Paul Bourget
Kosmopolis. Zweiter Band
Paul Bourget

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Zehntes Kapitel.

Für Alba tagt's

Der Scharfblick des Chirurgen hatte richtig gesehen, Dorsennes Kugel war unter dem Handgelenk eingedrungen: einen halben Zoll mehr nach links oder rechts und Boleslav Gorka wäre ein stiller Mann gewesen. Jetzt kam er mit einem zerschmetterten Knochen davon, der ihn für ein paar Tage zur Zimmerhaft, ein paar Wochen zur Armschlinge verurteilte. Diese gnädige Fügung war für den von Leidenschaft zur Raserei Getriebenen gerade das, was er am meisten verabscheute. Als er nach Hause gebracht worden war und der eilig herbeigerufene Hausarzt den Notverband ersetzt und ihn für die ersten Tage ins Bett gesprochen hatte, überfiel ihn denn auch eine zornige Verzweiflung, die alle kürzlich vorangegangenen Wutanfälle an Heftigkeit übertraf. All seine seelischen Organe, die edelsten und die niedrigsten bluteten zumal und verursachten ihm ganz andre Schmerzen, als der zerschmetterte Arm. Wie war er in seiner Eigenliebe verletzt, in dem nahezu krankhaften, übrigens nicht ungerechtfertigten Bedürfnis, in den Augen all seiner Bekannten als ein außergewöhnlicher Mensch dazustehen! Als ein Rächer des Liebesverrats war er wie der Sturmwind von Warschau nach Rom gerast und hatte seinen Nebenbuhler von Anfang an verfehlt. Statt ihn auf der Stelle im Salon der Gräfin Steno herauszufordern, hatte er zugewartet und einem andern Zeit gelassen, sich an die Stelle des Strafwürdigen zu drängen. Diesen andern, dessen Tod dem unsinnigen Abenteuer wenigstens zu einem tragischen Ausgang verholfen hätte, hatte seine Kugel kaum gestreift. Dann hatte er durch den Angriff auf Dorsenne einen Schurken richten wollen, der seiner Ansicht nach mit dem heiligsten Vertrauen gespielt hatte, und hatte nichts erreicht, als dem falschen Freund Gelegenheit zu geben, ihn grausam zu demütigen und ihn auf manchen Tag hinaus kampfunfähig zu machen. Voraussichtlich würde von allen, die ihn beschimpft und gekränkt hatten, nicht einer seine Strafe erhalten, weder sein plumper und feiger Nachfolger, noch seine erbärmliche Geliebte, noch dieses Scheusal von einer Lydia Maitland, deren Schlechtigkeit ihm erst jetzt entdeckt worden war. Sie alle freuten sich glückstrahlend und triumphierend des herrlichen Maitages, während er auf seinem Schmerzenslager stöhnte.

Diese Gedanken wurden ihm sehr deutlich bestätigt durch den Besuch seiner zwei Zeugen, die sich gegen fünf Uhr nach seinem Befinden erkundigten und die von allen Besuchern allein vorgelassen wurden. Sie kamen eben von dem Rennen bei Tor di Quinto, das an diesem Tage stattgefunden hatte.

»Es steht vortrefflich,« begann Cibo. »Ich wette, daß niemand geklatscht hat. Daß ich meines Pächters da draußen sicher bin, habe ich dir ja gesagt, und die Kutscher und Zeugen haben wir entsprechend belohnt.«

»Waren die Gräfin Steno und ihre Tochter auch draußen?« fragte Boleslav.

»Ja,« versetzte der Römer, den diese unerwartete Frage so überrascht hatte, daß er die Antwort nicht mit seiner sonstigen Schlauheit umgehen konnte.

»Und mit wem?« fragte der Verwundete weiter.

»O, ganz allein,« versicherte dieses Mal Cibo mit einer Beflissenheit, hinter der Boleslav eine Unwahrheit suchen mußte.

»Und Frau Maitland?«

»Die war auch da – und ihr Mann und überhaupt ganz Rom,« versetzte Pietrapertosa, ohne Cibos Augenzwinkern zu verstehen, denn er war zu sehr erfüllt von der großen Tagesneuigkeit. »Du weißt doch, daß die Verlobung der kleinen Hafner mit Ardea jetzt veröffentlicht ist? Sie waren alle drei da, das Brautpaar und der Vater, und so glücklich, daß es wirklich hübsch anzusehen war.«

»Und Dorsenne?« forschte der Kranke des weiteren.

»Der wandelte affektierter als je umher,« sagte Cibo. »Du wirst lachen, wenn ich dir erzähle, was für eine erstaunliche Antwort er uns aufgetischt hat. Wir fragten ihn nämlich, wie es komme, daß er mit seinen Nerven – du hast ihn ja beim Spiel gesehen! – auf dich zielen und zwar scharf zielen konnte, ohne zu zittern? Denn, das muß man ihm lassen, gezittert hat er nicht . . . Und rate, was er uns erwidert hat. Er habe sich einer Vorschrift seines Meisters Stendhal erinnert: vier lateinische Verse hersagen, ehe man abdrückt! ›Darf man wissen, was für Verse Sie gewählt haben?‹ fragte ich. ›Weshalb nicht?‹ sagte er und fing an zu deklamieren: ›Tityre, tu patulae recubans . . .‹

Die Heiterkeit und das laute Gelächter seiner geistreichen Freunde gingen dem Kranken auf die Nerven. Er schützte sein Bedürfnis nach Ruhe vor, um sich die wackeren Jungen vom Halse zu schaffen, an deren aufrichtige Teilnahme er glauben durfte, deren treue Ergebenheit er erst heute erprobt hatte, die ihm aber jetzt weh thaten, indem sie, allerdings auf sein eigenes Verlangen, die Gestalten seiner Feinde in höhnischem Sonnenschein an ihm vorüberziehen ließen. In gewissen Gemütszuständen ist uns heitere Geschwätzigkeit rein unerträglich. Man will allein sein, um wenigstens ungestört das bittere Kraut des verzweifelten, wirkungslosen Grolles gegen Menschen und Schicksal wiederzukäuen, das in diesen Stunden Gorkas einzige Nahrung bildete. Daß seine einstige Geliebte an diesem Tag, zu dieser Stunde dem Rennen beigewohnt hatte, erbitterte ihn mehr als alles übrige. Er zweifelte nicht daran, daß Maitland durch seinen Schwager und sie durch Maitland von dem Doppelduell und seiner Verwundung unterrichtet sei. Sie mußte also auch wissen, daß er sich ihretwegen geschlagen hatte, und am selben Tage ging sie aus, um sich zu zeigen, zu lachen und zu scherzen, als ob zwei Jahre geteilter Liebesglut sie nicht aneinander gekettet hätten, als ob er ihr nichts wäre als der erste beste Gast, den sie zu Tisch gebeten hatte!

Er kannte ihre Art so genau; er wußte so gut, wie gierig sie, wenn sie liebte, die Nähe des Geliebten einsog. Ohne Zweifel hatte sie den Besuch des Rennplatzes mit Maitland verabredet gehabt, wie sie einst mit ihm solche Begegnungen verabredet hatte, und auch er war hingegangen, während er zu Hause über einen Verwundeten wachen sollte, über diesen edlen, mutigen Bruder, den er an seiner Stelle in den Kampf geschickt hatte! Ja, dieser rohe, selbstsüchtige Amerikaner war der würdige Liebhaber dieser Frau. Das Bild des glücklichen Paares marterte den Verwundeten mit den giftigsten Qualen der Eifersucht, jener Eifersucht, die mit Ekel und Verachtung gemischt ist, und im Gegensatz dazu drängte sich ihm der Gedanke an seine eigene Frau auf, an diese stolze und doch so zärtliche Maud, die ihm verloren war so gut als Katharina Steno. Er erinnerte sich früherer Krankheiten, wo diese sanfte, heilige Pflegerin an seinem Bett gesessen hatte; er glaubte die ehrlichen Augen zu sehen, womit die schmählich verratene Gattin ihn angeblickt hatte, die Bewegungen ihrer treuen Hände, die keinem andern den geringsten Dienst bei ihrem Kranken überlassen hätten. Heute hatte sie ihn ohne Abschied in einen vielleicht tödlichen Kampf ziehen lassen, er war zurückgekehrt, sie hatte sich nicht einmal nach seiner Verwundung erkundigt. Der Arzt hatte den Verband angelegt, ohne daß sie Hilfe geleistet hatte, und er wußte überhaupt nichts von ihr, als was sein Knabe ausgeplaudert hatte. Er hatte das Kind rufen lassen und hatte ihm den verletzten Arm durch einen Sturz auf der Treppe erklärt, wie es auch zwischen den Freunden verabredet worden war.

»Ja! Wann kannst du uns denn aber nachkommen, Papa?« hatte Luc gefragt. »Mama hat gesagt, wir würden heute oder morgen nach England reisen – die meisten Koffer sind schon gepackt . . .«

Heute oder morgen? Maud wollte also ihre Drohung ausführen. Sie verließ ihn für immer, ohne Abschied, ohne Aussprache. Er konnte nicht ein einziges Mal mehr seine Sache vor dieser Frau vertreten, die freilich durch nichts mehr zu rühren sein würde, da sie heute in ihrem verletzten Stolz die Kraft gefunden hatte, hart zu sein, während er in Lebensgefahr war. Vor diesem unwiderleglichen Beweis, daß alles um ihn zusammenbrach, versank Boleslav in eine jener Anwandlungen tiefster Mutlosigkeit, wo der Mensch nichts mehr hofft und nichts mehr wünscht, als für immer einzuschlafen.

»Wenn ich noch einen Versuch machte?« fragte sich Boleslav unzähligemal, und die Antwort war immer das trostlose »Wozu? Es wird vergebens sein«, als plötzlich der Diener eintrat mit der Meldung, die Frau Gräfin wünsche ihn zu sprechen. Seine Gedanken waren so verwirrt, daß er sich einen Augenblick einbildete, es handle sich um die Gräfin Steno, und daß er fast mit Entsetzen seine eigene Frau eintreten sah. Er hatte wahrhaftig in diesen letzten Tagen und diesem Wirbel von Ereignissen Gemütsbewegungen genug durchgemacht, aber keine, nicht einmal der Augenblick vor Dorsennes Pistole, war so erschütternd gewesen als das Erscheinen dieser Frau, die sein verkörpertes Gewissen war. Mauds Gesicht, dieses junge, frische Gesicht, das sonst von der Schönheit gesunden, auf englische Art durch frische Luft und kräftige Bewegung erneuten Blutes strahlte, wies die unverwischbaren Spuren von Thränen, Jammer und Schlaflosigkeit auf. Die Blässe ihrer Wangen, die schwarzen Ringe um die Augen, die Trockenheit der Lippen und der bittere Zug, der darum lag, namentlich aber das fieberhafte Leuchten der Pupillen sprachen beredter als Worte von dem furchtbaren Stoß, dessen Opfer diese Natur von so schönem Gleichgewicht geworden war. Diese vierundzwanzig Stunden hatten auf sie gewirkt wie manche lange Krankheiten, die den ganzen Kern des Organismus umzugestalten scheinen; sie war ein völlig andres Geschöpf, und die Plötzlichkeit dieser traurigen Verwandlung ergriff Boleslav derart, daß er sogar seine eigenen Qualen darüber vergaß. Er empfand nichts mehr als unendliche Reue, die wieder zum Schrecken wurde, als die vom Jammer so sichtlich verstörte Frau sich an sein Bett setzte und er nun in ihrem Auge trotz der Fieberglut dieselbe unnahbare, unerbittliche Kälte wiederfand, die ihn gestern abend zurückgeschreckt hatte. Und doch war sie da und ihre Gegenwart that dem jungen Mann trotz der unseligen Umstände unendlich wohl. Er sagte ihr das mit der weichen, fast kindlichen Anmut, die ihm immer zu Gebote stand, wenn er gefallen wollte.

»Du hast also eingesehen, daß es gar zu grausam wäre, mich ohne Abschied zu verlassen. Ich hätte nicht gewagt, dich darum zu bitten, und doch ist es die einzige Freude, die mir noch zuteil werden kann. Wie danke ich dir, daß du sie mir bereitest!«

»Danke mir nicht,« versetzte Maud kopfschüttelnd, »denn nicht deinetwegen bin ich hier. Meine Pflicht ruft mich her . . . laß mich ausreden,« gebot sie, als der Verwundete Miene machte, sie zu unterbrechen, »und antworte mir nachher. Wenn es sich nur um dich und mich handelte, so – ich wiederhole es dir – würde ich dich nicht wiedergesehen haben, aber wie ich dir gestern schon sagte, wir haben einen Sohn . . .«

»Ach,« rief Boleslav, von Schmerz überwältigt. »Um mir noch weher zu thun, bist du gekommen! Du hättest dir doch denken müssen, daß ich nicht in der Verfassung bin, diese peinliche Frage zu erörtern . . . ich glaubte dir auch gesagt zu haben, daß ich deine Rechte nicht verkennen werde, vorausgesetzt, daß du die meinigen achtest.«

»Nicht von unsern Rechten will ich sprechen, weder von den deinigen, noch von den meinigen,« fiel ihm Maud ins Wort, »sondern nur von dem unsres Kindes, dem einzigen, was in die Wagschale fällt. Als ich gestern von dir ging, war ich zu unglücklich, um irgend etwas außer meinem Schmerz zu empfinden. In all meinem inneren Elend kam mir ein Wort meines Vaters in den Sinn, der mir gesagt hat: Wenn man unglücklich ist, muß man seinem Schmerz ins Gesicht sehen; er lehrt uns immer etwas. Ich schämte mich meiner Schwachheit und habe ihm ins Gesicht gesehen, diesem Schmerz, und er lehrte mich, einmal ihn als gerechte Strafe dafür hinzunehmen, daß ich mich gegen den Rat der Meinigen und die Anschauungen dieses armen Vaters verheiratet habe . . .«

»Ach! Verleugne die Vergangenheit nicht, die mir durch alle Verirrungen hindurch so teuer geblieben ist!«

»Nein, ich verleugne sie nicht, denn indem ich mich darein vertiefte, indem ich meine Eindrücke von damals wieder an mir vorüberziehen ließ, habe ich, wenn auch keine Entschuldigung, so doch eine Erklärung deiner Handlungsweise gefunden . . . Ich habe mich an alles erinnert, was du mir von deiner unglücklichen Kindheit erzählt hast, wie du zwischen Vater und Mutter geteilt aufgewachsen bist, die eine Hälfte des Jahres beim einen, die andre bei der andern zubringend, unfähig und unberechtigt, weder ihn, noch sie zu beurteilen, und gezwungen, jedem deine Gefühle fürs andre zu verhehlen. Zum erstenmal ist mir klar geworden, wie diese Trennung der Eltern deinem Herzen Wunden schlagen mußte, wie sie deinen Charakter irregeleitet hat . . . und ich habe in der deinigen Lucs Geschichte vorausgesehen. Höre mich an, Boleslav, ich rede jetzt zu dir, wie ich zu Gott rede! Als diese Vorstellung vor meine Seele trat, war meine erste Regung nicht, das gemeinsame Leben mit dir fortzuführen. Nein, denn es wird für mich von nun an zu qualvoll sein. Mein erstes Gefühl war im Gegenteil, daß ich meinen Sohn für mich allein behalten wolle, daß er nur unter meinem Einfluß stehen solle. So stand es um mich, als ich dich heute früh fortfahren sah – fortfahren, um mir auch das noch anzuthun, mich abermals zu opfern. Wenn deine Reue aufrichtig gewesen wäre, würdest du mir diese letzte Schmach nicht erspart haben? Als du dann zurückkamst, als man mir die Meldung brachte, daß du verwundet seiest, da wollte ich selbst es dem Kind sagen, du seiest krank . . . und da habe ich gesehen, wie lieb er dich hat; ich habe ermessen, welchen Raum du in seinem Herzen einnimmst, und habe erkannt, daß, auch wenn das Gesetz ihn mir zusprechen würde, wie es unfehlbar geschehen müßte, seine Kindheit doch der deinigen gleichen, seine Jugend werden müßte, was deine Jugend war. Und weil du von Rechten sprichst« – ihre Stimme bebte von einer Rührung, die sich durch den Stolz Bahn brach – »das Recht, an die innige Verehrung, an die Anbetung zu rühren, die er für dich hegt, dieses Recht habe ich mir nicht zuerkannt. Deshalb komme ich jetzt, um dir zu sagen: Du hast mir viel zuleid gethan, du hast etwas in mir zerstört, was nicht wieder wachsen wird. Ich fühle, daß das Bewußtsein, von dir verraten – und wie verraten! – worden zu sein, noch manches Jahr schwer auf meinem Gemüt und Geist lasten wird. Aber ich fühle auch, daß die Trennung, wozu ich entschlossen war, für unsern Sohn eine ernste Gefahr sein würde. Ich fühle, daß ich in der Ueberzeugung, eine sittliche Gefahr von ihm abzuwenden, die Kraft finden werde, das gemeinsame Weiterleben zu ertragen, und ich will es auf mich nehmen. Allein die menschliche Natur ist und bleibt menschlich, und ich kann diese Kraft nur unter einer Bedingung finden . . .«

»Unter welcher?« rief Boleslav. Mauds Rede – denn es war eine wohlüberlegte Rede, worin jedes einzelne Wort von ihrem zarten und ernsten Gewissen geprüft und erwogen worden war – stand durch ihre besonnene Klarheit in zu grellem Gegensatz zu den verworrenen, überreizten Stimmungen, worin er sich seit Tagen bewegte. Sie hatte ihn peinlicher erregt, als die leidenschaftlichsten Vorwürfe es vermocht hätten. Gewisse Wendungen, zum Beispiel der Satz über seinen irregeleiteten, verderbten Charakter, hatten ihn im empfindlichsten Grad verletzt, wie uns nur Wahrheiten verletzen, die wir uns selbst nicht gestehen wollen, obwohl wir sie im Grund als wahr erkennen. Zugleich hatte ihn aber das Zugeständnis der innigen Liebe seines Sohnes tief berührt, und er sagte sich, daß, wenn er die Versöhnung mit Maud jetzt von sich stieße, sein Familienleben für alle Zukunft verspielt wäre. Von all diesen Gefühlen lag etwas in den wenigen Worten, womit er nach dem Ausruf »Unter welcher?« fortfuhr: »Obwohl du hart mit mir gesprochen hast und leicht die Form hättest finden können, mir das Nämliche schonender zu sagen; obwohl es mir sehr bitter ist, daß du auf eine einzige Verirrung hin meinen ganzen Charakter verdammst – ich liebe dich, ich liebe meinen Sohn und gehe zum voraus auf deine Bedingungen ein. Ich kann es, denn ich achte deinen Charakter zu hoch, um dir zuzutrauen, daß du meiner Unwürdiges forderst. Was den Zweikampf von heute früh betrifft,« setzte er hinzu, »so weißt du wohl, daß es zu spät war, um mit Ehren davon zurückzutreten.«

»Ich möchte zuerst dein Wort haben,« erwiderte Maud, ohne diese Bemerkung zu beachten, »daß du, solang du das Zimmer hüten mußt, keinen Besuch empfängst. Auch ich werde niemand annehmen . . . es wäre mir unerträglich, dieses Geschöpf in meinem Hause zu wissen, noch irgend jemand, der mit dir oder mir von ihr spräche . . .«

»Darauf gebe ich dir mein Wort,« sagte der junge Mann, dem es heiß zum Herzen strömte bei diesem Beweis, daß die Eifersucht der Liebe im verbitterten Herzen der beleidigten Gattin noch so lebendig war. Lächelnd setzte er hinzu: »Das wird kein großes Opfer sein. Und ferner?«

»Ferner? Daß wir, sobald der Arzt es dir gestattet, in meine Heimat reisen. Ich werde alles anordnen, daß der Haushalt in unsrer Abwesenheit aufgelöst werden kann. Den nächsten Winter werden wir uns niederlassen, wo du willst, nur nicht in diesem Hause, nicht in dieser Stadt.«

»Zugestanden! Auch dieses Opfer ist nicht übermäßig. Was forderst du noch?«

»Was ich noch fordere?« wiederholte sie leise, als ob sie sich schämte, es zu nennen. »Daß du ihr nie schreiben, dich nie erkundigen wirst, was aus ihr geworden ist.«

»Das gelobe ich dir,« sagte Boleslav, ihre Hand erfassend. »Noch etwas?«

»Nein, sonst nichts,« erwiderte sie, ihre Hand sachte aus der seinigen lösend und, als ob sie ihre Verzeihung gleich verwirklichen wollte, ein Kopfkissen, das sich verschoben hatte, zurechtrückend.

»Doch, meine edle Maud, noch etwas! Ich werde dir beweisen, daß ich die Wahrheit sprach, als ich dir gestern abend sagte, daß ich nie aufgehört habe, dich zu lieben. Die Mutter ist heute zu mir zurückgekehrt, aber ich will auch mein Weib, mein geliebtes Weib wieder haben, und ich werde mir's zum zweitenmal erobern.«

Sie gab keine Antwort. Bei seinen letzten Worten und der Verklärung, die sie dabei auf seinen Zügen beobachtet hatte, war ein Gefühl über sie gekommen, das nicht mehr von ihr weichen sollte. Unter der Wucht ihres großen Schmerzes war ihr mit einemmal das allzu deutliche Verständnis aufgegangen für die Natur ihres Gatten, und die slavische Anmut und Geschmeidigkeit, die sie einst bezaubert hatte, sollte ihr jetzt nur Grauen einflößen. Dieser Mann mit dem beweglichen, willfährigen Gewissen hatte sich selbst schon völlig verziehen. Der Vorsatz, lange Jahre hindurch seine Schuld gut zu machen, genügte, um ihn in seinen Augen als einen pflichttreuen Menschen darzustellen. Er beurteilte sich jetzt schon, als ob er die schwierige Aufgabe thatsächlich bereits erfüllt hätte. Wenigstens hielt er in den acht Tagen zwischen dieser Unterredung und ihrer Abreise getreulich Wort. Vergebens machten der Reihe nach Cibo, Pietrapertosa, Hafner und Ardea den Versuch, bei ihm einzudringen, und als der Bahnzug ihn und Maud nach dem Norden entführte, konnte er seine Frau mit einem durch die Thatsachen gerechtfertigten Selbstgefühl fragen: »Bist du zufrieden mit mir?«

»Ich bin zufrieden, daß wir Rom den Rücken gekehrt haben,« versetzte Maud ausweichend.

Diese Befriedigung hatte eine zweifache Ursache. Einmal gab sich Maud durchaus keinen Täuschungen hin über diese anscheinende Wiederkehr sittlicher Kraft, auf die Boleslav so stolz war. Sie wußte, daß dieser unstete Wille ein Spiel der ersten besten Aufwallung sein würde. Was sie ihm aber nicht gestehen konnte, war, daß sich zu dem Schmerz der verratenen Gattin auch die Trauer um eine zerstörte Freundschaft gesellte. Die plötzliche Aufklärung über die Schlechtigkeit der Gräfin Steno hatte ihre innige Zuneigung für Alba nicht ertötet, und diese ganze Woche hindurch war sie bei allen Reisevorbereitungen von der bangen Sorge verfolgt worden: »Was wird sie von meinem Schweigen denken? Was kann ihr die Mutter gesagt haben? Wieviel hat sie erraten?«

Bei jedem Ausgang hatte sie gedacht: »Wie, wenn ich ihr begegnete?« und nie hatte sie die Post empfangen, ohne angstvoll nachzusehen, ob nicht einer der Briefe Albas nervöse, unregelmäßige Handschrift trug, diese Handschrift, die den innern Zwiespalt des seltsamen Kindes so deutlich verriet.

Maud hatte die »arme, kleine Seele«, wie sie Alba Steno gern nannte, innig lieb gehabt und ihr jene besondere Art von Freundschaft geschenkt, die junge Frauen und junge Mädchen verbindet, ein mächtiges, zartes Gefühl, das in seiner Innigkeit der Liebe einer älteren Schwester zur jüngeren gleichkommt. Ein harmloses Gönnertum und ein wenig romantische, anmutige Wehmut mischen sich darein. Die ältere Freundin ist streng; sie tadelt gern und sucht die Ueberschwenglichkeiten der jüngeren zu mäßigen, obwohl sie ihr insgeheim einen gewissen Neid einflößen. Mit dem rührenden Ernste einer erfahrenen Ratgeberin, deren Weisheit doch selbst noch recht des Rats bedürfte, nimmt sie Herzensergießungen entgegen und muntert dazu auf. Die jüngere Freundin ist neugierig und bewundert gern. Sie zeigt unverhüllt den ganzen Reichtum des reizenden Erwachens von Gedanken und Gefühlen, wie es in den letzten Jahren vor der Verheiratung knospt. Und wenn, wie in Alba Stenos Fall, zwischen der jungen Seele und ihrer eigenen Mutter ein gewisser Zwiespalt besteht, so wird die Hingebung an die selbsterwählte Schwester so tief, daß ein Bruch für beide Seiten nicht ohne heißes Weh abgeht. Deshalb war die Abreise von Rom für Mauds treue und edle Natur gleichzeitig eine Befreiung und ein Schmerz – eine Befreiung, weil sie keine Auseinandersetzung mit Alba mehr zu fürchten hatte; ein Schmerz, weil ihr der Gedanke, ihr Herz nicht vor der Freundin rechtfertigen zu können, bitter war, und weil sie ihr die Liebe, die insgeheim fortlebte, nie mehr würde offen zeigen können.

»Mag sie mich falsch beurteilen,« dachte sie, als die Umrisse der Stadt und ihre Lichterreihen in der Ferne verschwanden, »wenn sie nur nichts ahnt! Wer wird sie jetzt hindern, ihrem Gefühl für diesen gefährlichen, unzuverlässigen Dorsenne nachzuhängen? Wer wird sie aufrichten, wenn sie traurig ist? Wer sie vor der Mutter schützen? Vielleicht that ich unrecht, dieser Frau so zu schreiben, wie ich geschrieben habe, und ihr den Brief in Gegenwart der Tochter zustellen zu lassen . . . Ach, arme kleine Seele! Gott sei mit dir!«

Liebkosend strich sie ihrem Sohn über die Haare, als ob sie durch diese körperliche Berührung der lebendigen Wirklichkeit und Pflicht das Heimweh verscheuchen wollte, das sie beim Gedanken an die für ewig hingegebene Freundschaft beschlichen hatte. Sie war eine zu thätige Natur, zu sehr an die englische Tugend der Selbstbeherrschung gewöhnt, um sich in leeren Gefühlsschwelgereien zu gefallen. Und doch kann sie selbst heute, wo Monate und Monate zwischen der Gegenwart und dem unseligen Ereignis liegen, das ihrer Abreise auf dem Fuße folgen sollte, sich nicht eines Schauders erwehren, so oft die Erinnerung über sie kommt an das Vorgefühl, das sie in der stillen Wagenecke empfunden hat – die Ahnung eines schweren Unheils, das über Albas unschuldigem Haupte schwebe. Die zwei Menschen, an die sie mit nunmehr machtloser Freundschaft gedacht hatte, waren allerdings aus verschiedenen Gründen die beiden verhängnisvollen Werkzeuge, die das Schicksal der »armen kleinen Seele« vollenden mußten, und die dumpfe Selbstanklage, die sich in Maud erhob, so oft sie daran dachte, daß ihre furchtbaren Zeilen der Gräfin in Albas Anwesenheit überbracht worden waren, sollte sich nur zu sehr bestätigen.

Als der Diener mit der Meldung, seine Herrin fühle sich zu unwohl, um Besuche zu empfangen, der Gräfin Steno jenes Billet übergeben hatte, war Albas erste Regung gewesen, ins Schlafzimmer der Freundin zu eilen.

»Ich will sie nur küssen und nachsehen, ob es ihr an nichts fehlt,« hatte sie zu ihrer Mutter gesagt.

»Die Frau Gräfin haben sich aufs strengste jeden Besuch verbeten,« hatte der Diener verlegen eingewendet, und Katharina Steno, die inzwischen das Briefchen aufgerissen und überflogen hatte, war ihm zu Hilfe gekommen, indem sie rasch sagte: »Gehen wir, mein Kind. Ich selbst fühle mich auch nicht wohl . . .«

Erschrocken hatte das junge Mädchen den fremden, seltsamen Klang in der Stimme der Mutter wahrgenommen. Ja, diese stolze Frau, die so gewöhnt war, alles ihrem Willen zu beugen, hatte wirklich vor Schmerz gebebt unter dem gräßlichen Schimpf dieser Worte, die ihr, die einer Katharina Steno so schmachvoll die Thür wiesen! Bis an die Wurzeln ihrer schönen blonden Haare war sie leichenblaß geworden, ihr Gesicht war verzerrt gewesen, und zum ersten- und letztenmal im Leben hatte Alba ihre Mutter am ganzen Körper zittern sehen. Es war indes nur eine flüchtige Anwandlung gewesen: schon unten an der Treppe hatte diese mutige Natur, die jedem Stoß gewachsen und für die plötzlichen Wendungen des Geschicks wie geschaffen war, sich selbst und ihre Willenskraft wiedergefunden. Allein so vorübergehend die Verstörung der Mutter war, sie hatte genügt, um das junge Mädchen im Innersten zu ergreifen. Nicht einen Augenblick bezweifelte sie, daß Mauds Briefchen die Ursache dieser furchtbaren Verwandlung in Gesicht und Haltung ihrer Mutter war. Der Umstand, daß die Gräfin Gorka auch sie, die geliebte Freundin, nicht in ihrem Schlafzimmer sehen wollte, war nicht minder auffällig.

Was ging hier vor? Was enthielt dieser Brief? Was verheimlichte man ihr? Wenn ihr gestern schon das bloße Gefühl, daß zwischen Boleslav Gorka und ihrer Mutter eine heftige Auseinandersetzung erfolgt sein müsse, einen Stich ins Herz gegeben hatte, wie hätte sich ihre Unruhe nicht bis zur Todesangst steigern sollen, wenn sie deutlich sah, daß ein paar Zeilen von Boleslavs Frau ihre Mutter in diesen Zustand versetzt hatten? Die anonyme Verdächtigung stand wieder vor ihrer Seele und damit alle Zweifel, aller Argwohn, die sie seit Monaten vergebens bekämpfte. Gewisse Vermutungen schmiegen sich manchmal den Thatsachen so fabelhaft an, daß sie im Entstehen zur Gewißheit werden. Der Gedanke, der jetzt in Albas Köpfchen aufstieg, gehörte leider zu dieser Art. Sie sagte sich, daß irgend ein Zufall, vielleicht eine ähnliche schmähliche Verdächtigung von unbekannter Hand, Maud über die Beziehungen zwischen ihrem Gatten und der Gräfin Steno aufgeklärt haben könne, und daß dies die Veranlassung des geheimnisvollen Schreckens sei, worin ihre Zeilen die Mutter versetzt hatten. Obwohl Katharina Steno keine Ahnung hatte, daß in der Seele ihres Kindes seit Monaten ein Widerstreit tobte, für den der jetzige Augenblick zum entscheidenden Wendepunkt wurde, war sie doch zu klug, um nicht zu fühlen, daß sie ihre Erregung unvorsichtig geäußert hatte und erklären mußte. Ueberdies war die Entzweiung mit Maud ja unwiderruflich und mußte sich auch auf Alba erstrecken. Kaum daß die sündige und so liebevolle, so verblendete und so besonnene Mutter diese Notwendigkeit erkannt hatte, so war auch ihr Entschluß gefaßt und die Ausflucht erfunden.

»Rate, was Maud mir soeben geschrieben hat,« begann sie ganz unvermittelt, sobald Alba neben ihr im Wagen saß.

O Gott! Welch heilenden Balsam die einfachen Worte in Albas wundes Herz träufelten! Die Mutter wollte ihr also diesen Brief zeigen! Doch die Freude war kurz, denn das Billet blieb an seinem Platz, in der Oeffnung des Handschuhs, wohin die Gräfin es gesteckt, nachdem sie es zerknittert hatte.

»Sie macht mir den Vorwurf, die Veranlassung zu einem Zweikampf zwischen ihrem Mann und Florent Chapron zu sein,« fuhr die Gräfin fort, »und bricht mit mir brieflich, ohne mich gesehen, ohne mich gehört zu haben!«

»Boleslav Gorka will sich mit Florent Chapron schlagen?« fragte das junge Mädchen.

»Ja, ich wußte es von Hafner, wollte dir aber nichts davon sagen, damit du dich nicht Mauds halber aufregst, und ich habe nur deshalb so lange in ihrem Haus gewartet, um ihr Mut zuzusprechen, falls ich sie gar zu besorgt finden sollte. Und das ist nun der Lohn meiner Freundschaft! Es scheint, daß Gorka sich durch eine Aeußerung Chaprons über die Polen verletzt gefühlt hat, eine jener unbedachten, harmlos thörichten Bemerkungen, wie wir sie alle Tage über fremde Völker, seien es Italiener, Franzosen, Engländer oder Deutsche, zu hören bekommen und selbst machen. Ich wiederhole Gorka diesen Ausspruch im Scherze . . . und nun sag' selbst . . . bin ich dafür verantwortlich, daß er, statt darüber zu lachen, hingeht und diesen armen Florent Chapron beleidigt, und daß dieser abgeschmackte Zweikampf daraus entsteht? Und diese Maud setzt sich hin und schreibt mir, daß sie mir nie verzeihen werde, daß ich eine schlechte Freundin sei und ihren Mann absichtlich hineingesteigert habe! Mein Gott, sie soll ihn doch selbst bewachen, diesen Mann, und wenn er ein Narr ist, soll sie ihn einsperren! Und das mir, die sie aufgenommen hat wie alte Freunde, mir, die ihre gesellschaftliche Stellung in Rom begründet hat und eben noch keinen andern Gedanken hatte, als Sorge um sie! Versteh mich wohl,« setzte sie hinzu, indem sie Albas Hand mit einer Leidenschaft drückte, die so aufrichtig war als ihre Worte erlogen, »ich verbiete dir, sie wieder zu sehen oder ihr zu schreiben. Wenn sie sich nicht alsbald für diesen unsagbar ungezogenen Brief entschuldigt, so kenne ich sie nicht mehr. Man ist doch zu dumm, wenn man den Menschen Güte erzeigt!«

Zum erstenmal hatte Alba während dieser Erklärung die feste Ueberzeugung, daß ihre Mutter sie belüge. Seit sich überhaupt Argwohn gegen dieses Wesen, das bisher der Gegenstand schrankenloser Bewunderung und zärtlichster Liebe für sie gewesen war, in ihr Herz geschlichen hatte, war häufig auch dieses Mißtrauen in ihr erwacht, aber immer wieder entschwunden, sobald sie die Gräfin sprechen hörte. Das war sehr natürlich, denn Katharina Steno war, abgesehen von ihrer verliebten Unsittlichkeit, eine durchaus wahre, offene Natur, in deren Nähe man nicht leben konnte, ohne den Eindruck zu empfangen, daß ihr Verstellung fremder sei als allen übrigen Frauen. Ihre gewohnheitsmäßige Kühnheit und die gewisse heitere Sicherheit, womit sie sich ihren Leidenschaften hingab, verliehen ihr selbst bei dadurch unvermeidlichem Betrug den großen, freien Ton, der uns Glauben und Vertrauen wie durch Suggestion einflößt.

Ueberdies griff die Gräfin nur im äußersten Fall zur Lüge. Ihr Widerwillen gegen alles Kleinliche ließ sie lieber schweigen, und Schweigen ist entschieden der sicherste Weg, andre zu täuschen. War es nicht zu umgehen, daß sie sich durch eine thatsächliche Lüge aus irgend einer Schwierigkeit half, so erfand sie mit größter Umsicht eine möglichst einfache, die Wahrheit streifende Ausflucht, wie die eben gegebene. Es war in der That eine Schwäche des wackeren Florent, fortwährend längst im Schwang gehende Witzworte auf Kosten andrer Nationalitäten anzuführen, die meist ebenso nichtig als boshaft waren. Alba konnte sich nur an eine, nein, sie konnte sich an hunderterlei Gelegenheiten erinnern, wo der sonst so gutmütige Mensch mit billigen Späßen um sich geworfen hatte, die zur Not einen besonders reizbaren Menschen beleidigen konnten. Es war also nicht gerade unwahrscheinlich, daß ein Wortwechsel zwischen Gorka und Florent aus derartigem Anlaß entstanden wäre. Nur daß es gerade Chapron war, gerade der Schwager Maitlands, dieses neuen Freundes, der ihrer Mutter in Gorkas Abwesenheit so nahe getreten war, mochte ihre Bedenken erregen. Und er war ein Schwager, von dem Dorsenne zu sagen pflegte: »Er würde Rom in Brand stecken, um dem Mann seiner Schwester ein weiches Ei zu kochen!«

Beim ersten Wort von diesem Zweikampf hatte sich der »armen kleinen Seele« sofort mit unüberwindlicher Gewißheit der Gedanke bemächtigt: »Er schlägt sich an Stelle seines Schwagers, und weshalb sollte er das thun, wenn nicht der Gräfin Steno halber?« Trotzdem würde diese Ahnung vor der sehr glaubhaften Erzählung der Gräfin nicht einen Augenblick standgehalten haben, wenn ihr Gefühl nicht den Beweis geliefert hätte, daß ihre Mutter nicht die Wahrheit sprach. Das junge Mädchen erwiderte Maud Gorkas Liebe ebenso innig, sie kannte das Gemüt der treuen, zartfühlenden Freundin so genau, als diese das ihrige. Wenn Maud ihrer Mutter Worte geschrieben hatte, die einen plötzlichen, unwiderruflichen Bruch bedeuteten, so mußte sie einen ernsten, ja einen entsetzlichen Grund dazu gehabt haben. An diese moralische Beweisführung schloß sich eine thatsächliche an. Nach dem Wesen der Gräfin und ihren sonstigen Gewohnheiten mußte sie Mauds Brief ihrer Tochter zeigen – es unterblieb, weil sie ihn nicht zeigen konnte!

Vergebens machte sich Alba diesen erneuten Zweifel zum Vorwurf. Vergebens suchte sie sich einzureden, daß sie heute abend oder morgen oder übermorgen selbst Nachricht von Maud und die Bestätigung der Aussage ihrer Mutter erhalten werde. Allein der folgende Tag brachte ihr nichts als Nachricht über den Zweikampf, die der Gräfin durch Maitland zu Ohren kam. Er hatte ihr den ganzen Hergang geschildert, Gorkas rohen Ausfall gegen Dorsenne und das verhältnismäßig harmlose Ergebnis des Doppelkampfes.

»Du siehst, daß ich Gorka mit Recht einen Narren nannte!« setzte die Mutter hinzu. »Er scheint trotz der Verwundung nach dem Duell noch weitere Anfälle von Raserei gehabt zu haben, und offenbar bewacht man ihn ängstlich und läßt niemand zu ihm. Begreifst du jetzt, wie thöricht es von Maud war, mich für diesen Akt des Wahnsinns verantwortlich zu machen? Uebrigens ist Geisteskrankheit bei den Gorkas in der Familie . . .«

Das war in der That die Fabel, die von der Venetianerin und ihren Freunden Hafner, Ardea und andern geflissentlich in ganz Rom ausgestreut wurde, um das Gerede zum Schweigen zu bringen. Von Geistesstörung reden Frauen gern, wenn sie die Leidenschaft eines Mannes bis zur Raserei gesteigert haben und nun seine Handlungen und Reden jeder weiter tragenden Bedeutung entkleiden wollen. In diesem Fall wurde die Verleumdung durch Boleslavs Heftigkeit, die zwei Duelle in einer Viertelstunde und die Unverständlichkeit seines Grolls gegen Florent Chapron wie gegen Dorsenne sehr glaubhaft gemacht. Als man in der Stadt erfuhr, daß der Palazzetto Doria unzugänglich sei, daß Maud Gorka keinen Menschen empfange, und als sie schließlich ihren Gatten in dieser fluchtähnlichen Weise mit sich fortnahm, zweifelte niemand mehr daran, daß die Vernunft des jungen Polen in die Brüche gegangen sei. Von der Gräfin Steno und ihrem Verhältnis mit dem Unglücklichen war nicht mehr die Rede, höchstens sprach man mit Teilnahme von der Gefahr, in der sie geschwebt hatte, den Ausbruch des Wahnsinns in ihrem eigenen Haus zu erleben. Dafür fiel das Urteil über die Zeugen, die trotz der ausgesprochenen Geistesstörung die Hand zu dem zweiten regelwidrigen Duell geboten hatten, um so strenger aus. Die Sache wurde so widersprechend erörtert, daß die Behörden sich gezwungen sahen einzuschreiten, und daß ohne einen einflußreichen Verwandten Pietrapertosas die Helden dieses Abenteuers unfehlbar vor Gericht gestellt worden wären. Indessen bildeten sie nur einen Gesprächsgegenstand, der sogar Ardeas erstaunliche Verlobung, Fanny Hafners Taufe, den Wiederankauf des Castagnaschen Palastes, sonst für die römische Welt unerhört wichtige Ereignisse, in den Hintergrund treten ließ. Diese Klatschbasereien, deren erster Ursprung dank den Vorsichtsmaßregeln, die der besonnene Cibo getroffen hatte, ein Rätsel blieben, machten sich wenigstens für zwei Personen bezahlt. Die erste davon war der Wirt »zum Tempo Perso«, dessen bescheidene Osteria in diesen Tagen zu einem wahren Wallfahrtsorte wurde und der eine nie dagewesene Menge Albanerweines und frisch gelegter Eier absetzte. Die andre war Dorsennes Verleger, bei dem von den römischen Buchhandlungen Bestellungen auf Hunderte von Exemplaren seiner Bücher einliefen.

»Wenn mir die Geschichte in Paris begegnet wäre,« sagte der Schriftsteller zu Alba Steno, der er von diesem wunderlichen Erfolg erzählt hatte, »so hätte ich vielleicht endlich die berauschende Wirkung des dreißigsten Tausend kennen gelernt.«

Er hatte diese humoristische Bemerkung ein paar Tage nach Gorkas Abreise am Schluß eines großartigen Diners von vierundzwanzig Gedecken hingeworfen, das zu Ehren von Peppino Ardea und Fanny Hafner in der Villa Steno stattgefunden hatte.

Seit dem Zweikampf wieder sehr in Gnaden bei der Hausfrau, war Julian von neuem ein ständiger Gast geworden und stellte sich um so häufiger ein, als ihm die zunehmende Schwermut des jungen Mädchens immer größere Teilnahme einflößte. Das Rätsel dieses jugendlichen Gemüts steigerte seine Spannung bei jedem neuen Besuche derart, daß er trotz der schon beginnenden gefährlichen Hitze des römischen Sommers seine längst angekündigte Abreise nach Paris von einem Tage zum andern hinausschob. Wie viel war ihr durch diesen Zweikampf klar geworden, um dessen Schilderung sie ihn mit kaum verhehlter Erregung im Blick der hellen blauen Augen gebeten hatte? Diese Augen waren so durchsichtig und doch so unergründlich als das Wasser mancher Gebirgsseen am Fuße der Gletscher.

Er hatte es für rätlich gehalten, die Verbreitung der Legende von Boleslavs Wahnsinn nach Kräften zu fördern, obwohl er mehr als irgend einer von ihrer Unrichtigkeit überzeugt war, denn es war ja entschieden das sicherste Mittel, die Gräfin Steno von der ganzen Geschichte loszutrennen. Weshalb aber hatten sich diese blauen Mädchenaugen während seines Berichtes mit einer unerklärlichen Wehmut verschleiert, gerade als ob er ihr ein neues Leid zugefügt hätte? Er gab sich keine Rechenschaft darüber, daß die Komtesse von der Stunde an, wo man in ihrer Gegenwart Boleslav als einen Geisteskranken bezeichnet hatte, das Opfer einer ebenso einfachen als unabweisbaren Folgerung geworden war.

»Wenn Boleslav geisteskrank ist,« sagte sie sich, »wie alle einstimmig behaupten, weshalb macht Maud, die so viel Gerechtigkeitssinn besitzt und mich so lieb hat, meine Mutter für diesen Zweikampf derart verantwortlich, daß sie sogar den Verkehr mit mir abbricht und ohne ein Wort der Erklärung davonreist? Nein, nein, es muß etwas andres sein . . .«

Um sich in der Vermutung von »etwas andrem« zu bestärken, brauchte das junge Mädchen sich nur zu erinnern, wie ihre Mutter ausgesehen hatte, als sie Mauds Brief las. In den zehn Tagen, die seit diesem Auftritt verstrichen waren, hatte sie dieses Gesicht nicht los werden können, immer wieder sah sie das Entsetzen auf diesen sonst so ruhigen, stolzen Zügen. Sie war wahrhaftig eine arme kleine Seele, seit sie den Gedanken nicht mehr abzuschütteln vermochte.

»Meine Mutter ist keine anständige Frau,« ein Gedanke, der um so grauenhafter war, als Alba wohl die Unschuld, aber nicht mehr die Unwissenheit eines jungen Mädchens besaß. An die mitunter gewagten Gespräche im Kreis der Gräfin gewöhnt, durch zufällig aufgegriffene Romane erleuchtet, hatte sie hinreichend klare Begriffe von einem Liebesverhältnis, daß ihr die Pein fast unerträglich war, sie auf die Beziehungen ihrer Mutter zu Gorka und jetzt zu Maitland anwenden zu sollen. Diese Pein hatte sich ihr während des festlichen Mahls besonders stark aufgedrängt und sie stand noch unter ihrem Bann, als Dorsenne nach Aufhebung der Tafel den Versuch machte, heiter und unbefangen mit ihr zu plaudern. Sie hatte bei Tisch den Maler zum Nachbar gehabt und sein bloßes Atemholen, seine Bewegungen, der Ton seiner Stimme, seine Art zu essen und zu trinken, seine ganze körperliche Nähe hatten ihr derartige Qual verursacht, daß sie nicht imstand gewesen war, irgend etwas zu genießen. Nur Eiswasser hatte sie Glas um Glas hinuntergestürzt, um nicht schwindlig zu werden. Mehrmals hatte sie während dieser peinlichen Mahlzeit zwischen dem Funkeln des prachtvollen Silbergeräts und venetianischen Glases, zwischen den zarten Blumen und blitzenden Edelsteinen Maitlands Blick aufgefangen, der mit einem Ausdrucke auf der Gräfin ruhte, daß sie beinahe aufgeschrieen hätte, so deutlich fühlte sie die leidenschaftliche Sinnlichkeit heraus. Einen Augenblick hatte sie im Auge der Mutter Erwiderung zu sehen geglaubt, und was ihr sonst nur dumpf zum Bewußtsein gekommen war, das verstand sie jetzt mit entsetzlicher Klarheit, den unkeuschen Reiz dieser Frauenschönheit.

Perlen im blonden Haar, Hals und Arme entblößt und in ihrer blendenden Weiße durch ein blaßgrünes Seidenkleid gehoben, die etwas feuchten Lippen, die wonneverheißenden Augen hinter langen Wimpern verborgen thronte die Dogaressa wie eine Fürstin, aber auch wie eine Courtisane an diesem Tisch. Sie ähnelte jener Katharina Cornaro, der ausschweifenden Königin von Cypern, die Tizians glühender Pinsel verewigt hat und deren Namen sie mit Recht trug. Lange Jahre war Alba so stolz gewesen auf den verführerischen Zauber, den diese Frau ausstrahlte, so stolz auf diese klassischen Arme, diesen herrlichen Wuchs, diese Züge, denen die Jahre nichts anhaben konnten, den Ueberschwang an Lebenskraft bei diesem strahlenden Geschöpf; heute war sie nahe daran, sich der Mutter zu schämen. Auch daß Lydia Maitland ein paar Plätze von ihr entfernt mit finsterer Stirn, fest zusammengepreßten Lippen und düsterem Blick dasaß, hatte ihr Sorgen gemacht. »Hegt sie denn auch Verdacht?« mußte sie sich fragen. Und doch, war es denn möglich, daß diese Mutter, deren Güte, Warmherzigkeit und Hochsinn sie kannte, diese heitere, überlegene Ruhe besitzen sollte, wenn sie wirklich solche Geheimnisse in der Brust trüge? War es denkbar, daß sie mit dem nämlichen Sonnenschein im Blick Maud Gorka Jahr und Tag verraten hätte?

Als dann Alba endlich, um ihrer Zweifel ledig zu werden, die wie eine Schuld auf ihrem Gemüt lasteten, den Blick die lange Tafel hatte entlang gleiten lassen, da war ihr Auge auf Peppino und die reizende Fanny gefallen. Sie saßen nebeneinander, während der Freiherr ein wenig entfernt sich mit seinem Ordensschmuck breit machte. Andre Gesichter, andre Lügen! Der Fürst lächelte seiner Verlobten zu, als ob er sie liebte, und er heiratete sie doch, nachdem er sich monatelang gegen diese Mißheirat gesträubt hatte, um mit einem Geld, das, wie er wußte, unredlich erworben war, Schulden zu bezahlen, die er in thörichtem, sinnlosem Leichtsinn sich aufgebürdet hatte! Auch der Vater lächelte dieser Tochter zärtlich zu, die er aus Eitelkeit verschacherte! Das waren die schmerzlichen Gedanken, deren Schatten Dorsenne in den Augen und um den Mund des jungen Mädchens hatte verfolgen können, und er wollte versuchen, ob er sie nicht ein wenig zerstreuen könnte, solang die lebhafte Unterhaltung beim Kaffee ihnen einige Ruhe in der einsamen Ecke der Halle sicherte.

»Das geht nicht!« rief Julian, sich in einer Schilderung von allerhand litterarischem und buchhändlerischem Treiben unterbrechend. »Statt ihrem Freund Dorsenne zuzuhören, verfolgt das Komteßchen allerhand schwarze Nachtgedanken, die durch den Saal fliegen.«

»Wenn sie nur flögen!« erwiderte Alba, die, auf Fanny Hafner und Ardea weisend, fortfuhr: »Hat sich's etwa nicht verwirklicht, was ich Ihnen letzte Woche sagte? Und Sie begreifen nicht einmal den vollen Hohn des Schicksals! Sie sind nicht wie ich gestern bei Fannys Uebertritt gewesen und . . .«

»Und wo ist die Ceremonie vor sich gegangen?« fragte Dorsenne, ihrem flehentlichen Anruf gehorchend.

»In der Kapelle der Damen del Cenacolo.«

»Ach, ich kenne die Scenerie,« fiel ihr Julian ins Wort. »Eines der hübschesten Eckchen von Rom! Es ist im ehemaligen Palazzo Pinciani, einem großen Haus gegenüber der königlichen Chalkographie, wo die phantastischen Stiche des großen Piranesen, diese Kerkermauern und Ruinen von so wunderbarer Poesie verkauft werden . . . er ist der Goya des Steins! Auf der Terrasse, hoch oben, ist ein Gärtchen, das dem Dache einen Blätter- und Blumenkranz aufsetzt, und in die Kapelle gelangt man über eine Reitschnecke, wo man auf Nonnen in violetter Tracht mit schwarzen Kragen stößt. Was für feine Gesichtchen manchmal aus dem weißen Rahmen der gefalteten Hauben mit den gestickten Rüschen blicken! Wirklich der richtige Platz zur Weltflucht für eine meiner Heldinnen . . . Mein alter Freund Montfanon hat mich hingeführt . . . es sind etwa sechs Wochen . . . und als wir in den Turm hinaufstiegen, hörten wir etwa ein Dutzend Mädchenstimmen, ganz dünne, spitzige Kinderstimmchen »Questo cuor' tu lo vedrai« singen. Es war eine Prozession von kleinen Konfirmandinnen, die uns bald darauf entgegenkamen, jede mit einer brennenden Kerze in der Hand, deren schlanke Flämmchen im letzten Tagesschimmer kaum wahrzunehmen waren . . . es war einzig hübsch! Jetzt müssen Sie mir aber doch erlauben, ein wenig zu lachen – wenn ich nämlich daran denke, daß ich dem alten Montfanon diese Ceremonie beschreiben werde! Wenn ich nur erst wüßte, wo ich ihn finde. Seit dem Duell versteckt er sich nämlich und hat sich in irgend ein Kloster verkrochen, wo er Buße thut. Ich sagte Ihnen ja, daß für ihn die Welt seit Franz von Guise stillsteht. Protestanten und Juden haben in seinen Augen höchstens das Recht auf den Scheiterhaufen, und wenn der Kardinal Guérillot ihm von Fannys frommem Eifer spricht, so haut er um sich wie ein Eber. Selbst wenn sie sich wie die heilige Blandine den Löwen vorwerfen lassen wollte, würde er noch von Tempelschändung und Schnurrpfeifereien reden!«

»Er hat sie eben nicht gesehen, vorgestern, nicht den Gesichtsausdruck gesehen, womit sie das Glaubensbekenntnis ablegte!« entgegnete Alba. »Sie werden mich wohl nicht im Verdacht des Mysticismus haben, vielmehr kenne ich Stunden des Zweifels, ja es gibt Augenblicke, wo ich an gar nichts mehr glaube, so häßlich und trostlos erscheint mir das Leben . . . aber den Ausdruck werde ich nie vergessen. Sie hat Gott geschaut! Manche von den frommen Schwestern, die dabei waren, haben rührende Gesichter, der alte Kardinal ist sehr ehrwürdig, aber neben Fanny waren sie alle nur wie die Heiligen neben der Madonna auf jenen Bildern der frühen Schule, die Sie mich lieben lehrten! Und raten Sie, was sie zu mir gesagt hat, als die fromme Handlung vorüber war? Beten wir für meinen guten Vater und seine Bekehrung! Ist diese Blindheit nicht herzbrechend?«

»Im Wörterbuch des Vaters heißt Bekehrung freilich ›Konversion‹, Hauptwort weiblichen Geschlechts, bezieht sich auf Obligationen,« bemerkte Dorsenne, die Sache wieder ins Scherzhafte ziehend. »Aber zanken wir uns ein wenig, Komteßchen! Weshalb finden Sie es herzbrechend und schrecklich, daß diese Tochter in ihrem Vater sieht, was sie selbst ist? Darüber sollten Sie sich im Gegenteil freuen! Und weshalb erfüllt es Sie mit Wehmut, daß diese fromme Heilige einen ruchlosen Dieb zum Vater hat? Ach! Ich wollte, Sie wären wirklich meine Schülerin, und es wäre nicht lächerlich, Ihnen hier in dieser Salonecke Unterricht in der Philosophie zu erteilen! Ich würde Ihnen dann sagen: bei jedem Widerspruch, der Sie empört, suchen Sie nach dem Ursprung. Das ist kinderleicht. Obwohl Protestantin, ist Fanny jüdischer Abkunft, das heißt also, sie entstammt einem unterdrückten Volksstamme, worin sich neben den allen Verfolgten angebornen Schattenseiten auch die entsprechenden Tugenden entwickeln mußten: Familiensinn, Aufopferungsfähigkeit, gerührte Selbstverleugnung beim Weib, das sich als Schmuck des stets bedrohten Herdes, als Blume, die ein finsteres Gefängnis durchduften soll, empfindet. Daraus erklärt sich ihr Gefühl für den Vater, und mit ihrer Frömmigkeit geht es auch ganz natürlich zu.«

Sie hatte Dorsennes Worte mit gespannter Aufmerksamkeit eingesogen, denn ihr unbewußter Hang für Gedanken dieser Art bewies unwiderleglicher als aller Klatsch der Welt, welchen Ursprungs sie war.

»Nur haben Sie den Schmerz aus Ihrer Rechnung weggelassen,« entgegnete sie. »Was man aber doch nicht wie einen Teppich oder wie ein Bild, nicht wie eine Sache betrachten kann, ist das Geschöpf, das nicht zu leben begehrt hat und leidet. Sie, der Sie ein fühlendes Herz haben – was fangen Sie mit Ihrer Theorie an, wenn Sie weinen sehen?«

»Wer hat denn hier Lust zu weinen?« gab ihr der Schriftsteller zurück. »Hafner doch nicht, denn er bekommt ja einen Fürsten zum Schwiegersohn. Dieser Fürst nicht, denn ein zehnfacher Millionär will ja sein Schwiegerpapa werden. Fanny auch nicht, da sie gläubig ist, wie unsre Zeit es zu sein verlernt hat, und eben die Taufe empfangen hat. Es ist also nur dieses kleine Komteßchen,« setzte er in innigem Ton hinzu, »das sich dem gefährlicheren Spiel hingibt, für andre die Thränen zu vergießen, die sie selbst vergießen würden, wenn sie ihr Leid fühlten, das sie nicht fühlen.«

»Weil ich den Tag kommen sehe, wo Fanny es fühlen wird, dieses Leid,« entgegnete das junge Mädchen. »Ich weiß nicht, wann ihr die Augen aufgehen werden über diesen Vater, aber daß sie schon anfängt, Ardea zu durchschauen, dessen bin ich leider gewiß. Beobachten Sie meinen Täufling nur in diesem Augenblick – ich bitte Sie darum!«

Dorsenne richtete seine Blicke auf das Brautpaar. Der Fürst sprach eifrig und Fanny hörte ihm aufmerksam zu, wobei ein flüchtiger Leidenszug auf dem reinen, ideal schönen Gesicht erschien. Ardea lachte selbstgefällig wie einer, der im besten Zug ist, Anekdoten zu erzählen, die ihm selbst recht geistreich vorkommen, des Hörers Zartgefühl aber an irgend einer empfindlichen Stelle verletzten. Es war entschieden schon jetzt nicht mehr das junge Paar, das auf Dorsenne neulich den Eindruck ungetrübter Illusion wenigstens auf Seite der Braut gemacht hatte.

»Sie haben recht, Komtesse – die Dekrystallisation hat begonnen. Es ist noch ein wenig früh.«

»Ein wenig früh, und doch zu spät,« versetzte Alba. »Glauben Sie mir, daß ich mich manchmal gefragt habe, ob es nicht meine Pflicht wäre, ihr die wahre Geschichte dieser Heirat zu erzählen, wie ich sie kenne, samt der Geschichte vom Strohmann, der Scheinauktion und Ardeas Feilschen?«

»Das werden Sie hübsch bleiben lassen,« sagte Dorsenne. »Ueberdies, was käme dabei heraus? Ob's der ist, oder ein andrer, sie wird doch des Geldes wegen geheiratet. Für die Millionen muß man hienieden bestraft werden, und das ist eine Form des dem Reichen auferlegten Lösegeldes. Allein ich ziehe Ihnen eine mütterliche Strafpredigt zu, weil ich Sie so ganz in Beschlag nehme, und mir selbst ist die Buße auferlegt, heute abend noch ein paar Besuche zu machen.«

»Ach, schieben Sie die auf,« bat Alba, indem sie aus ihrem fast unheimlichen Ernst in kindliches Schmollen überging. »Gehen Sie noch nicht – ich bitte Sie.«

»Es muß sein,« versetzte Dorsenne. »Heute ist der letzte Mittwoch der alten Herzogin Pietrapertosa, und nach den Liebenswürdigkeiten, die mir ihr Enkel kürzlich . . .«

»Die ist ja so häßlich!« rief Alba. »Der werden Sie mich doch nicht opfern?«

»Und dann muß ich der Frau von Sauve lebewohl sagen, die morgen abreist. Sie kann das von dem Landsmann beanspruchen . . . wissen Sie, die Dame, mit der ich Ihnen im kapitolinischen Museum begegnet bin. Die werden Sie wenigstens nicht häßlich finden, oder doch?«

»Nein, die ist sehr hübsch,« bemerkte Alba, die schon wieder nachdenklich geworden war. Sie hatte eine abermalige Bitte auf der Zunge, sprach sie aber nicht aus, sondern sagte nur mit einem hilfesuchenden Blick: »Kommen Sie wenigstens später wieder! Versprechen Sie mir, daß Sie nach den beiden Besuchen wieder kommen. In anderthalb Stunden sind Sie damit fertig – dann ist's noch nicht Mitternacht, und Sie wissen ja, bei uns bricht man vor ein oder zwei Uhr nicht auf. Wollen Sie?«

»Womöglich, ja. Geht es nicht, so sehen wir uns jedenfalls morgen im Atelier, wo ich Ihr Bild besichtigen werde.«

»Leben Sie wohl,« sagte das junge Mädchen mit erstickter Stimme.



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