Paul Bourget
Kosmopolis. Erster Band
Paul Bourget

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Drittes Kapitel.

Boleslav Gorka

Es war noch keine zehn Minuten her, daß Dorsenne mit Florent Chapron gesprochen hatte, und schon begann der unbesonnene Schriftsteller sich zu fragen, ob er nicht besser gethan hätte, seine Hand ganz und gar von einem Abenteuer zu lassen, wobei seine Einmischung mindestens überflüssig war. Das entsetzliche Bild eines heimlichen Zimmers, das plötzlich zum Schauplatz eines blutigen Kampfes geworden war, hatte sich ihm zweimal mit greifbarer Deutlichkeit aufgedrängt und ihm Herzbeklemmungen verursacht. Jetzt sollte es durch ein sehr harmloses Begebnis verwischt werden. Die kleine Gesellschaft stieg, ihre Eindrücke austauschend, die schön geschwungene Treppe hinab, durch deren Fenster die bunten Blumen des geradlinigen Gartens im glühenden Sonnenlicht hereinlachten, den Dorsenne bei seiner Ankunft mit einem menschlichen Antlitz verglichen hatte. Er ging neben Alba Steno an der Spitze des kleinen Zuges und gab sich jetzt wirklich Mühe, den Ernst von ihren Mienen zu verscheuchen, die aber verschlossen und feindselig blieben, bis sie bei einer Wendung der breiten, niederen Stufen, die den Auf- und Abstieg so erleichtern, mit einemmal heiter und fröhlich wurden. Einen Ueberraschungsruf ausstoßend, sagte sie: »Da ist ja meine Mutter!«

Und Julian erblickte die Frau, die seine Phantasie ihm in wildem Ringen mit einem verratenen Liebhaber verzweifelnd, ermordet vorgeführt hatte.

In einem entzückenden Straßenkleid stand sie auf dem schwarz und grauen Marmorfußboden der Vorhalle. Ihr goldig schimmerndes Haar leuchtete unter einem großen Sommerhut mit Blumen hervor, ein feiner weißer Schleier umgab ihr Gesicht, ihre Hand spielte mit dem ciselierten Silberknopf eines weißen Sonnenschirms, und im Widerschein dieses weißen Lichts erschien sie, mit der klaren frischen Haut der Blondinen, den prächtigen blauen Augen, die von Geist und Lebenswärme sprühten, den wundervollen Zähnen, die der lächelnde Mund enthüllte, und der Schlankheit, die ihr bei aller Ueppigkeit der Formen geblieben war, so jung, so kraftvoll, so wenig mitgenommen vom Leben, daß ein Fremder nie darauf gekommen wäre, sie für die Mutter des jungen Mädchens zu halten, das ihr entgegenflog.

»Wie unvorsichtig!« rief Alba. »Unwohl, wie du heute früh warst, in diesem Sonnenschein auszugehen – wozu denn?«

»Um dich abzuholen,« sagte die Gräfin heiter. »Ich habe mich meiner Weichlichkeit von heute früh geschämt, bin aufgestanden und fortgefahren. Guten Morgen, Dorsenne – ich hoffe, Sie haben da oben die Augen aufgemacht. Ueber den Fall Ardea kann man einen Roman schreiben, und ich will Ihnen das Material liefern. Guten Tag, Maud! Wie reizend von Ihnen, daß Sie diesen Faulpelz, die Alba, zum Gehen gebracht haben! Wenn sie sich jeden Morgen etwas Bewegung machen wollte, würde sie anders aussehen. Guten Tag, Florent. Guten Tag, Lydia – der Meister nicht hier? Und Sie, alter Freund, wo haben Sie denn Ihre Fanny gelassen?«

Sie hatte diese einfachen Begrüßungen mit solcher Mannigfaltigkeit des Tones und Lächelns – ein zärtliches für die Tochter, ein geistreiches für den Schriftsteller, ein dankbares für Maud Gorka, ein freundschaftlich verwundertes für Florent und Lydia und ein vertrauliches für Hafner, den »alten Freund« – ausgeteilt, sie war so sichtlich die Seele des Kreises, daß ihr bloßes Erscheinen genügte, um aller Augen heller leuchten zu lassen. Alle antworteten ihr zugleich, und sie antwortete allen, während man auf die Wagen zuging, die in einem Ehrenhof standen, der zwanzig Staatskarossen hätte fassen können. Einer nach dem andern fuhren sie vor, Hafners Kutschierwagen, die Berline der Gräfin Gorka und Lydia Maitlands Viktoria. Die Pferde stampften, die Geschirre funkelten, die Diener und Kutscher standen stramm und ehrerbietig da, der Schweizer des Palastes prangte in seinem langen Rock mit den blanken Knöpfen, worauf die sinnbildliche Kastanie eingraviert war, mit so würdevollem Anstand, daß Julian sich mit einemmal auslachte, ein leidenschaftliches, blutiges Drama unter diesen Menschen für möglich gehalten zu haben.

Als einziger Fußgänger sah er den Abfahrenden nach und hatte wieder einmal die Empfindung, die jedem geläufig ist, der die Kehrseite dieses Glanzes, die sittliche Erbärmlichkeit und Nichtigkeit dieses Treibens klar erkennt, die einer ironischen und doch nachsichtsvollen Heiterkeit.

»Du bist wieder einmal ein rechter Einfaltspinsel gewesen, Julian,« sagte er sich, als er auf der Straße in eine bescheidene Droschke stieg. »Für eine Frau, die sich derart in der Hand hat, ein tragisches Abenteuer fürchten, ist ungefähr wie ins Wasser springen, um einen Fisch vor dem Ertrinken zu retten. Ich möchte schwören, daß ihre Lippen noch von Maitlands Küssen glühen, und mit welcher Meisterschaft hat sie ihr Lügengespinst ausgeworfen! Wie ist ihr die Tochter, die Gorka, die Maitland, die ganze Brut ins Netz gegangen! Das ist's ja, warum ich so ungern ins Theater gehe – woher die Schauspielerinnen nehmen, die ihr ›Der Meister nicht hier?‹ so unvergleichlich hinwerfen würden?«

Dorsenne lachte ganz laut vor sich hin und seine von aller Angst befreite Phantasie vergnügte sich damit, für die beobachteten Charaktere entsprechende Handlungen zu erfinden. »Ein nette Schlemihliade, würde Hafner sagen, daß ich diesem Florent Gorkas unerwartete Rückkehr verraten habe. Ungefähr ganz dasselbe, wie wenn ich ihm mit dürren Worten gesagt hätte, daß die Steno seines Schwagers Geliebte ist. Ich möchte aber wohl dabei sein, wenn die Schwäger sich aussprechen. Wundern würde es mich nicht, wenn dieser Neger auf Urlaub der Vertraute seines Götzen wäre . . . ein noch gar nicht hinreichend behandelter Gegenstand, dieses gänzliche Aufgehen des Bewunderers im Bewunderten – Tattets Freundschaft für Musset, Eckermanns für Goethe. Florent fand, daß dem Genie seines Malers ein Vermögen notthue – er schenkte ihm das seiner Schwester. Wenn er findet, daß dem Genie eine Leidenschaft notthut, wird er mit Wonne hilfreiche Hand leisten . . . ja, wahrhaftig, er hat vorhin die Gräfin mit wahrer Dankbarkeit angesehen. Und schließlich, warum auch nicht? Lincoln ist ein Kolorist ersten Ranges, obwohl ihn der Trieb, unter den Vordersten zu sein, hie und da irreführt, Lydia hat so viel Geist als ein Korbhenkel, die Steno aber ist eins von jenen außerordentlichen Weibern, die eigens dazu geschaffen sind, alle Pulse eines Künstlers schlagen zu machen. Er hat auch nie etwas gemacht, wie Albas Bild . . .«

Diese unzusammenhängenden Betrachtungen hatten Dorsenne während der Fahrt durch ein gutes Dritteil des alten Rom beschäftigt, und ihr Ergebnis war eine entschieden optimistische gute Laune, womit er das dem Kutscher angegebene Ziel erreichte. Es war ein sehr bescheidenes Restaurant mit der echt toscanischen Aufschrift: »Trattoria al Marzocco«, und der Marzocco, der symbolische Löwe von Florenz, war über dem Eingang dargestellt, seine Tatze auf das mit der Lilie geschmückte Wappenschild stützend. Das Aeußere dieser Herberge rechtfertigte es keineswegs, daß Dorsenne hier speiste, so oft er nicht ausgebeten war; allein sein Künstlersinn gefiel sich in Sprüngen von einem gesellschaftlichen Wendekreis zum andern, und der Meister Aegisthos Brancadori, der den Marzocco hielt, war einer von den unbewußten Komikern, denen er nachjagte und die er dem König Lear zu Ehren seine Thebaner nannte. »Ein Wort mit dem vielkundigen Thebaner,« ruft der wahnsinnig gewordene Fürst, als er den armen Tom trifft – warum, weiß niemand. Damit er aber von Pariser Klubgenossen nicht allzu hart beurteilt werde, ziemt es sich, hinzuzufügen, daß dieser in Florenz geborne Thebaner ein Kochkünstler ersten Ranges war und daß die kleine Wirtschaft ihre Vergangenheit hatte.

Brancadori war Koch bei einem vornehmen Russen gewesen, einem Werekiew, dem Vetter des wirklichen Vaters von Alba Steno. Im Jahre 1866 war der für seinen feinen Tisch in ganz Rom berühmte Russe plötzlich gestorben, und einige von den Gästen seines Hauses, die der Klub- und Gasthofsküchen müde waren, hatten beschlossen, den Koch des Toten in ihre gemeinsamen Dienste zu nehmen. Sie hatten ein kleines Lokal gemietet und dort eine Art von Privatkasino eingerichtet, dem sie leicht den Namen Feinschmeckerklub hätten beilegen können, wenn ihre Eitelkeit danach verlangt hätte. Indem man ihm für mindestens sechzehn Mahlzeiten im Monat, das Gedeck zu sieben Franken, Gewähr leistete, hatten die Herren vier Jahre lang vorzüglich gespeist, und jeder Reisende von einiger Bedeutung war an diesem Tisch bewirtet worden. Das Jahr 1870 hatte den kleinen Kreis auseinander geweht und das Privathaus hatte sich in ein Restaurant verwandelt, das außer bei Künstlern und Diplomaten wenig bekannt war.

Neben der Kochkunst Brancadoris, der Dorsenne sein Wohlbefinden in Rom zu danken behauptete, weshalb er ihn auch seinen Leibarzt nannte, war es besonders die Unterhaltung mit ihm, die den Schriftsteller fesselte. Der Thebaner hatte zwar weder lesen noch schreiben gelernt, allein sein Gedächtnis war treu, und auf der Schwelle seiner Küche stehend, deren Reinlichkeit sein höchster Stolz war, wußte er das Rom seiner Jugend in Wort und Mimik wieder erstehen zu lassen. Die bilderreiche, unglaublich reiche Sprache der Toscaner verlieh diesen Erzählungen einen Reiz, der jeden, der auf Lokalton ausging, entzücken mußte. Besonders am Vormittag, wo das Gastzimmer meist leer war, zog er gerne seine Schleusen auf, und Dorsenne war heute mit der besonderen Hoffnung hierhergekommen, ihn die Geschichte des Fürsten Ardea auf seine Weise darstellen zu hören.

Als er eintrat, stand Brancadori gerade neben dem Zahltisch, wo seine Nichte Sabatina thronte, ein feines florentinisches Gesichtchen mit etwas langem Kinn, breiter Stirne, kurzem Näschen, geschwungenen Lippen, großen Augen, gelblicher Haut und welligem Haar, mit einem Wort, der Frauentypus des älteren Ghirlandajo.

»Höre, Onkel,« sagte sie, sobald sie Dorsennes ansichtig wurde, »wo hast du denn den Brief, der heute früh für den Prinzen abgegeben wurde?«

In Italien ist jeder Fremde ein Prinz, und die Gemütlichkeit der Sitten verleiht diesem Titel eine Verbindlichkeit, die sehr häufig keine berechnete ist. Es gibt kein andres Land, wo solche Vertraulichkeit zwischen den Ständen herrscht, und Brancadori bewies das sofort, indem er den von seiner Nichte mit der Fürstenkrone Geschmückten ganz einfach mit »Mein Lieber« anredete.

»A testa bianca spesso cervello manca« (einem weißen Kopf fehlt manchmal das Hirn), sagte er, in alle Taschen des Lüsterjacketts greifend, das er über seiner Küchenschürze trug. »Ich hatte ihn in die Rocktasche gesteckt, um ihn ja nicht zu vergessen, habe dann einen andren Rock angezogen, weil es so heiß war, und nun liegt er in der Wohnung.«

»Sie können ihn ja nach dem Frühstück holen lassen,« meinte Dorsenne.

»Nein, es sind nur ein paar Schritte und ich gehe gleich,« erklärte das junge Mädchen aufstehend. »Der Pförtner des Palastes, wo Euer Gnaden wohnen, hat ihn selbst gebracht und ausdrücklich gesagt, er müsse sofort abgegeben werden.«

»Nun denn, so holen Sie ihn,« sagte Dorsenne, dem die Adelserhebung seiner bescheidenen Wohnung trotz der Gewohnheit ein Lächeln entlockte; »ich lasse mir einstweilen von meinem Leibarzt sein neuestes Rezept zeigen, das heißt, die Speisekarte. Raten Sie 'mal, wo ich herkomme, Brancadori,« setzte er hinzu, um erst die Neugier, dann die Redelust des Alten zu erregen. »Geradeswegs aus dem Palazzo Castagna, wo alles versteigert wird.«

»Ach! Beim Bacchus!« rief der Toscaner mit einem schmerzlichen Ausdruck des durch vierzigjähriges Herdfeuer geröteten Gesichts. »Wenn der hochselige Fürst Urban das im Jenseits erfährt, so wird ihm das Herz bluten, das kann ich Sie versichern . . . Das letzte Mal, als er hier gespeist hat, das war am St. Josephstag vor zehn Jahren, sagte er: ›Machen Sie mir Apfelkrapfen, Aeghistos, solche, wie wir sie früher mit Herrn von Epinay, Clairin, Fortuny und dem armen Heinrich Regnault gegessen haben.‹ Und seelenvergnügt war er. Noch unter der Thür hat er mit mir geredet. ›Aeghistos‹, hat er gesagt, ›ich kann ruhig sterben. Ich habe nur einen Sohn, aber dem hinterlasse ich sechs Millionen und den Palast. Wenn's Gigi wäre, könnte ich nicht so ruhig sein, aber bei meinem Peppino‹ . . . Gigi, das war der andre, der lustige, der alle Tage mit den Herren hierherkam, ein braver Kerl, aber ein Durchgänger! Mußte ihn nur von seinem Besuch bei Pio Nono erzählen hören, damals, wo er den Engländer bekehrt hatte. Jawohl, Eccellenza, er hatte ihm nämlich aus Versehen ein frommes Buch geliehen, statt eines Romans; der Engländer las es, noch eins und noch eins, und wurde katholisch. Da der Gigi im Vatikan manches auf dem Kerbholz hatte, lief er hin und rühmte sich seiner Verdienste. ›Sieh doch, mein Sohn,‹ soll der Heilige Vater geantwortet haben, ›welcher Werkzeuge sich der liebe Gott manchmal bedient!‹ Ja, der Gigi, der hätte wenigstens ein Vergnügen dabei gehabt, wenn er die sechs Millionen verpraßt hätte, aber der Peppino . . . nichts als Wechsel unterschreiben . . . geht an die Börse, spielt, taucht immerfort die Feder ein und schreibt, und schreibt und schreibt . . . nichts als seinen Namen, der freilich so gut war als Bargeld, und jetzt muß er aus seinem Haus heraus, aus Rom heraus, denn ich bitte Sie, Excellenz, was thäte er hier? Bei uns im Toscanischen heißt's: ›Wer das Geld mit den Fingern ausstreut, muß es mit den Füßen suchen . . .‹ Aber da ist sie ja, die Sabatina, ja, flink wie ein Wiesel . . .«

Die unbezahlbare Mimik des Kochkünstlers, womit er den Fürsten Ardea seinen Namen unterschreibend dargestellt hatte, die hübschen Sprichwörter, die Richtigkeit der Auffassung, die unübersetzbaren Feinheiten in der Sprache dieses ungebildeten Mannes – ist ein Florentiner je ungebildet? – alles entzückte ihn. Er lachte noch fröhlich vor sich hin, als die »aus dem Fresko gesprungene Madonna«, wie er das junge Mädchen zuweilen nannte, einen Briefumschlag vor ihn hinlegte. Sobald er die Aufschrift gelesen hatte, verwandelte sich seine Heiterkeit in unverhohlenen Mißmut, er schob die Speisekarte, die der alte Koch ihm hinbot, beinahe barsch zur Seite und sagte: »Ich fürchte, ich werde gar nicht frühstücken können,« riß den Brief auf, warf ein kurzes: »Nein, ich kann nicht bleiben, guten Morgen!« hin und ging so hastig und verstört hinaus, daß Onkel und Nichte sich verständnisvoll zulächelten.

»Wem die Liebe im Herzen sitzt . . .« sagte Sabatina.

»Sitzt der Sporn in den Weichen,« ergänzte der Onkel, denn als echte Südländer setzten sie bei einem hübschen jungen Mann wie Dorsenne keinen andern als Liebeskummer voraus.

Der Volkswitz, der den Stachel der Leidenschaft mit dem Sporn des Reiters vergleicht, paßte nicht ganz auf Dorsennes Lage, ging aber auch nicht vollständig fehl. Der kurze Brief, den er erhalten hatte und im glühenden Sonnenlichte der Sistinastraße ein zweites Mal las, war von Boleslav Gorka und enthielt die geheimnisvolle Botschaft:

»Ich bin Ihrer Freundschaft so gewiß, lieber Julian, und achte Ihren ritterlichen, echt französischen Charakter so hoch, daß ich beschlossen habe, mich an einem tragischen Wendepunkt meines Lebens an Sie zu halten. Es ist unbedingt nötig, daß ich Sie sofort spreche, und ich erwarte Sie in Ihrer Wohnung. Gleichzeitig schicke ich in den Jagdklub, in die Buchhandlung am Corso und zu Ihrem Antiquar – wo immer mein Ruf Sie erreichen möge, folgen Sie ihm rasch! Sie können mir mehr als das Leben retten. Ich werde Ihnen mündlich sagen, weshalb meine Rückkehr geheim bleiben muß. Niemand weiß um mein Hiersein als Sie. Mehr braucht es bei einem so zuverlässigen Freund für jetzt nicht.

Mit warmem Händedruck

B. G.«

»Der Mensch ist gottvoll!« rief Dorsenne, den Brief in wachsendem Zorn zerknitternd. »Er drückt mir die Hände – ich bin sein zuverlässiger Freund! Ich bin ritterlich, ein echter Franzose, er achtet mich – zum Henker, was für einen Auftrag peinlichster Sorte will er mir denn geben? In welches Wespennest soll ich denn greifen, falls er mich nicht schon hineingestoßen hat? Ich kenne sie, diese Leute, die mit Freundschaftsbeteuerungen so um sich werfen! Ihr Freund auf Tod und Leben – wenn Sie mir das zuliebe thun! Und dann kommen sie, werfen unsere Gewohnheiten über den Haufen, stehlen uns die Zeit, und verwickeln uns in ihre Händel. Sagt man dann endlich: ›Ich danke!‹, so ist man ein Egoist oder ein Verräter. Ich bin übrigens selbst schuld daran – weshalb mußte ich auch mich zu seinem Vertrauten hergeben? Weiß ich denn nicht seit Jahren, daß ein Mann, der uns nach flüchtiger Bekanntschaft seine Liebesgeschichten anvertraut, ein Lump, ein Schnurrant oder ein Narr ist – mitunter alles in einer Person. Und mit Lumpen, Schnurranten und Narren geht man nicht um. Aber es hat mir Spaß gemacht, als er anfing, mich in seine Schliche einzuweihen – ›ohne einen Namen zu nennen‹, so fangen sie alle an – und dann machte es mir Spaß, welche Kunstgriffe er anwendete, um mir schließlich den Namen zu nennen, ohne der sogenannten Ehre etwas zu vergeben. Und diese Frauen, die an diese Ehre und diese Verschwiegenheit glauben! Zugleich erkaufte ich mir damit leichten Zugang bei der Gräfin und die Möglichkeit, viel um Alba zu sein – es scheint, ich werde meine römische Flirtation büßen müssen. Nun, wir wollen sehen. Wenn Gorka ein Pole ist, so bin ich dafür ein Lothringer, die bekanntlich harte Köpfe haben . . .«

In dieser Laune und mit solchen Vorsätzen betrat Julian sein Haus, das zwar kein Palast war, wie die Sabatina es getauft hatte, aber auch keine von jenen charakterlosen Mietskasernen, die im neuen Rom wie im jetzigen Paris, im jungen Berlin und im alten London aus der Erde schießen. Es war ein altes Gebäude an der Ecke der Sistina- und Gregorianastraße, das ziemlich weit in den Platz von Trinità dei Monti vorsprang. Die kleinen Säulen an der Vorderseite haben ihm den Namen »Tempiello«, Tempelchen, eingetragen, und es hat seine Chronik, denn von Claude Lorrain bis auf François Coppée haben viele Künstler und Dichter in seinen Mauern gehaust. Zwei Schritte weiter hat Poussin gewohnt und dicht daneben ist einer der größten englischen Lyriker gestorben, jener John Keats, dessen Grab im Schatten der Cestiuspyramide liegt und die von ihm selbst verfaßte Inschrift trägt: »Hier ruht einer, dessen Name ins Wasser geschrieben wurde.«

Dorsenne pflegte sein Haus und dessen Umgebung sonst gern durch das Gedächtnis der Toten zu verklären, heute befaßte er sich nicht damit, sondern stürmte wie ein eifersüchtiger Ehemann oder ein von Gläubigern verfolgter Schuldner ins Pförtnerstübchen.

»Sie haben meinen Zimmerschlüssel hergegeben, Tonino?« fragte er drohend.

»Der Herr Graf Gorka haben ja gesagt, daß Eure Excellenz ihn gebeten hätten, hier zu warten,« stotterte der Alte mit einer Schüchternheit, die um so komischer wirkte, als er durch den martialischen Schnitt seines ungeheuren Schnurrbarts wie ein Zerrbild Victor Emanuels aussah.

»Es wird immer hübscher!« brummte Dorsenne vor sich hin, als er, je vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufstieg. »Diese Vertraulichkeit geht über alle Begriffe, aber sie liefert mir wenigstens den Vorwand, ihm sofort mein Mißfallen auszudrücken . . .«

Indem er sich hinter seinem Zorn verschanzte, suchte der Schriftsteller mit Recht Schutz vor seiner eigenen, ihm wohlbekannten Schwäche, die nicht aus Mangel an Willenskraft, sondern aus zu klarer Einsicht in die Beweggründe seiner Gegner hervorging. Allein auch heute machte er, kaum daß er über die Schwelle getreten war, aufs neue die Erfahrung, daß Verständnis und Neugier den bittersten Groll auflösen.

Eine ganz kleine Einzelheit, die ihm aber Aufschluß darüber gab, unter welchen Verhältnissen der Pole die weite Reise gemacht hatte, entwaffnete ihn. Gorkas Reisetasche, sein Ueberrock und sein Hut lagen noch vom Eisenbahnstaub bedeckt auf dem Tisch des Vorzimmers. Er war offenbar in einem Atem von Warschau bis auf den Platz Trinità dei Monti gefahren. Welch ein Wirbel der Leidenschaft konnte ihn hergeweht haben? Julian hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, und ebensowenig, sich in die Haltung eines Menschen zu werfen, der einen Hausfriedensbruch zu ahnden hat, denn beim Oeffnen der Vorzimmerthür war Gorka aus den inneren Räumen hervorgestürzt und hatte sich schon beider Hände des überfallenen Hausherrn bemächtigt. Er drückte sie innig, er sah ihm mit fieberisch funkelnden Augen, die von vielen schlaflosen Nächten zeugten, ins Gesicht und stammelte, ihn mit sich ins Wohnzimmer ziehend:

»Da sind Sie ja, Julian! Ich habe Sie! Haben Sie Dank, daß Sie meinem Ruf so rasch Folge geleistet haben! Lassen Sie mich in Ihre Augen sehen, um Gewißheit zu schöpfen, daß ich einen Freund an meiner Seite habe, einen Menschen, dem ich glauben, mit dem ich reden, auf den ich mich stützen kann! Wenn die Einsamkeit noch länger gedauert hätte – ich wäre wahnsinnig geworden . . .«

Obwohl dieser Liebhaber der Gräfin Steno zu den erregbaren Menschen gehörte, die den Ausdruck auch ihrer echten Gefühle durch eine unbewußte Worttrunkenheit übertreiben, zeigte sein Gesicht zu deutliche Leidensspuren, um nicht ergreifend zu wirken. Julian, der ihn vor drei Monaten in beinahe strahlender Schönheit hatte abreisen sehen, war erschüttert von der Veränderung, die in dieser kurzen Zeit mit ihm vorgegangen war. Wohl war es immer noch derselbe Boleslav Gorka, der als hübscher Mann berühmt war, der die Kraft und das blaue Blut eines alten Adelsgeschlechts in sich vereinigte, denn die Grafen Gorka gehören dem alten Haus der Lodzia an, woraus Polens bester Adel hervorging. Aber unter dem braunen, rötlich schimmernden Vollbart waren die Wangen tief eingefallen, eine krankhafte Müdigkeit verriet sich in den von vielem Nachtwachen wie verblaßten Augen, in den flach gewordenen Schläfen, in den gepreßten Nasenflügeln und der Haut, deren vornehme Blässe jetzt fleckig geworden war. Die Spuren des Reisestaubes machten die Veränderung noch auffallender, und doch verlieh die angeborne Vornehmheit der ganzen Erscheinung sogar dieser Mattigkeit Anmut und Reiz. Mit seinen vierunddreißig Jahren war der kraftvolle, ausgereifte und geschmeidige junge Mann eins jener Urbilder männlicher Schönheit, die allen Kraftproben gewachsen sind. Das Uebermaß an Gemütsbewegungen wie an Ausschweifungen scheinen derartigen Männern nur zum Schmuck zu werden, und in dem durchaus auf geistige Arbeit berechneten Rahmen dieser Schriftstellerstube, zwischen dieser Anhäufung von Büchern, Photographieen, Bildern und Gypsabgüssen erschien dieser ausschließlich von Leidenschaften zerwühlte und von Liebesschmerz gebrochene Mann doppelt von einem poetischen Hauch umflossen, dem sich Dorsenne nicht ganz verschließen konnte. Ein bläulicher Dunst und der starke Duft russischen Tabaks bezeugten, auf welche Weise der verratene Liebhaber seine Ungeduld beschwichtigt hatte, und die mitten auf dem Schreibtisch stehende griechisch-italische Schale, die auf schwarzem Grund einen in Rot gemalten Bacchuszug zeigte und Julians besonderer Stolz war, enthielt die Ueberreste von etlichen dreißig Cigaretten, die, kaum angezündet, wieder weggeworfen worden waren. Die Mundstücke waren zernagt und zerbissen, stumme Zeugen der nervösen Erregung, die sich im ganzen Wesen des jungen Mannes ausprägte, der in einem erschreckenden Ton sein finsteres Wort wiederholte: »Ja, ich wäre wahnsinnig geworden . . .«

»Beruhigen Sie sich, mein lieber Boleslav, ich beschwöre Sie,« begann Dorsenne, der seine feindseligen Vorsätze angesichts dieses Verzweifelten rasch vergessen hatte. »Kommen Sie, setzen Sie sich,« fuhr er fort, wie man einem kranken Kind zuredet. »Ich bin ja jetzt da – Sie müssen ruhig werden – und Sie haben sich nicht getäuscht, wenn Sie auf meine Freundschaft rechneten. Sprechen Sie sich aus, klären Sie mich über das Vorgefallene auf – wenn Sie Rat haben wollen, ich bin bereit, wenn Sie einen Dienst von mir fordern, ich stehe zur Verfügung . . . Mein Gott, mein Gott, in was für einem Zustand ich Sie finden muß!«

»Nicht wahr?« versetzte der andre mit einem gewissen Stolz. Sobald sein Schmerz einen Zuschauer hatte, reizte es seine Eitelkeit, ihn zu beleuchten, auch wenn er echt war. »Nicht wahr, man sieht mir an, was ich durchgemacht habe? Und das ist noch nichts,« sagte er, mit der Hand übers Gesicht fahrend und dann auf seine Brust schlagend, »hier – da müßte man hineinsehen können! Aber Sie haben ja recht – ich muß ruhig werden, oder ich bin verloren.« Er fuhr sich wieder mit der Hand über die Stirn, als ob er einen bösen Traum verscheuchen wollte, sammelte sich ein Weilchen und schien die Herrschaft über seinen Willen wieder gewonnen zu haben, denn er fragte kurz und knapp: »Sie wissen, daß ich heimlich hier bin – ohne daß meine Frau eine Ahnung davon hat?«

»Ja, denn ich habe die Gräfin vorhin gesprochen. Wir haben den Castagnaschen Palast besichtigt, sie, Hafner, Frau Maitland und Chapron.« Er zögerte, hielt es dann aber für besser, zu reden, und setzte rasch hinzu: »Die Gräfin Steno und Alba waren auch dabei.«

»Sonst niemand?« fragte Boleslav mit einem solch durchdringenden Blick, daß der Schriftsteller die Augen senkte.

»Nein, niemand sonst.«

Nach dieser Frage, die Dorsenne noch mehr auf das zu Erwartende vorbereitete, trat ein Schweigen ein.

Gorka, der sich auf das Ruhebett des schmalen Zimmers mehr gelegt als gesetzt hatte, erinnerte in seiner zusammengekauerten Stellung an ein wildes Tier, das zum Sprung ausholt. Offenbar war er mit jener wahnsinnigen Gier nach Gewißheit zu Dorsenne gekommen, die dem Eifersüchtigen Qualen bereitet, wie der Durst dem Verschmachtenden. Der Schmerz wird nicht gelindert durch den bittern Trank, und doch würde man mit nackten Füßen über glühendes Eisen zu diesem Bronnen eilen, ohne der Brandwunden zu achten. Daß er gerade bei Dorsenne seinen Durst stillen wollte, entsprang sehr komplizierten Gründen, die dafür sprachen, daß seine Verwandtschaft mit dem Katzengeschlecht nicht nur äußerlich war. Er kannte den französischen Schriftsteller viel genauer, als dieser annahm, er wußte, daß Dorsenne auf der einen Seite erregbar und unbesonnen, auf der andern klug und scharfsinnig war. Wenn ein Liebesverhältnis zwischen Katharina Steno und Maitland bestand, so mußte Julian es längst durchschaut haben und würde sich bei richtigem Angriff sicher verraten. Ueberdies aber – so widerspruchsvoll war diese heftige, schlaue, prahlerische Natur – hatte es für Boleslav, der den Schriftsteller leidenschaftlich bewunderte, einen unwiderstehlichen Reiz, sich gerade ihm im Lichte eines rasenden, fessellosen Liebeshelden zu zeigen. Er gehörte zu den Leuten, die sich im Todeskampf photographieren lassen würden, solche Wichtigkeit legen sie ihrer eigenen Persönlichkeit bei – was nicht ausschließt, daß sie wirklich sterben, und zwar zuweilen ganz mutig. Mit vollster Ueberzeugung würde er seine sittliche Entrüstung geäußert haben, wenn der Verfasser der »Weltlichen Idylle« ihn und sein Verhältnis zur Gräfin Steno bei seinen Lebzeiten porträtiert hätte, und doch hatte er sich mit dem unbestimmten Verlangen, ihm Eindruck zu machen, in diesem Winter an den Romanschreiber angeschlossen und ihn zum Vertrauten erwählt. Im Glauben, daß er einfach dem Bedürfnis genüge, sein zum Zerspringen volles Herz auszuschütten, hatte er doch auch mit der Vorstellung geliebäugelt, den Dichter zu einer Schöpfung zu begeistern, die seine Züge trüge.

In diesem Gorka war alles zwiespältig und widersprechend, denn nicht nur, daß er seine Frau hinterging und seinen Ehebruch mit der gründlichsten Heuchelei ins Werk setzte, indem er das edle, vertrauensvolle Geschöpf der Tochter seiner Geliebten Freundin sein ließ, er behauptete auch, daß er nie aufgehört habe, eine ehrfurchtsvolle, schmerzliche Zuneigung für Maud zu empfinden. Das war nicht leeres Gerede, sondern Wahrheit, aber um an solche Widersprüche im Menschen zu glauben, mußte man ein Dorsenne sein, und das seltene Bewußtsein, in den unwahrscheinlichsten Verirrungen des Herzens verstanden zu werden, fesselte den jungen Grafen vollends an einen Mann, der in einer Person ein zuverlässiger Vertrauter, ein wünschenswerter Biograph und ein Mitschuldiger im Geiste war. Jetzt handelte es sich darum, ihn zum unfreiwilligen Verräter zu machen, und das war schwieriger.

»Sie sehen, bis zu welcher erbärmlichen Neugierde ich herabgesunken bin, ich, dem alles Spionieren von jeher ein Greuel war!« rief er mit einemmal. »Ich habe Sie hinterlistig ausgefragt – Sie, meinen Freund, und welchen Freund! Ach, die zwei Regungen, die ich eben in Ihrer Gegenwart durchgemacht habe, sind meine ganze Geschichte. Ich wollte mich einer List bedienen und habe mich ihrer geschämt . . . Die Leidenschaft erfaßt mich, sie schüttelt mich, ich bin zu jeder Ehrlosigkeit bereit, sei es eine Gemeinheit, sei es etwas Schlimmeres, ich stürze mich darauf, und dann hab' ich Angst, Angst vor mir selber . . . ach, ich habe zu viel gelitten! Sie begreifen mich nicht? Nun denn, so hören Sie« – er umfaßte Dorsenne wieder mit einem jener forschenden Blicke, deren Wissensgier sich auch nicht eine Bewegung, nicht ein Wimperzucken des Beobachteten entschlüpfen läßt – »und sagen Sie selbst, ob Sie je für einen Ihrer Romane eine derartige Lage ersonnen haben. Sie erinnern sich der Todesangst, worin ich den letzten Winter zugebracht habe, solange mein Schwager bei uns war und ich stündlich in Gefahr schwebte, er könnte mich, sei es aus Dummheit, aus britischer Tugendspiegelei oder aus Haß, bei meiner armen Maud verdächtigen. Wissen Sie auch noch, wie schwer mir nach dieser qualvollen Zeit die Abreise nach Polen geworden ist? Gerade in dem Augenblick, als ich, von Ardrahans Gegenwart erlöst, leichter aufatmen wollte, kamen mir diese dringenden Geschäfte und die Krankheit meiner Tante über den Hals. Ich habe von jeher an Ahnungen geglaubt, und als ich Rom verlassen mußte, überlief es mich wie den Spieler, der die schwarze Serie kommen spürt. Schon aus dem ersten Brief, den ich erhielt – von wem, brauche ich Ihnen nicht zu sagen –, fühlte ich heraus, daß in Rom etwas vorging, daß ich bedroht war in dem, was mir das Teuerste auf der Welt ist, in jener Liebe, der ich alles geopfert habe, der ich, das edelste Herz mit Füßen tretend, gefolgt bin. Ging es mit Katharinas Liebe auf die Neige? Ich erlasse Ihnen die Schilderung der ersten Wochen in meiner Heimat, wo ich Besuche machen, bald hierhin, bald dorthin laufen, mit Verwandten, mit Rechtskundigen verkehren, die alte Kranke pflegen mußte, kurz und gut, meine Schuldigkeit thun für meinen Sohn, dem die Hälfte dieses Vermögens zufallen wird. Und dabei verfolgt, gehetzt von dem einen Gedanken: Sie schreibt mir nicht mehr wie sonst, sie liebt mich nicht mehr! Ach, wenn ich sie Ihnen zeigen könnte, Julian, ihre Briefe aus früheren Trennungszeiten – Sie sind ein Künstler, aber so etwas haben Sie nie geschrieben.«

Er verstummte, als ob der Teil seiner Mitteilungen, der jetzt kommen sollte, ihn eine übermenschliche Anstrengung kostete, und Dorsenne bemerkte, ihn dazu drängend: »Ein veränderter Briefton genügt aber doch nicht, um den fieberhaften Zustand hervorzurufen, worin ich Sie sehe.«

»Nein, es war eben nicht nur eine Veränderung des Tones. Ich beklagte mich – zum erstenmale fand meine Klage keinen Widerhall. Ich drohte, ihr nicht mehr zu schreiben, und erhielt keine Antwort. Ich bat sie um Verzeihung – wie feig man doch ist! – und bekam eine so kühle Erwiderung, daß ich ihr eine Absage schrieb. Erneutes Schweigen. Ach! Jetzt werden Sie mir nachfühlen können, was für einen entsetzlichen Eindruck in diesem Zustand ein nicht unterschriebener Brief, den ich vor vierzehn Tagen erhielt, auf mich machen mußte! Er kam eines Morgens als einziger an – Poststempel Rom – Handschrift unbekannt. Ich reiße ihn auf – zwei Blättchen Papier, worauf gedruckte, aus einer französischen Zeitung herausgeschnittene Worte geklebt waren. Wie ich schon sagte, keine Unterschrift – ein anonymer Brief.«

»Und Sie haben ihn gelesen?« unterbrach ihn Dorsenne. »Was für eine Thorheit!«

»Und ich habe ihn gelesen. Die ersten Sätze enthielten erschreckend richtige Angaben über mich selbst. Da wir von andern so vieles wissen, sollten wir voraussetzen, daß sie unsre Geheimnisse auch kennen und wir ihrer Neugierde so gut zum Opfer werden, als sie der unsrigen, aber wenn uns diese Thatsache einmal greifbar klar gemacht wird, ist es doch nichts weniger als angenehm. Was diese Genauigkeit so teuflisch machte, war die in ihr enthaltene Gewähr für die Richtigkeit des Folgenden, eines eingehenden, unerbittlichen Berichts über ein Liebesverhältnis, das die Gräfin Steno in meiner Abwesenheit angeknüpft habe. Und mit wem? Mit dem Mann, der von Anfang an mein Mißtrauen erregt hatte, mit dem Farbenkleckser, der schon einmal Albas Bild hätte malen sollen – damals habe ich es verhindert, doch was hat es mir geholfen? –, mit dem Schuft, der sich zu dieser schmählichen Geldheirat erniedrigt hat und sich einen Künstler nennt, mit diesem Gasthofsamerikaner, mit Lincoln Maitland!«

Obwohl die bittere Flut des kindischen, ungerechten Hasses der Eifersucht, der statt des Geschmähten den Sprecher erniedrigt, Gorkas Herz und seine Rede vergiftete, hatte er nicht einen Augenblick aufgehört, Dorsenne zu beobachten. Sich halb aufrichtend und die Hände aufstützend, saß er mit vorgebeugtem Kopf auf dem Diwan und hielt, als er den Namen seines Nebenbuhlers nannte, Julian völlig umsponnen mit seinen Blicken.

»Was für ein Bubenstreich!« sagte der Schriftsteller, dessen Entrüstung über den anonymen Brief zum Glück so groß und so echt war, daß er sich im übrigen durch keine Miene verriet. »Was für ein Bubenstreich!«

»Hören Sie weiter – das war nur die Einleitung. Am nächsten Morgen kam ein zweiter, ebenso verfertigter und überschriebener Brief, am Tag darauf ein dritter. Ich habe ihrer ein volles Dutzend – Julian, zwölf Briefe! – in meiner Tasche, und alle atmen sie jene fürchterliche Vertrautheit mit unsrem Leben und unsrer Umgebung, die mich gleich beim ersten dem Wahnsinn nahe brachte. Geben Sie jetzt zu, daß es Folterqualen waren? Gleichzeitig erhielt ich täglich Nachricht von meiner armen Frau, und die Uebereinstimmung war haarsträubend. Der Unbekannte sagte: ›Heute fand ihre geheime Zusammenkunft von zwei bis vier Uhr statt.‹ Maud schrieb: ›Aus der verabredeten Ausfahrt mit der Gräfin Steno ist leider nichts geworden, weil sie Migräne hatte.‹ Und Albas Bild! Der Unbekannte schilderte mir seine Entstehung, den Fortgang, die ewige Verlängerung der Sitzungen, dieser bequemen Sitzungen, und meine Frau schrieb: ›Gestern waren wir wieder im Atelier, um Albas Bild zu sehen. Der Maler hat Aenderungen daran vorgenommen, die fast einen neuen Anfang nötig machen‹ – schließlich konnte ich's nicht mehr aushalten! Mit seiner verbrecherischen Genauigkeit hatte mir der Unbekannte sogar den Ort ihrer Zusammenkunft haarklein angegeben! Ich bin abgereist und ich sagte mir: ›Wenn ich's meiner Frau schreibe, so werden sie gewarnt und entrinnen mir,‹ denn ich wollte sie überraschen. Ich wollte – ach, weiß ich denn überhaupt, was ich wollte! – die Qual der Ungewißheit abschütteln. Ich setze mich auf die Bahn, fahre Tag und Nacht, lasse meinen Kammerdiener in Florenz zurück, und heute früh war ich in Rom . . . Unterwegs hatte mein Plan festere Gestalt gewonnen – ich würde ein Zimmer in derselben Straße, vielleicht in demselben Hause mit ihrer geheimen Wohnung mieten, sie einen, vielleicht zwei Tage, vielleicht eine Woche beobachten. Und dann – würden Sie es glauben? – kam wieder die Angst! Als ich in der Droschke hierher fuhr, that ich einen Blick in mich selbst – und bekam Angst. Ich hatte die Hand am Griff dieses Revolvers« – er zog die Waffe aus der Tasche und warf sie auf das Ruhebett, als ob er einer neuen Versuchung entfliehen wollte – »und ich sah mich so deutlich, als ich Sie vor mir sehe, diese beiden Geschöpfe überraschen und niederschießen wie wilde Tiere. Daneben sah ich meine Frau und meinen Knaben. Zwischen mir und dem Mord lag vielleicht nur noch so viel Raum, als zwischen hier und dieser unseligen Straße . . . und ich fühlte, daß ich fliehen mußte, sofort fliehen, diese Straße fliehen, diese Schuldigen – wenn sie es sind – fliehen, vor allem mich selbst fliehen! Da kam mir Ihr Name in den Sinn, und hier bin ich und rufe Sie an, daß Sie mich retten – ich bin am Ertrinken, retten Sie mich!«

»Sie halten sie schon in Händen, die Rettung,« versetzte Dorsenne. »Ihre Frau und Ihr Sohn – Sie selbst haben, indem Sie an diese beiden dachten, den Ausweg gefunden. Sehen Sie die Ihrigen zuerst wieder, und wenn ich Ihnen auch nicht versprechen kann, daß Ihre Schmerzen geheilt sein werden, so wird doch dieser furchtbare Gedanke seine Macht verloren haben« – er wies auf die Pistole, deren Lauf im Sonnenschein funkelte. Das ehrliche Mitgefühl, das ihn bei Boleslavs Erzählung ergriffen hatte, konnte den Schriftsteller in ihm so wenig ersticken, als die Gemütsbewegung Eitelkeit und Klugheit des Polen erstickt hatte, und er setzte hinzu: »Der Gedanke wird um so eher von Ihnen weichen, als Sie sich mit eigenen Augen von der Wertlosigkeit anonymer Briefe überzeugt haben werden. Zwölf Briefe in vierzehn Tagen und alle so mühevoll durch ausgeschnittene gedruckte Worte hergestellt, die aus Gott weiß wie viel Zeitungen genommen werden mußten! Und da sagt man, die Bösewichter in unsern Büchern seien Uebertreibungen! Wenn Sie wollen, so spüren wir die Fährte dieses Judas oder Jago – oder dieser Jaga – gemeinsam auf, aber davon zu sprechen, ist jetzt nicht die Zeit. Ist Ihr Diener ein zuverlässiger Mann? Doch wohl, sonst hätten Sie ihn nicht mitgenommen. Sie telegraphieren ihm und schicken ihm ein zweites Telegramm an Ihre Frau, das er heute abend in Florenz aufgeben soll. Darin kündigen Sie Ihre Ankunft auf morgen an, beziehen sich auf einen Brief aus Warschau, der verloren gegangen sein muß. Heute abend fahren Sie nach Florenz zurück und kommen morgen früh öffentlich hier an. Damit ist nicht nur das Unglück, ein Mörder zu werden, vermieden – die Gefahr war zwar nicht so groß, denn ich bin überzeugt, daß Sie niemand hätten überraschen können – sondern auch das für Ihr Herz unvergleichlich größere, den Argwohn Ihrer Frau zu erregen. Abgemacht?«

Dorsenne erhob sich und legte Feder und Papier zurecht.

»Da, schreiben Sie sofort und danken Sie Ihrem guten Genius, der Sie zu einem Freund geführt hat, dessen Handwerk es ist, die Lösung unlöslicher Verwicklungen zu ersinnen.«

»Sie haben recht,« sagte Boleslav, die ihm angebotene Feder ergreifend, »darin ist Heil, das ist Weisheit . . .« – aber sofort schleuderte er die Feder weg, wie vorhin die Waffe, und rief: »Nein, ich kann nicht – ich kann nicht, so lange ich diesen Zweifel in mir trage . . . Es ist zu gräßlich – ich sehe sie zu deutlich. Sie sprechen von meiner Frau! Bedenken Sie, daß sie mich liebt und beim ersten Blick auf mein Gesicht, so gut als Sie, darin lesen wird . . . Sie übersehen, mit welcher Anstrengung ich seit zwei Jahren daran gearbeitet habe, ihr die Arglosigkeit zu erhalten. Ach, ich war glücklich! Und wenn man nichts zu verbergen hat, als sein Glück, das ist nicht schwer – jetzt könnten wir keine fünf Minuten beisammen sein, ohne daß sie fühlen, fragen, forschen und – finden würde. Nein, nein! Ich kann's nicht . . . etwas andres . . . ich muß etwas andres haben . . .«

»Aber, Unseliger, dieses andre kann ich Ihnen nicht geben,« sagte Julian. »Es gibt kein Betäubungsmittel, um Zweifel einzuschläfern – ja, wenn man Vertrauen einspritzen könnte wie Morphium! Das eine aber steht fest: Wenn Sie meinen Rat nicht befolgen, so wird Ihre Frau nicht nur Verdacht schöpfen, sie wird sogar Gewißheit erhalten. Vielleicht ist es ohnehin schon zu spät. Soll ich Ihnen sagen, was ich verschweigen wollte, als ich Ihr Elend sah? Es war keine lange Fahrt vom Bahnhof bis hieher, und Sie haben wohl den Kopf nicht mehr als zweimal aus dem Wagenfenster gesteckt, nun, und doch sind Sie gesehen, erkannt worden! Von wem? Von Montfanon. Er hat mir's heute früh erzählt, und wenn nicht ein Wort Ihrer Frau mir gezeigt hätte, daß sie in Unkenntnis darüber ist, so wäre ich zum Verräter Ihrer Anwesenheit in Rom geworden – bedenken Sie, ich! Jetzt urteilen Sie selbst über Ihre Lage.«

Dorsenne hatte mit Wärme und Erregung gesprochen, denn die Gefahr, die Gorkas Eigensinn heraufbeschwor, ängstigte ihn namenlos. Ein seltsames Feuer glühte in den gelblichen Augen des wieder zusammengekauerten Polen auf. Die Erregung des Freundes bezeichnete ihm den Augenblick zum entscheidenden Streich. Er schnellte so blitzartig in die Höhe, daß Julian zurückwich, ergriff wie vorhin seine beiden Hände, aber so fest, daß kein Zucken ihm entgehen konnte, und sprach mit vor Angst hohl und heiser klingender Stimme das gewichtige Wort.

»Doch, Julian, Sie besitzen es, das Mittel, meine Qual zu heilen, Sie haben es . . .«

»Was für ein Mittel?« stammelte Dorsenne.

»Sie sind ein Ehrenmann, ein großer Künstler, Dorsenne, Sie sind mein Freund, der durch heilige Bande an mich geknüpft ist, beinahe mein Waffenbruder. Sie, der Großneffe jenes Helden, der bei Somo-Sierra an der Seite meines Großvaters sein Blut vergossen hat! Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Katharina Steno nicht Maitlands Geliebte ist, daß Sie davon überzeugt sind, daß Sie es nie gedacht, nie gehört haben, und ich werde Ihnen glauben, Ihnen gehorchen! . . . Sprechen Sie!« drängte er, Dorsennes Hände wie im Fieberwahn schüttelnd. »Ach, mein Gott, Sie zögern . . .«

»Nein,« versetzte Julian, sich diesem rauhen Griff entwindend, »ich zögere nicht – ich bemitleide Sie. Wenn ich Ihnen dieses Ehrenwort gäbe, würde es Ihnen länger als fünf Minuten wertvoll sein? Würden Sie sich nicht sofort einreden, ich hätte einen Meineid geschworen, um ein Unglück zu verhüten?«

»Sie zögern . . .« wiederholte Boleslav noch zweimal und stimmte dann ein Gelächter an, das in seiner Wildheit schrecklich anzuhören war. »Es ist also wahr! Uebrigens ist es mir lieber so – die Gewißheit ist gräßlich, aber minder qualvoll. Gewißheit! Als ob ich nicht immer gewußt hätte, daß sie sich vor mir andern geschenkt hatte, als ob es nicht in jedem Zug dieser Alba zu lesen wäre, daß sie die Tochter dieses Werekiew ist, als ob man mir nicht ein halbes Dutzend genannt hätte – vor mir, gleichzeitig, oder nach mir, der Unterschied ist ja nicht groß! Ach, ich wußte es ja, daß ich nur bei Ihnen anzuklopfen, nur an diese Pforte der Ehre zu pochen brauchte, um die Wahrheit zu finden, sie mit Händen zu greifen, wie ich das Dings da ergreife« – seine zuckenden Finger spielten mit einer kleinen Büste. »Sie sehen, daß ich sie ertrage wie ein Mann, Dorsenne, diese Wahrheit, Sie können jetzt offen mit mir sprechen. Wer weiß? Der Ekel ist ein gar treffliches Mittel gegen die Leidenschaft. Reden Sie – schonen Sie mich nicht!«

»Sie täuschen sich, Gorka,« entgegnete Julian. »Ich habe ohne Hintergedanken gesprochen. Ich war und bin überzeugt, daß Sie mich in der nächsten Viertelstunde, oder sagen wir morgen für einen Lügner oder Einfaltspinsel halten werden. Da Sie aber mein Schweigen so falsch auslegen, ist es in der That meine Pflicht, zu sprechen – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nie einen Liebeshandel zwischen der Gräfin Steno und Maitland beobachtet oder vermutet habe, daß ich nie den Eindruck hatte, ihre Beziehungen seien während Ihrer Abwesenheit andre geworden. Ferner gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß in meiner Gegenwart nie derartiges angedeutet wurde. Jetzt denken Sie, was Sie wollen, handeln Sie, wie Sie wollen – ich habe das Meinige gethan.«

Der Schriftsteller hatte diese Worte mit einer fieberhaften Heftigkeit herausgestoßen, die dem Gewissenszwang entsprang, den er sich auferlegen mußte. Gorkas Lachen hatte ihn um so mehr erschreckt, als der Unglückliche dabei, bewußt oder unwillkürlich, die Hand nach der Waffe ausgestreckt hatte, die noch immer ruhig und in der Sonne glitzernd auf dem Sofa lag. Wie sich sein Arm unwillkürlich ausgestreckt haben würde, um die Opferung verschiedener Menschenleben zu verhindern, so hatte sein Mund unwillkürlich und unbedenklich den ersten und wohl auch den letzten falschen Schwur seines Lebens ausgesprochen. Kaum daß er über seine Lippen gekommen war, erfaßte ihn eine derartige innere Wut, daß er sich gefreut hätte, ein Lügner genannt zu werden. Wenn sein unheimlicher Gast ihm einen jener verletzenden Zweifel geäußert hätte, die uns das Recht geben, den andern ins Gesicht zu schlagen, es wäre ihm eine Wohlthat gewesen, so heftig war sein Groll über die Gewaltsamkeit, womit ihm dies Ehrenwort entrissen worden war.

Das Gegenteil geschah. Von unaussprechlicher Dankbarkeit verklärt, blickte ihm das Antlitz des verratenen Liebhabers entgegen. Boleslavs Lippen zitterten: er faltete die Hände, Thränen entströmten den überwachten heißen Augen und liefen ihm über die hohlen Wangen.

»O, mein Freund!« schluchzte er. »Welche Wohlthat haben Sie mir erwiesen! Welchen Alp von meiner Seele gewälzt! Jetzt – jetzt bin ich gerettet! Ich glaube Ihnen! Sie sehen sie ja fast täglich . . . wenn irgend welche Beziehungen zwischen ihnen bestünden, Ihnen wäre es nicht entgangen. Man hätte es Ihnen längst zugetragen. Ach, lassen Sie mich Ihre Hand fassen, daß ich Ihnen danke. Vergessen Sie die Schmähungen, die ich vorhin gegen die Gräfin ausgestoßen, die Verleumdungen, die ich im Fieberwahn wiederholt habe – ich weiß ja, daß sie erlogen sind. Lassen Sie mich an Ihrem Hals hängen, wie ich daran hängen würde, wenn Sie wirklich den Ertrinkenden aus den Fluten gerettet hätten. Ach, mein Freund, mein einziger Freund!«

Er stürzte sich an Dorsennes Brust, der wieder wie beim Anfang dieser Unterredung nur bitten konnte: »Beruhigen Sie sich, ich beschwöre Sie, fassen Sie sich!«

Und im stillen sagte sich der tapfere, ehrenhafte Mensch, der Dorsenne wirklich war: »Ich habe nicht anders handeln können, aber es ist sehr hart . . . sehr hart!«



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