Paul Bourget
Kosmopolis. Erster Band
Paul Bourget

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Erstes Kapitel.

Ein Aesthetiker und ein Gläubiger

Obwohl das schmale, von aufgestauten Büchern, Broschüren und Zeitungen fast überfüllte Gewölbe dem Besucher gerade nur so viel Raum ließ, sich umzudrehen, und obwohl dieser Besucher ein ständiger Kunde war, fand der alte Buchhändler es doch nicht der Mühe wert, sich von dem dreibeinigen Schemel zu erheben, worauf er, an einem tragbaren Pult schreibend, saß. Kaum daß sein seltsamer Kopf, dessen lange weiße Mähne unter dem breiten Rand eines einst schwarz gewesenen Filzhutes hervorquoll, beim Geräusch des Oeffnens und Schließens der Ladenthür einen Augenblick aufgetaucht war und ein fleischloses, runzeliges Fanatikergesicht, worin zwei braune Augen hinter runden Brillengläsern wild und boshaft funkelten, dem Ankömmling entgegengestarrt hatte. Dann hatte sich der Filzhut sofort wieder über ein Blatt Papier gesenkt, das die knorrigen, gelenkigen Finger mit den unsauberen Nägeln in einer Schrift, die eines andern Zeitalters würdig gewesen wäre, mit ungleichen, oft durchstrichenen Zeilen bedeckten. Aus dem schmächtigen, aber riesenhaft langen Körper, der in einem vor Alter grün gewordenen Arbeitsrock steckte, war eine klanglose Stimme hervorgedrungen, die Stimme eines Menschen, der mit einer unheilbaren Kehlkopfentzündung behaftet ist, und hatte mit stark italienischer Betonung als einzige Entschuldigung auf französisch gesagt: »Einen Augenblick, Herr Marquis . . . Die Muse wartet nicht . . .«

»Also werde ich warten, der ich keine Muse bin! Gehorchen Sie dem Geist nach Herzenslust, Ribalta,« erwiderte der von dem Antiquar mit so unvergleichlicher Zwanglosigkeit Empfangene lachend.

Er war offenbar mit den Wunderlichkeiten dieses seltsamen Handelsmannes vertraut, und in Rom – denn der Rahmen dieses kleinen Sittenbildes war ein Erdgeschoß am Ende einer der ältesten Straßen der Ewigen Stadt, wenige Schritte von dem allen Reisenden so wohlbekannten Spanischen Platz – in dieser Stadt, worin so viele Schicksale von allen Enden der Welt zusammenfließen, muß sich ja bei der Mannigfaltigkeit eigenartiger und abnormer Gestalten, die hier gestrandet sind oder Unterschlupf gefunden haben, das Gefühl für das Seltsame nach und nach abschwächen. Man findet da Revolutionäre, wie diesen Flegel von Ribalta, die in der friedlichen Umrahmung allerhand alten Gerümpels ein Leben beendigen, das abenteuerlicher war, als die abenteuerlichsten Geschicke des sechzehnten Jahrhunderts. Aus einer guten korsischen Familie entsprungen, war der jetzige Antiquar ums Jahr 1835 blutjung nach Rom gekommen, wo er zuerst ein Priesterseminar besuchte. Schon sollte er die Weihen empfangen, als er entfloh, um erst im Jahre 1849 wieder aufzutauchen, und zwar als so ausgesprochener Republikaner, daß er bei Wiederherstellung der päpstlichen Herrschaft in contumaciam zum Tode verurteilt wurde. Er stand dann bei Mazzini als Sekretär im Dienst, überwarf sich aber mit ihm aus Gründen, die ihm allem Anschein nach nicht zur Ehre gereichten. Ob er sich durch die Leidenschaft für eine seither verstorbene Frau zu einer Unzartheit in Geldsachen hatte hinreißen lassen? Thatsache ist nur, daß er, immer mehr Radikaler und Socialist geworden, unter den »Tausend« stand und einer der Kämpfer von Mentana war, ohne daß Garibaldi ihm gegenüber je seinen Widerwillen überwunden hätte, was um so auffallender ist, als derartige Abneigungen bei ihm selten vorkamen. Seit 1870 war Ribalta nach Rom zurückgekehrt und hatte hier, falls dieser Ausdruck auf seine Höhle angewendet werden kann, eine Buchhandlung eröffnet. Allein er ist zu seinem Vergnügen Buchhändler, und wenn ein Kunde ihm nicht behagt, so schlägt er ihm die Thür vor der Nase zu. Da er ein kleines Vermögen geerbt hat, verkauft er oder verkauft er nicht, je nach Laune und seinen Einkaufsbedürfnissen: heute verlangt er für einen schlechten Stich, für den er zehn Soldi gezahlt hat, zwanzig Franken, morgen gibt er ein hochgeschätztes Buch, dessen Wert er genau kennt, um einen Schleuderpreis her.

Dringt man weiter in ihn und fragt ihn, weshalb er sich als Buchhändler niedergelassen habe, so wird er den Wißbegierigen bitten, einen Wall von Papieren, Pappendeckeln und Folianten zu übersteigen, und wird ihm eine riesige Stube oder vielmehr eine Art von Speicher zeigen, wo Tausende von Broschüren längs der Wände und quer hindurch aufgeschichtet sind.

»Das sind die Ordensregeln aller in Italien aufgehobenen Klöster. Ich werde ihre Geschichte schreiben . . .«

Dann aber faßt er den Frager scharf ins Auge, denn er wittert in jedem einen Spion des Königs, den dieser ausgesendet haben könnte, um die Pläne seines gefährlichsten Feindes zu entdecken – einen von jenen Spionen, die er dermaßen scheut, daß seit zwanzig Jahren kein Mensch ergründet hat, wo er schläft, wo er ißt und wo er sich verkriecht, wenn die Läden seines Gewölbes in der Borgognonastraße manchmal eine volle Woche geschlossen bleiben. Seiner Vergangenheit als furchtbarer Demokrat und seiner Heimlichthuerei hatte er es denn auch zu danken, daß er aus Anlaß des Attentats Passanantes verhaftet worden war, angeblich als Mitglied jenes Barsantiklubs, der seinen Namen nach einem rebellischen und kriegsrechtlich erschossenen Korporal führt. Aber beim Durchstöbern der staubigen Pappendeckel des mörderischen Buchhändlers hatte die Polizei nichts entdeckt, als eine fabelhafte Anzahl abenteuerlicher Schmähschriften in Versen, die abwechselnd gegen die Piemontesen und Frankreich, gegen Deutschland und den Dreibund, gegen die Republikaner Italiens und seine Minister, gegen Cavour und Crispi, gegen die römische Universität und die Inquisition, gegen die Mönche und gegen die Kapitalisten gerichtet waren. Ohne Zweifel war es eins von diesen Pasquillen, dessen Anfertigung der so barsch behandelte Kunde jetzt mit ansah, indem er sich dabei trotz der abstumpfenden Gewohnheit seine Gedanken über das Zusammenprallen der Gegensätze in Rom machte. Denn im Jahre 1867 hatte dieser nämliche einstige Garibaldianer bei Mentana mit den päpstlichen Zuaven Kugeln gewechselt, in deren Reihen damals auch der Marquis von Montfanon – so hieß sein heutiger Kunde – gestanden hatte. Dreiundzwanzig Jahre hatten hingereicht, um aus den zwei heißblütigen Kriegern von ehedem zwei harmlose Sonderlinge zu machen, von denen der eine dem andern alte Schmöker verkaufte. Auch dieser alte französische Edelmann, der sich nach Rom zurückgezogen hatte, um in der Nähe des Sankt Peter zu sterben, ist eine Gestalt, wie man sie an keinem andern Ort der Welt fände. Wer ihn so sieht, die Füße in derben Stiefeln, in einem höchst einfachen, etwas abgetragenen kurzen Rock, ein rundes Hütchen auf dem ergrauenden Haupt, wie sollte der vermuten, daß er einen der berühmtesten Stutzer des Paris vom Jahre 1864 vor sich hat? Wiederum eine ganze Geschichte! Religiöse Gewissenszweifel, die sich nach einer lebensgefährlichen Krankheit bei ihm eingestellt hatten, waren die Ursache gewesen, die den Stammgast des Café Anglais und seiner fröhlichen Tafelrunde urplötzlich in die Reihen der päpstlichen Soldaten verschlagen hatte. Sein erster Aufenthalt in Rom während der letzten vier Regierungsjahre Pius' IX., einer Zeit, wo das Vorgefühl des nahen Endes jahrhundertealter Zustände, das Herannahen des Konzils und die französische Besetzung der unvergleichlichen Stadt einen ganz besonderen Stempel aufgedrückt hatten, war für ihn zum Zauberband geworden. Alle Keime der Frömmigkeit, die eine klösterliche Erziehung in die Seele des jungen Edelmannes gelegt hatten, waren zu neuer Blüte gelangt und sollten in den Tagen der Not zu edlen Tugenden reifen. Diese Tage kamen nur allzufrüh. Montfanon machte den französischen Feldzug als päpstlicher Zuave mit, und der leere Aermel, der heute an der Stelle seines linken Armes herabhängt, gibt Zeugnis von der Tapferkeit, womit er sich bei Patay geschlagen hat, in dem erhabenen Kampf, wo der heldenhafte General von Sonis das Banner vom heiligen Herzen entfalten ließ. Er war ein Duellant, ein Sportsman, ein Spieler, ein Lebemann gewesen, und für die Genossen seiner lustigen Jahre, die der Zufall nach Rom führt, ist er jetzt nur noch ein Betbruder, der, obwohl ihm die Trümmer eines großen Vermögens geblieben sind, kärglich lebt und seine Tage in stiller Abgeschiedenheit mit Almosengeben, Lesen und Sammeln ausfüllt. Denn er sammelt natürlich auch: dieses Laster ergreift ja mehr oder weniger jeden in diesem Rom, der Stadt, die selbst die erstaunlichste aller Geschichts- und Kunstsammlungen ist – Montfanon sammelt Material zu einer Geschichte der Beziehungen zwischen dem französischen Adel und der Kirche, die er zu schreiben vorhat.

Seine Geliebten aus der Zeit, wo er mit den Gramont-Caderousse und den Demidoffs in die Schranken trat, würden ihn sicher ebensowenig wieder erkennen, als er sie: ob sie aber wohl auch noch so heiter sein mögen, wie er es in diesem Leben voll Entsagung offenbar geblieben ist? Eine Heiterkeit liegt in den blauen Augen, die seinen ungemischt germanischen Ursprung bezeugen und das grobgeschnittene Gesicht erhellen, eines jener feudalen Gesichter, wie man sie im Bild an den Wänden des Kapitelsaales auf Malta herumhängen sieht, und dessen Häßlichkeit Stil und Rasse hat. Ein dicker, fast weißer Schnurrbart, dem nur an den dichtesten Stellen noch ein goldener Schimmer geblieben ist, verdeckt zur Hälfte eine Narbe, die dem geröteten Gesicht ein schreckenerregendes Ansehen geben würde, wenn die Augen nicht wären, worin sonnige Heiterkeit sich mit frommer Schwärmerei verbindet. Montfanon ist auf gewissen Gebieten ebenso fanatisch, als er auf andern gutmütig und leichtlebig ist. Wenn er die Macht hätte, würde er zum Beispiel diesen Ribalta sicherlich wegen Freigeisterei innerhalb vierundzwanzig Stunden festnehmen, verurteilen und aufknüpfen lassen. Da er diese Macht aber nicht hat, ergötzt er sich an ihm, um so mehr, als der überzeugte Katholik und der verstimmte Socialist sich manchmal im Haß begegnen, und noch heute früh hat man ja gesehen, mit welcher Geduld er die Flegelhaftigkeit des alten Buchhändlers ertragen und ihm wohl zehn Minuten lang zugesehen hatte, ohne sich weiter viel zu ärgern. Schließlich schien der mörderische Revolutionär sein Epigramm scharf genug zugespitzt zu haben, denn er faltete das Blatt mit einem leisen, heimtückischen Kichern vierfach zusammen, steckte es in ein hölzernes Kästchen, das er sorgfältig verschloß, und fragte, seinen hagern Leib reckend, ohne weitere Entschuldigung: »Was steht Ihnen zu Diensten, Herr Marquis?«

»Erstens hätten Sie mir Ihr Gedicht wohl vorlesen können, Sie altes Rothemd,« erwiderte Montfanon, »und wär's auch nur, um mich dafür zu belohnen, daß ich geduldiger als ein Gesandter abgewartet habe, bis es Ihnen gefällig ist, sich nach mir umzusehen. Heraus mit der Sprache, wen haben Sie wieder schlecht gemacht in diesen Versen? Haben Sie vielleicht Angst, ich könnte Sie im Quirinal anzeigen?«

»In bocca chiusa, non c'entra mosca« (»In einen geschlossenen Mund kommt keine Fliege«), versetzte der alte Verschwörer und illustrierte seine Redensart vortrefflich, indem er den zahnlosen Mund derart zuklappte, daß wirklich kein Stäubchen, geschweige denn eine Fliege hätte eindringen können.

»Ein gutes Wort,« bemerkte der Marquis lachend, »das ich mit Vergnügen über den Pforten aller modernen Parlamente eingraben ließe. Aber haben Sie vielleicht über Ihren Versen und Sprichwörtern auch Zeit gefunden, an den Wiener Antiquar zu schreiben, der das letzte Exemplar der unauffindbaren Broschüre über den Prozeß jenes Banditen Hafner besitzt?«

»Geduld,« versetzte der Alte. »Ich werde hinschreiben . . .«

»Und meine Akten über die Belagerung Roms unter dem Bourbon, die drei amtlich beglaubigten Dokumente, die Sie mir in Aussicht stellten, haben Sie die etwa aufgegabelt?«

»Geduld, Geduld,« wiederholte der Buchhändler und wies mit einer drolligen Mischung von Hohn und Verzweiflung auf die erschreckende Unordnung in seinem Gewölbe. »Wie wollen Sie, daß ich mich in dem Chaos zurechtfinden soll?«

»Geduld, Geduld,« ahmte Montfanon ihm nach, »diesen Kehrreim pfeifen Sie mir seit vier Wochen vor . . . Wie wär's, wenn Sie, statt schlechte Verse zu machen, sich ein wenig mit Ihrer Korrespondenz befaßten oder diesen Plunder in Ordnung brächten, statt immer noch dazu zu kaufen? Uebrigens,« unterbrach er sich mit einer hastigen Gebärde und indem er zu lachen aufhörte, »habe ich kein Recht, Ihnen Ihre Einkäufe zum Vorwurf zu machen, denn gerade wegen Ihrer neuesten Erwerbung bin ich ja gekommen. Der Cardinal Guérillot sagte mir, Sie hätten ihm neulich ein zwar sehr schlecht erhaltenes, aber merkwürdiges Gebetbuch gezeigt, das Sie in Toscana aufgestöbert haben. Wo steckt es denn?«

»Hier!« sagte Ribalta, über mehrere Bücherberge steigend und einen ungeheuren Stoß von Pappendeckeln mit dem Fuß wegschiebend, um zu der staubbedeckten Schublade eines wackligen Schrankes zu gelangen.

Aus diesem Fach zog Ribalta unter einem unbeschreiblichen Krimskrams gar nicht zusammengehöriger Gegenstände, wie alter Medaillen und alter Nägel, verblaßter Stiche und leerer Bücherdeckel, ein ziemlich dickes, von den Würmern angefressenes Ledergehäuse hervor, worauf ein halb verblichenes Wappen zu sehen war. Er schlug das Kästchen auf und reichte dem Marquis einen Band, dessen hölzerner Deckel, der gleichfalls mit Leder bezogen und mit Nägeln verziert war, in Stücke ging. Eine von den Klammern war zerbrochen, und als der Marquis in dem Buch zu blättern anfing, konnte er sich leicht überzeugen, daß das Innere ebensowenig geschont worden war als die Außenseite. Ursprünglich hatten farbige Miniaturen den kostbaren Band geschmückt, diese waren aber beinahe ausnahmslos längst verblaßt; das vergilbte Pergament war an vielen Stellen zerfetzt, kurz, das Buch war eine unförmliche Ruine, wurde aber von dem kundigen Edelmann mit zarter Sorgfalt untersucht. Jetzt entschloß sich Ribalta zum Reden.

»Eine Wittwe von Montalcino im Toscanischen hat mir's verkauft,« erzählte er. »Sie hat einen sehr hohen Preis verlangt, aber das Ding ist's auch wert, trotzdem es stark beschädigt ist, denn die Miniaturen sind von Matteo da Siena, der sie für den Papst Pius II. Piccolomini gefertigt hat. Sehen Sie sich nur die an, wo der heilige Blasius die Löwen und Panther segnet. Die ist am besten erhalten . . . ist das nicht seine Arbeit?«

»Weshalb wollen Sie mir etwas vorflunkern, Ribalta?« unterbrach ihn der Marquis ungeduldig. »Sie wissen besser als ich, daß diese Miniaturen sehr mittelmäßig sind und weit und breit nicht an Matteos gedrängte Mache erinnern, und überdies – was braucht's weiterer Beweise? Ist der Band mit einer Jahreszahl versehen . . . 1554? Sehen Sie selbst –« Er wies dem Buchhändler die Zahlen, wobei er sich des einzigen Armes mit merkwürdiger Geschicklichkeit bediente. »Und da ich einiges Zahlengedächtnis besitze und mich mit Matteo da Siena beschäftigt habe, weiß ich recht gut, daß er vor 1500 gestorben ist. Ich, der ich nicht bei Macchiavell in die Schule gegangen bin,« fuhr er mit der früheren Barschheit fort, »werde Ihnen sagen, was Ihnen der Kardinal auch gesagt hätte, wenn Sie ihm nicht einen blauen Dunst vorgemacht hätten, wie Sie's vorhin bei mir versuchten . . . Sehen Sie sich einmal diese halb verwischte Unterschrift an, die Sie nicht entziffern konnten . . . Ich werde sie entziffern, ich, ›Blasius von Mo . . .‹, dann folgt noch ein c, ein paar Buchstaben fehlen, es sind gerade drei . . . und das heißt in der Schreibart der Zeit Montluc und das l ist genau so gemacht, wie Sie es in den Archiven von Siena längst hätten vergleichen können, da Sie doch einmal dort waren, ein kleines l, aber sehr breit und hoch . . . Und jetzt kommen wir an das Wappen,« erklärte er, den Band zuklappend, um dem verblüfften Buchhändler die kaum mehr erkennbaren Einzelheiten des Einbandes zu zeigen, »erkennen Sie vielleicht einen Wolf, der ursprünglich vergoldet gewesen sein muß, und Pechkränze, die jedenfalls mit roter Farbe bemalt waren? Das ist das Wappen, das Montluc seit jenem Jahre 1554 geführt hat, wo er zum Bürger von Siena gemacht wurde, weil er die Stadt so tapfer gegen den schrecklichen Marquis von Martignan verteidigte. Was das Gehäuse betrifft,« sagte er, auch dieses untersuchend, »so sind da allerdings die Halbmonde des Geschlechts der Piccolomini, aber was beweist das? Daß Montluc nach der Belagerung, und zwar just als man sich nach Mentalcino zurückziehen mußte, sein Gebetbuch einem Glied dieser Familie verehrt hat, vielleicht zum Andenken. Darauf wird der Band verlegt, verloren und bald darauf gestohlen worden sein und ist auf diese Weise in den Zustand gekommen, wie wir ihn jetzt vor Augen haben . . . Auch dieses Buch ist wieder einmal ein Beweis, daß doch etliches französisches Blut im Dienste Italiens vergossen wurde. Aber die Leute, die es verschacherten, haben das vergessen, wie sie Magenta und Solferino vergessen haben; hier zu Lande hat man nur für den Haß ein Gedächtnis . . . Und jetzt, da Sie wissen, weshalb ich Ihr Buch, Ihr Gebetbuch haben möchte, wollen Sie mir's um fünfhundert Franken lassen?«

Beim Anhören des Vortrages hatten sich zwanzigerlei widersprechende Gedankenreihen auf den Zügen des Buchhändlers abgespiegelt. Er empfand Montfanon gegenüber in der Regel eine mit Gereiztheit gepaarte Ehrfurcht, die es ihm ungeheuer peinlich machte, gerade von ihm bei einer offenen Lüge ertappt worden zu sein. Um ihm gerecht zu werden, muß man übrigens zugeben, daß er beim Hereinziehen des großen Matteo und des Papstes Pius II. nicht im entferntesten daran gedacht hatte, im Marquis einen Käufer vor sich zu haben, denn Montfanon war sehr sparsam und beschränkte sich bei seinen Erwerbungen sonst auf das engste Gebiet kirchlicher Geschichte. Er hatte also seinen Gegenstand nur verherrlicht, um ihn mit einem sagenhaften Glanz zu umgeben, der dann vielleicht irgend einen reichen, unwissenden Liebhaber ins Garn gelockt hätte. Andrerseits sagte ihm zwar der Name Montluc ganz und gar nichts, um so bedeutungsvoller aber war für ihn die unverblümte derbe Anspielung seines Gegners auf den Krieg von 1859. Diese Erinnerung ist den Italienern ein Dorn im Fleisch, und der Stolz des Garibaldianers wollte hinter der Großmut des einstigen Zuaven nicht zurückstehen. Ebenso mürrisch wie Montfanon vorhin gewesen war, riß er ihm jetzt das Buch aus der Hand und brummte, indem er es zwischen seinen tintebeklecksten Fingern drehte: »Nicht um sechshundert Franken würd' ich's hergeben . . . ich würde es nicht um sechshundert Franken geben . . .«

»Das ist eine große Summe,« bemerkte Montfanon.

»Nein, ich würd's nicht drum hergeben,« brummte er abermals und streckte es dabei dem Marquis mit wahrer Wut hin, »aber Ihnen, Ihnen lass' ich's um vierhundert . . .«

»Aber ich biete Ihnen ja fünfhundert . . .« stotterte der Käufer verblüfft. »Und Sie wissen wohl, daß dies ein sehr mäßiger Preis für eine solche Seltenheit ist . . .«

»Nehmen Sie's um vierhundert,« rief Ribalta, noch mehr in Wut geratend. »Nicht einen Soldo mehr, nicht einen weniger lasse ich mir zahlen! So viel hat es mich selbst gekostet. Und Ihren ›Prozeß Hafner‹ sollen Sie diese Woche noch und Ihre Dokumente in zwei Tagen bekommen. Nebenbei bemerkt, dieser Bourbon, der Rom geplündert hat, der war doch auch ein Franzose, nicht wahr? Und dieser Karl von Anjou, der über uns hergefallen ist, um sich zum König beider Sicilien zu machen? Und dieser Karl III., der durch die Porta del Popolo eingezogen ist? Waren das nicht Franzosen? Und Oudinot, war der etwa kein Franzose? Was brauchten sie sich in unsere Angelegenheiten zu mischen? Ach! Wenn man genau abrechnen wollte, was wir ihnen, und was sie uns verdanken! Haben wir ihnen nicht den Mazarin, den Massena und den Bonaparte geschenkt und so viele andere, die in ihren Reihen in Rußland, Spanien und anderwärts gefallen sind? Ist Garibaldi nicht der Narr gewesen, sich für euch zu schlagen, obwohl ihr ihm sein Vaterland genommen habt? Was die Dienste betrifft, so sind wir quitt . . . damit kommen Sie mir nur nicht . . . aber nehmen Sie Ihr Gebetbuch mit und . . . guten Tag, guten Tag . . . bezahlen können Sie's ja ein andermal . . .«

Mit diesen Worten stieß er, so heftig umherfuchtelnd, daß ganze Stöße Bücher zur Erde kollerten, den Marquis buchstäblich zum Laden hinaus. Ehe er Zeit gehabt hatte, in seine Tasche zu greifen und das eigens mitgebrachte Geld auszubezahlen, stand Montfanon auf dem Fußsteig der Borgognonastraße.

»Dieser Hitzkopf! Mein Gott! Dieser Rappelkopf!« sagte er lachend vor sich hin, während er sich, das kostbare Buch unterm Arm, voll Heiterkeit und mit noch jugendlichem Gang von dem Laden entfernte.

Da er durch reichlichen Verkehr diese südlichen Naturen sehr wohl kannte, bei denen Gaunerei und Ritterlichkeit dicht nebeneinander Platz haben, diese Don Quichotte, die ihre Windmühlen arbeiten lassen, fragte er sich:

»Wie viel mag er wohl noch daran verdient haben, nachdem er sich aufs hohe Roß gesetzt hat, um mir gegenüber den Kavalier zu spielen?«

Der Marquis sollte niemals erfahren, in welchem Grad seine Frage berechtigt war, noch daß Ribalta den seltenen Band in einem Stoß von alten Scharteken, Schriftstücken und Kupferstichen entdeckt hatte, den er in Bausch und Bogen mit fünfundzwanzig Franken bezahlt hatte. Ueberdies verhinderten ihn auch zwei Begegnungen, die er beim Verlassen des Gewölbes Schlag auf Schlag erlebte, des weitern über dies Problem kaufmännischer Psychologie nachzudenken.

Der Marquis war am Ausgang der Straße einen Augenblick stehen geblieben, um seinen Blick über den Spanischen Platz schweifen zu lassen, diesen Platz, den er als eingebürgerter Römer schon deshalb liebte, weil er zu den wenigen Stellen gehört, die im Laufe der letzten dreißig Jahre unverändert geblieben sind. Licht und Bewegung erhöhten an diesem Morgen zu Anfang Mai den Reiz des langgestreckten Platzes mit den geschwungenen Linien, mit dem bräunlichen Ton, den ihn umfassenden unregelmäßig gebauten Häusern, mit der doppelten von Faulenzern wimmelnden Freitreppe von Trinità dei Monti, mit den Wassern, die aus dem großen mittleren, eine Barke darstellenden Becken hervorsprudelten, einem der zahllosen Einfälle Berninis, dieses dekorativen Zauberers, der den Genius des lebendigen Brunnens besaß und dem der Wasserspiegel dienstbar wird, um das wellige Gekräusel von Erz und Marmor fortzusetzen. Um diese Stunde und in diesem Lichtmeer war der sprudelnde Brunnen wirklich nicht minder lebendig, als das geschmeidige Gesindel, das umherlief und mit langgestreckten Armen seine Körbchen mit blassen Rosen, blonden Narcissen, feurigen Anemonen, zarten Alpenveilchen oder dunkeläugigen Stiefmütterchen anbot. Barfuß, dunkle Glut in den Augen und Bettelworte auf den Lippen, schlüpften sie zwischen den Wagen hindurch, die rasch vorüberrollten und, wenn auch nicht mehr zahllos, wie in der Karnevalszeit, so doch noch immer zahlreich waren, denn der Frühling hatte sich in diesem Jahr verspätet und kündigte sich jetzt mit köstlicher Frische an.

Ein gläubiger Katholik wie Montfanon kostete bei dem malerischen Anblick eines hellen Morgensonnenscheins auf dem hübschesten Platz seiner über alles geliebten Stadt auch noch das Vergnügen, den Eindruck dieses bunten Momentbildes durch einen Aufschwung zum Ewigen zu weihen. Er brauchte ja nur den Blick nach rechts zu wenden, wo das Seminar der Propaganda steht, diese Erziehungsstätte von Märtyrern, wovon die Missionäre der Welt ausgehen. Es schien jedoch in den Sternen geschrieben zu sein, daß der leidenschaftliche Edelmann weder das billig erworbene Kleinod, das er unterm Arm trug, in Ruhe genießen sollte, noch diese für Rom so bezeichnende Empfindung, daß wir mitten im Getriebe, bei der Biegung einer Straße, an einer Ecke des Fußsteiges plötzlich auf die Dinge jener Welt hingelenkt werden. Um in diesen hellen Augen jeden Schimmer der Heiterkeit zu verlöschen, genügte es, daß ein trotz der frühen Stunde prächtig geschirrter, mit zwei edlen Rappen bespannter Wagen hart an ihm vorüber fuhr. Zwei Damen saßen plaudernd darin; die eine war offenbar in untergeordneter Stellung, irgend ein Gesellschaftsfräulein oder eine Ehrendame der andern, eines jungen Mädchens von beinahe erhabener Schönheit, mit großen dunklen Augen, die von einem gelblichen, aber warmen, lebendigen Teint noch gehoben wurden. Ihr Profil vom reinsten orientalischen Schnitt war eine zu vollständige Verwirklichung des semitischen Schönheitsideals, um über den hebräischen Ursprung dieses Wesens Zweifel übrig zu lassen, das wirklich eine Erscheinung war, die nach des Dichters Wort »alle Herzen mit sich reißen« sollte. Dem war aber, scheint es, doch nicht so, denn auf dem wohlwollenden fröhlichen Gesicht des Marquis war eine Verdüsterung, ein wahres Wetterleuchten der Bosheit wahrzunehmen, solange sein Blick dem Wagen des jungen Mädchens folgte, der eben im Begriff war, um die nächste Straßenecke zu biegen. Die Schönheit hatte gerade noch Zeit, den Gruß eines vornehm aussehenden jungen Mannes zu erwidern, der auch ein näherer Bekannter des einstigen päpstlichen Zuaven sein mußte, denn er trat vertraulich an ihn heran und redete ihn neckend und in einem Französisch, das diesesmal wirklich von der Seine stammte, an.

»Aha! Da hätte ich Sie ertappt, Herr Marquis Claudius Franciskus von Montfanon! Sie ist erschienen, Sie haben sie gesehen und sind besiegt! Wie Sie sie mit den Augen verschlungen haben, diese göttliche Fanny Hafner! Erzittern Sie . . . ich werde Sie Sr. Eminenz dem Kardinal Guérillot verraten, und wenn Sie ihm wieder Uebles über seinen schönen Täufling sagen, so werde ich als Zeuge erscheinen und beschwören, daß ich Sie hypnotisiert von ihrem Erscheinen gefunden habe, wie die Trojaner, wenn Helena vorüberging. Ueberdies bin ich überzeugt, daß jene Helena nichts von diesem ganz modernen Reiz besaß, nicht diese eigenartige Schönheit, dies ideale Profil, diesen tiefen Blick, diesen träumerischen Mund und dieses Lächeln . . . ach, wie ist das Mädchen schön! Wann lassen Sie sich ihr vorstellen?«

»Wenn Meister Julian Dorsenne,« erwiderte Montfanon, auf den neckenden Ton eingehend, »in seinem nächsten Roman ebenso wenig Beobachtungsvermögen entwickelt als in diesem Augenblick, so thut mir sein Verleger leid. Kommen Sie daher,« setzte er rasch hinzu und zog den jungen Mann mit sich an die Ecke der Borgognonastraße. »Sehen Sie den Viktoria vor dieser Nummer dreizehn halten – dort? Und die göttliche Fanny, wie Sie sich ausdrücken, heraussteigen . . . Da? Und jetzt tritt sie in die Bude des alten Spitzbuben Ribalta . . . so . . . sie wird nicht lange drin bleiben . . . da, da kommt sie ja schon heraus und steigt wieder in ihren Wagen . . . Schade, daß sie nicht noch einmal über den Spanischen Platz fährt, wir hätten sonst den Genuß gehabt, ihre enttäuschte Miene zu beobachten, denn was sie suchte, ist hier« – er zeigte seinen Einkauf mit übermütigem Lachen – »und wenn sie auch alle die Millionen ihres Vaters dafür bieten wollte, sie wird es nicht bekommen. Haha!« setzte er noch lauter lachend hinzu. »Montfanon ist noch früher aufgestanden und hat seinen Morgen nicht vertrödelt, und Sie, mein Herr Momentphotograph, raten Sie einmal, was ich dem Museum dieser Schnurrantin weggeschnappt habe, die wenigstens aus diesem Gegenstand kein Spielzeug machen soll.«

Er hielt dem jungen Mann seine Beute hin und blinzelte ihn mit der drolligsten Siegermiene an.

»Dazu brauch' ich mir Ihren Band nicht erst anzusehen,« versetzte Dorsenne und fuhr, als der Marquis die Achseln zuckte, rasch fort: »Jawohl, jawohl, in meiner Eigenschaft als Romanschreiber und Momentphotograph, die Sie mir ja vorhin an den Kopf warfen, weiß ich schon, was es ist. Wollen wir wetten? Es ist ein Gebetbuch, das den Namenszug des Marschalls von Montluc trägt und das der Kardinal Guérillot entdeckt hat. Stimmt das etwa nicht? Er hat dem Fräulein Hafner davon erzählt und glaubte Ihre Gereiztheit gegen das junge Mädchen zu besiegen, indem er Ihnen sagte, daß sie Feuer und Flamme dafür sei und es kaufen wolle. Und Sie, Abscheulicher, Sie haben dabei nur den einen Gedanken gehabt, der armen Kleinen das Juwel wegzuschnappen! Stimmt das nicht auch? Dabei weiß ich nicht einmal, ob Sie wirklich Wert darauf legen, während das Mädchen . . . vorgestern waren wir abends bei der Gräfin Steno beisammen, von nichts sprach als von ihrer Freude, dieses Buch zu besitzen, vor dem der große Soldat, der tapfere Montluc gebetet hat; sie hat mir auf der Guitarre heldenhafter Glaubenstreue alle Tonarten angeschlagen, so daß ich, auf Ehre, Sie zu hören glaubte! Gestern muß sie schon dort gewesen sein, um das Buch zu kaufen, aber der Laden war, wie mir beim Vorübergehen auffiel, geschlossen. Jedenfalls sind auch Sie gestern dort gewesen? Stimmt das abermals? Und jetzt, nachdem ich Ihnen Ihre Geschichte Punkt für Punkt selbst erzählt habe, jetzt werden Sie mir erklären, weshalb Sie, sonst ein gerechter Mann, einen so verbissenen, ja, gestatten Sie mir das harte Wort, kindischen Widerwillen hegen gegen ein harmloses junges Mädchen, das nie an der Börse gespielt hat, wohlthätig ist wie ein ganzer Schwesternorden und auf dem besten Wege, beinahe so gläubig zu werden, als Sie selber? Wäre ihr Vater nicht, der vor ihrer Verheiratung nichts von Uebertritt hören will, sie hieße jetzt schon Katholikin, und wenn sie auch in dieser Viertelstunde noch Protestanten sind, so geht sie doch immer in die katholische Kirche. Wenn sie aber vollends katholisch sein und unter dem Schutz einer heiligen Claudine oder einer heiligen Franziska stehen wird, wie Sie unterm Schutz des heiligen Claudius und des heiligen Franziskus stehen, dann müssen Sie doch wenigstens die Waffen strecken, Sie alter Kampfhahn, und die Aufrichtigkeit der religiösen Gefühle dieses Kindes anerkennen, das Ihnen wahrhaftig nichts zuleide gethan hat.«

»Wie, sie hätte mir nichts zuleide gethan?« unterbrach ihn Montfanon. »Doch es ist ja ganz natürlich, daß ein Skeptiker gar nicht erfaßt, was sie mir zuleide gethan hat, was sie mir noch alle Tage zuleide thut, nicht meiner Person, aber meinen Anschauungen. Wenn man wie Sie im Zirkus eines Sainte Beuve oder Renan geistiges Akrobatentum erlernt hat, dann mag man es köstlich finden, daß der Katholizismus, eine sehr ernste Sache, mein Herr, von der Tochter eines Börsenjobbers, der auf eine aristokratische Verbindung abzielt, als vornehmer Sport betrieben wird. Es mag Ihren spöttischen Sinn auch höchlich ergötzen, daß mein frommer Freund, der Kardinal Guérillot, sich von diesem streberischen Weib zum besten halten läßt; aber ich, mein Freund, billige es nicht, daß man das, was mein Glaube ist, dazu benützt, um sich in der Gesellschaft emporzuarbeiten. Ich dulde nicht, daß man einen Greis, den ich verehre, in die Rolle des Geprellten und des Mitschuldigen hineindrängen will, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich dem Kardinal ein Licht aufstecken werde . . . Und was diese Reliquie betrifft,« fuhr er, wieder seinen Band vorweisend, noch eindringlicher fort, »so mögen Sie es immerhin kindisch finden, daß ich sie nicht zur Ausschmückung dieser schmachvollen Komödie dienen lassen wollte; ich finde es nicht kindisch, und das Buch wird nicht mitspielen. Man wird nicht mit hohlen Phrasen, feuchten Augen und heiligen Heuchelmienen seinen Gästen dieses Brevier zeigen, über dem der große Soldat seine Hände gefaltet hat, ja, mein Herr, der tapfere Christ, der euch alle miteinander, dieses Fräulein und Sie und den Ribalta, am höchsten Ast hätte aufknüpfen lassen, was vielleicht gar kein so großes Unrecht gewesen wäre. Sie haben mir nichts zuleide gethan!« fuhr er, immer mehr ins Feuer geratend fort, und sein rotes Gesicht glühte förmlich vor Zorn. »Als ob Leute wie sie und ihr Vater nicht die Quintessenz alles dessen wären, was ich am meisten verabscheue. Sie sind die Verkörperung des Hassenswertesten, was die heutige Gesellschaft hervorgebracht hat, diese kosmopolitischen Abenteurer, die mit den durch Börsenkniffe gestohlenen Millionen die großen Herren spielen! Dieses Gelichter hat vor allem kein Vaterland. Was ist er denn, dieser Baron Justus Hafner, ein Deutscher, ein Holländer, ein Italiener? Wissen Sie das etwa? Nicht einmal eine Religion hat er.«

»Das Gelichter hat aber auch keine Familie,« fuhr Montfanon fort. »Wo ist er erzogen worden dieser Herr? Was hat sein Vater getrieben, wer war seine Mutter, was sind seine Brüder, seine Schwestern? Wo ist er aufgewachsen? Wo sind seine Traditionen? Wo ist seine Vergangenheit, wo alles, woraus sich der sittliche Mensch aufbaut? Besinnen Sie sich doch ein wenig! Alles ist stockdunkel an dieser Persönlichkeit, nur eines ist sonnenklar, daß, wenn es im Jahre 1880 bei Gelegenheit des gerichtlichen Verfahrens gegen die batavisch-javanische Bank in Holland Richter gegeben hätte, er jetzt auf den Galeeren wäre, statt in Rom. Die Thatsachen liegen vor. Unzählige sind an ihm zu Grunde gegangen: ich weiß auch ein Lied davon zu singen. Mein armer Vetter von Saint Remy hat das Brot seines Alters und die Mitgift seiner Tochter dabei eingebüßt. Selbstmorde sind vorgekommen, und zwar gräßliche, namentlich der eines gewissen Schroeder, der über diesen Krach wahnsinnig geworden ist und sich umbrachte, nachdem er seine Frau und zwei Kinder erstochen hatte. Und der Herr Baron ist ohne Strafe ausgegangen. Noch keine zehn Jahre sind seither verstrichen, und schon hat man über die Sache Gras wachsen lassen, und als er sich in Rom niederließ, hat er offene Thüren und freundlichen Willkomm gefunden. In Madrid, in London, ja auch in Paris wäre es um kein Haar besser gewesen, denn seit 1789 sind alle Städte Europas einander wert. Und man verkehrt bei ihm, man sieht ihn bei sich! Und Sie muten mir zu, an die Frömmigkeit seiner Tochter zu glauben? Nein und tausendmal nein! Sie selbst, Dorsenne, der Sie trotz Ihrer Schrullen, Ihrer Lust am Widerspruch und Ihrer Sophisterei im Grunde eine ehrliche Haut sind, Sie empfinden vor diesen Leuten denselben Abscheu wie ich.«

»Aber das fällt mir ja gar nicht ein,« fiel ihm der Schriftsteller ins Wort, der diesem Gefühlsausbruch mit lebhaftem Anteil, aber einem nicht sonderlich überzeugten Lächeln gefolgt war. »Das ist nicht im geringsten der Fall. Sie haben mich einen Akrobaten genannt – ich ärgere mich nicht darüber, weil Sie es sind und weil ich weiß, daß Sie mich im Grunde gern haben – dann lassen Sie mir wenigstens auch die Geschmeidigkeit dieser Zunft. Ehe ich über einen verwickelten Börsenprozeß urteile, müßte ich mich darin auskennen. Hafner ist freigesprochen worden, das genügt mir – Punkt eins. Wenn er aber auch der größte Schurke unter der Sonne wäre, so würde das seine Tochter nicht verhindern, ein Engel zu sein – Punkt zwei. Was den Kosmopolitismus betrifft, den Sie ihm als Laster anrechnen, so ist es gerade dieser Zug, der mich an dem Mann interessiert – wir arbeiten nun einmal nicht mit der gewöhnlichen Gehirnmasse, und Punkt drei – nun ja denn, ich würde diese sechs Monate in Rom für fruchtbringend halten, und wenn ich auch nur ihn kennen gelernt hätte! Sehen Sie mich doch nicht an, als ob ich so ein armer Teufel von Zirkusclown oder Herr Renan in Person wäre,« fuhr er fort, indem er dem Marquis die Hand auf die Schulter legte, »ich meine das ganz ernsthaft. Nichts interessiert mich so sehr, als diese wurzellosen Persönlichkeiten, die aus einem Rahmen in den andern schlüpfen und schon zwei, ja vier Daseinsformen durchwandert haben. Diese Art Leute sammle ich nun einmal für mein Museum, und Sie können doch nicht verlangen, daß ich Ihnen eines meiner schönsten Exemplare opfere? Und außerdem« – die Freude über die boshafte Wendung, die er dem Gespräch zu geben gedachte, zwinkerte schon in seinen Augen – »machen Sie diesen Hafner so schlecht, als Sie wollen, nennen Sie ihn meinetwegen einen Dieb und Knoten, einen Gauner und Ränkeschmied, aber wenn Sie mir mit der Entwurzlung kommen und ihm zur Last legen, daß er nicht mehr auf dem Fleck sitzt, wo seine Väter gesessen haben, dann kehre ich den Stiel um. Denn schließlich, Sie, mein Herr von Montfanon, Sie sind in Burgund geboren, entstammen einer uralten burgundischen Familie, Sie besitzen ein Schloß in Burgund und Weinberge in Burgund, wozu ich Ihnen nebenbei Glück wünsche, und seit vierundzwanzig Jahren leben Sie in Rom, das heißt also in dieser Kosmopolis, der Sie fluchen . . .«

»Ich könnte Ihnen erstens einwenden, daß ich nicht mehr mitzähle,« versetzte der alte Soldat, auf seinen verstümmelten Arm weisend, »daß ich hier nicht lebe, sondern zu sterben anfange, und dann, mein Herr, hat Rom, mein Rom –« sein Gesicht verklärte sich und die ganze seltene Innerlichkeit dieses oft beschränkten, oft verblendeten, aber immer reinen und hohen Geistes trat mit einemmal hervor – »nichts gemein mit dem Rom des Herrn Hafner und offenbar auch nichts mit dem Ihrigen, da Sie, scheint's, hierher gekommen sind, um dem Studium sittlicher Mißgeburten obzuliegen. Rom ist mir nicht ›Kosmopolis‹, wie Sie sagen, sondern Metropolis, die Mutterstadt. Sie übersehen, daß ich Katholik bin, wie ich atme, daß ich hier zu Hause, in der Heimat meiner Seele bin. Ich lebe hier, weil ich auch Monarchist bin, weil ich an das alte Frankreich glaube, wie Sie an die moderne Welt, und ich diene meinem alten Frankreich auf meine Weise, die vielleicht keine sehr wirksame, aber immerhin eine Art von Dienst ist. Diese Stellung eines Administrators von St. Ludwig, die ich aus Corcelles Hand empfangen habe, das ist mein Posten, auf dem ich treulich ausharre, wie ich dereinst im Feld auf Posten gestanden habe . . . Ach, dieses alte Frankreich! Wie man hier seine Größe fühlt und wie man hier inne wird, wie tief es ins Herz der Christenheit eingeschnitten ist! Das ist die Saite, die ich bei einem beredten Schriftsteller wie Sie erklingen hören möchte, und nicht immer und ewig diese Paradoxen und Sophismen. Aber was habt ihr davon, ihr, die ihr von gestern seid und euch brüstet,« fuhr er mit wehmütiger Eindringlichkeit fort, »daß am geringsten Winkel dieser Stadt Jahrhunderte unsrer Geschichte kleben? Schlägt euch das Herz höher, wenn ihr am Portale dieser heiligen Ludwigskirche den Salamander Franz' I. und die französischen Lilien seht? Wißt ihr auch nur, weshalb diese Straße den Namen Borgognona führt und daß zwei Schritte von hier die Kirche des heiligen Claudius, des Burgunders, steht? Haben Sie, der Sie von den Vogesen kommen, je die Kirche Ihrer Provinz, St. Nicolas des Lothringers besucht? So –« sein Ton wurde wieder heiterer – »und nun haben Sie sich meinen Kopf zugelegt, wie ihr in eurem scheußlichen Boulevardkauderwelsch sagt, indem Sie meine ganze Galle über diesen schurkischen Hafner zum Ueberlaufen brachten. Ich habe ihn dargeboten, ohne zu feilschen, denn ich habe mein Herz ausgeschüttet und aus tiefster Seele zu Ihnen gesprochen, während es sich für Sie nur um eine Studie gehandelt hat. Sie sollen aber auch nicht ohne Strafe ausgehen. Ich lasse Sie nicht los – und führe Sie mit Gewalt in das Frankreich von ehedem. Um zwölf Uhr müssen Sie mit mir frühstücken, und bis dahin werden wir den Rundgang durch die eben genannten Kirchen erledigt haben. Eine Stunde sollen Sie sich mit mir um hundertfünfzig Jahre zurückversetzen, in eine Welt, wo es weder Kosmopoliten, noch ästhetische Feinschmecker und ebensowenig Börsenjobber gab, eine altmodische Welt, die aber kerngesund war, denn sie ist alt geworden, das heißt also, sie hatte Dauer, während Ihre aus der Revolution hervorgegangene Gesellschaft – ja, sehen Sie doch nur, wohin es nach hundert Jahren in Frankreich, in Italien mit ihr gekommen ist, und wie es auch in England bald mit ihr aussehen wird, dank Gladstone, den der Hochmut zu einem zweiten Nebukadnezar macht . . . Diese Gesellschaft ist wie Rußland, nach dem einzigen schönen Wort des unflätigen Diderot, verfault, ehe sie reif geworden ist. Sie kommen doch? Abgemacht!«

»Die Aufforderung wäre unwiderstehlich,« erwiderte der Schriftsteller, »denn Sie täuschen sich sehr, wenn Sie mir kein Herz für Ihr altes Frankreich zutrauen. Auch ich habe es lieb, was mich freilich nicht abhält, auch am neuen viel Geschmack zu finden, gerade wie man Bordeaux und Sekt zugleich lieben kann. Ich bin aber nicht frei, denn ich muß diesen Morgen die Ausstellung im Palazzo Castagna besuchen.«

»Das werden Sie bleiben lassen!« rief der stürmische Edelmann, auf dessen derbem Gesicht eine jener tiefen Verstimmungen erschien, die er sich in Gesellschaft ihm sympathischer Menschen, wie Dorsenne, durch laute Zornesreden vom Herzen schaffte. »Zum Teufel, Sie wären doch im Jahre 1793 auch nicht hingelaufen, um den König schlachten zu sehen? Und es ist fast nicht minder tragisch, daß die alte Behausung Papst Urbans VII., des Nachfolgers von Sixtus V., unter den Hammer kommt. Das ist der Anfang vom Todeskampf einer andern großen Sache, die der römische Adel hieß . . . ich weiß es ja, ich weiß es ja, daß sie alle miteinander nichts Besseres verdient haben! Hätten sie sich auf der Treppe des Vatikans Mann für Mann in Stücke hauen lassen, als die Italiener die Stadt nahmen! Wir – wir hätten's gethan, obwohl wir keine Päpste unter unsern Großonkeln haben, aber wir waren damals auf andern Schlachtfeldern beschäftigt . . . Darum erbarmt es einen aber nicht minder, wenn über einem Palast, der die Geschichte von Jahrhunderten enthält, der Taxator seinen Hammer schwingt. Wenn ich als Fürst Ardea geboren wäre, wenn ich das Blut, das Haus und die Rechte der Castagna geerbt hätte und denken müßte, daß ich von allem, was meine Väter erworben und gesammelt haben, nichts mehr hinterlasse – glauben Sie mir, Dorsenne, ich würde vor Scham sterben! Und wenn Sie bedenken, daß dieser unglückliche Sprößling ein verzogener Junge von achtundzwanzig Jahren ist, ohne Verwandte, ohne Freunde, ohne Berater, nur von Schmeichlern umgeben, daß er sein väterliches Erbe an der Börse verspielt hat, daß all die von Päpsten, Kardinälen, Feldherren und Diplomaten angehäuften Schätze dazu herhalten müssen, verdächtigen Jobbern und gemeinen Geschäftsagenten die Taschen zu füllen, dann, nun dann wird Ihnen die Lust vergehen, sich an diesem kläglichen Abenteuer zu beteiligen und wär's auch nur als Zuschauer . . . Vorwärts also, in die St. Claudiuskirche!«

»Ich sage Ihnen aber, daß ich dort erwartet werde,« entgegnete Dorsenne, sich von dem herrischen Freund losreißend, der seinen Arm umklammert hielt, »und daß es mich sehr ergötzt, auf dem Wege zu diesem Stelldichein gerade Ihnen in die Hände gefallen zu sein. Bei meiner Schrulle für die Gegensätze werde ich diesen Morgen auch nicht zu den verlorenen rechnen. Haben Sie Geduld genug, sich ein Verzeichnis der Gesellschaft, die ich aber dann alsbald aufsuchen muß, vortragen zu lassen? Es wird nicht lange dauern, nur bitte ich, mich nicht zu unterbrechen. Wenn Sie den Schlag, den ich gegen Sie führe, überleben, so können Sie Ihrer Entrüstung ja am Schluß Luft machen!«

»Ach, Sie wollen nicht,« sagte Dorsenne weiter, »daß ich Ihr Rom Kosmopolis nenne, und was werden Sie zu der Gesellschaft sagen, mit der ich in zwanzig Minuten den alten Palast Urbans VII. besuchen will? . . . Wir haben da erstens Ihre schöne Feindin Fanny Hafner samt dem Freiherrnvater, um Holland zu vertreten . . . Bitte, unterbrechen Sie mich nicht! Wir haben da ferner die Gräfin Steno als Vertreterin Venedigs und ihre reizende Tochter Alba, die ein Stückchen Rußland darstellt, denn die Chronik behauptet, daß nicht der selige Steno, sondern Werekiew ihr Vater sei, Andreas Werekiew, wissen Sie, der sich vor fünf oder sechs Jahren in Paris das Leben genommen hat, indem er in wenig standesgemäßer Weise von der Concordienbrücke in die Seine sprang. Dann werden wir einen Maler unter uns haben, den berühmten Lincoln Maitland, der uns Amerika darstellt. Er ist augenblicklich der Geliebte der Steno, die er dem Gorka während dessen Reise nach Polen weggeschnappt hat. Weiter die Frau dieses Malers, Lydia Maitland, und den Bruder dieser Frau, Florent Chapron, die Frankreich, Amerika und Afrika in sich vereinigen, weil ihr Großvater der berühmte Oberst Chapron war, von dem im ›Mémorial‹ die Rede ist und der nach dem Jahre 1813 nach Alabama ging und Pflanzer wurde. Dieser vorurteilslose Haudegen hatte dort von einer Mulattin einen Knaben, den er anerkannt und dem er ich weiß nicht wie viele Dollars hinterlassen hat, daher Lydia und Florent. Unterbrechen Sie mich nicht – ich bin gleich fertig. Zur Vervollständigung haben wir England, und zwar das katholische, mit Polen verheiratete England, in Gestalt der Gräfin Gorka, Boleslavs Frau, und zuguterletzt Paris in Gestalt Ihres gehorsamen Dieners, Herr Marquis. Jetzt werde ich aber den Versuch machen, Sie mit mir zu schleppen, denn wenn Sie, der alte Legitimist, sich unsrer Truppe anschließen wollten, wäre die Sammlung vollständig . . . Kommen Sie mit?«

»Ja, ja, mein armer grauer Kopf, der würde Ihnen gerade noch Spaß machen, das glaub' ich! Und dabei hat er Talent, der Unselige!« rief Montfanon, seinen jungen Freund kritisierend, als ob er gar nicht dabei stünde, »und hat einmal zehn Seiten über Rhodos geschrieben, die eines Chateaubriand würdig wären. Unser Herrgott hat ihm alle seine schönsten Gaben gespendet: Poesie, Geist, geschichtliche Empfindung, und das ist die Gesellschaft, worin er sich gütlich thut! So setzen Sie mir doch ein- für allemal auseinander, welchen Reiz es für einen Mann von Ihrer Bedeutung haben kann, mit diesen mehr oder minder vergoldeten Zigeunern umzugehen, von denen kein einziger an seinem Platz ist, die alle keine Traditionen, kein Heim haben. Ich will von dem Schurken Hafner und seiner Schnurrantin von Tochter nicht mehr reden, denn die sehen Sie nun einmal mit Monsignore Guérillots Augen, obwohl Sie zur Zunft der analysierenden Romanschreiber gehören. Aber diese Gräfin Steno, die ihre vierzig Sommer hinter sich haben muß, eine ganz erwachsene Tochter neben sich hat, sollte die nicht endlich Ruhe geben und anständig und ehrbar in ihrem Palast in Venedig leben, statt hier in Rom eine Art von Wandersalon aufzuschlagen, den die Hochstapler von ganz Europa der Reihe nach abgrasen, und einen Liebhaber nach dem andern zu nehmen, nach dem Russen einen Polen, nach dem Polen diesen Amerikaner? Und dieser Maitland? Weshalb mußte er das einzige ehrenhafte Gefühl verleugnen, das seine Landsleute haben, den Widerwillen gegen das schwarze Blut, der so stark ist, daß kein Zweiter es ihm nachthäte, daß keiner außer ihm ein Mischblut heiraten würde, und wenn sie noch zehn Millionen mehr und ein halbes Dutzend Marschälle von Bonapartes Gnaden in der Familie hätte. Und diese junge Frau selbst, wenn er sie hintergeht, ist's gräßlich, und wenn sie es weiß, ist's zweifach gräßlich! Und diese Gräfin Gorka, diese ehrliche Person, denn dafür halte ich sie und auch für aufrichtig gläubig, die zwei Jahre lang nicht gemerkt hat, daß ihr Mann der Geliebte dieser Steno war, und jetzt wohl ebensowenig merkt, daß Maitland an der Reihe ist! Und diese arme Alba Steno, dieses zwanzigjährige Kind, das man durch diesen Sumpf schleift! Und dieser Florent Chapron, weshalb schreit er nicht Zeter über den Ehebruch seines Schwagers? Ich kenne ihn. Er ist einmal bei mir gewesen wegen eines Denkmals, das er zum Gedächtnis für einen seiner Vettern in der St. Ludwigskirche errichten ließ. Der hat wenigstens Ehrfurcht vor den Toten, das hat mir gefallen. Das ist also auch einer von den Geprellten in dieser trübseligen Komödie, der Sie beiwohnen, Sie, der Sie allen in die Karten sehen, und keine Uebelkeit dabei empfinden.«

»Aber bitte, bitte, darum handelt es sich ja gar nicht, Sie unerträglicher Mensch,« fiel ihm Dorsenne ins Wort. »Sie reden und reden und vergessen ganz, wonach Sie gefragt haben . . . Sie wollten wissen, welches Vergnügen ich an diesem menschlichen Mosaik finde, dessen einzelne Stifte ich Ihnen gezeigt habe. Ich will es Ihnen sagen, aber ich bitte dann, daß Sie die Moral beiseite lassen, wo es sich einzig um künstlerisches Interesse handelt. Ich habe nicht den Ehrgeiz, mich als Richter der Welt aufzuspielen, mein Herr Ritter, ich begnüge mich damit, sie zu betrachten und zu begreifen, und unter allen Schauspielen, die sie bieten kann, ist mir keines bekannt, das anregender, eigenartiger und moderner wäre als dieses, wenn ich in einen Salon trete, an einer Tafel sitze oder in einer Gesellschaft wie meiner heutigen Sehenswürdigkeiten besuche. Sie haben da ein Dutzend Menschen beisammen, die ein und dieselbe Sprache reden, die sich von dem nämlichen Schneider kleiden lassen, die am Morgen die nämliche Zeitung gelesen haben, die gleiche Ansichten und Gefühle zu haben glauben, nur daß diese Personen eben von sehr verschiedenen Punkten der Erde und der Geschichte ausgehen. Wenn man sie nach ihrem Ursprung und ihren ererbten Eigentümlichkeiten studiert, so lernt man ganz allmählich unter dem kosmopolitischen Firnis die Rasse, die unwiderstehliche, die unzerstörbare Rasse unterscheiden. In der sehr eleganten, sehr gebildeten und sehr entgegenkommenden Dame des Hauses, die etwa Gräfin Steno heißt, entdecken Sie die Erbschaft der Dogen, die Patrizierin des fünfzehnten Jahrhunderts mit dem Organismus einer Meereskönigin, einer unvergleichlichen Kraft des Verlangens und einem unerreichbaren Mut der Sittenlosigkeit, während bei einem Florent Chapron oder einer Lydia der ursprüngliche Sklave zu Tage tritt, der Schwarze, der im Bann des Weißen steht, ein Wesen, das von Jahrhunderten aufgerichtete Schranken nicht zu überschreiten vermag. Unter der lächelnden Verbindlichkeit einer Gräfin Gorka dämmert der leidenschaftliche Wahrheitsdrang, der die englischen Puritaner hervorgebracht hat, während unter der künstlerischen Verfeinerung eines Lincoln Maitland die unbesiegbare Kraft und Roheit des Squatters ihre Spuren zeigt, wie in Boleslav Gorka die nervöse Reizbarkeit des Slaven, die Polen zu Grunde gerichtet hat. Diese Grundzüge der Rasse sind bei dem Kulturmenschen, der drei oder vier Sprachen geläufig spricht, der in Paris, in Nizza, in Florenz oder hier das dem Anschein nach so alltägliche, so gleichförmige Leben der großen Welt lebt, kaum wahrnehmbar. Aber lassen Sie die Leidenschaft ihr Scepter führen, lassen Sie den Menschen in seinem tiefsten Innern aufgewühlt werden, dann entstehen Kämpfe der Charaktere, die beinahe Kämpfe der Arten und um so überraschender sind, aus je weiterer Ferne die Menschen kommen, die sich dann Aug' in Auge gegenüber stehen. Dann spielen sich Tragödien ab, die den Winkel eines Salons zum Schauplatz eines Rassenkampfes machen, und deshalb,« schloß er lachend, »habe ich seit sechs Monaten in Rom fast mit keinem Römer verkehrt und mich ausschließlich mit diesen kleinen Gruppen beschäftigt, die Ihnen so gründlich zuwider sind. Die, der ich mich jetzt widme, ist vielleicht die zwanzigste ihrer Art, und ich werde wahrscheinlich noch zwanzig weitere studieren, denn die Zufälligkeit der Zusammensetzung sorgt dafür, daß keine der andern gleich sei. Haben Sie jetzt vielleicht mehr Nachsicht mit mir, nachdem Sie sich Ihrerseits meinen Kopf zugelegt haben und mich verführten, an dieser Straßenecke Abhandlungen zu halten wie ein russischer Romanheld? Jetzt aber guten Tag für heute . . .«

Montfanon war diesem kleinen Vortrag mit einem unbezahlbaren Mienenspiel gefolgt. In der beschaulichen Einsamkeit, worin er seinem Ausspruch nach zu sterben anfing, gab es für ihn nichts Köstlicheres, als Gedankenaustausch und derartigen Streit. Allein er trug immer die ganze Glut eines heiß und leidenschaftlich empfindenden Herzens hinein, und wenn er dann, wie bei Dorsenne, auf halb ironisch betriebene Liebhabereien stieß, so fühlte er sich verletzt, abgestoßen bis zum ernstlichen Schmerz; er konnte vollständig verwirrt werden, um so mehr, weil er einige Anschauungen des Schriftstellers teilte, weil sie gemeinsame Gesichtspunkte hatten und weil beiden Vererbung und Rasse besonders am Herzen lagen. Eine Art verdrießlicher Grimasse zog sein gar zu ausdrucksvolles Gesicht kraus, er schnalzte mit der Zunge, ohne seine Verstimmung verbergen zu wollen, und sagte: »Noch eine Frage – das Ergebnis von all diesem, der Zweck? . . . Wozu führt Sie diese Beobachtung am letzten Ende?«

»Wozu soll sie führen? Zum Verständnis, wie ich Ihnen schon sagte.«

»Und des Weiteren?«

»Es gibt kein Weiteres für den Gedanken,« versetzte der junge Mann. »Das sind Ausschweifungen wie die der andern Leute auch, und das ist nun einmal meine Art . . .«

»Aber unter diesen Menschen,« fuhr Montfanon nach kurzem Besinnen fort, »deren Leben Sie mitansehen, werden doch auch welche sein, die Sie lieben oder die Sie hassen, die Sie schätzen oder die Sie verachten? Haben Sie denn gar keine Vorstellung davon, daß Ihr großer Verstand Ihnen auch Pflichten auferlegt, daß Sie diesen Menschen dazu helfen könnten, besser zu werden?«

»Das ist nun wieder ein andres Kapitel,« sagte Dorsenne, »ein Kapitel, das wir ein andres Mal besprechen wollen, denn ich fürchte wirklich, mich stark zu verspäten. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« sagte der Marquis, sichtlich betrübt darüber, sich von seinem Gegner trennen zu müssen. »Ich weiß eigentlich gar nicht,« setzte er rasch hinzu, »warum ich Sie so gerne habe, denn auch Sie verkörpern ja, bei Licht besehen, eines jener geistigen Laster, vor denen mir graut, die ästhetische Genußsucht, die durch die Schüler Renans in die Mode gebracht wurde und ein ausgesprochenes Merkmal des Verfalls ist. Aber Sie werden davon genesen – ich bin getrost, Sie sind noch so jung!« Dann fuhr er wieder jugendlich und spöttisch fort: »Unterhalten Sie sich recht gut in dieser Maskengarderobe der Vergangenheit: ach, und ich vergaß beinahe, daß ich Ihnen einen Auftrag an ein Mitglied Ihrer Truppe zu geben habe. Wollen Sie dem Grafen Gorka sagen, daß ich das Buch über den polnischen Adel, wonach er mich vor seiner Abreise gefragt hat, glücklich aufgetrieben habe?«

»Gorka? Der ist ja seit drei Monaten Familienangelegenheiten halber in Warschau,« erwiderte Dorsenne. »Ich habe Ihnen doch erzählt, daß ihn diese Abwesenheit sogar seine Geliebte gekostet hat.«

»In Warschau soll er sein? Ich habe ihn heute früh gesehen, wie ich Sie jetzt sehe. Er fuhr in einer Droschke am Tritonenbrunnen vorüber, und hätte ich nicht Eile gehabt, rechtzeitig zu diesem Jakobiner Ribalta zu kommen und den Montluc zu retten, so hätte ich ihn angehalten, so sind wir nur aneinander vorübergeglitten.«

»Sie sind sicher, daß Gorka, Boleslav Gorka, in Rom ist?« fragte Dorsenne eindringlich.

»Was ist denn daran Besonderes?« erwiderte Montfanon in dem leichten Ton von vorhin. »Es ist doch ganz natürlich, daß er's nicht lange fern von einer Stadt aushält, wo er seine Frau und die Geliebte von gestern, von heute oder von morgen hat. Ich denke mir, daß ihr Slave und ihr Angelsachse über veraltete Vorurteile hinweg sind und sich brüderlich in ihre venetianischen Genüsse teilen. Das wäre modern und wahrhaft kosmopolitisch! . . . Also nochmals – auf Wiedersehen! Bestellen Sie ihm meine Botschaft, wenn Sie ihn sehen, und vergessen Sie ja nicht –« sein ehrliches Gesicht verriet wieder kindliche Freude über den Streich, den er einer ihm unangenehmen Person gespielt hatte – »dem Fräulein von Hafner zu sagen, daß ihres Vaters Tochter diesen Band niemals, gar niemals besitzen wird. Der ist nicht für Komödiantinnen und Streberinnen gewachsen, dieser Blasius von Montluc, mein Herr, Montluc, der Mann von Siena und Rabastens.« Frohlockend wie ein Schuljunge, der einen Streich ausführt, drückte er den Band noch kräftiger an sich und wiederholte: »Sie wird ihn nicht bekommen! Haben Sie mich verstanden? Sagen Sie's ihr ja . . . sie wird ihn nie zu sehen bekommen!«



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