hatten, sich auszudehnen. Dadurch aber lag auf dem ganzen Hang ein dauernder Wechsel von mondbeschienenen hellen und im Schatten liegenden dunklen Stellen, was für Flüchtlinge wie uns das denkbar Ungünstigste ist, weil man unter diesen Umständen einen Menschen oder ein Tier nur dann erkennen kann, wenn es sich sehr schnell durch das Gesichtsfeld bewegt.

Jedenfalls gefiel mir das nicht, und gerade das so überaus friedliche Bild, das sich uns bot, machte mich stutzig, darum hielt ich an und nahm, ohne vom Bock abzusteigen, einen der großen Steine, die seitlich vom Weg zu hohen Haufen aufgeschichtet waren, und schleuderte ihn den Abhang hinab. Immer schneller und schneller sauste er hinunter, schlug krachend gegen Bäume, rollte weiter und machte auf einmal den ganzen Abhang lebendig. Männer zu Fuß und zu Roß brachen aus ihren Verstecken hervor, ein toller Lärm ging los, und schon fielen die ersten Schüsse.

Ich segnete meine weise Vorsicht und tat das einzige, was ich tun konnte – ich drehte nach links ab und jagte durch den Wald davon, obwohl es höchstwahrscheinlich war, daß wir uns dabei das Genick brechen würden.

Dies taten wir allerdings nicht, aber nachdem unser Wagen erst gegen einen umgestürzten Baum und dann gegen einen großen Felsblock geprallt war, brach er zusammen – wie auf Verabredung knickten alle vier Räder mit einemmal zusammen. Selbstverständlich flog Denny Hals über Kopf heraus, aber ebenso selbstverständlich kam er ohne die geringste Verletzung davon.

Da standen wir nun in einer Lichtung, voll von großen Blöcken und umgestürzten Bäumen, und von allen Seiten, von Norden, Süden und Osten brausten die Verfolger, brüllend wie wildgewordene Teufel, heran.

Eins war natürlich sonnenklar: wir mußten uns, bildlich gesprochen, mit dem Rücken an die Wand stellen, denn weiter konnten wir auf keinen Fall.

»Wir werden uns da drin häuslich niederlassen«, sagte ich zu dem Mädel und dem Kleinen und zeigte auf ein von der Natur oder von Menschen gebildetes Steinnest.

Die Rundung, die sich am Fuß der Bergwand hinzog, war so groß, daß wir sogar die Pferde mit hineinnehmen konnten, und die übereinandergetürmten Blöcke waren so hoch, daß wir nur die wenigen Ritzen zu verstopfen brauchten, um eine fast kugelsichere Brustwehr zu haben.

Merkwürdigerweise begriff das Denny, ohne daß ich es ihm erklären mußte, und ging sofort mit Feuereifer ans Werk, wobei ihm die Carmelita wacker half. Ich machte inzwischen das Gewehr schußfertig, denn ich wollte unser Leben natürlich so teuer wie möglich verkaufen.

Schon sah ich den ersten Reiter, aus dem Dunkeln ins Helle und wieder ins Dunkle gleitend, herankommen, ich legte an, doch als er jetzt ins Helle trat – konnte ich einfach nicht schießen.

Der Traum, der mich so oft geängstigt, war Wirklichkeit geworden, hier hatte ich den Schrecken vom Rio Grande, den ›Tiger‹, vor dem Lauf, aber ich unglaublicher Schafskopf starrte ihn an und zitterte, wie es vielleicht ein Neuling tut, der seinen ersten Bock umlegen will.

Die schwarzen Haare fielen dem Indianer auf die breiten Schultern herab, der bronzefarbene, sehnige Oberkörper war nackt, und selbst bei dem ungewissen Mondschein sah ich die große Narbe, die sein Gesicht verzerrte und entstellte.

Ich zitterte tatsächlich so stark, daß das Riesenziel, das er mir bot, vor meinen Augen hin und her schwankte, und als ich endlich meine lächerlichen Nerven wieder in der Gewalt hatte, war er, wild schreiend, verschwunden.

Jetzt brausten andere Reiter heran, und diesmal hätte ich sicher einige von ihnen getroffen, wenn der Kleine nicht angestürzt gekommen wäre, mich am Arm gepackt und ganz verstört gerufen hätte:

»Sie ist tot!«

Dabei zeigte er auf die Carmelita, die ausgestreckt dalag.

»Unsinn – sie ist offenbar beim Anblick des ›Tigers‹ ohnmächtig geworden«, erwiderte ich, »sie wird gleich wieder zu sich kommen.

Denny lief zurück; sie hatte sich schon wieder aufgerichtet – was sie ihm sagte, konnte ich leider nicht verstehen.

Jetzt erst wurde mir klar, warum mich der Anblick des ›Tigers‹ so grenzenlos aus der Fassung gebracht hatte: das Pferd, das der Indianer ritt, war ganz bestimmt mein Larry gewesen! Ich will nicht übertreiben, aber gut ein Drittel meiner Verstörtheit war darauf zurückzuführen, daß die vermeintliche Ähnlichkeit der beiden Tiere mich verblüfft hatte, denn der Gedanke, daß ich Larry selber vor mir habe, kam mir im ersten Augenblick gar nicht. Ein Irrtum war jedoch ausgeschlossen, und da mein guter, vierbeiniger Kamerad sich in den Händen des Señors befand, war es auch kein Wunder, daß er in den Besitz von dessen Herrn und Meister übergegangen war.

Während ich mir dies überlegte, bekamen wir Feuer, und zwar von oben – zweifellos saßen die Schützen in den Kronen der Bäume jenseits der Lichtung. Ich wollte es erwidern, doch da hörte es ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, wieder auf – warum, konnte ich mir denken. Es lag dem Señor, der sich natürlich auch unter unseren Verfolgern befand, daran, die Carmelita wiederzubekommen, und darum ließ er eine so wahllose Beschießung unserer Stellung nicht zu – unter Umständen hatte sogar zwischen ihm und dem Indianer über diesen Punkt eine erregte Auseinandersetzung stattgefunden.

Daß meine Annahme stimmte, zeigte sich sehr bald, denn kurz darauf rief jemand von dem Waldrand herüber:

»Herr Warder! Herr Warder!«

Ich antwortete, der Rufer nannte sich – es war mein Freund Pedro Onate – und er bat um einen Waffenstillstand, um mit uns verhandeln zu können. Ich sicherte ihm zu, nicht auf ihn zu schießen, worauf der Schurke auf die Lichtung hinausritt und uns mit seiner behandschuhten Rechten zuwinkte.

Sein Vorschlag lautete, wie ich es erwartet hatte: wenn wir die Carmelita auslieferten, sei der ›Tiger‹ bereit, uns ungekränkt ziehen zu lassen.

»Nehmen Sie dies Angebot an, Herr Warder«, fügte Onate hinzu, »ich meine es gut mit Ihnen, denn ich habe nicht vergessen, was ich Ihnen verdanke. Der ›Tiger‹ ist in einem Zustand der Wut, den ich selbst an ihm noch nicht gesehen habe, und wenn Sie ablehnen, wird er keinen schonen – auch nicht die Frau, die sich bei Ihnen befindet.«

Die Carmelita öffnete die Lippen – offenbar wollte sie sagen, daß sie bereit sei, zurückzukehren, doch Denny kam ihr zuvor.

»Sagen Sie Ihrem ›Tiger‹, daß wir auf seinen Handel nicht eingehen, sondern lieber zusammen sterben werden!« rief er.

Wenn ich jetzt daran zurückdenke, will es mir scheinen, als ob der gute Junge da den Mund ein bißchen sehr voll genommen hat und sich in seiner Verliebtheit gar nicht klargeworden ist, welche schwere Verantwortung er mit diesen Worten, die über drei Menschenleben verfügten, auf sich nahm – damals aber empfand ich es als selbstverständlich und durchaus in der Ordnung, daß er so sprach, was beweist, wie unendlich nahe wir uns durch die ständige gemeinsame Lebensgefahr gekommen waren.

Sein Mädel starrte ihn verzückt an, als hätte der Himmel selbst durch seinen Mund gesprochen – was vielleicht wirklich sogar der Fall gewesen ist.

Onate zögerte noch, wandte dann langsam das Pferd, als ob er uns Gelegenheit geben wolle, uns anders zu besinnen, doch dann ritt er davon, wir drei aber sahen uns schweigend an – im fahlen Aufdämmern des neuen Tages kamen wir uns gegenseitig wohl schon wie Leichen vor ...

»Ich werde glücklich sterben im Bewußtsein, daß du mich liebst«, hörte ich da den Kleinen zur Carmelita sagen.

»Wenn du stirbst, sterbe ich mit dir«, erwiderte sie, »aber noch ist es nicht so weit, noch kann vieles geschehen.«

»Nichts kann uns retten, belüge dich nicht selbst, du machst es uns nur schwerer dadurch.«

»Es geschehen auch heute noch Zeichen und Wunder«, sagte das junge Mädchen seltsam ruhig, »vielleicht gibt das Geschick uns sogar den ›Tiger‹ selbst noch in die Hand.«

Ich wollte hierauf etwas sehr Ernüchterndes entgegnen, doch da schoß mir plötzlich ein Gedanke durchs Gehirn.

»Donnerwetter, Mädel«, sagte ich halblaut, »die Worte, hat dir ein Gott eingegeben.«

*

Es ist wahr und wahrhaftig und keine Übertreibung: durch ihre Rede, die mir so reichlich überspannt vorkam, hat die Carmelita mich, ohne es zu ahnen, den Schlüssel finden lassen, der unser Gefängnis öffnen sollte.

Es bedurfte gar keines Wunders, um uns den ›Tiger‹ in die Hand zu spielen – wenn ich richtig gesehen hatte, würde das mein braver Larry ohne weiteres besorgen!

Zunächst prüfte ich noch einmal das Gewehr – das Magazin war vollgefüllt, der Mechanismus arbeitete tadellos. Während ich dann den Revolver vornahm, hörte ich, wie die Carmelita Denny zuflüsterte:

»José hat irgend etwas vor.«

»Der gute, alte Joe«, erwiderte der Kleine etwas mitleidig.

Wahrscheinlich wird er mich für wahnsinnig gehalten haben, als ich dann aus voller Lungenkraft zu pfeifen anfing – er konnte ja auch nicht wissen, daß Larry diesen Pfiff kannte und schon tausendmal, wenn er ihn gehört, aus weiter Entfernung in vollem Galopp zu mir gelaufen war.

Der lange, durchdringende Ton war kaum verhallt, da vernahm ich von Süden her ein Knacken und Krachen von Ästen – ich wandte mich in diese Richtung, und schon sah ich Larry in einem wahren Renntempo angebraust kommen, so daß der ›Tiger‹ auf seinem Rücken fast das Gleichgewicht verlor und alle Mühe hatte, sich im Sattel zu halten.

Ich brachte das Gewehr in Anschlag, aber immer kam Larrys auf und ab gehender Kopf zwischen mein Ziel, und da konnte ich wieder nicht schießen. Natürlich war das ein großer Fehler, denn selbst wenn ich Larry getroffen hätte, wäre der ›Tiger‹ verloren gewesen, das Pferd hätte ihn im Sturz unter sich begraben, und eine zweite Kugel hätte ihn dann zweifellos getötet – aber auf den guten, alten Kameraden, der auf meinen Ruf sofort herbeieilte, zu schießen, nein, das brachte ich einfach nicht fertig, und wenn es selbst mein Leben kosten sollte.

Die Leute des ›Tigers‹, die rings hinter den Bäumen hielten, schrien vor Schreck und Entsetzen auf, als sie sahen, wie ihr Herr mit wahnsinniger Geschwindigkeit auf unsere Festung zustürmte. Ihm selbst schien die Sache jetzt Spaß zu machen, denn er tat nichts, um die Zügel, die ihm entglitten waren, wieder zu erlangen, sondern nahm den Revolver in die linke Hand und griff mit der rechten nach einer indianischen Streitaxt, die im Sattelhalfter stak.

Als Larry mit einem gewaltigen Satz über die Steinmauer sprang, legte ich an, zielte nach dem narbenentstellten Gesicht des ›Tigers‹ und schoß, aber fehlte – auf knapp sechs Meter Entfernung!

Ich glaubte, strahlende Wiedersehensfreude in Larrys treuen Augen zu erkennen, doch dann war es vorbei – der ›Tiger‹ hatte, um mich am abermaligen Schießen zu verhindern, den Revolver, den er wohl nicht benutzen wollte, weil er die Carmelita hätte treffen können, nach mir geschleudert. Krachend traf die schwere Waffe meine rechte Kopfseite, doch ich war nicht völlig bewußtlos, mehr wie ein ›groggy‹ geschlagener Boxer, der im Ring niedergegangen ist und verzweifelte, aber vergebliche Versuche macht, wieder auf die Füße zu kommen, da die Muskeln nicht mehr seinem Willen gehorchen.

Dabei sah ich alles, was um mich vorging, mit unheimlicher Klarheit, sah, wie Larry sich beim Absprung seitlich herumwarf, um nicht mit dem Kopf gegen die Steinwand zu stoßen, gegen die er mit der Flanke so wuchtig anprallte, daß ein wahrer Steinregen prasselnd niederging.

Der ›Tiger‹ hatte schon vorher sein mokassinbekleidetes Bein über den Pferdekopf geschwungen und sprang zu Boden, Denny aber, der kleine Denny, lief geradeswegs auf den Indianer zu und schoß dabei seinen altmodischen Trommelrevolver leer – selbstverständlich ohne auch nur ein einziges Mal zu treffen.

Merkwürdigerweise hob der ›Tiger‹ nicht die Streitaxt gegen ihn, deren erster Schlag ihm den Schädel gespalten haben würde, sondern ergriff mit der Linken Dennys Handgelenk, entwand ihm mit einer einzigen Bewegung den Revolver und schleuderte den Kleinen rücklings gegen die Steinwand – ich würde eine solche Kraftentfaltung nicht für möglich halten, wenn ich es nicht mit eigenen Augen mit angesehen hätte.

Mit einem gellenden Kriegsruf, der mir fast das Trommelfell sprengte, fuhr der ›Tiger‹ herum und stürzte auf mich zu, denn selbstverständlich war ich es, dem sein Angriff in erster Linie galt. Das Blut, das mir über das Gesicht rann, machte mich fast blind, ich konnte das Gewehr, das ich in den Händen hielt, nicht heben, im nächsten Augenblick würde die Streitaxt niedersausen und meine Hirnschale zerschmettern ...

Aber Denny rettete mich!

Obwohl die Carmelita ihn schreiend zurückhalten wollte, riß er sich los, stürzte ohne Waffe auf den Indianer zu, sprang ihn von hinten an, umklammerte seine Arme und schrie:

»Joe, schieß, – schieß!«

Der ›Tiger‹ stieß einen Ton aus, der wie das Knurren eines riesigen Hundes klang, aber selbst jetzt machte er von seiner Streitaxt gegen Denny keinen Gebrauch, sondern schleuderte ihn nur mit solcher Wucht von sich ab, daß der Kleine fast besinnungslos gegen die Felsblöcke fiel. Dann hob der Indianer die Axt, um mich abzutun, doch nun war es zu spät, denn jetzt hatte ich die Lähmung überwunden, Dennys heldenhafte Aufopferung war nicht umsonst gewesen.

Ich schoß, der ›Tiger‹ machte noch einen Schritt vorwärts, die Streitaxt entfiel seiner Hand, er sank zusammen – meine Aufgabe war erfüllt!

Aber noch waren wir nicht gerettet, denn von allen Seiten stürmten die Leute des ›Tigers‹ heran. Ich rief ihnen zu, daß ihr Anführer gefallen sei, hob zum Zeichen, daß ich die Wahrheit sage, dessen Streitaxt und schleuderte sie gegen sie. Dann gab ich dem Kleinen, der sich mühsam erhoben hatte, den Revolver des Indianers, und wir eröffneten beide ein wildes Feuer. Doch ich glaube nicht, daß dieses die Ursache der allgemeinen Flucht der Banditen war, denn getroffen werden wir nicht viele haben, sondern sie rannten davon, weil sie wußten, daß ihr Führer gefallen war, genau, wie in früheren Jahrhunderten ganze Heere kopflos auseinanderstoben, wenn sie den Tod ihres Königs auf dem Schlachtfeld erfuhren.

Das Hufgetrappel davonjagender Pferde, das Krachen und Knacken dürrer Äste unter den Füßen der Fliehenden verhallte, rings wurde alles still, ich setzte das Gewehr ab und ging auf den ›Tiger‹ zu.

Die Carmelita lag weinend in Dennys Armen, er selbst heulte, schluchzte und lachte gleichzeitig wie ein hysterisches Frauenzimmer, aber das konnte er sich jetzt schon einmal leisten, nachdem er sich heute als wahrer Mann erwiesen und uns alle gerettet hatte.

Als ich neben dem ›Tiger‹ niederkniete, merkte ich, daß er im Sterben lag, sein Atem ging nur noch schwach und röchelnd, zweifellos war auch die Lunge getroffen. Seltsamerweise hatte sich ein Stück der entstellenden Narbe gelöst, ich sah näher zu und merkte, daß sie aus überschminktem Heftpflaster bestand. Ich riß dies ab, und da verwandelte sich plötzlich das verzerrte Antlitz des ›Tigers‹ in das des Señors – es war Patrick MacMore.

Er schien zu sich zu kommen, denn seine Hand fuhr unwillkürlich hoch, als ob sie das Gesicht verdecken wolle, er schlug die Augen auf und bewegte die Lippen.

Ich beugte mich nieder, um zu hören, was er sprach.

»Sorgen Sie, daß Denny – mein Gesicht nicht sieht«, flüsterte er. »Hier, nehmen Sie das als Lohn dafür –«

Dabei drückte er mir ein kleines Beutelchen aus grauem Gemsenleder in die Hand – was es enthielt, habe ich schon erzählt.

»Schwören Sie?« fragte er, mich mit den bereits brechenden Augen verzweifelt anblickend.

»Bei Gott, dem Allmächtigen!« erwiderte ich.

Ein Schauer ging durch die mächtigen Glieder – Patrick MacMore war gewesen.

Ich sah ihn noch einmal an – auch dem Antlitz dieses merkwürdigen Menschen gab der Tod den Ausdruck verklärten Friedens.

Ich schob den Beutel mit den Edelsteinen in die Tasche und drehte den Toten aufs Gesicht.

Als ich mich erhob, kam Denny und wollte den berühmten Schrecken vom Rio Grande, den ›Tiger‹, noch einmal sehen – dabei zitterte seine Stimme, als er diesen Wunsch aussprach.

»Ein Toter ist etwas Ehrwürdiges und kein Schaustück für Neugier«, erwiderte ich. »Der da war ein tapferer Mann und hat gerade um dich Besseres verdient.«

Das waren natürlich sehr bittere Worte, aber sie hatten die gewünschte Wirkung.

»Du hast recht, Joe«, sagte Denny MacMore, »er hätte mich töten können, aber er hat mich geschont – Gott sei seiner Seele gnädig.«

So ließen wir den ›Tiger‹ auf dem Gesicht liegen, als wir davonritten – Geier und Wölfe werden ihn wohl bestattet haben ...


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