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* * *

 

Da wir sehr müde waren, begaben wir uns bald zur Ruhe, obwohl es noch keineswegs spät sein konnte, denn als wir im zweiten Stockwerk des Hauses auf unseren Matratzen ausgestreckt lagen, hörten wir noch immer die Stadtkapelle auf der ›Plaza Municipal‹ spielen.

Gerade als ich einschlafen wollte, bekam der Kleine einen Anfall von Gewissensnot, er hatte mit einemmal quälende Bedenken, ob wir recht daran täten, bei Enrico Orthez zu bleiben und dadurch den guten Mann womöglich in Unannehmlichkeiten oder gar in Gefahr zu bringen. Ich sagte ihm, jetzt sei hieran natürlich nichts mehr zu ändern – oder ob er vielleicht die Absicht habe, in ein Gasthaus zu gehen und sich dort ein Zimmer geben zu lassen? ...

Als ihn dies nicht beruhigte, machte ich ihm klar, daß es dem wackeren Schmied eine wahre Herzensfreude und innere Genugtuung sei, zwei Leute zu beherbergen, die erklärte Feinde des Señors und seines Meisters, des ›Tigers‹, seien, an denen er sich dadurch mittelbar räche.

Das leuchtete dem Kleinen ein, sein Geschwätz verstummte, und zehn Sekunden später war er eingeschlafen. So ging es immer: seine Aufregungen legten sich ebenso schnell, wie sie kamen, wenn man nur den richtigen Knopf fand, auf den man drücken mußte.

Ich lauschte noch eine Weile der fernen Musik, dann überwältigte auch mich der Schlaf.

Ein Rütteln an der Schulter riß mich aus einem wild erregenden Traum. Diesmal hatte ich den ›Tiger‹ erschossen, aber die tote Bestie verwandelte sich gerade in einen lebendigen Mann, der mich an der Kehle packte.

»Es hat sich angehört, als ob du erwürgt würdest«, sagte der Kleine, der mich geweckt hatte und frisch und gut ausgeschlafen aussah.

»Wurde ich auch – allerdings vorläufig nur im Traum«, erwiderte ich, »aber ich fürchte, wir werden beide durch ein wirkliches Seil erwürgt sein, ehe der Tag zu Ende ist.«

»Das soll ein sehr leichter Tod sein«, meinte Denny. »Im übrigen scheint die Geschichte schon loszugehen.«

Mit einem Satz war ich auf, und während ich mich hastig anzog, erkundigte ich mich, was er damit habe sagen wollen.

»Man ist, glaub' ich, dahintergekommen, daß wir hier übernachtet haben«, antwortete der Kleine.

Rasch war ich am Fenster und spähte durch die geschlossenen Läden auf die Straße hinunter: etwa fünfzig Menschen umstanden die Werkstatt und das Haus. Sie sprachen erregt und mit lebhaften Handbewegungen, aber mir fiel sofort auf, daß fast alle keine Waffen bei sich hatten – zum mindesten nicht sichtbare.

»Das gilt nicht uns«, sagte ich darum bestimmt.

Die Spannung im Gesicht des Kleinen, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte, wich.

»Warum, um's Himmels willen, sind sie denn dann da unten versammelt?« fragte er.

»Weil sie wissen, daß wir hier gewesen sind.«

»Das kann ich unmöglich glauben.«

»Du darfst getrost deine Stiefel verwetten, daß ich recht habe«, entgegnete ich. »Ganz San Clemente ist außer sich vor Vergnügen, endlich einmal einen lohnenden Gesprächsstoff zu haben. Alle werden den alten Orthez bitten, sich doch einmal unsere Pferde ansehen zu dürfen, aber er wird ihnen sagen, daß er die Tiere zum Verkauf, nicht zum Anschauen habe – er ist nämlich ein ganz famoser Kerl.«

»Das ist er«, rief Denny, wie immer leicht begeistert, »ich muß auch später unbedingt etwas für ihn tun.«

»Soll ich dir sagen, was ihm am liebsten wäre?«

»Ach ja, Joe!«

»Wenn du dem ›Tiger‹ die Kehle durchschnittest.«

Darüber lachte er, glücklicherweise nicht laut – dann stiegen wir mäuschenstill in den ersten Stock hinunter, denn wir hatten Hunger.

Der Neger wartete bereits mit dem Frühstück auf uns und bediente uns trotz seines Holzbeines mit bewundernswerter Gewandtheit und Lautlosigkeit. Als wir fertig waren und uns eine Zigarette angezündet hatten, erzählte er uns, wie der ›Tiger‹ ihm das Bein bis zum Knie ›abgebissen‹ hatte.

Auf einem Raubzug nach dem Norden, an dem José, der Neger, teilgenommen hatte, war in einem Bankgewölbe der Geldschrank gesprengt worden, die Gewalt der Explosion aber hatte einen Teil der Außenmauer eingerissen und ihm den Fuß unter einem größeren Trümmerstück so festgeklemmt, daß man ihn nicht befreien konnte. Da es Grundsatz des ›Tigers‹ war, keine Gefangene zurückzulassen, hatte er eigenhändig dem armen Teufel das Bein unterhalb des Knies abgeschnitten, nachdem er ihm einen Knebel in den Mund geschoben, um ihn am Schreien zu hindern. Dann hatte er das Blut, so gut es ging, gestillt, die Wunde verbunden und den Neger gezwungen, in diesem Zustand zwanzig Meilen zu reiten! Drei Monate hatte es gedauert, ehe José sich einigermaßen erholen konnte, und seitdem hatte er nur den einen Wunsch, dem ›Tiger‹ ein Hundertstel der Schmerzen heimzuzahlen, die er hatte erdulden müssen. Übrigens war er nicht annähernd so alt, wie er wirkte – die furchtbare Sache hatte ihn vorzeitig altern lassen.

Ich hatte schon allerlei über die maßlose Grausamkeit des ›Tigers‹ gehört, aber die Geschichte des armen José war entschieden kaum noch zu überbieten – den Kleinen machte sie beinahe krank.

»Mein Gott, mein Gott«, stöhnte er, »und mein Bruder kennt diese Dinge und trennt sich trotzdem nicht von so einer Bestie in Menschengestalt!«

Ich konnte seine grenzenlose Enttäuschung nur zu gut begreifen, denn für ihn gab es nichts Wichtigeres als den Platz, den sein Bruder in der Welt einnahm. Diesen Bruder hatte er nicht nur über alles geliebt, sondern als Oberhaupt der Familie verehrt, ja vergöttert – und nun fand er ihn als Handlanger eines solchen Ungeheuers wieder. Wenn er übrigens das seltsame Funkeln in den Augen Patrick MacMores gesehen hätte, das ich beobachtet hatte, würde er sich kaum darüber gewundert haben, daß Grausamkeit keinen allzu tiefen Eindruck auf seinen Bruder machte.

Gegen Mittag kam Orthez zum Essen herüber – er sah völlig verändert, um Jahre verjüngt aus; sein Blick war klarer, sein Schritt leichter, seine Wangen hatten Farbe bekommen, sein Lachen klang nicht mehr so beißend und höhnisch.

Was ich vermutet hatte, bestätigte er: ganz San Clemente sprach von nichts anderem als von uns und unseren Erlebnissen mit den Leuten des Señors und des ›Tigers‹, wobei sich Wahrheit und Dichtung seltsam mischten. Allgemein war man davon überzeugt, daß wir uns noch in der Stadt befinden müßten, da alle Straßen, die aus ihr hinausführten, streng bewacht wurden, und man zerbrach sich die Köpfe darüber, wo wir uns versteckt halten könnten. Als selbstverständlich nahm man an, daß wir in spätestens zwei Tagen entdeckt werden würden, und versprach sich davon ein Volksfest, aufregender als ein Stierkampf.

Orthez teilte diese Ansicht nicht, doch der Hauptgrund seiner stillvergnügten Freude war etwas anderes.

»Den Señor wird seine gerechte Strafe ereilen«, sagte er schmunzelnd, »ich wünsche ihm nichts als ein recht langes Leben.«

Verdutzt fragte ich, was er damit meine, und da erzählte er, daß dieselbe Frau, die an dem Tod seines Sohnes schuld sei, den Señor bis aufs Blut quälen werde – er stehe nämlich im Begriff, sie zu heiraten.

Das war ein neuer, schwerer Schlag für den Kleinen – er wurde blaß, und der Schweiß trat ihm auf die Stirne. Ich wußte natürlich, was in ihm vorging: er dachte richtig, daß keine Macht der Welt den großen Patrick von hier fortbringen konnte, wenn er sich in San Clemente verheiraten würde.

Er erkundigte sich, um welche Frau es sich handle, und erfuhr, daß Señorita Alvarado, unter dem Namen ›La Carmelita‹ bekannt, die Schönste der Schönen von San Clemente, die trotz ihrer Jugend schon zahllose Männerherzen gebrochen hatte, die Zukünftige seines Bruders sei.

Das Gesicht des braven Schmiedes hatte sich verfinstert, als er den Namen der Verhaßten aussprach, doch es klärte sich wieder auf, als er uns das Schicksal dieser Ehe voraussagte. Der Señor werde von wahnwitziger Eifersucht gepeinigt werden, sooft er sich von seinem Weibe trennen müsse, seine Zweifel an ihrer Treue würden wieder eingelullt werden, wenn er bei ihr sei, und so würde er zwischen Himmel und Hölle pendeln, bis schließlich das Leben ihm zur Qual werde, er sich lächerlich mache, von den Leuten, die er bisher geführt, verachtet werde, und er dadurch zu guter Letzt sein Ansehen und seine gefürchtete Stellung verlieren werde –. In diesem Augenblick aber würde auch sie ihn fallen lassen, und er würde entweder an gebrochenem Herzen oder von eigener Hand sterben.

Orthez malte sich das alles in jeder Einzelheit so liebevoll aus, daß ich einfach nicht anders konnte, als ihm zu entgegnen:

»Einem Ihrer Landsleute könnte das vielleicht geschehen, doch wir im Norden haben bedeutend kühleres Blut. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß dem Señor wegen einer Frau, und sei sie noch so schön, das Herz brechen könnte. Wenn sie so kokett ist, daß er kein Vertrauen zu ihr hat, wird er sie einfach zum Teufel jagen und sich eine andere suchen.«

Der Alte sah mich überlegen lächelnd an.

»Sie sind doch ein weitgereister Mann?« fragte er.

»Gewiß, ich bin schon recht weit herumgekommen.«

»Dann haben Sie doch sicher auch viele schöne Frauen gesehen?«

»Natürlich.«

»Ich sage Ihnen, daß alle, die Sie je gesehen haben, nichts, aber auch gar nichts sind gegen die Carmelita!«

Damit erhob er sich, um Mittagsruhe zu halten.

»Siehst du, da hast du Mexiko«, sagte ich lächelnd zu dem Kleinen, »es gibt im ganzen Lande keine einzige Stadt, die nicht die schönste Frau der Welt besäße!«

Der Kleine lächelte nicht, er starrte zur Decke – weiß der Teufel, was für lockende Bilder er an ihr sah.

*

Bevor Orthez nach seinem Mittagsschläfchen wieder in die Werkstatt hinüberging, trat er noch einmal bei uns ein und riet uns, wir sollten ein paar Tage in seinem Hause warten, bis sich die erste Aufregung gelegt hätte, dann würden die Leute sicher glauben, daß es uns doch gelungen sei, auf irgendeine Weise zu entkommen, und dann würde die Aufmerksamkeit schon abflauen. Er selbst wolle inzwischen Verhandlungen über den Verkauf unserer Pferde einleiten, diese aber so hinziehen, daß es zu einem wirklichen Verkauf nicht kommen würde – er müsse das aber tun, um nicht in den Verdacht zu geraten, die Tiere für uns aufzuheben.

Das war natürlich höchst verständig, und wir erklärten uns mit seinem Vorschlag einverstanden. Überdies wußte ich aus Erfahrung, daß Sensationen in Mexiko kein langes Leben haben – in drei bis vier Tagen würde unsere Geschichte vergessen sein. Wir hatten also hinreichend Zeit, uns irgendeinen vernünftigen Plan, wie wir aus unserer Falle herauskommen könnten, zurechtzulegen.

Ich war darum auch ziemlich zuversichtlich und ruhig – was man von dem Kleinen nicht behaupten konnte, der vielmehr dauernd ruhelos auf und ab lief. Spät am Nachmittag gestand er mir dann, daß die Sache mit der Carmelita alle seine Hoffnungen, den Bruder von dem ›Tiger‹ zu trennen, endgültig zerstört hätte. Das leuchtete mir ein, weniger jedoch tat dies die Schlußfolgerung, die Denny aus dieser Lage der Dinge zu ziehen beliebte.

»Da ich also auf Patrick nicht unmittelbar einzuwirken vermag«, sagte er nämlich, »muß ich versuchen, es durch eine dritte Person zu tun – wenn ich nur wüßte, durch wen?«

»Vielleicht bin ich dazu geeignet«, erwiderte ich ihm lachend. »Aber ernsthaft gesprochen, alter Knabe: es gibt keinen Menschen auf der Welt, der deinen Bruder nach irgendeiner Richtung hin beeinflussen könnte, denn er ist der eigenwilligste und selbstherrlichste Mann, der mir je vorgekommen ist, und damit du mir das glaubst, werde ich dir jetzt mal erzählen, was sich zwischen ihm und mir abgespielt hat.«

Ich tat dies – genau, wie ich den Vorgang oben geschildert habe, berichtete ich ihn. Der Kleine hörte mir so andächtig zu, als ob ich ihm ein Kapitel aus der Bibel vorläse – sein Kummer über den Charakter seines Bruders wurde zweifellos mindestens zur Hälfte durch den Stolz über dessen Kraft ausgeglichen.

»Sogar du hast Angst vor ihm gehabt?« fragte er mich wohl zehnmal und konnte sich nicht genug darüber wundern, daß ich dies ohne weiteres zugab.

Als ich geendet hatte, meinte ich, er hätte nun wohl eingesehen, daß es niemandem möglich sein werde, Patrick MacMore zu irgend etwas zu überreden – aber da schüttelte der Kleine entschieden den Dickkopf und erklärte mir:

»Doch, doch – er ist nämlich nicht mehr Herr seiner Entschließungen.«

»Ja, wieso denn nicht?« fragte ich verblüfft.

»Weil er eine Frau liebt.«

»Als ob ein Mann, wie er, dadurch seinen freien Willen verlöre!« erwiderte ich ärgerlich. »Aber selbst wenn sie schon als Braut ihn völlig beherrschte – was wäre dadurch für dich gebessert?«

»Vielleicht könnte sie davon überzeugt werden, daß Patrick unbedingt von dem ›Tiger‹ getrennt und überhaupt aus Mexiko entfernt werden muß – dann würde sie ihn darum bitten, und die Sache wäre erledigt.«

Da mußte ich doch lachen.

»Wer soll es denn übernehmen, der Carmelita das beizubringen und sie dazu bewegen, freiwillig ihre Heimat zu verlassen?« rief ich. »Wahrhaftig, Jungchen, nimm es mir nicht übel, aber du redest wie der Blinde von der Farbe!«

»Du glaubst also, daß dies unmöglich ist?« fragte er.

»Vollkommen ausgeschlossen ist es!«

Trotzdem ich seinen wahnwitzigen Gedanken so entschieden abgelehnt hatte, schien er ihn doch nicht aufgegeben zu haben, denn gegen Abend überraschte ich ihn dabei, wie er sich bei dem Neger José erkundigte, wo das Haus der Carmelita läge.

Ich bekam einen Todesschreck, denn ich wußte natürlich, mit welcher Absicht er spielte. Wenn er sie durchführte, war er einfach erledigt, denn wenn auch die Belohnung, die der Señor auf seine Ergreifung ausgesetzt hatte, ausdrücklich nur galt, wenn er lebend gefaßt wurde, so war es bestimmt nicht leicht, ein Kerlchen wie den Kleinen einzufangen, sondern es war hundert zu eins zu wetten, daß man ihm erst ein paar blaue Bohnen als Beruhigungspillen versetzen mußte, ehe man Hand an ihn legen konnte.

Ich mischte mich also ein und sagte zu dem Neger:

»Nun müssen Sie dem jungen Herrn aber auch noch verraten, ob für ihn eine Möglichkeit besteht, das Haus der Familie Alvarado zu betreten.«

José riß die Augen auf und starrte mich an, als ob ich ihn gefragt hätte, ob ein Mensch auf den Mond springen könne. Dann erklärte er, die Alvarados seien ungeheuer reich, daher wimmle ihr Haus von ergebenen Dienern, die nichts lieber täten, als einem unbefugten Eindringling ein Messer in den Leib zu rennen, und zum Überfluß werde das Haus auch noch von ausgewählten Leuten des großen Señors scharf überwacht.

Das war eine Antwort, so recht nach meinem Herzen, aber dann sagte der Neger noch, die einzige Möglichkeit, die junge Dame zu sehen, biete der abendliche Rundgang auf der ›Plaza Municipal‹, an dem sie, wie alle, in Begleitung ihrer Mutter oder ihrer Zofe teilzunehmen pflege.

Bei näherer Überlegung beunruhigte mich diese Auskunft jedoch auch nicht, denn ich hatte schon bei unserem Einritt in die Stadt dem Kleinen erzählt, was es mit diesem Abendkonzert auf sich habe, so daß ihm bekannt war, wie völlig unmöglich es sein würde, sich dabei einer Frau aus der Oberklasse zu nähern, da dies einer öffentlichen Beleidigung der Betreffenden gleichgekommen wäre. Anders stand es allerdings mit den Mädchen aus dem Volke, – bei denen galt es als ein Zeichen besonderer Forschheit, wenn ein Liebhaber es fertigbrachte, in ihre Reihen einzubrechen und trotz allem Hohn und Spott, dem er sich dadurch aussetzte, einmal um den Platz herum an der Seite seiner Erwählten zu gehen.

Ich erinnerte den Kleinen noch einmal hieran und machte ihm klar, daß er, wenn er sich auf der ›Plaza Municipal‹ zeigen wollte, unweigerlich als der gesuchte Ausländer erkannt werden würde. Er versicherte mir, daß er an ein so wahnsinniges Unterfangen auch nicht im Traume dächte, und damit war der Fall für uns beide erledigt.

Schließlich kam Orthez aus seiner Werkstatt herüber, wir aßen ausgiebig zu Abend, und dann holte er ein paar Flaschen ganz fürchterlichen Rotweins aus dem Keller, den er für sehr gut hielt, dem ich aber zwei Teile Wasser zusetzen mußte, wenn er mich nicht umwerfen sollte. Jedenfalls wunderte ich mich nicht, daß der Kleine erklärte, entsetzliche Kopfschmerzen bekommen zu haben und sich hinlegen zu müssen.

Ich blieb noch eine Weile mit Orthez sitzen, mit dem ich ein interessantes Gespräch hatte, an dem sich auch der Neger José beteiligte, nachdem er das Geschirr abgewaschen hatte. Unser freundlicher Wirt gehörte nämlich zu den seltenen Menschen, die trotz dem engen Kreis, in dem sich ihr tägliches Leben bewegt, den Blick für das Große, Allgemeine nicht verlieren, und was er mir über die Vorzüge und Schwächen seiner Landsleute erzählte, war sehr aufschlußreich für mich, zumal ich es unter dem Gesichtswinkel des für meine besonderen Zwecke Verwertbaren betrachtete.

So war es denn ziemlich spät geworden, als ich mich endlich entschloß, auch meinerseits zu Bett zu gehen, und mich von Orthez verabschiedete. Vorsichtig, um den Kleinen nicht zu stören, betrat ich unser Zimmer, doch im Schein des Mondes sah ich entsetzt, daß sein Lager leer und unberührt war.

Eine Weile stand ich wie vor den Kopf geschlagen da, dann trat ich näher und entdeckte in einem Winkel einen Haufen Kleider, die ich als die seinen erkannte.

Ich hatte das Gefühl, als müsse jeden Augenblick die Welt untergehen. Ich war mir bisher noch gar nicht bewußt geworden, wie gern ich den Bengel hatte, der trotz seiner hahnebüchenen Dummheit, trotz der Tatsache, daß er nicht reiten, nicht schießen, kein Feuer anmachen, nichts Genießbares kochen, ja nicht einmal ein Messer anschärfen konnte, ohne eine Ecke herauszubrechen, der anständigste, tapferste und beste Junge war, der mir je begegnet ist.

Schließlich eilte ich die Treppe hinunter und erzählte dem Schmied, was geschehen sei. Der meinte, vielleicht sei es dem Kleinen da oben zu heiß geworden und er habe sich ein kühleres Plätzchen zum Schlafen gesucht. Hastig eilten wir aus einem Raum in den anderen, ohne eine Spur von ihm zu entdecken, doch als wir das Zimmer betraten, das einst der Sohn des Alten bewohnt hatte, fanden wir des Rätsels Lösung – das heißt Orthez fand sie, ich war viel zu erregt, um aus dem, was sich unseren Augen bot, einen Schluß ziehen zu können.

Der Kleiderschrank stand nämlich offen, und sein Inhalt war durchwühlt und herausgezerrt.

»Da haben Sie's – er hat sich einen Anzug meines Sohnes angezogen und das Haus verlassen«, sagte Orthez merkwürdig ruhig.

Fassungslos wiederholte ich seine Worte wie ein Papagei.

»Das bedeutet natürlich sein Ende«, meinte er.

»Selbstverständlich, denn bei dem Versuch, die junge Dame zu sprechen, wird man ihn festnehmen.«

Ich hatte dem Schmied von unserem Gespräch über die Carmelita erzählt, so daß er im Bilde war.

»Man wird ihn auf der ›Plaza Municipal‹ aufhängen – als abschreckendes Beispiel für andere Fremde, die gegen die Sitten unseres Landes verstoßen«, fuhr er unbarmherzig fort.

»Allmächtiger, ich muß sehen, daß ich ihn von seinem Vorhaben abbringe!« rief ich ganz entsetzt und wollte forteilen.

»Wissen Sie, wieviel Uhr es ist?« fragte Orthez nur, aber das genügte, mich zurückzuhalten.

Es war natürlich zu spät – der Kleine hatte zweifellos sofort nach dem Abendessen seine Vorbereitungen getroffen und war gleich, nachdem er sich umgekleidet hatte, durch ein Fenster des unteren Stockwerkes hinausgeschlüpft – wenn er also gefaßt worden war, dann war es schon zu spät!

»Jetzt heißt es für Sie und mich, unseren eigenen Skalp in Sicherheit zu bringen«, sagte Orthez, »denn wenn der junge Mensch ergriffen ist, wird man unschwer seine Spur bis zu meinem Haus zurückverfolgen.«

»Das ist ganz ausgeschlossen, dazu kenne ich ihn viel zu gut – nie und nimmer wird er verraten, wo er sich so lange verborgen gehalten hat.«

»Das nehme ich auch gar nicht an«, entgegnete der Schmied, »aber sie haben doch den Anzug, in dem sich das gewebte Schildchen mit dem Namen des Schneiders befindet, das wird sie unbedingt auf die richtige Spur bringen, und dann, mein lieber Freund, sind wir beide erledigt und tot.«

Ich starrte ihn an – was er da eben ausgeführt hatte, war unzweifelhaft richtig.

Während wir noch regungslos dastanden und einander ansahen, hörte ich, wie eine Hand leise an die Haustür klopfte – oder rührte das Geräusch davon her, daß da unten jemand einen Fensterladen vorsichtig wieder schloß?

*

Bei dem, was ich nun niederschreibe, folge ich nicht ausschließlich der Erzählung des Kleinen – trotzdem aber entspricht alles der Wahrheit, die sich auf meine genaue Kenntnis der Stadt San Clemente und von Denny MacMore selbst stützt, außerdem aber mir durch Augenzeugen der Vorgänge berichtet worden ist, so daß ich nur selten gezwungen war, mir fehlende Zwischenglieder auf dem Wege der Logik zu ergänzen. Jedenfalls kann ich versichern, daß auch die Teile, die ich nicht selbst miterlebt habe, ebensowenig auf Erfindung beruhen wie alle anderen.

Was den Kleinen zu seiner wahnwitzigen Flucht aus dem verhältnismäßig sicheren Versteck im Hause des Schmiedes veranlaßt hat, steht wohl unbestritten fest: der verdrehte Einfall, die Carmelita aufzusuchen, um sie zu bitten, ihren vermeintlichen Einfluß auf Patrick MacMore im Sinne einer Trennung von dem ›Tiger‹ geltend zu machen.

Ich habe schon von vielen Narrheiten gehört und auch ein gut Teil mit angesehen, aber bestimmt ist weder in nüchternem noch in trunkenem Zustand je eine kapitalere Dummheit begangen worden als die, die mein junger Freund Denny MacMore sich geleistet hat.

Als er sich von uns verabschiedete und nach unserem Schlafzimmer hinaufstieg, muß zweifellos sein verwegener Plan, wenn auch noch nicht in festen Umrissen, schon bestanden haben. Jedenfalls hatte er bereits beschlossen, den Versuch zu wagen, war sich aber noch nicht klar darüber, wie er es anfangen solle, nicht sofort als Ausländer erkannt zu werden.

Der Gedanke, sich andere Kleider zu verschaffen, hat ihn wahrscheinlich zunächst im Schlafzimmer des Hausherrn nachsehen lassen, erst als er hier nicht das Geeignete fand, ist er auf die Suche gegangen und dabei zufällig in das Zimmer des verstorbenen Juan Orthez geraten, wo er den Festtagsanzug fand, den der Ärmste sich vor fünf Jahren für sein schwer genug erworbenes Geld angeschafft hatte.

Zum Unglück paßte ihm dieser Anzug wie angegossen – in ihm hatte der Sohn des Schmiedes versucht, sich der gleichen Frau zu nähern, die Denny MacMore jetzt aufsuchen wollte. Juan Orthez hatte seinen kecken Versuch mit dem Leben bezahlt – was würde das Schicksal des Kleinen sein? ...

Ich kann mir denken, daß es ihm Spaß gemacht hat, festzustellen, daß ihn diese schmucke Tracht ausgezeichnet kleidete – sogar das elegante Stöckchen, das zu ihr gehörte, nahm er mit, vergaß aber, wenigstens einen Dolch oder Revolver einzustecken, um in einer Stadt, die von Feinden wimmelte, nicht ganz wehrlos zu sein.

Nachdem er sich auf diese Weise äußerlich in einen Mexikaner verwandelt, hat er sich ins Erdgeschoß hinuntergestohlen und zur Flucht das letzte Fenster, das auf die Straße hinausging, benutzt. Warum er gerade dieses wählte, haben wir uns nie erklären können. Wahrscheinlich tat er dies, weil die Läden der anderen zu fest saßen, als daß er sie so geräuschlos hätte öffnen können, daß wir nicht aufmerksam geworden wären, denn Orthez und ich saßen ja im Erdgeschoß und unterhielten uns. Der Wahnsinn seiner Wahl bestand hauptsächlich darin, daß er beim Hinausklettern aus diesem Fenster von den zwei Straßen aus, die hier an der Ecke zusammenliefen, gesehen werden konnte, daß er also die Gefahr, erwischt zu werden, mindestens verdoppelte, wenn nicht vervierfachte.

In der Tat ist er denn auch bemerkt worden, und so wissen wir, daß er, nachdem er den Fensterladen vorsichtig wieder herangedrückt hatte, eine Weile, vom Mond hell beleuchtet, unschlüssig dagestanden und überlegt hat, welchen Weg er einschlagen solle. Vielleicht hatte die Kapelle auf der ›Plaza Municipal‹ gerade in diesem Augenblick eine Pause gemacht, vielleicht konnte er auch die Richtung, aus der die Musik kam, nicht gleich feststellen, jedenfalls dauerte es ein paar Minuten, ehe er die nach links führende Straße hinunterging.

Ein anderer Mensch wäre nun dicht an den Häusern entlang geschlichen, hätte die schattigsten Stellen als Deckung benutzt, wenn nicht aus Furcht, so doch aus Vorsicht – mein Freund Denny dachte an so etwas gar nicht. Unbekümmert schritt er mitten auf dem Bürgersteig davon, ließ sein poliertes Stöckchen wirbeln, daß es im Mondschein wie eine Schwertklinge aufleuchtete, und sang halblaut dabei – wie ich ihn kenne, war es sicher sogar ein amerikanisches Liedchen!

Mit einem Wort: er tat alles, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – als ob dazu nicht schon seine jugendlich strahlende Schönheit, sein gold- und silbergestickter Anzug, der wie das farbige Hochzeitskleid eines exotischen Vogels schimmerte, und die bunte Seidenschärpe, die er um die Hüften geschlungen hatte und die sich unter der kurzen Jacke verführerisch hervorstahl, vollauf genügt hätten!

Ich möchte nicht wissen, wie viele Augen ihm hinter halbgeöffneten Fensterläden bewundernd nachgestarrt haben – er hat sie bestimmt ebensowenig bemerkt wie die Leute, die ihm geduckt gefolgt sind, nachdem sie ihn aus dem Haus des wackeren Schmiedes hatten herausklettern sehen.

An der Ecke der Straße vom heiligen Martin ist er dann stehengeblieben, um einen Karren mit quietschenden und knarrenden Holzachsen vorüberzulassen – das hat mir der eingeborene Kutscher erzählt, der verdutzt der seltsamen Erscheinung nachblickte, als sie leichtbeschwingten Schrittes dann weiterging. Ich bin überzeugt, daß dem Kleinen das Herz dabei höher geschlagen hat, denn er gehört unbedingt zu der niemals aussterbenden Sorte von Abenteurern, denen am wohlsten bei recht aussichtslosen Unternehmen ist.

Daß er auf der Brücke über den San Clemente-Fluß abermals stehenblieb, wundert mich nicht. Er tat es natürlich nicht aus Furcht, sondern er lehnte sich über die Brüstung, um die großen Wasserlilien zu bewundern, die an den seichten Stellen am Ufer wachsen und deren Blätter so riesenhaft sind, daß sie für kurze Zeit sogar das Gewicht eines erwachsenen Mannes tragen können. Zweifellos hat er entzückt den Duft eingeatmet, den ihre großen, gelben Blüten um diese Jahreszeit ausströmen, hat in die dunklen Strudel, die sich wirbelnd und plätschernd an den Brückenpfeilern brachen, hinabgeblickt – er hatte ja einen so ausgesprochenen Sinn für alles Schöne und Lockende auf dieser Welt!

Als die Brücke dann hinter ihm lag, wird ihm sicher die schluchzende Musik von der nahen ›Plaza Municipal‹ das Blut schneller durch die Adern gejagt haben, und fünf Minuten später stand er dann am Rande des großen Vierecks, entzückt von dem süßen Duft der blütenüberladenen Orangen-, dem herberen der Zitronenbäume und den blühenden Myrtensträuchern.

Man darf sich unter dieser ›Plaza Municipal‹ von San Clemente nun nicht etwa einen Park mit gepflegten Rasenflächen, auf denen hier und da einzelne Baum- und Gebüschgruppen stehen, vorstellen, sondern eher etwas wie ein Stück Urwald, durch den in gewissen, regelmäßigen Abständen Pfade und Wege ausgehauen sind und in dessen Mitte eine Kapelle spielt, die man nicht sieht, deren Weisen man aber überall hört.

Hier erholt sich die ganze Einwohnerschaft von des Tages Last und Hitze. Man lustwandelt in der herrlichen, kühlen Nachtluft, in die man eintaucht wie in ein erquickendes Bad. Licht verbreiten die längs der Wege in Reihen aufgehängten Lampen, die wie große, gelbe Monde wirken, doch weit genug auseinanderstehen, um ein dämmeriges Halbdunkel zwischen sich zu lassen, so daß es überaus reizvoll ist, die Gesichter und Gestalten der in ununterbrochener Kette Vorüberkommenden bald hell beleuchtet, bald wieder in mystischem Schatten zu sehen.

Zweifellos dachte Denny MacMore, als er dies Bild zum erstenmal sah, daran, daß sich an ihm seit der Zeit der Konquistadoren vor dreihundert und einigen Jahren außer der Kleidung der Beteiligten nicht allzuviel geändert haben mochte, und dann wird er wohl die Musik, die er zum erstenmal aus nächster Nähe hörte, in ihre wesentlichen Bestandteile zergliedert, das heißt die Töne nach den einzelnen Instrumenten, die sie hervorbringen, geordnet haben.

Da war nämlich zunächst die Pikkoloflöte, die den seltsam hohen Tenor verkörpert, der in der Stimme des Mexikaners schwingt, im Gegensatz dazu der brummelnde, rumpelnde Baß der Bratsche, die doch Töne von bezauberndem Schmelz hervorzubringen vermag, die Gitarren, die dem Ganzen den klimpernden, tänzelnden Rhythmus, den der Mexikaner so sehr liebt, geben, und schließlich die Geigen mit ihrem ersterbenden Schluchzen.

Es handelte sich also nicht um eine große Kapelle, aber trotzdem brachte sie gewisse Wirkungen zustande, wie sie in dieser Vollendung keine anderen Musikanten auf der ganzen Welt hätten erzielen können.

Ich nehme an, daß der Kleine eine ganze Weile diesen Klängen, die von Liebe, von nichts als Liebe sprachen, gelauscht hat, daß er schließlich den Kopf in den Nacken geworfen und ein ganz wenig die Schultern nach vorn geschoben hat, wie er es immer vor großen, erschütternden Dummheiten zu tun pflegte, und sich dann unter die Menge gemischt hat.

In seiner Unbekümmertheit und seinem grenzenlosen Leichtsinn ist es ihm natürlich nicht eingefallen, einen Augenblick hinter sich zu schauen, denn sonst hätte er sehen müssen, daß der Spion, der ihm gefolgt war, stehenblieb, sich vergewisserte, welchen Weg er einschlagen würde, und dann eiligst in einem Seitengang verschwand.

*

Obwohl ich nicht dabeigewesen bin, kann ich doch jeden Schritt verfolgen, den mein Freund Denny MacMore an jenem Abend gemacht hat. Ich brauche nur die Augen zu schließen, um ihn unter den uralten Bäumen dahinschlendern zu sehen, vorüber an dem mit Wasserpflanzen bedeckten, langsam fließenden Graben, hin zu der eigentlichen Promenade, wo er auf einer der Bänke aus blauschwarzem Kalkstein, die durch den häufigen Gebrauch so blank gescheuert sind, daß sie aussehen wie aus schwarzem Glas gemacht, Platz genommen haben wird.

Von hier aus hat er die Menge beobachtet, die zu seiner größten Verwunderung bei aller Fröhlichkeit eine peinliche Ordnung innehielt, die er bei diesen Südländern nicht für möglich gehalten und nicht erwartet hat. In vier Reihen nämlich bewegten sich die Lustwandelnden vorwärts – die unteren Klassen auf den inneren Wegen, und zwar die Männer in der einen, die Frauen in der entgegengesetzten Richtung – auf den beiden äußeren Wegen die Mitglieder der Oberschicht, gleichfalls nach Geschlechtern getrennt.

Es war einer der vielen kirchlichen Feiertage, und darum war über die Hälfte der männlichen Spaziergänger festtäglich gekleidet, so daß sein eigener Galaanzug nicht allzusehr auffiel. Einigermaßen bestürzt wird der Kleine jetzt aber festgestellt haben, daß er vergessen hatte, einen Hut aufzusetzen, der aber hier ein äußerst wichtiger Bestandteil der Männerkleidung zu sein scheint, da alle Kavaliere riesige Sombreros mit silbereingefaßtem Rand, zwei Zoll hohen, silbernen Bändern und vier gleichfalls silbernen Rosetten trugen.

Doch seine Bedenken und Befürchtungen, als Außenseiter und Ausländer erkannt zu werden, zerflatterten bestimmt zu nichts, als er nun die vorüberwandelnden Damen beobachtete. Donnerwetter ja, solche Schönheiten, eine derartige Anhäufung berückender Schönheiten hatte er denn doch noch niemals gesehen!

Er glaubte zu träumen – waren das Wesen von dieser Welt? Hätten ihre zierlichen Stöckelschuhe nicht vernehmlich auf den Platten des Pflasters geklappert, wenn sie mit ihren Müttern oder Zofen vorüberrauschten – wahrhaftig, er hätte geglaubt, Engel vorüberschweben zu sehen.

Schon diese kleidsamen Spitzenschleier, die ihre Köpfe bedeckten, entzückten ihn. Bedecken war übrigens nicht das richtige Wort – diese duftigen, schwarzen Gebilde, gegen die Spinnweben, in denen der Tau glitzert, plump und schwer erschienen, bedeckten nichts, sondern bildeten höchstens einen hauchzarten Rahmen für die herrlichen Ovale der Gesichter, aus denen die dunklen Augen verheißungsvoll strahlten.

Dreimal in der Minute zog eine Schöne an ihm vorüber, und jedesmal schien jede ihm eine andere zu sein. Einmal war sie eine blaßhäutige Spanierin, dann wieder eine ernste Indianerin, einmal unnahbar und kalt wie eine Marmorstatue, dann wieder zutunlich wie ein harmloses Kind. Wenn sie ihren Verehrern nicht direkt zuzulächeln wagte, dann zeigte sie ihnen wenigstens, wie hold sie zu lächeln verstand, indem sie sich der alten Frau – Mutter oder Zofe –, die sie begleitete und die die Rolle des Engels mit dem flammenden Schwert in diesem Paradies spielte, zuneigte.

Es gibt übrigens in Mexiko kein weibliches Wesen, ob jung oder alt, das nicht verstünde, einen Mann so anzuschauen, daß er davon überzeugt sein muß, diese Art von Blick gälte nur ihm ganz allein – und jede macht das anders. Manche wenden den Kopf rasch zur Seite, wenn sie schon beinahe vorüber sind, so daß der Glückliche, den sie bezaubern will, nur noch die lächelnde Krümmung der Wange seiner Angebeteten sieht, manche senken das Köpfchen, so daß sie von unten nach oben blicken können, was ungemein wirksam ist. Andere, die nach Wunsch zu erröten verstehen, spielen die Schüchternen, wieder andere wenden sich, wenn sie schon ein Stück vorüber sind, ein wenig um und blicken rasch über die Schulter zurück, weil sie wissen, daß diese Stellung sie gut kleidet. So gibt es Hunderte und aber hunderte verschiedener Abarten, die Männer zu betören, und das wunderbarste an der Sache ist, daß diese stumme Gebärdensprache selbst der Dümmste und Unerfahrenste sofort versteht, daß aber auch der Klügste und Erfahrenste immer wieder auf sie hereinfällt.

›Allmächtiger‹, wird mein Freund Denny gedacht haben, ›wie ist es denn nur möglich, daß so viel Schönheit sich in einer Stadt zusammengefunden hat? Haben denn alle Länder der Erde die schönsten ihrer Frauen hier nach San Clemente entsandt?‹

Ich bin sogar überzeugt, daß er diese oder ähnliche Worte halblaut gemurmelt hat, während er begeistert die vorüberwandelnden Frauen anstarrte, deren jede natürlich seine bewundernden Blicke auf sich selbst bezog und entsprechend erwiderte. Nicht nur die Herzen der jungen Mädchen werden höher geschlagen haben, auch manche sittsame Ehefrau wird gewünscht haben, noch frei zu sein, und die alten Weiber hätten wahrscheinlich gern ihre Seligkeit dafür hingegeben, wenn ein Zauberer ihnen noch einmal ihre Jugend zurückgeschenkt hätte.

Wie aber sollte er aus dieser Masse entzückender Frauenschönheit die Carmelita herausfinden? Die Aufgabe, die einst dem Trojaner Paris gestellt worden, war ja ein Kinderspiel dagegen, denn der sollte nur von drei Göttinnen die schönste erkennen, er aber aus Hunderten!

Es war bezeichnend für den Kleinen, daß er sich nicht lange bedachte, sondern kurzentschlossen an die Lösung des Problems heranging – er wandte sich nämlich an einen Mann, der neben ihm auf der Bank saß, mit der Frage:

»Können Sie mir sagen, welches die Señorita Alvarado ist?«

Dieser in düsteres Schwarz gekleidete Banknachbar war groß, hager, hatte ein auffallend langes Kinn und eine gelbliche Gesichtsfarbe.

»Sie werden sie sofort erkennen, wenn Sie sie sehen«, erwiderte er lächelnd.

Denny ließ seinen Blick noch einmal suchend über die lustwandelnden Damen schweifen und sagte dann:

»Mir erscheint das ebenso schwierig, wie eine Stecknadel auf einem Heuboden zu finden.«

»Das ist aber nicht schwer, wenn die Nadel, die Sie suchen, leuchtet«, entgegnete der Fremde.

»Demnach ist sie sehr bekannt in San Clemente?«

»Unsere Stadt hat zwei Vorzüge: den ewig blauen Himmel, der sich über ihr wölbt, und die Carmelita.«

Da diese Worte ein Mann aussprach, der kein Jüngling mehr war und alles andere als romantisch-überspannt aussah, wirkten sie natürlich doppelt auf den Kleinen.

Und dann sah er sie!

Er hatte den Eindruck, als ob vor und hinter ihr die Menge zurückgewichen sei, obwohl sie im dichtesten Gedränge einherschritt. Nur die wirklich schönen Mädchen mieden ihre Nähe, weil sie lieber anderswo als bescheidene Sterne erstrahlten, als sich vom blendenden Glanz dieser Sonne verdunkeln zu lassen.

Gekleidet war die Carmelita wie die meisten anderen Frauen – der einzige Unterschied, den Denny entdecken konnte, war die weiße Blume im Haar, die durch das hauchdünne Gewebe ihres schwarzen Spitzentuchs hindurchschimmerte. Der Fremde hatte schon recht gehabt – ihre Schönheit schien von innen heraus zu strahlen.

Sie sah über die lustwandelnden Männer hin, man merkte, daß sie keinen Gedanken an sie verschwendete, daß sie alle nur vorübergleitende Bilder ohne jede innere Beziehung für sie waren. Doch da traf unvermutet ihr Blick den Dennys, und da trat plötzlich ihre ganze Seele in ihre Augen – ich weiß das, denn ich habe diesen Blick selber gesehen und kann darum behaupten, daß dieser anders war als alle, die der Kleine je auf sich ruhen gefühlt hat.

Sie schritt weiter, Denny aber sprang auf, um ihr nachzuschauen. Nicht nur ihr Gesicht, die Haltung des Kopfes, ihr Gang unterschieden sie von allen übrigen, hoben sie unter Hunderttausenden als einmalig heraus.

Denny ließ sich auf die Bank zurückfallen – wie benommen fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.

»Nun – hab' ich zu viel gesagt?« fragte sein Nachbar.

»Wahrhaftig nicht«, erwiderte Denny. »Ich könnte begreifen, daß für sie Männer willig sterben.«

»Das haben schon viele getan«, erwiderte der Fremde, »viele auch sind unfreiwillig ihretwegen gestorben, und viele werden es noch, denn wenn sie den Señor erst satt hat, wird die alte Geschichte wieder losgehen. Den armen Juan Orthez haben Sie ja wohl gut gekannt?«

Der Kleine hatte das Gefühl, als ob sein Blut zu Eis erstarre, ließ sich aber nichts merken, sondern fragte harmlos:

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil Sie seinen Anzug tragen – er kleidet Sie übrigens ausgezeichnet.«

»Wer sind Sie denn?«

»Vielleicht auch ein Freund des Toten«, erwiderte der Schwarze und sah Denny forschend an.

Der Kleine hielt dem Blick tapfer stand und brachte es sogar fertig, lächelnd zu erwidern:

»Und doch irren Sie sich – ich habe noch niemals getragene Kleider angehabt, am allerwenigsten die eines Toten.«

»Der Anzug wirkt noch durchaus modern, und außerdem ist sein Vorbesitzer ja nicht an einer ansteckenden Krankheit zugrunde gegangen – wozu ereifern Sie sich also?«

»Das tue ich keineswegs – ich wiederhole nur, daß Sie sich irren.«

Der Schwarze schüttelte bedächtig den Kopf.

»Was ich weiß, weiß ich«, sagte er, »auch daß Sie sogar ohne den Anzug fünftausend Pesos wert sind.«

Was tut in einem solchen Fall ein vernünftiger Mensch?

Ich hätte unbedingt sofort meinen Revolver gezogen – lasse es aber dahingestellt sein, ob das richtiger gewesen wäre als das, was der Kleine tat. Er lehnte sich nämlich auf der Bank zurück und sagte nur:

»Sie scheinen ja allerlei von mir zu wissen.«

»Gewiß – ungefähr so viel wie der Señor, wenn auch natürlich nicht so viel wie Ihr Freund Joe Warder.«

Obwohl Denny sich fest vorgenommen hatte, auf keinen Fall seine Erregung zu verraten, zuckte er zusammen und starrte entgeistert seinen Nachbarn an – wenn dieser sich unter Entwicklung eines scharfen Schwefelgeruchs in eine Rauchwolke verflüchtigt hätte, würde er wohl kaum erschreckter dreingeblickt haben.

Dabei war an dem Menschen durchaus nichts Außergewöhnliches – höchstens vielleicht das seltsame, fast grausam wirkende Funkeln seiner Augen und die Größe seiner Hände, die in einem starken Mißverhältnis zu seinen schmalen Schultern standen.

»Woher haben Sie diese Kenntnisse?« fragte der Kleine, nachdem er sich etwas von seinem Erstaunen erholt hatte.

»Ich bin Gedankenleser«, erwiderte der Fremde lächelnd.

»So? ... Dann wissen Sie wohl auch, was ich hier will?«

»Selbstverständlich.«

»Nun?«

»Die Carmelita um eine Unterredung bitten, damit sie Ihren Bruder in Ihrem Sinne beeinflussen soll.«

Jetzt war Denny MacMore einfach erschlagen, er umkrampfte mit zitternder Hand die Banklehne, um nicht aufzuspringen und kopflos davonzurennen.

»Und was wird sie mir antworten?« fragte er schließlich.

»Ja, mein Lieber – was eine schöne Frau in so einem Fall sagen wird, das kann, glaube ich, selbst der Teufel nicht im voraus wissen«, entgegnete der Fremde lächelnd.

»Ein Prophet sind Sie also nicht, sondern nur einfach ein Detektiv?« rief der Kleine, plötzlich zuversichtlich geworden. »Oder können Sie mir sagen, was ich jetzt tun werde?«

»Dazu bedarf es wahrhaftig nicht der Gabe der Weissagung: Sie werden Señorita Alvarado ansprechen, sobald sie wieder vorüberkommt – schon um dadurch der Gefahr zu entgehen, die Ihnen von hinten droht!«

»Gefahr von hinten?«

»Allerdings! Als Sie nämlich das Haus des Schmiedes Enrico Orthez verließen, ist man Ihnen nachgegangen und hat die Polizei verständigt, die sofort vier Gendarme und zwei Beamte in Zivil entsandt hat, um Sie festzunehmen. Sie brauchen nur den Kopf ein bißchen zurückzuwenden, dann sehen Sie da hinten zwei Schutzleute herankommen.«

Denny tat es – die Sache schien zu stimmen.

»Allerdings ist ja noch nicht gesagt, daß die Anwesenheit der beiden mir gilt«, meinte er.

»Es ist aber so, doch da unsere Polizei keineswegs aus Helden besteht, werden diese warten, bis die beiden anderen da sind, deren Federbüsche dort hinten auftauchen«, fuhr der Schwarze sachlich-kühl fort. »Können Sie sie sehen?«

»Ja ... Aber wenn ich jetzt aufspringe und –«

»Das wäre das Schlimmste, was Sie tun könnten«, unterbrach ihn der Unbekannte, »denn dann würden Sie geradeswegs den Beamten in Zivil in die Arme laufen, und einer von ihnen ist ein brutaler Kerl, der überdies den Señor haßt.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Sehr viel, denn wenn Sie ihm den geringsten Vorwand dazu bieten, wird er sie kaltblütig niederschießen und dann behaupten, er sei in Ausübung seiner Amtspflicht dazu gezwungen gewesen – er ahnt allerdings nicht, daß der Señor diese Ausrede nicht gelten lassen, sondern sich schwer an ihm rächen wird.«

»Was soll ich denn dann aber tun?« fragte der Kleine fassungslos.

»Hoffentlich das einzig Vernünftige – was meiner Ansicht nach wäre, quer durch die ganze Anlage, an der Musikbude vorbei, nach der anderen Seite hinüberzulaufen, wo Sie sicher ein gesatteltes Pferd oder einen Wagen finden werden, mit dessen Hilfe Sie dem Polizeiaufgebot entgehen können.«

»Aber das bedeutet doch –«

»Daß ich Ihnen das Leben rette«, unterbrach ihn der Schwarze, »wofür ich übrigens keinerlei Dank erwarte ... Ich muß Sie leider jetzt verlassen – lange werden Sie ja nicht allein bleiben, denn da kommt sie.«

Er war bei den letzten Worten aufgestanden, auch der Kleine erhob sich und fragte scheu:

»Werde ich Sie wiedersehen?«

Aller Spott, alles höhnische Lächeln wich aus dem Gesicht des geheimnisvollen Fremden, mitleidig sah er Denny an wie einer, der um die Leiden dieser Welt nur zu gut weiß.

»Sie werden mich wiedersehen, junger Mann«, sagte er, »und bis dahin möge Ihnen der Himmel gnädig sein!«


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