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Ida Boy-Ed
Annas Ehe
Ida Boy-Ed

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Die beiden Stunden nach dem Gabelfrühstück pflegte jeder Bewohner oder Besucher von Sommerhagen nach eigenem Belieben zu verwenden. Ja, Herdeke hatte früher einmal das Gesetz aufgestellt, daß alle geselligen Zusammenkünfte in dieser Zeit verboten sein sollten. Denn, sagte sie scherzend, man könne auf dem Lande nicht vorsichtig genug mit Gästen sein, es gebe Menschen, die sich zu schnell erschöpft und peinlich rasch ausamüsiert hätten. Der Reiz des Zusammenseins erhöhe sich, wenn alltäglich einmal eine große Pause es unterbreche.

Diese Zeit nun hatte Stephan immer benutzt, um sich mit der Geliebten zu treffen.

Ein Viertel nach zwei Uhr verließ er sein Zimmer. Als er den Korridor des zweiten Stockwerkes entlang schritt, hörte er hinter einer der Türen Wolfs klangvolles, herzliches Lachen und Donat v. Linstows etwas zögernde und klägliche Stimme.

Im Korridor des ersten Stockwerkes herrschte völliges Schweigen. Unten in der Halle saß Herr v. Reinbeck und las Zeitungen.

»Was denn? Sie wollen ausgehen? Hat der Vormittagsspaziergang Ihr Bedürfnis nach Natur noch nicht gedeckt?« fragte er.

»Es ist unstillbar,« antwortete Normann scherzend.

»Für 'n Infanteristen 'ne sonderbare Gemütsrichtung. Laufen ja schon von Berufs wegen kolossal viel Gegend ab. Lassen Sie die hiesige für heut' nachmittag unzertreten und spielen Sie mit mir 'ne Partie Schach,« schlug Reinbeck vor.

»Ich spiele nicht Schach,« sagte Stephan.

»Nanu, seit wann nicht mehr?«

Ja, das war eine törichte Ausrede gewesen!

»Ich habe wirklich das Bedürfnis, ins Freie zu gehen,« sagte Stephan etwas kurz und wandte sich der Tür zu.

»Ich würde fragen ›Rendezvous?‹, wenn ich nicht sämtliche Damen hier in ihren Zimmern wüßte. Na, Gott befohlen, wenn Sie denn durchaus naß werden wollen! Geben tut es was! Es sieht unnatürlich am Himmel aus.«

Stephan mußte am Wald entlang, am Wirtschaftshof vorbei und dann links am Saum der großen grünen Koppel voll wehender Wintersaat hinschreiten.

Das Meer wuchs ihm dabei gleichsam entgegen, im Maße, wie er sich dem Rande der steilen Küste näherte. Links in einer Einsattelung des Geländes erblickte man die blaugrauen und roten Dächer des Fischerdorfes und Badeortes Lohme. Geradeaus sahen die runden Buchenwipfel des Waldes über die Kante des Hochplateaus. Als schmaler Streifen streckte sich ein Ausläufer des mächtigen Waldgebietes, das den östlichen, meerwärts gewandten Teil der Insel bedeckt und bis hierher, sozusagen am schroffen Hang entlang klettert.

Seltsam lau war die Luft. Viel zu warm für einen Apriltag. Es schien, als spürte man unsichtbares Leben im Wald.

Links in der Tiefe schimmerte der von großen, fahlfarbigen Steinen übersäte Strand. Bleigrau wogte das Meer, schaumlos, in einer Bewegung, die aus der Tiefe und Ferne zu kommen schien. Es war etwas Unschlüssiges und Erwartendes in dieser Bewegung.

Und bleigrau sah der Himmel still und schweigsam aus der Höhe durch die bräunlich rötlichen Wipfel herab.

Es schwieg der Wind; die Wolken standen unbewegt.

Stephan verfolgte den Weg auf halber Höhe des steilen Hanges. Nach einer kurzen Wanderung erreichte er die Stelle, wo der Waldstreifen sich an das große, breite Waldgebiet schloß.

Es kam dem Manne vor, als regte sich etwas zwischen den Bäumen. Nun sah er es: eine Frau, die sich bald bückte, bald mit geneigtem Kopf wie suchend dahinschritt, aber dabei sich doch auf ihn zu bewegte.

Bald erkannte er sie. Es war Frau v. Braunau. Sie hatte ihn auch bemerkt und kam nun lebhaft in ihrer gesprächigen Art auf ihn zu.

»So allein, Herr Leutnant? Ich suche Waldmeister. Natürlich nicht zur Bowle. So etwas können wir uns nicht leisten. Ich lege ihn in eine kleine Vase, dann riecht das ganze Zimmer danach. Parfüm kann ich mir nicht kaufen.«

Ihr Haar war verweht und hing ihr ums Gesicht. Die Straußenfeder auf ihrem Hut hatte in irgend einem Unwetter vor Monaten alle ihre Krausheit verloren, wie Kammzähne lagen ihre Rispen nun nebeneinander.

»Helfen Sie mir!« schlug sie vor.

Aber er hatte ja Eile und wußte sich ihr zu entziehen.

Die Begegnung war fatal. Er sah sich noch lange Zeit nach der einen und andern Seite um. Erst schien es ihm, als huschte da eine Gestalt hinter einen dicken Baumstamm. Aber dann bemerkte er nichts mehr. Schließlich mochte er der Frau eine Tat plumper Neugier doch nicht zutrauen und gab es auf, zurückzusehen.

Mit einem Male war es ihm, als hörte er einen murrenden, fern verhallenden Ton. Aber er konnte dem nicht nachhorchen und nachsinnen; denn abermals tauchte eine Gestalt zwischen den Bäumen auf, und sein Herz sagte es ihm: es war die Geliebte!

Der Platz, wo sie sich zu treffen pflegten, war eine halbrunde Lichtung im Wald, gerade am Rande der Hochebene gelegen. Vor ihr stieg steil der bewaldete Hang hinab. Über die Wipfel hinweg sah man das grenzenlose Meer. Einige Bänke standen in der Reihe.

Das weite, große Bild der See, eingerahmt von Buchenwipfeln und Buchenstämmen, zog im Sommer die Badegäste von Lohme und Stubbenkammer her. Jetzt lag der Platz einsam.

»Sophie,« rief der Mann, »Sophie!«

Die vor ihm Schreitende wandte sich um.

Sie liefen aufeinander zu, und atemlos vor Herzklopfen und Erregung, hielten sie sich einige Augenblicke still umfaßt.

Ihr Wiedersehen war keine reine Freude. Sophie, ihr Gesicht an der Schulter des Geliebten, kämpfte gewaltsam mit aufsteigenden Tränen. Und auch vor seinen Augen stand es wie ein Nebel.

Lange schwiegen sie.

»Meine Sophie!« sagte er dann innig.

Und endlich hatte sie sich gefaßt und lächelte zu ihm empor, liebevoll und schmerzlich.

Er legte den Arm um ihre Schulter. So schritten sie nun langsam über den feuchten, in jungem Grün üppig schwellenden Waldboden, über die Lichtung hin, auf die Bänke zu.

»Das war eine Qual gestern,« sprach Sophie leise.

»Die Freude überwog doch, daß wir beieinander sein, sogar zusammensitzen durften,« sagte er in zuversichtlichem Ton. Und ich sehe seit gestern gar keine Hindernisse mehr. Wie viel Wohlwollen muß Onkel Burchard für dich haben, wenn er dich gleich seiner Frau so empfahl; wie gut mußt du ihr gefallen haben ! Wie könnte es auch anders sein!«

Und er zog die neben ihm her Schreitende ein wenig näher an sich, zärtlich und stolz.

Sie seufzte nur. »Ach, Stephan ...«

»Ich habe mich nun infolge des gestrigen Abends entschlossen, noch heute oder morgen mit Onkel Burchard zu sprechen. Ich bin seines Wohlwollens gewiß, da du so offenkundig auch der jungen Gräfin gefällst. Nur mit dir besprechen wollte ich noch, ob du nicht findest, daß wir uns zuerst deinem Vater eröffnen sollen! Er ist als Vater eben doch der Nächste und Erstberechtigte. Ich bin bereit, jetzt auf der Stelle mit dir zu gehen.«

Sie waren nun bei den Bänken angekommen und setzten sich auf die mittelste. Eng nebeneinander – Arm in Arm – sie das Haupt ein wenig gegen seine Schulter gelehnt.

Vor ihnen, hinter dem Vordergrund der rötlich bräunlichen Wipfel wogte in unruhvoll unschlüssiger Bewegung eisengrau, mattglänzend und mit blauen und ockerfarbenen Tinten durchstreift, das Meer.

Fern irgendwo, weit hinter dem mächtigen Gebreite der Wälder murrte wieder der dumpfe, langausgedehnte Ton durch die Lüfte.

»Du bist so schweigsam, Geliebte?« fragte er.

Sie saß traurig neben ihm, zitternd vor dem, was sie alles sagen wollte – mußte, und doch zugleich mit einem blassen, stillen Glück im Herzen, daß sie überhaupt noch einmal wieder ihre Wange gegen seine Schulter drücken, seine liebe Nähe fühlen durfte.

»Es ist mir schrecklich, dir zu sagen, daß du dich vollkommen irrst,« sprach sie leise. »Aus welchem Grund mich die Gräfin eingeladen hat, weiß ich nicht. Die Teilnahme an mir ist sicher ganz oberflächlich. Glaube nur, wenn man so wund und verängstigt ist wie ich, bekommt man einen sechsten Sinn für die Aufnahme von Herzenstönen. Ich habe keinen aus der Art der Gräfin gehört. Und daß Graf Geyer völlig durch mein Erscheinen überrascht war, ist gewiß. Von ihm ging es also nicht aus.«

»Du meinst...?« fragte er bestürzt. Er hatte ein ganzes Gebäude von Hoffnungen aufgetürmt auf das Fundament dieses vorausgesetzten Wohlwollens für die Geliebte.

Aber die kurze Ernüchterung überwand er schnell.

»Einerlei,« sagte er mit festem Ton, »ich bin es dir und mir schuldig, zu handeln. Und ich werde handeln.«

Sophie legte ihre Wange ein wenig fester gegen seine Schulter. Ihre kalten Hände hielt sie gefaltet auf dem Rande des Matrosenhütchens, das in ihrem Schoß lag.

Sie sammelte sich. Sie brauchte Mut. Sie wollte ihm ja weh tun. Und sich selbst noch viel, viel mehr ...

»Was du dir schuldig wärest, weiß ich wohl. Mir entsagen,« brachte sie hervor.

»Sophie!« Er fuhr auf. Der Zorn sprühte aus seinen Augen. Sein junges Gesicht war in Schmerz verzogen.

»Hältst du mich einer Ehrlosigkeit für fähig?« fragte er.

»Wen nur die Ehre neben mir hielte, den möcht' ich gar nicht halten.«

»Du weißt, daß ich dich liebe und deshalb nicht von dir lasse. Liebe und Ehre sind eins – wenn es sich um das Weib handelt, das mein Weib werden wird,« sagte er heftig.

In ihr flammte kein Schmerz und keine Leidenschaft, die noch Streitermut hatte, mehr auf. Ihre Hoffnungen waren zerbrochen, ihre Seele zerschlagen.

Sie hatte nur noch Kraft zur letzten Liebestat: ihm zu entsagen.

»Ich weiß es,« sprach sie leise. »Aber ich weiß auch keinen bessern Dank für alles, was du mir gabst und bist, als dich zu bitten: Gib mich auf!«

»Sophie – Geliebte – wie kannst du ...«

Sie unterbrach seinen schmerzlichen Ausruf. Ohne sich zu bewegen, mit den großen, traurigen Augen hinausstarrend auf die drohend unruhvolle See, ohne doch etwas von dem Wallen und Wogen zu sehen, sagte sie leise: »Als wir uns vor zwei Jahren fanden, haben wir nur auf unsre Herzen gehört. Wenn das eine Schuld war – wir büßen dafür – lange – lange – ich vielleicht mein Leben lang. Du stehst draußen, in der Welt. Vielleicht vergißt man da leichter. Ich hoffe, ich erflehe es für dich. Vor zwei Jahren redeten wir uns auch ein, daß es mancherlei Hoffnungen gäbe – vielleicht gab es auch welche; sie haben sich uns nur nicht erfüllt ... du hättest ja wirklich eine Stellung finden können ... Dann war Graf Geyer damals noch nicht verheiratet ... ich weiß selbst nicht – aber mir ist, als ändere das viel. Ich hab' auch nach und nach begriffen: ein armes Mädchen darf sich nicht als Bleigewicht an das Leben eines Mannes hängen – ihn nicht zwingen, ihretwegen den Beruf zu wechseln.«

»Ich hab' dich ausreden lassen,« sprach er, »ich wollte hören, warum ich dich denn aufgeben soll. Du glaubst es ja selbst nicht, meine Sophie – – Alles, was du da sagst, sind äußerliche Wahrheiten. Die innere, einzige, ewige bleibt: ich lasse nicht von dir.«

Er küßte sie, als wollte er sich ihr noch einmal in heiligem Schwur anverloben.

Zitternd und hingebend duldete sie seine Küsse, halb beseligt von seinen festen Worten, halb beschämt von dem Gefühl, daß man nicht so zärtliche Küsse dulden dürfe, wenn man entsagen wolle ...

Und zum dritten Male ließ der murrende Ton seine Schallwellen durch den Wald hinzittern. Sie schienen aus dem Hintergrunde, zwischen den weißgrauen Buchenstämmen sich herzuwälzen. Sophie und Stephan fuhren auf. Sie sahen sich unwillkürlich um, als habe sich da ein auf der Lauer liegendes Ungeheuer gerührt.

»Ein Gewitter,« sagte Stephan, »jetzt – im April. Komm – daß es uns nicht überrascht!«

»Wir können nicht zusammengehen. Es ist gefährlich.«

»Ich sollte dich allein lassen bei einem herankommenden Unwetter? Wenn uns jemand zusammen sieht – gut – desto besser. Ob Onkel Burchard und die Gräfin mich verstehen oder nicht – dir wohlwollen oder nicht: ich muß nun vorgehen ... Aber komm doch!«

Sophie schritt neben ihm. Ein zuckender, weißblauer Schein, der über den Himmel flog, hatte bewirkt, daß sie sich fügte.

»Ich gehe mit dir, bis man Sommerhagen sieht ...«

»Gut – komm nur ...«

Die rollenden Töne in der Höhe kamen nun rasch hintereinander.

Aber noch stand der Wald im Schweigen unter dem wolkenverhangenen Himmel, durchwürzt von der lauen Frühlingsluft und dem Atem junger Kräuter. Und graue wartende Stille war unter den knospenden Buchen. Das Licht versiegte mehr und mehr.

Im hastigen Schreiten sagte Sophie: »Versprich mir, nichts zu überstürzen. Suche zu erfahren, wie deine Verwandten denken. Ich will nicht, daß du meinetwegen alles verlierst.« Sie stand still und faßte nach seiner Hand.

Ernst und groß sah sie ihn an. Und er erwiderte ihren Blick.

Es war, als prüften sie sich gegenseitig auf die Kraft ihres Willens.

Er wußte es wohl: dies Mädchen liebte ihn so rein, so selbstlos, daß ihr jede Opfertat, auch die furchtbarste, zuzutrauen war, wenn sie die Erkenntnis gewann, sie zerstöre sonst sein Leben. Und er liebte sie um dieser ihrer Selbstlosigkeit willen nur um so heißer.

Sie aber wußte, daß seine Liebe und seine Ehrenhaftigkeit zu stark waren, um je freiwillig von ihr zu lassen. Sie liebte ihn um dieser seiner starken Leidenschaft willen nur um so heißer.

Und sie hatte es jetzt ganz und gar begriffen: wenn sie seine Zukunft von der ihren trennen wollte, wenn sie sich opfern wollte, damit sein Dasein kein verpfuschtes werde – dann mußte sie still und zäh und klug daran arbeiten. Wie viel leichter schien es, sich in den heißen, jähen Schmerz einer raschen Entsagung zu stürzen ...

»Versprich mir,« bat sie weiter, »meinen Namen nicht zu nennen, von unserm Bündnis nichts zu verraten, wenn du herausfühlst, daß Graf Geyer dir zu einem bürgerlichen Beruf nicht helfen würde um eines armen Mädchens willen. Dann warten wir, bis – bis du Hauptmann bist ... nicht wahr? Du schriebst ja selbst so Ähnliches ... Aber vielleicht – mein Gott – vielleicht weil er selbst nun glücklich ist, will er auch andern Glück gönnen ...«

Sie konnte nicht weiter sprechen. Aus dem Untergrund ihrer gequälten Seele kam die unsterbliche Hoffnung, die längst erloschen geglaubte, wieder empor und berauschte ihre Gedanken ...

Ergriffen nahm der Mann die Geliebte in seine Arme. Sie klammerten sich aneinander, von Hoffnung und Sorge bebend.

Zu ihren Füßen lief jetzt eine Bewegung über den Waldesgrund. Wie von unsichtbarer, rascher Hand schienen die jungen Gräser alle in einer Richtung niedergestrichen zu werden. Und dann rührte es sich in der Höhe. Die Wipfel über ihnen begannen zu brausen.

Kein Rauschen war es von raschelnd bewegter Blätterfülle, kein üppiges, sommerheißes Wehen ... der Sturm, der plötzlich einherzog, peitschte die knospenden Reiser, und gelle, langgezogene Töne fuhren durch das Brausen.

»Komm,« sagte das Mädchen erschauernd, »komm!«

Hand in Hand eilten sie weiter. Es war, als jagte sie das Brausen. Und die ersten Tropfen schnellten ihnen nach.

Sie hatten einen Schirm. Eng drängten sie sich aneinander, die runde Wand der gespannten Seide im Nacken.

Schneller und härter prasselten die Tropfen gegen das gewölbte Seidenrund des Schirmes.

Fast schwarz wurde es um sie her, und im fahlen Dämmerschein sahen die grünen Blättchen an einigen Büschen des Unterholzes so seltsam hell aus.

Unter einer großen Buche machten sie Halt. Der umfangreiche Stamm gab ihnen Schutz im Rücken. Leidlich geborgen standen sie so, verirrten und verfolgten Menschenkindern gleich.

Gerade weil der Regenschauer vom peitschenden Winde fast wagrecht durch die Luft gejagt wurde, schuf der mächtige Baum Raum für ein trockenes Stellchen.

Sophie fühlte sich todtraurig, geängstet und zerschlagen.

Bei den Blitzen fuhr sie nervös zusammen, der Donner ließ sie zittern.

War dies nicht ein Bild ihres Lebens? Schutzlos dem Wetter preisgegeben! Das Beste, was sonst ein Menschenherz mit königlichem Stolz erfüllt: die Liebe, verstecken und in Sturm und Wetter elend kämpfen ...

Als ahnte Stephan, was in ihr vorging, sagte er fröhlichen Tones: »Ein Frühlingsgewitter. Ist das nicht auch alles Ungemach, das sich in unsre Liebe drängt? Nur ein Frühlingsgewitter!«

Sie schwieg.

Sie horchte ängstlich hinaus. Die ganze Luft war von Tönen erfüllt, die einander zu verdrängen schienen. Die noch kahlen Wipfel durchpeitscht – in der Höhe ein fortwährendes Grollen – und drüben in der Tiefe das rastlose Rauschen des Meeres, das nun, aus aller unschlüssigen Ruhe befreit, seine Wogen kraftvoll und regelmäßig gegen den steinigen Strand donnern ließ.

Lange standen sie so. Das trockene Fleckchen ward kleiner und kleiner. Der Regen fiel senkrechter, und aus dem Tropfenfall ward ein Sprühen. Sophiens Kleid ward wie mit Silberstreu übersät. Auf Stephans Schulter tropfte es von den Rippen des Schirmes herab. Fröstelnd, unglücklich standen sie und warteten das Verhallen des Unwetters ab. Zwei arme Menschen, die nicht einmal den Schutz einer Hütte hatten, keine Stätte, um in friedlich heiterer Ruhe die höchsten Fragen ihres Lebens zu beraten.

Und sie fühlten beide das Demütigende, ja das Unwürdige dieser Lage. Und in seinem Herzen wie in dem ihren ward der Entschluß noch fester: Dies durfte nicht dauern!

Nur daß er bereit war, für den Sieg, und sie entschlossen war, für das Ende alle Kraft einzusetzen.

Er schämte sich und kam sich unmännlich vor, daß er dies reine, vornehme Mädchen zum Stelldichein gebeten hatte. Und sie schämte sich, daß sie nicht den Heldenmut gehabt hatte, schon seinem ersten Geständnis die Lüge entgegenzusetzen, sie liebe ihn nicht.

»Ich glaube, es wird nicht mehr viel besser,« sprach sie endlich gedrückt.

»So gehen wir!« antwortete er kurz. Nun stand eine herbe, feuchte Kühle zwischen den Stämmen des Waldes, und alles schwüle, drängende Frühlingsahnen war wie niedergeschlagen.

Als sie wohl eine Viertelstunde lang in schwerem Schweigen nebeneinander gegangen waren, kam dem Manne das Gefühl, daß sie in dieser Stimmung nicht bleiben oder gar auseinander gehen durften.

»Du hast mir noch gar nichts von deinem lieben Vater gesagt,« begann er herzlich.

Er wußte, daß jedes Wort der Teilnahme und der Achtung für den armen Mann ihr wohltat. Er brauchte auch weder Teilnahme, noch Achtung zu heucheln. Längst hatte er erkannt, daß das ganze Unglück des Doktors Schüler aus dessen überzartem Gewissen entsprang. Hundert andre an seiner Stelle wären über das Ereignis hinweggegangen, wie über einen jener peinlichen Zwischenfälle, von denen der ärztliche Beruf nun einmal nicht frei bleibt. Seine Seele klammerte sich allzu hartnäckig an die Frage: Habe ich fahrlässig gehandelt? Und an ihre Lösung setzte er den Rest seines Lebens.

»Es ist eine Wandlung eingetreten, von der ich noch nicht weiß, ob sie gut oder schlimm ist. Papa ist von dem tatenlosen Grübeln zum Experimentieren übergegangen,« erzählte Sophie.

»Um Gottes willen ... ein Experimentieren mit Opiumtinktur ... an wem? Doch nicht an sich selbst?«

»Sähest du mich dann so ruhig?« sprach sie. »O nein – es ist gewiß nicht ganz unvernünftig, was er macht – aber ich habe doch Furcht – für ihn des Resultats wegen – und deshalb – –«

»Nun,« drängte er, »und deshalb?«

»Wie wunderbar ist es doch, daß man Menschen, die man am heißesten auf Erden liebt, oft am besten dient mit Lüge und Betrug,« sagte sie vor sich hin; die Gedanken an ihren Vater verknüpften sich mit denen an ihre Liebe.

»Doch nur, wenn irgend etwas ungesund in den Verhältnissen ist,« meinte er.

»Ganz gewiß,« bestätigte sie bedeutungsvoll. Und nach einer Pause fuhr sie fort zu erzählen: »Wir haben nun eine kleine Kaninchenzucht. Papa erzeugt bei den Tieren allerlei Krankheiten und sieht dann zu, wie viel Tropfen Opium sie vertragen, wie viel sie heilt.«

»Das ist ja krankhaft.«

»Gewiß. Aber wenn es ihn selbst von seinen Qualen genesen machen kann ... Denke dir: als das Experiment mit dem ersten und zweiten Tier mißglückte, stieg Papas Unglücksgefühl. Dann – dann griff ich zu einem Betrug. Vorige Woche füllte ich heimlich die Fläschchen mit einer Flüssigkeit von der gleichen Farbe – als Doktorskind weiß man ja mit mancherlei Bescheid – ich tat eine Chininlösung in die Fläschchen. Seitdem hat Papa wieder mit zwei Tierchen experimentiert. Er versteht selbst die Resultate nicht – aber er sieht es ja – sie sterben nicht – er ist ganz angeregt und spricht wieder mehr davon, daß die Autoritäten recht hatten, welche für ihn eintraten.«

»Meine arme Sophie! Aber liegt der Betrug nicht zu sehr auf der Hand?«

»Eben darum wird er ihn nicht entdecken. Das Allerunwahrscheinlichste läßt sich am leichtesten verbergen. Niemals käme ihm von selbst die Idee, daß irgend jemand, und gar ich, sich über seine Tinkturen hermachte. Ich hoffe, nach kurzer Zeit sagen zu können: Nun beruhige dich definitiv, denn du hast nun Beweise genug, und wer weiß, vielleicht gewinnt er dann den Mut zurück, wieder zu praktizieren. Wenn die Leute ihn auch nur einmal bei ganz leichten äußerlichen Sachen zuzögen – es wäre schon viel für ihn – gäbe ihm moralischen Halt.«

»Liebling – soll ich mir die Hand zerschneiden oder versengen?«

»Du wärest imstande – – ich bitte dich! Nein, was du manchmal für Einfälle hast!«

Ihre Augen leuchteten zärtlich zu ihm auf.

»Ach, mein Herz – was für eine düstere Jugend du hast!« sagte er.

»Zwei Jahre habe ich dich gehabt, ist das nicht Glücks genug?«

Er drückte ihr stark die Hand. »Sprich nicht so, als sei es ein Liebestraum gewesen, der nun ausgeträumt sei. Zwei Jahre haben wir von Hoffnungen gelebt. Das ist vorbei.«

»Ja, das ist vorbei,« bestätigte sie; aber sie meinten es jeder anders.

Der sprühende Regen versiegte nun. Aber der Waldesboden war naß, die Wetterseite der grauen Buchenstämme schwarz, die Reiser blank. Es schien, als habe die Natur gebadet und fröre nun sehnsüchtig dem trocknenden Sonnenschein entgegen.

Nun schimmerte die große Koppel zwischen den Stämmen auf, gleich einem grasgrünen Vorhang, der hinter weißgrauen Säulen aufgehängt war.

»Ich warte. Geh' allein weiter! Ich will es so!«

Der bestimmte Ton des Mädchens zwang ihn, ihr nachzugeben. Und er sah es ja auch ein: es war klüger und würdiger, ihr Verlöbnis nach angemessener Vorbereitung selbst mitzuteilen, als es vom Zufall entdecken zu lassen.

»Leb' wohl, mein Liebling! Morgen nachmittag besuche ich deinen Vater. Vielleicht habe ich dann inzwischen schon mit Onkel Burchard sprechen können.«

Er zog sie noch einmal in seine Arme. Und sie ließ es geschehen in zitterndem Glück. Sie wußte, es war das letztemal – denn sie war entschlossen, ihn niemals wieder allein im Wald zu treffen. Sie litt zu sehr – ihr Stolz zuckte wie unter Dolchstößen.

Er und sie, sie waren beide zu gut zu dieser Heimlichkeit.

Lieber unglücklich sein, aber würdig bleiben, als fieberhafte Glücksminuten so peinvoll mit Beschämung bezahlen – wie heute. – – –

Um dieselbe Nachmittagsstunde, als Stephan und Sophie sich im Walde trafen, saß Graf Burchard bei seiner jungen Gattin in ihrem Wohnzimmer. Es lag im ersten Stockwerk, neben ihrer Schlafstube. Von den Fenstern sah man hinaus über die Koppel auf das Meer, gerade wie bei Stephan, dessen Zimmer unmittelbar über diesem lag.

Graf Burchard war gekommen, um in der Freiheit und Stille, die diese Stunde ihnen gab, ernste Dinge mit Anna zu sprechen.

Vor seiner Heirat hatte er wenig Gelegenheit gehabt, seine Braut wirklich kennenzulernen. Er liebte. Und von der Gewalt dieser ihn unwiderstehlich und leidenschaftlich anfassenden Liebe hatte er sich zu dem jungen, schönen Geschöpf führen lassen.

Er vertraute sich und seiner abgeklärten Kraft. Welche Eigenschaften auch immer er in der jungen Frau finden werde – es mußte und würde ihm gelingen, mit ihr zusammen ein rechtes Glück sich aufzubauen, nicht nur für sich – auch für sie. Denn in einer Ehe kann es ein einseitiges Glück nicht geben.

Zweimal hatte er Anna während ihres kurzen Brautstandes besucht, wöchentlich wohl dreimal mit ihr Briefe gewechselt. Aus ihrem Wesen wie aus ihren Briefen sprach immer eine große Bewunderung für seine Persönlichkeit, was er nur zu gern für den Beweis keimender Liebe hielt. Im übrigen fand er seine Braut maßvoll und von fast verschlossener Art. Er nahm das damals für die scheue Unberührtheit des jungen Mädchens, das unter besonderen Erziehungsverhältnissen, eigentlich ganz sich selbst lebend, erwachsen war. Damals hatte er sich vorgenommen gehabt, dem geliebten Weibe erst ein volles Jahr der Pflichtlosigkeit, des gänzlichen Genußlebens zu gönnen. Sie kam ihm ein bißchen vor wie eine verzauberte Königstochter, die er erlöst hätte, und die er nun erst Glanz, Vergnügen, Sorglosigkeit genießen lassen wollte, ehe er sie in das ernste Leben einführte. Aber nun kannte er Anna schon genauer. Oder vielmehr, er hatte begriffen, daß es sehr schwer sei, Anna genau kennenzulernen.

Er sah, daß ihre maßvolle, verschlossene Art nicht die scheue Unberührtheit einer ängstlich vor dem Leben zitternden Mädchenseele war. Er wußte jetzt, daß sich eine ihm noch fremde Gedankenwelt hinter dieser reinen weißen Stirn barg. Er hatte auch längst herausgefunden, daß Anna noch viel intelligenter war, als er einst gedacht hatte. Regsam und rätselvoll! Daß ihr Mund schwieg, wenn ihre Augen sprachen!

Nein, ein solches Weib durfte er nicht müßig gehen lassen!

Sie war zu bedeutend, um mit ihren Kräften brach zu liegen. Und wer wußte, ob diese geheimnisvolle Gedankenwelt nicht Feinde und Gefahren barg?

Graf Burchard erkannte eigentlich nur einen einzigen Bildner und Erzieher an: die Pflicht. Ob die Untergründe in Annas Seele nun voll von Schönheiten und Fähigkeiten zum Guten waren – ob in ihr dunkle Eigenschaften schlummerten – einerlei! Ihr Pflichten zu geben, war ihm ein heiliges Gebot.

Nun saß er bei ihr und legte ihr die ganzen Wirtschaftsverhältnisse von Sommerhagen klar. Sie sollte lernen, diese zu begreifen, um sie eines Tages kontrollieren zu können. Sie sollte auch den ganzen hauswirtschaftlichen Betrieb im Schlosse selbst übersehen lernen, um ihn recht bald ganz zu leiten. Alle Rechnungsbücher sollten von ihr nachgesehen und eine alle Zweige zusammenfassende Buchführung von ihr selbst gepflogen werden. Sie sollte sich mit dem Inhalt der Silberschränke und der Leinenkammer vertraut machen. Er nannte ihr die Zahlen, die im äußersten Fall der Hausstand kosten dürfe.

Sie hörte genau zu. Ihre Zwischenfragen ließen darüber keinen Zweifel, daß sie alles rasch und klar erfaßte. Doch vermochte er nicht zu erraten, ob sie sich diese Aufgaben freudig aufbürden ließ oder ob sie nur aus Klugheit keinen Widerwillen verriet.

Sie saß in ihrer Sofaecke, den Kopf in die Rechte gestützt, den Ellbogen auf der Tischplatte, und sah auf all die großen Bücher hin, die da lagen.

Er zur Seite am Tisch, im tiefen Lehnstuhl, beugte sich weit vor, hielt die Hände auf dem Deckel eines der mächtigen in schwarzes Leinen gebundenen Folianten und sprach liebevoll, gleichsam als Erklärungsrede: »Sieh', liebe Anna, du bist vielleicht erstaunt, daß ein so reicher Mann wie ich von seiner Hausfrau soviel Arbeit und das genaue Innehalten eines bestimmten Budgets fordert. Zur Beruhigung kann ich dir sagen, daß dies Budget so weit gespannt ist, daß Herdeke alljährlich große Ersparnisse machte, die sie zu wohltätigen Zwecken verwendete. Du kannst also, bis du alles sicher beherrschest, immerhin einiges Lehrgeld zahlen, ohne gleich vor Defiziten zittern zu müssen. Reichtum und Stand legen nach meiner Empfindung höchste Verpflichtungen auf. Ich habe die Pflicht, mein Geld zirkulieren zu lassen und durch Gastlichkeit, Kunstpflege und dergleichen vielen Menschen Verdienst zu schaffen. Aber ich habe nicht das Recht, zu verschwenden. Wir leben überdies im Zeitalter der Arbeit. Völlige soziale Ausgleiche kann es niemals geben. Schon als Kain den Abel erschlug, gab es verschiedene Werte und Stellungen – Kain hielt den Abel für vor Gott als besser gestellt. Aber der einzige Ausgleich, der möglich ist, die einzige wahre Gleichheit aller Menschen untereinander ist dies: die Pflicht zur Arbeit sei für alle gleich! Ich darf dir sagen, daß ich mehr Respekt habe vor meinem Ackerknecht, der pflügt, als vor einem meiner Standesgenossen, wenn er faulenzt und verschwendet. Nach diesem Grundsatz soll auch das Wesen leben, das mir das teuerste auf Erden ist.«

Er nahm Annas Linke und küßte sie voll Zärtlichkeit.

»Ich will mir Mühe geben, deinen Erwartungen zu entsprechen,« sagte sie.

Das war eine Banalität. Aber er war schon zufrieden, daß er kein übellauniges Widerstreben fand. Hunderte an ihrer Stelle hätten geschmollt: Das soll ich alles!

Anna schien noch nachgedacht zu haben, denn nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Arbeit ist auch Macht. Man herrscht damit. Nicht wahr?«

Diese Bemerkung überraschte und beglückte ihn. Sie deutete auf den Hang, herrschen zu wollen ... Lag das in ihr? – oh, dann wollte er es schon in das Gesunde lenken.

»Gewiß,« sprach er lebhaft. »Und ich will dir bei dieser Gelegenheit auch erklären, weshalb Herdeke mir näher steht als Renate. Nicht nur, weil ich sie in schwerer Lebenslage sich tapfer und würdig behaupten sah. Sondern auch, weil sie sich fort und fort nützlich betätigte. Sie hat alle Arbeit getan, die ich mit der Zeit von dir erwarte. Renate lebt nur sich, ihrem Behagen, ihrer Toilette.«

»Und ihrem Streit mit Herdeke,« schaltete Anna lächelnd ein.

»Und dabei trennt sie sich nie von ihr. Wer hindert sie zum Beispiel, einmal einen Winter in Paris oder Rom zu verleben? Aber nein – noch kein Mensch hat die beiden je anders als zusammen gesehen. Und diejenige, in deren Armen die andre einmal stirbt, wird noch tadelnd der Sterbenden eine Bemerkung in den letzten Seufzer hineinflüstern,« sprach er.

Zugleich hob er lauschend den Kopf. Ein grollender Ton murrte draußen durch die Luft. »War das Donner? Wahrhaftig – es scheint was aufzuziehen. Ein Aprilgewitter.«

»Was war das für eine schwere Lebenslage mit Herdeke?« fragte sie.

Er wollte sich eigentlich nicht ablenken lassen, denn sein Thema war noch nicht ganz zu Ende gesprochen. Aber er mochte nicht als schulmeisterlicher Pedant erscheinen. »Herdeke schlug drei Anträge nacheinander aus. Nicht nur aus Übermut wie Renate. Nein, sie wollte gern heiraten, sehnte sich nach vielen schönen Aufgaben und sah sich alle Männer darauf an, ob einer für sie paßte. Sie sagte es mir einmal selbst, sie verstehe sich gar nicht, trotz aller Wertschätzung für diesen und jenen sei ihr der Gedanke, ihn zu heiraten, wie was Sündhaftes. So war sie fünfundzwanzig geworden. Sie ging eigentlich auf in der Anteilnahme am Leben ihrer Freunde, des Barons Bolko Liebenberg und seiner Frau, ihrer Pensionsfreundin. Und eines Tages ward ihr und ward dem Manne die geheimste Wahrheit dieser Freundschaft mit Entsetzen klar. Sie liebten sich. Es gab Kämpfe von unaussprechlicher Schwere. Bolko wollte sich scheiden lassen. Herdeke glaubte das Opfer nicht annehmen zu können. Sie wußte, Maria Liebenberg würde daran vergehen. Bolko sagte: ›Es ist besser, daß eine weint, als daß drei weinen.‹ Herdeke sagte: ›Wie können zwei glücklich sein, wenn darüber eine verzweifelt!‹ Das alles zerrte an Herdekens Seele – manchmal fürchtete ich für ihr Leben. Aber endlich tat Herdeke den entscheidenden Schritt. Sie zwang den Mann, jede Hoffnung aufzugeben. Es siegte eben in ihr das Geyersche.«

Mein Gott, dachte Anna, ich hätte gefühlt wie die Maria Liebenberg. Ich wäre auch lieber gestorben, ehe ich eine andre hätte triumphieren lassen. Wie kann man ihr einen Vorwurf daraus machen?

»Worüber denkst du nach?« fragte Graf Burchard, dem ihr Ausdruck nicht gefiel.

»Ich dachte, was du damit sagen wolltest: das Geyersche siegte in Herdeke,« log sie voll Ruhe.

»Du kennst unser Wappen: ein Geier, der hoch in reiner Luft schwebt. Wir haben es immer so gedeutet: Die Reinheit, die Freiheit hoch über allem Niedrigen, das sei unser Element – aber gegebenen Falls stößt der Geier auch hinab und vernichtet kämpfend das Widerwärtige – – Herdeke wollte frei und rein bleiben. Sie sagte: ›Daß dieser Mann und ich uns lieben mußten, war ein Schicksal, das uns ahnungslos befiel. Aber zu ihm gehen, sein Weib werden, Glück mit ihm suchen, das kann ich nicht, denn ein anderes Weib würde ich dadurch elend machen. Ich würde mich der Reue aussetzen.‹ Sieh, und das nenne ich das Geyersche: redlich mit den inneren Feinden kämpfen, die uns versuchen, aber endlich so handeln, daß wir reuelos zurückblicken können. Das Leben bietet uns Schlachten an. Dem entgeht auch der Edelste nicht. Aber wie wir sie zu Ende kämpfen – das entscheidet unsern Wert.«

Anna fühlte, daß sie etwas sagen müßte.

»Dies alles erhöht meine Liebe und Bewunderung für deine Schwester.« Aber sie sagte es mechanisch. Auch als Graf Burchard nun auf die Geschäfte zurückkam, hörte sie kaum zu.

Er hatte ihr noch Wichtigstes zu erklären: wie er hoffe, daß sie sich aus den auf dem hiesigen Familiensitz zu sammelnden Erfahrungen nach und nach so viel Sicherheit erwürbe, um dann Ostrau ganz auf eigene Verantwortung verwalten zu können. Denn dieses Gut war ihr zum Witwensitz bestimmt, ihr besonderes Erbe, wenn er, menschlicher Berechnung nach, lange vor ihr dahingehen sollte. Es gehörte nicht zum Fideikommiß, und er hatte es ihr zu unbeschränktem Eigentum testamentarisch vermacht.

Daß Anna auf diese Auseinandersetzungen nicht mit Reden antwortete, wie: »Sprich nicht von deinem Tod« – »Von derlei mag ich nicht reden hören« – fand er geschmackvoll.

Zum Schluß, als er seine Bücher zusammenraffte, um zu gehen, hatte er aber doch das Gefühl, alles in allem so etwas wie eine Lehrstunde abgehalten zu haben. Das war ihm peinvoll. Seine Reife sollte nie lehrhaft wirken, niemals drücken. Er begriff, daß das den Altersunterschied fühlbar für Anna gemacht hätte.

Auch sie hatte sich erhoben und trat nun neben ihn an das Fenster. Gerade jagte oben am Himmel die schwarzgraue Gewitterwolke schneller heran, und man sah den schweren Regen sich aus ihr entladen. Es zog rasch einher. Nun hatte er schon die Koppel erreicht und peitschte mit kristallenem Aufblinken seine Tropfen auf die grüne Saat.

Drüben das schwarzgraue Meer begann sich mit weißen Schaumstreifen zu durchsetzen.

Die weißblauen Blitze huschten rechts über den Wald nieder.

Ohne Wimpernzucken starrte Anna hinaus. Sie sah eigentlich gar nicht die Vorgänge des Wetters draußen. In ihren Gedanken erwog sie fort und fort jene Worte ihres Gatten: »Das Leben bietet uns Schlachten an. Dem entgeht auch der Edelste nicht. Aber wie wir sie zu Ende kämpfen – das entscheidet.«

Ach, dachte sie, wenn man nur siegt! Wenn man nur alles nach seinem Willen lenken kann! Das scheint mir das Entscheidende – –

Graf Burchard sprach in ihr Grübeln hinein: »Ich denke, wir werden nun morgen wahres Frühlingswetter haben. Dann könnten wir die Partie nach Stubbenkammer machen – zu Fuß, zu Wagen – nach jedermanns Belieben. Um zwölf Uhr von hier fort; dort wird dann halb zwei Uhr gefrühstückt. Ich lasse morgen früh einen Knecht hinreiten, damit man sich vorbereitet. Was meinst du?«

»Einverstanden,« sagte Anna. »Willst du mir noch einen Gefallen tun?«

»Aber bitte ...«

»Nun so mache der Braunau einen Besuch.«

»Selbstverständlich. Aber sieh – nein – ist sie das nicht – bei all dem Wetter aus dem Wald – die da drüben am Rand der Koppel hinläuft? ...« Anna legte die Stirn gegen die Scheiben, um mehr rechts hinaussehen zu können. »Wirklich, es ist die Braunau.«

Und dann wandte sie sich hastig an den Grafen Burchard.

»Kann ich nicht einmal auch den Doktor Schüler besuchen?«

»Wenn du einen Vorwand findest – daß der Mann weder drückendes Mitleid noch gar Neugier in dem Besuch sieht – und die Tochter nicht zu dem Glauben verleitet wird, du wolltest dich auf einen intimen Fuß mit ihr stellen ...«

Anna unterbrach ihn lebhaft: »Hättest du etwas dagegen?«

»Nicht, weil Sophie Schüler dessen unwert erschiene! Ich achte die junge Dame sehr hoch. Aber es brächte sie in eine schiefe Lage. Es fehlt ihr sicher an Kleidern, oft bei uns zu verkehren. Uns natürlich wäre sie immer in dem gleichen willkommen. Aber man kann nie wissen, wie die Saat der Unzufriedenheit und Eitelkeit in so ein Mädchenherz geworfen wird, wenn es oft den Luxus andrer Frauen sieht,« sprach er ernst.

Das kann uns ja ganz egal sein, dachte Anna. Und diesmal konnte sie sich nicht ganz beherrschen. »Du knüpfst an alles so vortreffliche moralische Bemerkungen.«

Es sollte lobend, bewundernd klingen. Und sicher klang auch etwas davon in Annas Seele mit. Er aber hörte nur eine Art kalter Ungeduld und erschrak tief.

Ich mache Fehler, sagte er sich. Geduld! Beherrschung! ... Und in der schmerzlichen Furcht, bei ihr durch seine Lehrhaftigkeit verloren zu haben, wallte seine Liebe heißer auf.

Er zog Anna an sich und küßte sie leidenschaftlich.

»Bin ich nicht oft genug töricht?« fragte er flüsternd.

Sie fühlte, wie er sie liebte. Und gerade nach der vorhergegangenen Stunde voll trockener Weisheit gefiel es ihr besonders gut, wieder auf ihren Thron erhoben zu werden.


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