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Ida Boy-Ed
Annas Ehe
Ida Boy-Ed

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Die beiden Gräfinnen v. Geyer schmückten sich zur Hochzeit ihres Bruders. Da die Räumlichkeiten im Vaterhause der Braut nur beschränkter Art waren, hatten die beiden Damen sich mit einem gemeinsamen Schlafzimmer begnügen müssen, an welches ein Raum stieß, den sie als »Salon« betrachten konnten. Die Gräfin Renate hatte nicht so viel guten Willen und stellte fest, daß diese Einrichtung, bestehend aus ein paar grünen Plüschstühlen, einem graubunten Sofa, einem Bücherschrank von Mahagoni, einem Schreibtisch von weißlackiertem Holz und einem Sofatisch, der braungebeizte Beine hatte, aus dem ganzen Haus erst für diese Gelegenheit zusammengesucht sein müsse.

Ihre um ein Jahr ältere Schwester aber, die Gräfin Herdeke, meinte, daß diese zusammengesammelte Einrichtung ein wahres Glück sei, sie zöge Renatens Kritik auf sich, die somit von irgend einem andern Gegenstand abgelenkt werde.

»Ach,« sagte Renate, »hier gäbe es so viel zu kritisieren, daß es gar nicht das Anfangen lohnt.«

Sie kramte aus ihrem Koffer die Kleinigkeiten heraus, die ihre lilaseidene Toilette vollständig machen sollten, und legte sich Spitzentaschentuch, Handschuhe, Fächer und Schmuck zurecht. Ein Stück tat sie neben das andre, in pedantischer Ordnung, als sollte hier auf dem Sofatisch eine Ausstellung dieser Gegenstände stattfinden. Die Sonnenstrahlen, die im breiten Bündel zum Fenster hereinkamen, trafen einige Steine der Kette von Brillanten. Renate schob auch noch die große Brosche in das Sonnenlicht. Das Gefunkel machte ihr Vergnügen.

Die Gräfin Herdeke, die vor dem Spiegel saß und sich ihr graues Haar mit großer Sorgfalt ordnete, legte sich jetzt ein wenig zurück, damit ihre Stimme nach nebenan in den Salon dringe, und bemerkte: »Du wirst wieder zu spät fertig werden.«

Alsbald kam Renate, ihre lilaseidene Kleiderpracht über dem Arm, ins Schlafzimmer. »Es wäre nicht meine Schuld. Hier kann man sich nicht zu zweit frisieren und ankleiden. Der Spiegel im Salon hängt so verrückt, daß man nicht davor sitzen kann. Na – überhaupt!«

Herdeke stand auf und machte der Schwester Platz. Mittelgroß, rasch von Bewegungen, sehr elegant und von einer gewissen fröhlichen Selbstsicherheit, wie sie war, genoß sie das Gefühl, eine stattliche, beliebte alte Dame zu sein.

»Was denn: na – überhaupt? Wir wußten vorher, daß wir in ein Landhaus kämen, das wenig auf Gäste eingerichtet ist. Man muß sich auch mal behelfen können. Freilich: Kunst ist abhängig, sie braucht Ausdrucksmittel. Das spürst du nicht zum ersten Male,« sagte sie heiter und warf sich ihr graues Atlaskleid über.

»Gott – werde bloß nicht lehrhaft,« warnte Renate, »wir haben alle unsre Angriffsflächen.«

»Eben deshalb hätt' ich an deiner Stelle vermieden, mir noch mühevoll welche dazu anzuschaffen. Sogar Linstow guckte gestern abend deine dunkle Haarpracht an, als dächte er: Gestorben!«

»Ach dieser Linstow!« sagte Renate verächtlich und mühte sich vor dem Spiegel an ihrem gefärbten Haar ärgerlich und unbeholfen ab. Ohne Jungfer fertig zu werden, war ihr fast unmöglich.

Früher hatte Renate keinen Mut zum Jungsein gehabt, nun hatte sie keinen zum Altsein. Mit dieser umständlichen und unehrlichen Lebensauffassung der Schwester auf einen verträglichen Fuß zu kommen, hatte Herdeke längst aufgegeben.

Ihr kleiner Krieg gehörte aber zu ihrem Dasein. Ohne den wäre es ihnen für den Alltag zu langweilig gewesen.

Von ihrem »großen« Bruder hatten sie zu wenig, obgleich sie seinem Hause als Repräsentantinnen vorstanden.

Würden sie sich eines Tages derselben Meinung über eine Sache oder Person gefunden haben, so hätte sie das mit Angst und Mißtrauen erfüllt. Diese Sache oder diese Person wäre ihnen dann entschieden zu mächtig gewesen. Und darin waren sie sich gleich: sie liebten es, sich als die Überlegenen zu fühlen. Dafür waren sie Geyers und des bedeutenden Grafen Burchard nicht minder bedeutende Schwestern. Renate hielt zwar nur sich und nicht Herdeke für bedeutend, während Herdeke ihrer Schwester doch immer einen scharfen Verstand zugab, dessen Vorzüge nur durch eine verbitterte Art aufgehoben wurden.

Gräfin Herdeke hatte ihr Kleid nun geschlossen und trat hinter die sitzende Schwester, um sich über ihren Kopf weg zu spiegeln und in die Spitzen ihrer Taille einen großen Brillantanhänger zu befestigen. »Daß dir der alte Linstow nicht gefiele, dacht' ich mir. Ich finde ihn gutmütig,« sagte sie dabei.

»Er hat was Hilfloses,« sprach Renate mit Entschiedenheit, »er ist vollkommen unsicher uns gegenüber. Warum sollte er es uns gegenüber sein, wenn er es nicht überhaupt dem Leben gegenüber ist?«

»Er ist Annas Vater, er wird heute Burchards Schwiegervater und somit unser Verwandter. Außerdem sind wir seine Gäste. Ich halte es für unpassend, daß du dich über ihn mokierst.«

»Wen soll man denn scharf kritisieren, wenn nicht die Verwandten? Besonders die angeheirateten! Die sind die nächsten dazu,« sagte Renate.

Herdeke lächelte ihr Spiegelbild an. Sie fand sich gut aussehend heute. Das Kleid stand ihr vortrefflich. Ihr feines, wohlwollendes Gesicht mit den klugen, lebhaften Augen darin konnte auch keine hübschere Krönung und Umrahmung haben als das graue Haar, darauf wie ein Krönlein eine Rosette von echten Spitzen saß, aus der eine Aigrette mit blitzenden Steinen ragte.

Nun trat sie hinweg, ging ans Fenster und sprach wie vor sich hin: »Arme Anna!«

Renate, für die es auch berechnet gewesen, fuhr förmlich auf. »Das soll heißen? ...«

»Das soll heißen, daß mir Anna im voraus leid tut, wenn du auf dem Standpunkt stehst. Du willst wohl in Burchards Ehe die Schwiegermutter ersetzen? Sollte mich wundern, wenn das kluge Mädchen, die Anna, nicht bei unserm Anblick gedacht hätte: diese beiden altjüngferlichen Schwägerinnen werden schlimmer sein als eine Schwiegermutter, sie sind nämlich gleich zwei Schwiegermüttern.«

Dabei sah sie angelegentlich hinaus auf den im Sonnenschein liegenden, hoch von Schnee bedeckten Hof. Denn es war die Zeit, daß bald die Gutsnachbarn und Hochzeitsgäste angefahren kommen mußten.

Renate, die hinter ihr, vor dem Spiegel stand, antwortete gereizt: »Ich komme Anna mit allem Wohlwollen entgegen, das ich der Braut und der Gattin meines einzigen Bruders schulde. Ich unterdrücke auch jede Kritik, die man sonst wohl ausüben kann, wenn man sieht, daß ein schönes, kluges und schließlich auch nicht ganz armes Mädchen von zwanzig Jahren einen Mann von achtundfünfzig nimmt ...«

»Dieser Mann ist aber Burchard Geyer,« sprach Herdeke stolz dazwischen.

»Einerlei.«

»Nicht einerlei. Hast du selbst nicht in deiner Jugend Partie auf Partie ausgeschlagen, weil dir die Männer zu unbedeutend waren? Na – leider ist dann nach all der Wählerei der Heros nicht gekommen ... Das war dein persönliches Pech. Vielleicht hat Anna ...«

»Bringe mich doch nicht von dem ab, was ich sagen wollte: ich wollte also sagen, daß ich alle Kritik unterdrücken, aber offene Augen haben werde.«

»Wieso?«

»Dumme Frage,« sagte Renate, indem sie mit der Brennschere ihre Stirnlocken bearbeitete, »wenn eine junge Frau einen älteren, sehr beschäftigten Mann heiratet, versteht es sich von selbst, in welcher Richtung man die Augen offen zu halten hat.«

Nun wandte die Gräfin Herdeke sich rasch um, und ihr Ton, der bis dahin immer ein wenig spöttisch gewesen, wie er meist der Schwester gegenüber war, nahm den Klang ernster Entrüstung an. »Du denkst – du denkst auch nur von fern – – du hältst es für möglich, daß die Gräfin Burchard Geyer gleich andern jungen Frauen sich eines Tages auf die Unverstandene hinausspielen und sich tröstend den Hof von einem jungen Freund machen lassen könnte?«

»Das denke ich allerdings.«

»Du bist verrückt.«

»Und du wirst etwas – drastisch in deinen Ausdrücken.«

In diesem Augenblick erscholl draußen ein helles Geklingel und gleich darauf ein jubelndes Hurra.

Gräfin Herdeke wendete sich dem Fenster zu, und auch Renate, im Frisiermantel, die Brennschere, die gerade eine Haarsträhne umzwickt hatte, in der hocherhobenen Rechten, nahm Stellung hinter der durchsichtigen Mullgardine. »Das scheinen ja etwas geräuschvolle Hochzeitsgäste,« meinte sie.

»Wahrscheinlich die Webers von Pallau, von denen Anna schon gestern abend sprach,« sagte Gräfin Herdeke und sah interessiert hinab.

Der große Hof glich einem blütenweißen länglichen Viereck. Nur an der einen Seite zogen sich Wirtschaftsgebäude hin, gegenüber diesen begrenzte ihn das Staket des Obst- und Gemüsegartens. Vom Tor, vorbei an den Gebäuden bis zur Haustür, an der Front des Hauses entlang und am Staket hin bis wieder zum Tor, war ein breiter Weg ausgeschaufelt und niedergefahren. Der Sonnenschein gleißte auf den festen Spuren der Schlittenkufen und Wagenräder.

Über das Tor hinaus, das breit geöffnet stand, sah man in ein endloses flaches Gelände. Das mußten im Sommer lauter Felder sein, und keine Baumzeile, kein Knick, kein Waldstreifen gab der Landschaft Mannigfaltigkeit, dem Auge einen Ruhepunkt.

Diese einförmige, im Sonnenlicht grellweiße Fläche, von dem Brillantgefunkel von Millionen Reflexen übersät, tat dem Blick geradezu weh.

Unten auf dem Hof, vor den Wirtschaftsgebäuden hielt nun der Schlitten, der eben mit Geklingel und dem Hurra seiner Insassen vor das Haus gefahren war. Diese Vier, die Herdeke noch gerade hatte beobachten können, waren schon ausgestiegen, und man hörte unten auch Lärm von Stimmen und Schritten. Der Lärm näherte sich, kam treppan, zog über den Korridor an der Tür der beiden Damen vorbei und schien am Ende des Flurs zu verhallen. Aber gleich danach fuhr Gräfin Renate mit Ostentation zusammen, um sich selbst zu beweisen, wie sehr das kräftige Türenschlagen nebenan sie erschreckt hatte. Dann hörte man zwei Männerstimmen, eine rauhe, alte, und eine junge, sonore. Die unterhielten sich erstaunlich laut und unbekümmert.

Man hörte einzelne Worte. »Anna« – »der olle Linstow« – »ach was« – »riesig riskiert« – »meinswegen immerzu« – »Donat« – »kein Rückgrat«.

»Mein Gott,« sagte Renate, »wollen wir klingeln? Der Waldemar müßte diesen Herren nebenan melden, daß hier zwei Damen wohnen, die unfreiwillig zum Lauschen gezwungen werden.«

»Leider verstehen wir ja nichts,« sprach Herdeke mit unterdrücktem Lachen, »zu schade, – nicht wahr? Von den Freunden und Nachbarn könnten wir sonst ja die besten Kommentare erhalten.«

»Großes Lumen, der Burchard Geyer,« hörte man jetzt deutlich von nebenan.

»Na, siehst du wohl!« bemerkte Herdeke befriedigt.

»Diese Leute brüllen förmlich.«

»Da kommen mehr!« rief Herdeke, denn es klang wie ein silbernes Geläut, hell und zierlich im Ton, durch die klare Winterluft.

Ein eleganter Schlitten, schwarzblank lackiert, mit einem gelbbraun und weiß gesteckten Guanako als Decke, flog in rascher Fahrt heran. Herdeke konnte kaum feststellen, daß drei Personen darin saßen, und wußte nicht einmal, waren es drei Herren oder versteckte sich in der einen dicken Pelzhülle eine Dame. Die drei Pelzbaretts waren fast gleich gewesen.

»Natürlich muß eine Dame dabei gewesen sein. Außer den Pallaus werden doch nur die Hammerriffs erwartet, der ältere mit seiner Frau,« rechnete Gräfin Herdeke sich aus.

»Du hast ein wahrhaft kindliches Vergnügen an diesem Halbdutzend ländlicher Hochzeitsgäste.«

»Spaß! Als ob mich die Gäste nicht interessieren sollten, die zu meines Burchard Hochzeit kommen! Seit mehr als dreißig Jahren hab' ich auf den Tag gewartet.«

»Aber wir haben ihn uns einst anders gedacht. So als das pomphafteste Ereignis von der Welt. Nicht auf so 'ner kleinen Klitsche, unter der Zeugenschaft von einer Handvoll Landjunker,« bemerkte Renate, die nun endlich mit ihrem Kopf fertig geworden. Sie betrachtete, unzufrieden mit dem Hergestellten, ihre künstliche Frisur und ihr gepudertes Gesicht mit den rosig getönten Wangen.

»Mir ist das egal, das Drum und Dran. Ich halt' es immer mit jenem Küster, der beim Abendmahl eine rote Weste an hatte und begütigend sagte: Wenn's Herz man schwarz ist. Für den vorliegenden Fall variiert: wenn's Herz nur warm ist. Und mir scheint, Anna ist was Extras, und sie schwärmt für Burchard, wie er für sie. Und wie geschmackvoll sie das gerade nur erraten lassen! Ich bin entzückt von dem Takt beider. Man ahnt, es ist Liebeswahl. Aber man wird durch den Altersunterschied in keiner Weise verletzt. Einfach: großer Stil! Darin paßt sie zu ihm.«

Renate zuckte die Achseln. Sie wußte es ja, ihre Schwester würde auch im siebenten Jahrzehnt ihres Lebens diese Gewohnheit, sich voreilig zu begeistern, nicht ablegen. Aber im Augenblick fand Renate keine Zeit, allem zu widersprechen, sie war zu stark mit ihrem Putz beschäftigt und konnte nicht damit zustande kommen, ihr Kleid zu schließen. »So hilf mir doch!« sagte sie endlich ärgerlich. »Ich komme sonst wirklich zu spät!«

»Das Kleid ist natürlich zu eng,« erwiderte Herdeke. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß man mit sechzig Jahren keine Taille mehr zu haben braucht.«

»Wenn die Natur sie mir aber ließ!«

»Dann versteckt man sie. – So – uch – uch ...«

Mehr als nötig tat Herdeke, als strenge sie sich an, das Kleid zuzumachen.

Und endlich war denn auch Renate fertig.

In ihrer Jugend sollten die beiden Gräfinnen Geyer sich sehr ähnlich gesehen haben; zum Verwechseln würde es gewesen sein, wenn nicht eben die steife Würde Renaten und die fröhliche Ungezwungenheit Herdeken ihr besonderes Gepräge gegeben hätten. Jetzt sah man von dieser Ähnlichkeit nur noch etwa im Profil die gleiche, leise gebogene Linie der edlen Geyerschen Nase. Sonst hatte das Leben die Züge der beiden Damen sehr verändert. Keineswegs allein durch eine Reihenfolge wuchtiger Schicksalsschläge – denn Renate hatte nichts erlebt –, sondern vor allem durch die leisen Entwicklungen ihres Innern.

Sie schritten nun zusammen treppab.

Auf dem kahlen Korridor war es frostig, die weißgekalkten Wände schienen förmlich Eisluft auszuhauchen. Aber Gräfin Herdeke bemerkte nichts davon. Sie war nun ganz erfüllt von dem Gedanken an die wichtige Stunde, die bevorstand. Rührung stieg in ihr auf. Auch ein wenig Angst.

Sie würde es Renaten niemals zugegeben haben, aber im tiefsten Grunde ihres Herzens war ihr die Ehe, die der Bruder einging, auch nicht geheuer. Sie witterte eine Geschichte, irgend einen abenteuerlichen, vielleicht auch nur einen kapriziösen Grund, um dessentwillen sich die junge Anna zu dieser Heirat entschloß. Und das ging ihr gegen das Gefühl. Sie liebte ihren Bruder mit einseitigem Fanatismus. Wenn er schon heiratete, so sollte seine Erwählte ihn aus den reinsten Gründen nehmen.

Aber sie sprang auch ganz willkürlich hin und her mit ihren Gedanken. Indem sie bei Anna nach einem Geheimnis ausspähte, nicht an Annas bedingungslose Liebe für den Achtundfünfzigjährigen glauben konnte, dachte sie gleich darauf voll schwesterlichen Stolzes, daß sich jedes Weib, auch das schönste und jüngste, in Burchard verlieben müßte.

Ihr Herz klopfte, als sollte sie bei den bevorstehenden Ereignissen nicht nur Zuschauerin, sondern eine handelnde Person sein.

In Renatens Kopf drängten sich Einfälle, Befürchtungen, Betrachtungen aller Art bunt durcheinander. Wenn nur Herdeke sich nicht hinreißen ließe, zu gerührt und zu vergnügt zu werden. Beides war zu fürchten.

»Ich bitte dich,« flüsterte sie, »sei zurückhaltend. In unsern Kreisen kennt man dich und deinen sogenannten Humor. Hier könnte man dich für ein Original halten, und das ist so das Unweiblichste, was ich mir denken kann.«

»Unweiblich? Du bist zum Schreien! Ich dank' dem Himmel, daß ich weder weiblich, noch männlich mehr wirken kann, sondern bloß rein menschlich. Weißt du: das ist die köstliche Freiheit des Alters,« antwortete Gräfin Herdeke laut.

Aber nun mußten sie ihren kleinen amüsanten Streitteufel, der sie immer umsprang und aus ihnen beiden die letzten geheimsten Gedanken herauszulocken verstand – nun mußten sie ihn einsperren. Vor der neuen Familie und deren Freundessippe konnte er sich nicht gleich produzieren. Das sahen beide Schwestern ein. –

Unten der Hausflur war mit Tannengirlanden bekränzt.

Die Trauung sollte im Hause stattfinden. Neuhagen, das kleine Gut von Herrn von Linstow, war dem Kirchdorf Pallau eingepfarrt. Dahin hätte man anderthalb Stunden auf einer öden Chaussee durch reizloses Land fahren müssen. Das scheuten alle Beteiligten. Dabei ging nur Zeit verloren, und viel Stimmung konnte das auch nicht geben. Der Standesbeamte des Kirchspiels war der ältere Herr Weber von Pallau. Er hatte sich bereit erklärt, die bürgerliche Verbindung des Brautpaares unmittelbar vor der Trauung im Hause der Braut zu vollziehen.

Somit brauchte man drei Festräume. In dem Wohnzimmer sollte der standesamtliche Akt vor sich gehen. Im Salon die Trauung. Diese örtliche Trennung beider Handlungen war das einzige, was bis jetzt hier Renatens heimlichen Beifall gefunden hatte. Nach der Trauung sollte im großen Eßzimmer das Essen für fünfzehn Personen stattfinden.

Die Türen zu diesen Räumen mündeten auf den viereckigen Flur. Ebenso die Tür von Herrn von Linstows Arbeitszimmer.

Dort wußte Herdeke jetzt das Brautpaar. Ihr Auge feuchtete sich schon, als sie nur auf die Tür sah.

In Renate war die Neugier auf das, was man finden würde, sehr lebhaft. Sie vergaß darüber beinahe den Bruder. Mißfällig bemerkte sie zunächst, daß es auf dem Flur sehr stimmungslos ländlich nach Festbraten roch.

Waldemar, der Diener, dem man unschwer ansah, daß er im Lauf gewöhnlicher Tage auch im Garten und auf dem Felde mit tätig sein mußte, und der offenbar für die Gelegenheit nicht einmal eine neue Livree bekommen hatte, riß nun vor den beiden Damen, die ihm unaussprechlich imponierten, die Tür auf.

Gräfin Herdeke hatte den Vortritt. Sie war die Älteste. Es würde für Renate unerträglich gewesen sein, die Schwester sich vorangehen zu sehen, wenn ihr nicht dabei die angenehme Stellung als »die jüngste Gräfin Geyer« zugefallen wäre. In ihrer Empfindung wurde in solchen Augenblicken der Altersunterschied immer ein ganz bedeutender.

Im Zimmer war es blendend hell. Ein geradezu pöbelhaftes Licht, dachte Renate. Denn ihre Erscheinung war durchaus auf Abendbeleuchtung oder Schatten berechnet. Nun mußte sie danach trachten, immer möglichst die grelle Wintersonne und die beiden großen Fenster, mit dem Blick auf den schneeweißen Hof, im Rücken zu haben.

Es konnte nichts Alltäglicheres geben als dies Zimmer. Die Möbel darin und ihre Stellung an den Wänden, die Bilder auf der sehr geblümten Tapete, zeugten von einer vollkommenen Gleichgültigkeit oder einer ebenso völligen Geschmacklosigkeit. Das hatte Gräfin Herdeke schon gestern abend festgestellt.

Nun war sie voll Spannung auf die Menschen. Indem sie versuchte, sich mit diesen recht bekannt zu machen, konnte sie doch vielleicht einige Aufschlüsse über Annas Leben gewinnen.

Sie war hier ja wie auf der Wacht. Sie wußte noch so wenig von ihres Bruders Braut. Das junge Wesen hatte für sie etwas Rätselvolles. Vielleicht fiel aus der Art ihrer Freunde, ihrer Umgebung, ein wenig Licht auf ihre eigene Art. Deshalb beschloß sie, jede der anwesenden Personen genau zu beobachten.

Daß es lauter Leute von besonderem Gepräge waren, übersah sie sofort. Als Herr von Linstow ihr alle vorgestellt hatte, fing sie mit jeder Persönlichkeit in ihrer lebhaften und entgegenkommenden Weise ein kleines Gespräch an, um es vorerst rasch wieder abzubrechen. Mit der Gewandtheit der großen Dame und der Heiterkeit einer Lebensfreudigen brachte sie es wahrhaftig fertig, binnen einer halben Stunde Frau Weber von Pallau, Ursula Weber v. Pallau, die Baronin v. Hammerriff und die Pastorin Lüdike zu bezaubern.

Bei dieser letzteren war es ein völliges Siegen nur durch Blick und Lächeln, denn die arme Pastorin war fast ganz taub. Mit ängstlich wachsamem Auge hing sie an den Lippen der zu ihr Sprechenden; sie genierte sich, fortwährend ihr Hörrohr zu benutzen, das sie in ihren Händen hielt und das beinahe die Form eines Blasinstruments hatte. Die Glacéhandschuhe der Pastorin waren zu groß und gaben mit ihren Fältchen der Hand etwas greisenhaft Zerknittertes. Das paßte zu dem Gesichtchen, das einen unwillkürlich an einen Bratapfel erinnerte, so verschrumpft war es. Die Staatshaube der Pastorin von schwarzen Spitzen und lilaweiß gestreiftem Band stammte sicher von der Modistin des Dorfes, die vielleicht auch vor Jahren das schwarzseidene Kleid angefertigt hatte, dessen Putz in ein paar Epaulettes von Passementrie bestand. Herdeke fand das alte Frauchen in seiner zaghaften Würde fast ergreifend. Sie hatte nun einmal den Blick für Menschen, wie sie gern von sich sagte, und sah auch sofort, daß die Baronin Hammerriff aus einer ganz andern Lebenszone kam. Die beiden Brüder lebten auf ihrem väterlichen Gut halb und halb in Verbannung. Ihr Dasein war ihnen sozusagen auf halbe Ration gesetzt. Sie hatten jahrelang das Drei- und Vierfache verbraucht. Nun mußten sie sich finanziell und körperlich etwas ausruhen. Was die Baronin, die Gattin von Fred, dem Älteren, anbetraf, so besaß sie etwas Gemeinsames mit dem Mädchen aus der Fremde: man wußte nicht, woher sie kam. Sie sollte eine Österreicherin sein, aus den Kronländern. Sie sprach aber ein Deutsch, das Dialektkundige auf Berlin N. taxierten. Jedenfalls stand auf ihren Visitenkarten: Nadine Freifrau v. Hammerriff geborene v. Brankayi. Vielleicht war sie das Kind einst vornehmer, dann heruntergekommener Ungarn, die das Schicksal nach Berlin verschlagen hatte. Denn darin waren alle einig: schließlich konnte Hammerriff doch nicht dulden, daß seine Gattin sich auf ihren Visitenkarten und bei ihren Briefunterschriften einen Adel anmaßte, der ihr nicht zukam. Auf so etwas hatte das Heroldsamt in Berlin ein allzu scharfes Auge.

Schön aber war Nadine Hammerriff; bleich, mit feurigen Augen und schwarzem Haar. Elegant war sie auch. Herdeke stellte aber bei sich fest, daß es ein vorigjähriges Kleid war, aus viel Spitzen und Chiffon und Schmelzstickerei; viel zu ballmäßig für die ländliche Hochzeit. Und dann betrug sich diese Baronin so seltsam vorsichtig, wie eine, die sich nicht ganz sicher fühlt und sich daher beständig selbst bewacht.

Desto sicherer und zwangloser gaben sich die Webers v. Pallau – die »geräuschvolle Familie«.

Also diese beiden Prachtkerle waren es gewesen, die sich nebenan so unerhört laut unterhielten!

Der ältere Herr, dem sein Frack ein bißchen zu eng war, ging etwas zerstreut im Hintergrund des Zimmers auf und ab und wühlte in seinem gelbblonden, wallenden Bart.

Er mußte hier gleich den Würdigen spielen. Das war doch etwas genierlicher als daheim in seinem Amtszimmer. Da lag schon das große Buch bereit, das Standesamtsregister, in das sich Graf Geyer und Anna v. Linstow als dann Verbundene einschreiben sollten. Ein paar angemessene Worte mußten noch vorher gesprochen sein. Das war so leicht, wenn's galt, einen Willem Schulz zu ermahnen, daß er seine erwählte Trine Böbs gut behandeln solle und sich vor dem verdammten Saufen in Acht nehmen möge. Aber wähle mal einer die passenden Worte, wenn ein Burchard Graf Geyer die schöne, junge Anna heiratet! Er, der bedeutendste Redner seiner Partei im Reichstag, und ein Großgrundbesitzer, der ihn, den alten Wolf Weber v. Pallau, ungefähr dreimal in die Tasche steckte. Ermahn' mal einer so'n überlegenen Mann, der vielleicht gar zwei, drei Jahr älter ist als man selbst – die Situation soll mal einer deixeln, ohne sich lächerlich zu machen! Der junge Wolf Weber v. Pallau glich seinem Vater, daß es beinahe komisch war. Ebenso groß und so breit und dabei sehr gut gewachsen. Eben solchen großen blonden Bart, nur besser gepflegt, wie es seiner stattlichen Jugend zukam. Eben solche grade Nase und solche großen Blauaugen, aus denen Temperament und Fröhlichkeit blitzten. Die gleiche schneeweiße Stirn, die von der Mütze vor den Einflüssen von Wind und Sonnenbrand geschützt blieb, während das übrige Gesicht vom Wetter bräunlich getönt war.

Herdeke wie Renate dachten bei dem Anblick dieses jungen Helden das gleiche: war dieser nicht wie vorbestimmt für Anna? Warum hatten die beiden sich nicht gefunden? War es denkbar, daß dieser junge Mensch der schönen Anna gegenüber gleichgültig geblieben war? Noch dazu bei der Nachbarschaft hier auf dem Lande, wo schon die Gelegenheit und der Mangel an Auswahl einen Jugendroman zwischen beiden hätte zeitigen müssen? Gab es geheimnisvolle Hindernisse, die ihn und sie verhinderten, zueinander zu kommen? Hatte er Anna geliebt? Oder sie ihn?

So grübelten und phantasierten die beiden alten Schwestern. Aber als Herdeke die leuchtende Männerschönheit des jungen Wolf länger beobachtete, kam sie zu einem beruhigenden Schluß. Der sah nicht nach unglücklicher Liebe aus und nicht nach Rätseln und nach Tragik. Der hatte etwas ebenso Durchsichtiges wie sein Vater. Und man konnte ihm eher zutrauen, daß er sich eine Braut mit Gewalt und Lachen entführte, als daß er leidvoll und schweigend zusähe, wie sie einem andern angetraut wurde.

Gottlob! dachte Gräfin Herdeke.

Diese Pallaus hatten so etwas Reinliches; auch der Mutter und Tochter strahlten Güte, Offenheit und Anständigkeit aus den Augen. Beide Damen waren etwas reichlich derb von Erscheinung, das ließ sich nicht leugnen. Die Mutter trug ein höchst wohlhabendes Kleid von dicker rot und schwarz geflammter Seide. Aber es hatte weder Schleppe, noch Spitzenschmuck und einen Schnitt wie ein Hauskleid. Brosche und Uhrkette, beides sehr in die Augen fallend, putzten die Taille wohl nach Meinung der Frau v. Pallau genug. Fräulein Ursula war in Himbeerrot, was zu ihren sehr roten Backen recht ungünstig stand. Im braunen, ungemein glatten Haar trug sie einige künstliche Blumen.

Mit dem letzten der im Zimmer Anwesenden, mit dem jüngeren Baron Hammerriff, war Herdeke gleich fertig: ein Lebemannstyp. Bloß ein tadelloser Frack, eine unerhört gut geschnittene Weste mit was drin, was sich für'n vornehmen Mann hält. Gott, wie jämmerlich!

Daß Anna an diesen Egon Hammerriff niemals als an eine für sie mögliche Partie gedacht haben konnte, verstand sich.

Wenn das nun die beiden einzigen Heiratsfähigen der Gegend waren – dieser Baron Egon und der junge Wolf? Dann hatte freilich Anna keine Auswahl gehabt. Und wenn sie gern heiraten wollte, mußte sie wohl die glänzende Gelegenheit ergreifen, die sich so unverhofft bot – – –

Die Uhr an der Wand schlug Zwölf. Alle Anwesenden verstummten.

Aber es verstrichen Minuten, und das Brautpaar kam nicht.

»Na, Linstow,« flüsterte Herdeke, »wo bleiben sie denn?«

Herr v. Linstow sagte: »Ja, ja.«

Er sah aus wie jemand, der sehr gesammelt an etwas Fernliegendes denkt und deshalb nicht genau den Sinn der Anrede versteht. Er war mehr als mittelgroß, ziemlich dick und hatte eine Glatze. Seine Züge, von Natur nicht unedel, waren etwas aufgeschwemmt.

Herdeke sah ihn mit etwas ungeduldigem Mitleid an. Hatte sie, seit ihrer Anwesenheit im Hause, wohl schon eine vernünftige Antwort von ihm bekommen?

Es kam ihr immer vor, als ob seine Gedanken wären wie ein Pferd im Trott, das man nicht aufhalten durfte, weil es nicht die Kraft besessen hätte, von neuem anzuziehen. Wenn sie einmal in Bewegung gesetzt waren, mußten sie in der eingeschlagenen Richtung bleiben, um sich nicht zu verwirren.

Mit dem Mann zusammenzuleben mußte eine ständige Geduldsprobe für die Seinen bedeuten.

Die Frau war vor zwei Jahren gestorben. Der Sohn schien nach dem Vater zu arten. Anna hatte es vielleicht, nachdem sie mutterlos geworden war, zwischen den beiden geistesträgen Männern nicht mehr ausgehalten.

Flieht sie von hier, weil sie das Leben sucht? dachte Herdeke plötzlich.

In diesem Augenblick tat sich die Tür vom Flur her auf, und gefolgt von den beiden Zeugen, dem älteren Hammerriff und Annas Bruder Donat, schritt das Brautpaar über die Schwelle.

Burchard Graf Geyer war ein großer Mann, imposant schon durch die Haltung, die er sich zu geben wußte, schlank und mit den regelmäßigen, vornehmen Zügen der Familie. Seine Augen waren dunkel. Sie blickten auch jetzt klar und geradeaus.

Graf Burchard hatte graues Haar; in noch völlig ungelichteter Fülle lag es wellig über der hohen Stirn. Der Schnurrbart bewahrte noch seine dunkle Farbe und gab durch diesen Gegensatz dem Gesicht etwas Kühnes und Jugendliches.

Anna v. Linstow blieb, obgleich sie eine schlanke, hohe Erscheinung war und immer als »groß« gegolten hatte, doch um mehr als einen halben Kopf unter der Größe ihres Verlobten.

Sie sah erregt aus. Man bemerkte es an der außerordentlichen Blässe ihres Gesichtes und an dem fieberhaften Glanz ihrer blauen Augen. In diesem weißen Gesicht fielen die blutroten, sehr schön gezeichneten Lippen merkwürdig auf.

Sie hat einen unheimlichen Mund, dachte Renate, so brennend, so üppig und doch so fest geschlossen.

Im übrigen fand Gräfin Renate die Erscheinung der Braut »stilvoll«. Der sehr einfache Schnitt des weißseidenen Kleides, der gediegene Stoff, die mächtige Schleppe zeigten einen sicheren Takt, Würde mit Pomp für die Gelegenheit passend zu vereinen. Auch gefiel es Renaten, daß der Schleier zwar das ganze blonde Haar und die ganze Gestalt in großen Falten umgab, aber das Gesicht frei ließ.

Gräfin Herdeke sah zunächst nur ihren Bruder, empfand nur seine Gegenwart. Sie lebte sein ganzes, stolzes Leben in diesem Augenblick nach. Und ihr erregtes Herz fragte: ist dies seines Lebens Krönung? bedeutet es sein Unglück?

Seit sie jene bitteren Leiden ihres einzigen, mit einer harten Entsagung endenden Liebesromans durchgekämpft und dann überwunden hatte, war der Bruder ihr Lebensinhalt geworden. Ihre Neigung ging weit hinaus über die Grenzen auch der hingebenden Schwesternliebe. Sie liebte in ihm ihren Vater, ihre Mutter weiter, er bedeutete für sie den Begriff »Familie«, zu welchem ihre Schwester Renate nur ein ganz nebensächliches Anhängsel bildete. Jeden Ehrgeiz, den sie sonst etwa für sich und einen Gatten gehabt haben würde, hegte sie nun für den Bruder.

Als er jung war, wählte sie unaufhörlich für ihn unter den Töchtern des hohen Adels die schönsten und reichsten und vermählte ihn in ihrer Phantasie. Wenn er einmal ein ernstes Interesse für diese oder jene junge Dame zu zeigen begann, förderte Herdeke die Sache gleich so übereifrig, daß entweder ihr Bruder oder die junge Dame den Geschmack daran verlor.

Sie war auch des Bruders Parteigenossin und fühlte »freikonservativ« bis in ihre letzten Gedanken hinein. Wenn eine Frau sich um Politik bekümmert, tut sie es gleich mit Leidenschaft. Herdeke zog aus der Lektüre erregter Reichstagsdebatten einen Genuß wie aus dem Besuch eines spannenden Dramas. Sie war auch des Bruders Kompagnon. Während Renate ihr hübsches Vermögen in preußischen Konsols angelegt und es nach und nach ganz aus dem Grundbesitz ihres Bruders herausgezogen hatte, wies Herdeke den Gedanken, sich auszahlen zu lassen, immer mit Entrüstung von sich. Sie genoß jeden wirtschaftlichen Erfolg mit Triumph. Kurzum, von allem, was das Leben nur heranspülen konnte an den Strand der Gegenwart, sollten die besten Güter, die glänzendsten gerade zu Burchards Füßen herankommen.

Und diesen heißbewunderten Bruder, dessen Dasein sie in solchem Liebeseifer nachlebte, den sah sie sich nun an ein Mädchen hingeben, von dessen Namen sogar sie alle vor einem Vierteljahr noch keine Ahnung gehabt hatten.

Die Tochter eines leidlich begüterten Landedelmannes, ein junges Ding von zwanzig Jahren, war nun schließlich diejenige geworden, welche sich diese viel ersehnte Stellung errang. Sie wurde Gräfin Geyer.

Herdeke fühlte sich von Erschütterung überwältigt. Tränen traten in ihre Augen, sie faltete die Hände und sah das Paar an.

Ihre Schwester Renate sah die Tränen und das Händefalten und dachte: Natürlich!

Tränen und Andacht hatte man sich doch bis zur kirchlichen Trauung aufzusparen. Hier waren sie mindestens geschmacklos.

Herdeke aber wartete nicht erst den Anblick des priesterlichen Ornates ab, um zu beten, sondern sie flehte mit kindlicher Inbrunst: Lieber Gott – weshalb Anna ihn auch heiratet, ob aus Liebe oder aus einem kalten, äußerlichen Grund – laß es gut enden! Denke an alle Leiden, die mir beschieden waren, und daß es mir nicht vergönnt wurde, mit meinem armen Bolko zusammenzukommen. Laß dafür Burchard sehr glücklich werden!

Das Brautpaar hatte sich dem Tisch genähert, hinter dem nun Herr Wolf Weber v. Pallau mit rotem Gesicht und gänzlich auseinandergesträubtem Bart stand.

Baron Fred Hammerriff, um eine Kleinigkeit frischer und weniger vornehm aussehend als sein Bruder, stand in einer Haltung voll undurchdringlichen Ernstes hinter dem Grafen Geyer. Die Sonne schien Herrn Fred gerade aufs Haupt und ließ die Sorgfalt erkennen, mit welcher die dunkelblonden Haare über die beginnende Lichtung oben auf dem Wirbel verteilt waren.

Hinter Anna stand ihr einziger Bruder Donat, ein überlanger blonder Mensch von weichlichem Ausdruck.

Alle Anwesenden waren voll Erwartung, wie Herr Weber v. Pallau sich aus der Affäre ziehen würde. Er tat es überraschend kurz und sachlich. Er beschränkte sich auf alles Vorgeschriebene. Dann unterschrieben das Paar und die Zeugen, und er füllte den Trauschein aus, um ihn mit einer etwas zu tiefen Verbeugung dem Grafen Burchard zu überreichen.

Nun war die bürgerliche Zeremonie zu Ende. Man verabredet, daß sich keinerlei Gratulation daran schließen, sondern daß das Paar und die Gäste sich gleich im Zuge nach nebenan begeben sollten, wo schon Pastor Lüdeke vor einem improvisierten Altar der Neuvermählten harrte.

Waldemar öffnete nun auch breit die Flügeltüren zur »besten Stube«, und zugleich ertönte von drinnen zur Klavierbegleitung ein plärrender Gesang. Ein Dutzend Schuljungen aus Pallau, in Sonntagskleidern, mit Notenblättern in verfrorenen Fäusten, standen in einer Ecke zusammengedrängt und sangen eifervoll und falsch, während der Küster am Klavier rechts vor der Wand, heftig mit dem Kopf nickend, seiner Schar den Takt angab.

Geradeaus vor einem weißumkleideten Altar, den Blumen und brennende Kerzen zierten, stand Pastor Lüdeke mit gefalteten Händen und wartete in einer Haltung voll beschaulicher Ruhe der Neuvermählten. Er machte keine Redensarten, gedachte mit einem guten Wort der verstorbenen Frau v. Linstow, und vor allen Dingen: er machte es kurz.

Dann kam das große Glückwünschen, das die Gestalt eines drangvollen Durcheinanders annahm. – Herr v. Linstow ließ sich von seinem imposanten Schwiegersohn umarmen und dachte geängstigt, daß er einige passende Worte sagen müsse, die er aber nicht fand. Dann küßte er seine Tochter, ward von Rührung plötzlich übermannt und wischte sich Tränen ab.

Herdeke und Renate umarmten und küßten das Paar. Auch die Pastorin und Frau v. Pallau umarmten Anna. Ursche v. Pallau aber hing lange laut schluchzend an Annas Hals.

Dieser Jammer ihrer Tochter rührte wieder Frau v. Pallau; weinend sagte sie: »Ja, sie sind doch zusammen aufgewachsen, und sie waren doch so befreundet! Und nun reißt das Leben sie auseinander.«

»Werd' und mach' glücklich, Anna!« sprach der junge Wolf v. Pallau, indem er ihr fest die Hand schüttelte, »und laß uns die Alten bleiben. Jugendfreundschaft! Dein Mann muß begreifen – das bindet.« »Sie werden in meinem Hause stets ein willkommener Gast sein; ich hoffe, daß Anna sich Fräulein Ursula und Sie recht bald einlädt,« sagte Graf Burchard verbindlich.

Dann setzte man sich zu Tisch. Rechts vom Paar der Pastor mit Gräfin Renate, links Gräfin Herdeke mit Herrn v. Linstow. Wenn es Herdeken auch einen Augenblick ärgerlich war, nicht neben ihrem Bruder zu sitzen, so begriff sie doch schnell den Vorteil, der darin lag, Herrn Weber v. Pallau, den Vater, an ihrer rechten Seite zu haben. Er war so mitteilsam und harmlos. Er sprach, ohne daß man mit vorsichtigen Fragen an ihn heranzuschleichen brauchte. Vielleicht kannte und beherrschte er auch gar kein andres Thema als seinen Beruf und den lieben Nächsten.

Es wurde schnell recht laut bei Tisch. Das leidlich lange Zimmer war gerade von der Hochzeitstafel gut ausgefüllt, auf der mehr und kostbareres altes Silber zu sehen war, als Herdeke erwartet hatte. Den köstlichen Blumenschmuck des Tisches hatten Herdeke und Renate aus Berlin schicken lassen.

Für die Familie Weber v. Pallau war es selbstverständlich, daß man sich auf einer Hochzeit amüsieren müsse. Sie sorgte denn auch in erster Linie für den fröhlichen Stimmenlärm. Wolf Sohn machte gewissermaßen der Baronin Hammerriff den Hof. Aber Herdeke beobachtete, daß diese ihrem Schwager Egon seltsam duldende und kokette Blicke zuwarf, als wollte sie sagen: Ich halte dies gezwungen aus, viel lieber säße ich bei dir.

Frau v. Pallau schrie der Pastorin eine Mitteilung über ihre Leuteköchin ins Ohr. Ursche hänselte ihren Tischnachbar Donat und wollte sich totlachen, weil er ihre Späße nicht immer gleich verstand.

Der Pastor ließ das Brautpaar leben. Sein Toast war eine wenig veränderte zweite Auflage seiner Traurede. Dann widmete er sich mit völliger Hingabe dem guten Essen.

Was für eine Hochzeit! Was für eine Hochzeit! dachte Renate und sah von der Seite ihren Bruder an.

Aber er saß unbefangen, freundlich, bemerkte scheinbar gar nichts Außergewöhnliches und sprach fast immer halblaut, in ritterlicher Haltung, gütig, doch nicht geschmacklos zärtlich mit seiner jungen Frau. Und Anna lächelte, freudig, aber doch mit einer gewissen Gelassenheit. Sie schien ihre Erregung besiegt zu haben. Sicher und stolz saß sie da, so schön wie noch nie.

»Donnerwetter,« sagte Herr Wolf v. Pallau Vater zu Herdeke, »so 'ne schöne Braut sieht man selten. Und was das Beste ist: glücklich sieht sie aus. Na, ich gönne ihr das. Meine arme Freundin, die Linstow, und meine Alte hatten sich ja immer ausgedacht, daß aus dem Wolf und der Anna ein Paar werden sollte. Das ist nu anders gekommen. Der Bengel hätt' sich ja auch nicht von fern an sie 'rangetraut. In der Jugendfreundschaft kann man gut Kamerad zusammen sein – das ist wieder was andres als heiraten. Und als Mann hätte er ja woll auch gar nicht zu ihr gepaßt ... Sie trinken ja nichts, Komtesse. Zu dem Rotspon können Sie dreist Vertrauen fassen ... ich hab' unsern Freund Linstow bei der Wahl beraten.«

»Danke,« sprach Herdeke und ließ sich ihr Glas füllen. »Aber warum hätten denn Ihr Herr Sohn und Anna nicht zusammen gepaßt?«

»Ach Gott,« meinte er fast entschuldigend, »wissen Sie – er ist ja mein Einziger und mein Stammhalter – er ist ein aufrechter Kerl, fleißig, tüchtig – klingt wunderbar, wenn 'n Vater so was sagt: ich acht' ihn, wie sonst keinen andern jungen Mann. Aber die Anna hat von klein an immer gesprochen, daß sie bloß einen ganz bedeutenden Mann nimmt, so einen, vor dem andre Männer sich als zweite Garnitur vorkommen. Na un so 'n Mann ist ja woll mein Junge nicht. Und dann auch: erstmal haben sie als Kinder sich schon mit all ihren Unarten gekannt; zweitens haben sie's immer gehört, daß sie mal Braut und Bräutigam werden sollten – und da war's ja von vornherein verpfuscht. Kein Reiz der Neuheit – keine Überraschungen. Wo soll da die Liebe herkommen! Und wo Anna was Extras ist und was Extras will.«

Also vielleicht in einer Anwandlung von Mädchenromantik hat sie meinen Bruder genommen, dachte Herdeke und sah die junge Frau an. Eines war gewiß, ihre Erscheinung und ihre ganze Art ließen sie als ein Wesen erkennen, das recht wenig zu ihrer ganzen Umgebung gepaßt haben mochte. Vielleicht war Anna ihrer Mutter nachgeraten. Die Frage ließ sich ohne Indiskretion tun.

Als Herr Wolf sein Rotweinglas wieder einmal in behaglich genußvollem Zuge langsam geleert hatte, fragte Herdeke: »Wie Sie begreifen werden, wollte ich Anna gestern und heut' morgen nicht noch unnötig weich machen durch Fragen nach ihrer Mutter, aber ich möchte wohl wissen, ob Anna ihrer Mutter sehr glich, und woran die Frau so früh starb.«

»Die ist an ihrem Mann eingegangen,« raunte Herr v. Pallau, während er sich so nah zu Herdeken herabneigte, daß die ganze Tafelrunde merken konnte, er sage etwas Vertrauliches; »das heißt: auf deutsch gesprochen. Auf medizinisch gesagt, hat sie 'ne Lungenentzündung gehabt. Aber da war kein Wille und keine Kraft zum Besserwerden. Aufgezehrt durch das stille, tägliche Elend. Sie kennen ihn ja erst seit gestern. Aber so viel Blick hat ja woll 'n jeder, das zu sehen: hat kein Rückgrat, der Linstow. Alte Familie. Es gibt solche, die degenerieren, weil sie zu toll drauflos leben. Es gibt andre, die versumpfen, weil sie gar nicht leben. Haben sich nie betätigt, die Linstows. Nicht in der Politik, nicht in der Landwirtschaft, nicht beim Militär. So hingewurzelt – moralisch eingeschlafen. Und der Donat artet nach ihm. Schade!«

»Also Anna glich ihrer Mutter?«

»Nicht so justament. Von Ansehen – ja. Aber sie hat nicht so die Ergebung zum Stillhalten wie die Mutter. Die arme Frau v. Linstow konnte nichts durchsetzen: alle ihre Wünsche, alle ihre Pläne zerbrachen an der Geistesträgheit von ihm. Wissen Sie, solche Männer sind schlimmer als Wüteriche und Tyrannen. Ist, als wenn Sie über'n Moor gehen sollen: sacken 'rein! Über Fels kann man klettern, durch'n Dornendickicht kann man sich schlagen, aber über Schlammgrund kommt man nicht weg. Zuletzt gab die Frau es auf, sie ließ alles gehen, wie es wollte. Und Anna, seit sie erwachsen ist, hat gar nicht erst versucht, einzugreifen. Ich hab's immer zu meiner Alten gesagt: Die Anna ist zu klug, die fängt so'n nutzlosen Kampf nicht erst an und denkt: Ich geh' ja doch bald aus dem Haus. Und das hab' ich auch immer gesagt: Sie macht mal 'ne aparte Heirat.«

Herdeke hörte all diese Vertraulichkeiten mit Herzklopfen an, während sie ein lächelndes Gesicht machte, als plauderte ihr Nachbar über konventionelle Dinge mit ihr. Nun glaubte sie zu wissen, aus welchem Grunde Anna die Hand Burchards so ohne Besinnen angenommen hatte: sie hatte an ihrer Mutter die stille Tragik gesehen, die darin liegt, wenn das Leben einer edlen, begabten Frau an der Unfähigkeit des Mannes zerbricht. Sie suchte für sich ein andres Los. Sie suchte vor allen Dingen einen Mann, zu dem sie emporblicken konnte. Das war gewiß kein unedler Grund zur Heirat. Aber es war keiner, der im Herzen wurzelte.

So hatte Burchard sich vielleicht noch alles erst zu erobern, was er schon zu besitzen glaubte. Konnte ihm das glücken? Konnte er nicht an dieser Aufgabe scheitern, trotz aller seiner Vorzüge?

»Eine frohe Jugend scheint die arme Anna nicht gehabt zu haben,« sagte Herdeke noch.

»So so, la la,« antwortete Herr Wolf. »Kinder, die auf dem Lande aufwachsen, haben immer Freude, auch wenns im Elternhaus nur trübselig hergeht. Und Anna war ja viel bei uns. Fast alle Tage. Wir sind fidele Leute, kann ich Ihnen sagen. Und wir flennen nicht gleich, wenn mal 'ne schlechte Ernte kommt. Das nächste oder übernächste Jahr gibt's 'ne bessere. Der alte Pflüger da oben, der den Acker der Menschheit fort und fort umkrempelt mit seiner ewigen Pflugschar, der sorgt schon dafür, daß alles wieder nach oben kommt, was mal 'runtergewühlt war. Nicht wahr?«

»Gewiß, gewiß,« bestätigte Herdeke und fügte aus voller Überzeugung hinzu: »Welches Glück für Anna, daß sie Ihr Haus hatte! Möchte diese schöne Freundschaft weiterbestehen!«

»Wir sind einfache Leute,« wehrte Herr v. Pallau ab, »wer weiß, ob wir der Gräfin Geyer noch in ihre Kreise passen. Sie kommt ja nu in die große Welt. Was meine Ursche freilich anlangt – die läßt nich locker, die schwärmt zu heiß für Anna. Die wird sie wohl bald mal besuchen wollen. Und der Bengel, der Wolf, hält natürlich auch was von ihr ... Gott, wenn man zusammen Birnen gestohlen hat! Wissen Sie, ich hatt' im Kalthaus 'ne neue feine Sorte. Trug zum ersten Male sechs Birnen. War bei Todesstrafe jedermann verboten, daran zu gehen. Und eines Tages sind alle sechse futsch. Der Gärtner wollte den Jungen und die beiden Mädels zusammen aus dem Kalthaus haben kommen sehen. Nu, ich die Gören vors Forum gekriegt. Lügen ist nich bei meinem Wolf. Also sagt er: ›Ja, ich habe die Birnen gegessen. Aber ich allein.‹ Diese letzte Aussage rechnete er nicht als Lüge, sondern als Ritterpflicht, wie er später gestand. Ja, das war eine Geschichte.«

Und in aufwallender Rührung sagte er nach einer kleinen Pause: »Von den Birnen muß ich doch der Anna künftig alle Jahr ein Körbchen senden – ich hab' nämlich nun zwei große Bäume von der Sorte ...«

Unterdes war das Mahl bis zum Dessert vorgerückt. Herr v. Pallau wies den aufwartenden Lohndiener an, dem Fräulein im himbeerroten Kleid die Schale mit Schokoladen und Konfitüren noch einmal anzubieten und am besten die Schale vor das Fräulein hinzustellen. »Wie ich Ursche kenne, steckt sie sich was davon ein,« sagte er vergnügt.

Die Baronin Hammerriff ließ über den Tisch hin ihren Schwager an einem Knallbonbon ziehen, der durchaus nicht zerreißen und knallen wollte.

Die Pastorin fragte, wann das Paar abreise, und Frau v. Pallau rief in das Hörrohr hinein, daß es wohl bald Zeit für Anna werde, sich umzuziehen; der Zug gehe um Sechs, und sie hätten doch fast Fünfviertelstunden im Schlitten bis zur Kreisstadt.

Da kam Waldemar mit einem Teebrett voll Depeschen. Das Postamt in der Kreisstadt hatte vom Grafen Geyer den Hinweis erhalten, es möge soviel einlaufende Glückwunschdepeschen wie möglich sich ansammeln lassen und diese dann auf einmal senden.

»Vorlesen!« rief Frau v. Pallau. Ursche und die Baronin Hammerriff klatschten zustimmend in die Hände.

»Was für eine Menge Depeschen,« sprach Herr v. Linstow und hatte Unruhe, daß man ihm, dem Brautvater, die Arbeit, sie vorzulesen, zumuten könnte. Wolf, der Sohn, dem die Ungeduld schon in allen Fingern saß, nahm sich, einfach an der Baronin Nadine vorüberreichend, das ganze Teebrett mit den Depeschen.

Er las in ernstem, respektvollem Ton, jedesmal sich besonders zu dem Grafen Burchard wendend, die Glückwünsche, die aus dem Kreise von dessen Parteigenossen, Gutsnachbarn oder entfernten Verwandten kamen.

Handelte es sich aber um Depeschen, die aus dem Kreise der Gegend stammten, von Freunden der hier versammelten Familien, trug Wolf sie mit komischem Pathos vor, und die Tischgesellschaft lachte und klatschte dazu Beifall. Namentlich Ursche und Donat wollten vor Vergnügen »sterben«.

Auch Graf Burchard lächelte. »Trotz der schönen und fast reifen Männlichkeit seiner Erscheinung hat der junge Pallau noch etwas von einem großen Jungen,« sagte er zu Anna gewendet.

»Ja,« antwortete sie bestätigend, »er ist mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch so kindlich. Noch nicht aufgewacht. Aber das liegt in der Familie. Das haben die Pallaus so an sich. Vielleicht bleibt er so und wird wie sein Vater.«

»Du liebst die Familie.«

»O natürlich sehr,« sagte Anna. Aber es klang so nebensächlich. Es war kein Herzenston in der Antwort.

Das nahm den Grafen Burchard wunder. Er hatte geglaubt, daß ein junges Wesen wie Anna sehr eng mit ihrer Umgebung verwachsen sein müsse.

Aber nun lenkte Wolf wieder alle Aufmerksamkeit auf sich. Er räusperte sich sehr bedeutungsvoll. Dann sah er Nadine Hammerriff an. Darauf Ursula und Anna und hielt eine Depesche breit geöffnet und straff zwischen seinen beiden Händen.

»Von wem? Von wem?« schrie Ursche.

»Raten!«

»Können wir nicht,« sagte die Baronin.

»Raten!« befahl er noch einmal.

Da wußte Ursche es. Sie wurde dunkelrot, und ihre Stimme klang etwas unsicher, als sie nun jubelnd rief: »Von den Leutnants?«

Er nickte.

Die Baronin lächelte interessiert. Aller Augen hingen an Wolf.

Renate hatte bei jeder einzigen Depesche, die vorgelesen wurde, stets ihre junge Schwägerin beobachtet. Ob Anna geschmeichelt lächelte, wenn große Namen zu Gehör kamen – das wollte sie feststellen; oder ob Anna irgendwelche besondere Rührung und Freude verriet, wenn Bekannte aus der Gegend ihr Grüße schickten.

Aber diese junge Frau blieb immer gleich gelassen und lächelte zu allen Depeschen dasselbe konventionelle Lächeln. Jetzt aber – Renate sah es genau – jetzt veränderte sie ihre Farbe. Ihre Nasenflügel bebten. Ihr Blick schien dunkler, leuchtender und doch härter zu werden. Er hing an Wolf – in fieberischer Spannung, wie es Renaten schien. Was heißt das? dachte diese.

Nun las Wolf:

»In dankbarer Erinnerung an die schönen Manövertage gestatten sich die Unterzeichneten der Gräfin Burchard Geyer die verehrungsvollsten Glückwünsche darzubringen, sowie den Familien Linstow, Hammerriff und Weber v. Pallau die herzlichsten Festgrüße zu senden. Bülow, Ribeck, Lassen, Prags, Runau, Normann.«

Die Baronin, Frau v. Pallau, Ursula und Herr v. Pallau klatschten in die Hände.

»Was denn? Hör ich recht?« fragte die Gräfin Renate ihren Tischnachbar, den Pastor, »Normann? Unser Stephan Normann? War der hier in Quartier?«

»Auf Pallau, mit vier Kameraden. Hier lag nur 'ne halbe Kompanie mit Herrn v. Lassen und Baron Prags. Pallaus hatten vier Herren und den Major. Hammerriffs auch 'n paar Leutnants. Na, das waren vergnügte acht Tage. Und Leutnant Normann schoß den Vogel ab bei den Damen – das merkte man so 'raus,« erzählte Pastor Lüdeke.

Renate wandte sich zu ihrem Bruder und störte ihn in einem Gespräch mit seiner Frau: »Die kennen hier Stephan. Hast du das nicht gewußt? So was interessiert einen doch.«

»Eben sprech' ich mit Anna davon. Mir fällt es nun wieder ein, daß Stephan in seinem Glückwunschschreiben erwähnte, er sei hier herum in Quartier gewesen und habe die Ehre gehabt, Anna v. Linstow damals vorgestellt zu werden.«

»Das wäre doch stark,« sagte Renate, zu schnellem und scharfen Tadel bereit, »wenn der Junge seine ganze Anteilnahme heut in dem Sammeltelegramm ausdrückte.«

»Wart es doch ab!«

Inzwischen las Wolf weiter. Ein halbes Dutzend Depeschen wurde angehört ohne Zeichen von Interesse. Ursula und die Baronin unterhielten sich flüsternd darüber, weshalb gerade diese sechs Offiziere ein Telegramm zusammen abgelassen hätten, und kamen zu dem Schluß, daß ein Frühschoppen sie wohl zufällig vereint hatte.

Dann räusperte Wolf sich nochmals sehr künstlich und stark und sah wieder seine Schwester neckend an, ehe er las:

»Graf und Gräfin Geyer. Tausend gute Wünsche sendet Stephan Normann.«

»Kurz und bündig,« bemerkte Graf Burchard lächelnd.

»Gott –so 'ne Art Verlegenheit!« meinte Herr v. Pallau; »geht mir auch so, bin immer rein wie auf den Mund geschlagen, wenn ich gratulieren oder kondolieren soll.«

Renate sah zu Anna hin. Sie wurde wieder rot – kein Zweifel. Was will das sagen? dachte Renate.

»Aus der Sensation, die der Name Normann hier am Tische macht, schließe ich, daß unser Junge hier gewissermaßen eine Rolle gespielt hat im letzten Manöver,« sagte Herdeke Herrn v. Pallau.

»Unleugbar! Die Hammerriff schmachtete ... na, ihr Mann ist ja woll weiter nich eifersüchtig! Und meine Ursche war direkt in ihn verknallt, ist es vielleicht noch. Schadet nichts – so 'n kleines Strohfeuer muß mal sein. Kam mir sogar vor, als ob die Anna ihn gern sähe – war natürlich ein Irrtum. Was aber den Normann betraf – der blieb merkwürdig kühl. Gott – meine Ursche ist ja keine Beauté. Aber wenn die Nadine Hammerriff Augen macht! ... Und denn so in 'm Manöver, wo man doch als Leutnant gewissermaßen das Recht hat, alle Blumen am Wege zu pflücken, die einen anlachen ...«

Die Gräfin Herdeke seufzte.

Sie hatte ja eine Ahnung, welche Gründe Stephan Normann gleichgültig gegen alle Frauen und Mädchen machte ... Und ihr Seufzer war um so schwerer, weil sie sich bewußt sein mußte, daß ihre eigene Gutmütigkeit den jungen Mann mit jener zusammengeführt hatte, deren schöne Augen ihm dann offenbar gefährlich geworden. Aber schließlich hatte Stephan doch Verstand! Er konnte doch niemals im Ernst einen Plan fassen, dessen Ausführung seine ganze Laufbahn vernichten mußte!

Herr v. Pallau wollte nun genau wissen, durch welche Familienverzweigung der Oberleutnant Normann mit den Geyers verwandt sei.

»Das ist eine ganz einfache Geschichte,« begann Herdeke, »unsre Cousine Stephanie, die Letzte eines Nebenzweiges der Geyer, heiratete einen Künstler. Man bauschte damals den guten Musiklehrer Normann zu einem Genie auf. Nichts leichter, als einem Menschen den Glauben beizubringen, er sei eins. Da hat er denn Stephanies kleines Vermögen verkomponiert. Wenn eine Normannsche Oper an irgend einer Provinzbühne aufgeführt ward, sagte ich immer: ich hör' die Goldstücke förmlich rollen. Das war wenigstens die wahre Musik dabei. Und sie verklang fabelhaft rasch. Als die beiden starben – ich sag' Ihnen, wie aufs Stichwort starben sie – als ob sie was bei ihren vielen Berührungen mit dem Theater gelernt hätten – da war für ihren armen Jungen nichts mehr da. Wir wußten nur durchs Hörensagen von ihm. Aber Burchard reiste hin, brachte ihn ins Kadettenhaus und hat auch weiter für ihn so quasi den Vater gespielt – bis auf den heutigen Tag.«

Herr v. Pallau hörte mit unverhohlenem Interesse zu. Wenn der Oberleutnant Normann auch nicht im geringsten auf Ursulas offenkundige Schwärmerei reagiert hatte ... man konnte immerhin nicht wissen ... und so standen sich die Webers v. Pallau denn doch, daß die einzige Tochter sich einen armen Leutnant wählen durfte, wenn sie ihn ernsthaft liebte. –

Um den Tisch war nun große Unruhe. Jeder sah ein, daß es Zeit sei für Anna, sich umzukleiden, aber Herr v. Linstow dachte nicht daran, die Tafel aufzuheben. Herdeke sagte es ihm zweimal.

»Meinen Sie? Schon?«

Da standen sie denn endlich auf. Man begab sich in die Wohnzimmer, und das junge Paar verschwand.

Aber auch Donat v. Linstow schlich sich hinaus. Er hatte für den Moment der Abreise seiner Schwester eine Überraschung ausgedacht. Einige Böllerschüsse sollten losknallen. Das dachte er sich sehr lustig und standesgemäß. Hein, der alte Pferdeknecht, hatte die kleine Kanone instand gebracht. Wohl an die zwanzig Jahr hatte sie hinten im Scheunenwinkel ein verstaubtes, verrostetes Dasein geführt. Donat hatte sein Vorhaben niemand anvertraut, nicht einmal Ursche. Die hätte sonst gleich gesagt: Ach, das laß nur Wolf und mich machen, du bist zu tappsig zu so was. Er wollte ihr zeigen, daß er gar nicht so tappsig sei.

Niemand vermißte ihn übrigens. Alle waren von dem vielen guten Essen und den starken Weinen in einer sehr lebensseligen Stimmung.

Herr v. Pallau saß breitbeinig und weit zurückgelehnt auf dem Sofa und hatte den Arm um die Taille der neben ihm auf der Sofakante sitzenden guten alten Pastorin gelegt, die beinahe unternehmend lächelte und sagte: »Nun kommt Ursche an die Reihe.«

»So Gott will,« sprach Herr Wolf, zwischen Behagen und beginnender Rührung schwankend, »wenn sie einen leiden mag – sie soll ihn haben, auch wenn er arm ist – wenn er sonst 'n ehrenhafter Kerl is – aus Liebe soll meine Ursche heiraten ... aus Liebe ...«

»Wie?« fragte die Pastorin und erhob ihr Hörrohr.

»Aus Liebe!« schrie Herr Wolf hinein und legte noch die Hände an seinen Mund, um den Schall zu verstärken.

Die Gräfin Herdeke suchte ihren Bruder auf. Er hatte das Zimmer neben dem »Salon« seiner Schwestern bewohnt.

Sie fand ihn reisefertig, im Begriff, sein Gepäck zu schließen.

Nun trat sie an ihn heran und streichelte ihm den Arm.

»Burchard,« sagte sie leise.

»Nun?«

»Burchard, ich will sie lieb haben, deine Anna. Sag' ihr das.«

Graf Burchard klopfte seiner alten Schwester liebevoll die Wange.

»Dank' dir, Herdeke. Ja, sei gut zu ihr. Sie wird auch nur Gutes bringen,« sagte er in starker Zuversicht. »Anna ist ein wertvolles Menschenkind.«

Auf Burchards Bitte ging Herdeke nun, um zu sehen, ob Anna inzwischen mit der Hilfe von Ursula fertig geworden sei.

»Du Glückspilz,« sagte Ursche, als sie Anna den Kranz und den Schleier abnahm, »du kommst nun nach Paris.«

»Für vierzehn Tage.«

»Doch fein – ich möcht' auch mal hin.«

Dann schwiegen sie ein Weilchen, ganz gegen Ursulas Gewohnheit. Aber heut' war ihr der Kopf zu gedankenschwer.

»Ob ich wohl auch mal so weit komme?« sagte sie plötzlich mit einem schweren Seufzer.

»Heiraten kannst du alle Tage. Donat bleibt dir immer. Und es wäre sein Glück,« antwortete Anna, indem sie sich das graue Reisekleid überwarf.

Das wußte Ursche ja. Sie hatte es auch nie anders gedacht. Heiraten muß man. Und kein Mann auf weiter Flur für sie außer Donat. Der Egon Hammerriff war ihr greulich und sie ihm auch zu ländlich, das spürte sie wohl.

Aber seit der Leutnant Normann hier gewesen war, wußte sie erst, wie der Mann aussehen sollte, den sie gern haben mochte.

»Anna,« sagte Ursche und blickte etwas verlegen vor sich hin, »ladest du mich mal ein?«

»Soviel, so oft du willst. Nach Berlin, wenn wir da wohnen, oder nach Sommerhagen im Frühling und nach Ostrau im Herbst. Du kannst dich nur immer anmelden.«

»Anmelden – das sagt sich so! Lad' mich lieber ein ... wenn ... wenn ihr zum Beispiel sonst noch jungen Besuch habt.«

Anna verstand, aber sie ging nicht darauf ein.

»Fürchtest du, dich allein mit mir und dem Grafen Burchard zu langweilen?« fragte sie lächelnd.

Ursche steckte ihr gerade mit einer goldenen Nadel hinten den Gürtel an dem Kleiderrock fest.

»Vor deinem Mann komme ich mir so nixig und so bäurisch vor.«

»Unsinn! Er ist so gütig, wie er bedeutend ist.«

»Ja – o Gott – so 'n Mann! Du paßt aber für so was, Anna. Und du hast es ja immer gesagt, hier versumpfen wolltest du nicht. Du wolltest ein großartiges Leben ... wenn's auch nicht eins voll Glück sei. Weißt noch, wie wir Byron lasen? Da zitiertest du wohl ein halbes Jahr lang immer: ›Besser im Sturm vom Felsen genommen, als so langsam im Nebel verkommen.‹«

»Ach, da waren wir törichte Backfische,« sagte Anna abwehrend.

»Eigentlich kann man rein fatalistisch werden,« hob Ursula wieder an, während sie gewandt und umsichtig nun Annas Handtasche packte, »wenn man bedenkt, wie ihr zueinander gekommen seid, du und dein Mann. Er hat doch gewiß tausendmal Gelegenheit gehabt, sich zu verlieben. Und so 'ne große Partie, wie er ist – dem mögen sie schön nachgelaufen sein! Aber er hat sich nie entschließen können. Und da besucht er im November Herrn v. Kranow – weißt wohl noch? Wie oft schalt Herr v. Kranow, daß sein Jugendfreund ihm alle und alle Einladungen zur Jagd ablehne, und daß es ein Kunststück sei, den Grafen Geyer mal zu erwischen. Na, endlich zur Silberhochzeit der Kranows kommt er und lernt dich kennen, und sieht dich am nächsten Tag auf dem Diner von Hammerriffs wieder, wohin Kranows ihn mitschleppten. Ich merkte gleich, daß er sich bloß deinetwegen hatte mitnehmen lassen. Es war, als wenn es so hätte sein sollen – als wenn ihm eine innere Stimme geradezu befohlen hätte: Warte mit heiraten – die, die du haben sollst, bewahrt das Schicksal dir noch auf.«

»Nun, vielleicht bewahrt dir das Schicksal auch noch ein besonderes Glück auf,« tröstete Anna.

»Hoffen wir!« seufzte Ursula ehrlich, »aber braune Augen müßt' er haben.«

Sie hätte zu gern in dieser letzten Abschiedsstunde ihr Herz erleichtert und sich offen zur Freundin ausgesprochen. Anna ging ebensowenig jetzt auf die deutlichsten Anspielungen ein, wie sie es in den verflossenen Monaten getan hatte. Es war geradezu, als ob sie mit Ursula nicht von deren heißen Schwärmerei für Stephan Normann sprechen wollte. Ursche schloß daraus, daß ihre kluge Anna diese Schwärmerei für ganz aussichtslos hielt. Das war entsetzlich niederdrückend!

Aber wer wußte, wie nun noch alles kommen konnte, wo Anna sich mit einem Verwandten Normanns verheiratet hatte!

Jetzt klopfte es, und die Gräfin Herdeke trat herein.

»Fertig?« fragte sie. »Und unser Fräulein Ursula hat noch ein letztes Viertelstündchen mit der Jugendfreundin verplaudert ...«

Hier fing Ursche plötzlich an zu weinen, gerade so jammervoll wie nach der Trauung.

»Liebes Kind,« tröstete Herdeke gütig, »Sie besuchen Anna so bald als möglich – sagen wir gleich: im Frühling auf Sommerhagen ... mit Ihrem Bruder, nicht wahr? Unsern Neffen Stephan Normann, den Sie ja auch kennen, laden wir dann auch ein ... nicht wahr?«

Ursche weinte fort. Ihr Herz war zu voll. Aber sie küßte glücklich und dankbar die Hand der alten Dame.

Herdeke bemerkte wohl, daß Anna nicht im mindesten gerührt war durch den bevorstehenden Abschied. Sie verstand auch nicht, was dieser seltsame, erstaunte, fast finstere Blick bedeuten sollte, mit dem Anna sie ansah, als sie von den Einladungen sprach. Sah die junge Frau darin vielleicht einen Eingriff in ihre Rechte? Fing es nun an, daß man jeden Schritt und jedes Wort erwägen mußte, um sich in aller Harmlosigkeit nicht etwa über die Grenzen eines andern Gebietes zu begeben?

Anna aber hatte nicht von fern daran gedacht, daß es fortan wohl ihr zukäme, die Gäste nach Sommerhagen zu laden. Sie nahm sich zusammen.

»Ja, Ursche – also abgemacht – im Frühling kommt ihr, Wolf und du,« sprach sie.

Draußen auf dem Korridor wurde es sehr laut. Da ging Herr v. Pallau, klappte in die Hände und rief: »Hallo – hallo ... eilen – eilen! Höchste Post! Der Schlitten ist vorgefahren.«

Anna war auch fertig, sie befestigte sich schon den grauen Filzhut mit dem weißgrauen Federgesteck auf dem blonden Haar.

Draußen wartete Graf Burchard auf sie. Ein stolzes, glückliches Lächeln flog über sein Gesicht. Anna sah so schön aus in dem einfachen Anzug. Und sie lächelte auch – freudig und stolz. Er gab ihr den Arm, und im Schreiten preßte er ihn leise an sich.

Unten war auf dem Flur die ganze Gesellschaft versammelt. Herr und Frau v. Pallau und die Pastorin in Rührung. Nadine Hammerriff voll Neid und Neugier, Herr v. Linstow bedrückt. Wolf hatte Herzklopfen. Es tat ihm nun doch überraschend leid, daß Anna fortging, obgleich er in den letzten Jahren manchmal die Empfindung gehabt hatte, sie dünke sich was Besseres als Ursche und er und habe einen heimlichen kleinen Hochmut gegen sie beide.

Die Haustür stand weit geöffnet. Die herbe Kälte strömte herein. Der ganze hochviereckige Ausschnitt in der Mauer, den die offene Haustür gab, zeigte ein blendendes Bild.

Die letzte Nachmittagssonne schien über das weiße Gelände und den verschneiten Hof. Vor der Schwelle hielt der Schlitten. Die Pferde standen etwas unruhig, über ihre Kruppen breitete sich ein weißes, blaugesäumtes Tuch und ging über ihre Schwänze hernieder gleich einer Schleppe, um unten an den Schlittenkufen zu enden. Das silberne Schlittengeläut ließ bei jeder Bewegung der Pferde leise, perlende, fröhlich helle Töne erzittern.

Und wie Anna so von einem Arm in den andern wanderte, fühlte sie angenehm die Kälte, die von draußen kam. Die Glöckchen klangen fein und silbern und lockten.

Wie schön, daß sie nun im Schlitten durch den weiß glänzenden Tag dahinfliegen konnte – hinein in die Zukunft.

Wie diese auch sein würde, sie war das Leben!

Graf Burchard dankte noch dem Pastor verbindlich für die schöne Traurede; dann, nachdem er sich von allen Anwesenden verabschiedet und auch Herdeke und Renate umarmt hatte, trat er noch einmal auf Annas Vater zu. Er glaubte ihm das heilige Versprechen geben zu müssen, daß er Anna so glücklich zu machen hoffe, als es nur irgend in Menschenkräften stehe.

Anna aber trat schon hinaus. Sie hätte am liebsten die Arme ausgebreitet und gerufen: Welt – ich komme!

Der Kutscher hatte noch nicht seinen Reitsitz hinter dem Schlitten eingenommen. Er stand mit den Zügeln in der Hand neben dem Fahrzeug und zog nun den Hut.

Ursche, die sich immer dicht an Annas Seite hielt und unentwegt Abschiedstränen in ihr zusammengeknülltes Taschentuch vergoß, half ihrer Freundin in den Schlitten. Gerade schüttelte, mit ihm auf der Schwelle des Hauses stehend, Graf Burchard Herrn v. Linstow zum letzten Male die Hand.

In diesem Augenblick erschütterte ein fürchterlicher Knall die Luft. Zugleich gellte ein Schrei...

Die vor Schreck rasenden Pferde jagten davon; der völlig überraschte Kutscher konnte sie an den Zügeln nicht halten – er wurde zu Boden geworfen und einige Augenblicke durch den Schnee geschleift – dann ließ er aus Mangel an Geistesgegenwart oder vielleicht halb betäubt die Zügel fahren.

Am Staketzaun entlang galoppierten die Pferde ... Der Schlitten, den sie hinter sich herzogen, wurde hin und her geschleudert.

Anna saß darin und klammerte sich mit besonnener Kraft an die Rücklehne.

»Anna!« schrie Graf Burchard. Mit der verzweifelten Angst um das junge Weib stürzte er geradeaus vorwärts – blind vorwärts – er wußte nicht, daß die weiße Decke, die den langen Hof jetzt so hoch zuschüttete, inmitten desselben eine kleine künstliche Anlage, einen Teich mit einem Rand von Tuffsteinen, verbarg.

Aber mit dem Blick und der Körpergewandtheit eines Tigers setzte Wolf in großen Sprüngen rechts den Weg hinab, vorbei an dem unseligen Donat, der im Gesicht blutend neben der geplatzten kleinen Kanone stand.

Wenn die Pferde zum Tor hinaus jagten!...

Aber sie rasten den großen eiförmigen Weg auf dem Hof herum...

Jetzt schleuderte der Schlitten gegen einen Prellstein...

Die Pferde bäumten sich, und vor Angst schäumend, wild, springend, kamen sie näher. – Wolf stand wie ein Bild aus Granit – sekundenlang ... gerade im Weg, den die Tiere nahmen.

Er packte das Handpferd mit eisernem Griff an der Trense, und er bezwang es ... seine ganze junge Kraft war in seinen Fäusten.

Und da war auch schon sein Vater neben ihm und griff zu ...

Die zitternden Tiere standen.

Drüben in der Mitte der weiß verschneiten Fläche arbeitete Graf Burchard sich aus den ihm unbekannt gewesenen Hindernissen heraus und kam nun durch den Schnee. Aber ehe er zur Stelle sein konnte, war Wolf schon am Schlitten.

Er hob Anna heraus. Sie war nicht bewußtlos. Aber ihr Angesicht war wie das einer Toten. Und von ihrer Stirn herab rieselte ein dünner Quell roten Blutes.

Sie sah mit großen Augen in das Gesicht des Mannes, der sie trug. Er hatte es über sie geneigt. Und es stand darin eine leidenschaftliche Sorge, ein heißes Mitleid.

Er hielt das junge Weib fest, sehr fest an sich gedrückt.

»Anna!« rief Graf Burchard. Nun war er neben ihr und faßte nach ihrer Hand.

»Laß, Wolf – laß ... ich kann gehen,« murmelte sie.

Ihr Gatte nahm sie aus den Armen des andern und half ihr, denn sie wollte stehen ... Von seinem Arm umschlungen, schwankend, kam sie vorwärts – es wurde ihr jetzt doch ein wenig schwarz vor Augen.

Aber sie wollte aufrecht bleiben.

»Der dumme Junge,« schrie Ursche weinend, als sie der Freundin nun entgegenstürzte, »die dumme Schießerei!«

Auch die andern Damen kamen der jungen Frau mit Klagen und Hilfsbereitschaft entgegen. Man geleitete Anna ins Haus, wieder hinauf in ihr Zimmer. Und sie hatte noch so viel Beherrschung, ihrem Gatten anmutig und tröstlich zuzulächeln und zu flüstern: »Es ist nichts ... wir reisen eben morgen ...«

Unten auf dem Hof, von dem sich gerade alles Sonnenlicht zurückzog und wo nun eine bleichblaue Beleuchtung sich frostig über den Schnee legte, schimpfte Herr v. Pallau kräftig mit aller Welt herum. Mit Donat wegen des törichten Einfalls, mit Pulver und dem alten Ding von Kanönchen sich abzugeben; mit Hein, daß er dabei Hilfe geleistet; mit dem Kutscher, daß er keine Geistesgegenwart gehabt und überhaupt kein ganzer Kerl sei.

Wolf saß auf einem Prellstein und guckte in die kalte, fahl werdende Welt hinaus. Er dachte eigentlich nichts. Ihm war so seltsam zumute. Nachträglich zitterten ihm die Knie.

Da kam Graf Burchard gegangen.

»Ich danke Ihnen, lieber junger Freund. Sie haben augenscheinlich Anna das Leben gerettet.« Und er drückte ihm warm die Hand.

»O nein – nicht mehr draus machen, als es war!« sagte Wolf, immer noch staunend und so seltsam verwirrt, wie ihm im Leben noch nie zumute gewesen war; »aber so sonderbar ist das, erst in solchem Augenblick merkt man recht, was man von jemand hält. Wenn uns Anna verunglückt wäre!«

Und er ließ seine Faust auf seine Knie fallen und starrte kopfschüttelnd vor sich hin.

»Wenn Anna verunglückt wäre!« wiederholte er.

Und dann nach einer Pause: »Man hätte ja wohl nicht mehr weiter leben mögen. Sie ist mir doch g'rad' wie Ursche...«

So endete die Hochzeit des Grafen Burchard mit Anna.


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