Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Sechzehntes Kapitel

Der Schlag

Ein paar Tage später trat Emma bei Reinhart ein. Sie trug ihr Knäblein, den kleinen David, auf den Armen und stellte ihn vor Reinhart hin.

»Kann ich ihn eine Woche oder so bei Ihnen lassen?« sagte sie bettelnd.

»Was haben Sie vor?« Er musterte sie. »Sie haben sich wieder gehen lassen, Sie Arme.«

Sie widersprach nicht. Sie brauchte sich jetzt nicht mehr wegzuwerfen, Reinhart und seine Freunde sorgten für sie und ihr Kind, aber nachdem sie einmal auf die schiefe Bahn geglitten war, zog es sie immer wieder in den Morast hinab. Sie entschloß sich zu einer Beichte: »Ich will mich jetzt bessern, ganz. Dazu muß ich eine Zeitlang fort, hätte ich bei David leben können, ich wäre recht geblieben. Aber seit er mich verschupft hat, kann ich hier nicht mehr stehen. Wer einen Schupf bekommen hat, muß weit rennen, sonst fällt er. Ich will an einen Ort, wo er nicht hinkommt, wo ich ihn nicht sehe oder spüre. Gestern habe ich ihn noch einmal aufgesucht. Er war schrecklich böse. Sehen Sie da! So ist er jetzt!«

Sie hatte unter dem linken Auge einen blauen Fleck. »Die andere hat ihn ganz im Garn. Soll ich da nicht von hier verschwinden? Und gelt, Sie sorgen für das Büblein, so lange ich fort bin? Versprechen sie es mir in die Hand, so kann ich ruhig ein bißchen weggehen.«

Er tat es.

Es war das letztemal, daß er sie sah. Am folgenden Morgen fand man ihren zerschmetterten Körper auf dem Bahndamm unweit der Stadt.

Wie es kam, daß David vernahm, sein Knäblein sei bei Reinhart, blieb dunkel. Eines Abends brach er bei Reinhart ein und forderte sein Kind heraus. Hatte Emmas Ende den Vater in ihm geweckt? Oder war es ihm bloß unerträglich, daß sein Fleisch und Blut von dem geformt werden sollte, den er am tiefsten haßte? Reinhart widersetzte sich seinem Begehren in der Erinnerung an das Versprechen, das er Emma gegeben hatte, worauf sich ein heftiger Kampf um den Knaben entspann. Reinhart und Joseph mußten ihn fast mit den Fäusten gegen den wütenden verteidigen. Grollend zog David ab. Er wollte hierauf sein vermeintliches Recht durch das Gericht erzwingen, da aber der Knabe außerehelich geboren und von David nie öffentlich anerkannt, ja, samt der Mutter verstoßen worden war, wurde die Klage abgewiesen.

Durch diese Ereignisse war Imma in Reinharts Gedanken zurückgetrieben worden. Es waren Wochen verstrichen, seit er mit ihr den Fluchtplan besprochen hatte, und nie war von ihr ein Zeichen gekommen. Da beschloß er endlich, nach ihr zu sehen. Die Salpetergasse war ein enger, lichtscheuer Schlauch, das Haus Nr. 6, in dem sie wohnte, das dumpfste von allen. Reinhart entdeckte im Erdgeschoß Klas durch das offene Fenster. Der Unheimliche sah ihn auch. Er stieß seinen wirren Kopf hervor und starrte Reinhart, ohne etwas zu sagen, grimmig an.

Ein paar Tage später erhielt Reinhart ein Wort von Imma: Er solle nicht wieder kommen. Klas sei schrecklich aufgebracht und zu allem imstande. Sobald die Gelegenheit gekommen sei, werde sie ihn rufen.

Es kamen die weltgeschichtlich gewordenen schwülen Tage zwischen Juli und August 1914. Das Wort Krieg flammte jäh über der Welt auf, es war aus einem Schemen über Nacht zu einer Weltfackel geworden. Die Menschen waren wie vom Fieber befallen, sie verschlangen die Zeitungen und fielen über die angeschlagenen Depeschen her, man dachte nicht mehr ans Arbeiten, man schlief mit beklommener Brust und wachte an einem Nachtmahr auf. Auch Reinhart war zu keiner Arbeit fähig. Irrte er nicht in den Straßen oder im Wald umher, so saß er mit trockener Feder vor seinem angefangenen Buch und stierte in die Zukunft. Nun wird die Menschheit in den ungeheuren Schmelzofen geworfen und ausgeglüht, werden sich alle die Metalle zu einer großen Regierung, zu einer Brüderschaft verbinden? Zusammenguß der Menschen und Zusammenguß der Völker? Oder wird einst das alte Chaos aus dem Stiche fließen?

Die gleiche Post warf Reinhart zwei Billette auf den Tisch. Das eine lautete: »Lieber Freund! Übermorgen werde ich aus der Zelle entlassen. Komm und führe mich! Ich weiß nicht, wie ich den Weg finden soll. Dein Benedikt Reichling.«

Das andere war von Imma. Sie bestellte ihn auf den folgenden Tag.

Am Morgen setzte sich Reinhart in ein Automobil und fuhr in die Salpetergasse. Er fand Imma allein. Sie saß haltlos auf einem Stuhl und schien geweint zu haben. »Ich komme nicht, ich kann es nicht, ich bin ein willenloses Geschöpf!« klagte sie. Er faßte sie bei der Hand, sie sperrte sich wie ein störrisches Kind. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie auf den Armen zum Wagen zu tragen. Erst als er mit ihr in der Eisenbahn saß, sah er, wie schlimm es um sie stand. Der Tod schaute ihr nun unverhohlen aus den Augen. Sie fing, als der Zug sie der Stadt und Klas entführte, wieder zu weinen an, vor Glück diesmal, versicherte sie ohne Überzeugung. Sie mochte es selbst nicht recht wissen.

Die Fahrt war traurig und schien endlos.

Sie fanden Enzio im Garten. Er schaute ohne Erregung auf und sagte: »Du kommst zurück, mein gutes Kind.« Sie fiel ihm um den Hals und schluchzte. Er hatte ihren Zustand gleich erkannt und ließ sich gütig vernehmen: »Fasse dich, Immchen, wir haben jetzt nichts mehr zu tun, als einander zu verzeihen und der großen Wandlung entgegenzugehen.« So sanft sie klangen, diese Worte empörten Reinhart, er hätte nicht genau sagen können, warum. Um seinen Unwillen nicht schnellen zu lassen, fing er von der Kriegsgefahr zu reden an. Enzio winkte mit der Hand gleichmütig ab. »Samsara! Krieg ist immer unter den Unerlösten.« Nun platzte Reinhart doch ungeschickt und vierschrötig heraus: »O, Sie mit Ihrem sanften Gift! Sie haben sich eine Seele aufgeladen und ahnen es nicht!« Er preßte Imma die Hand und entrann: »Bleib bei mir,« stöhnte sie ihm nach. »Laß ihn seinem Stern!« beruhigte sie Enzio. Reinhart rannte wie von Sinnen.

Auf der Rückfahrt fand er alle Brücken, Straßenübergänge und Tunnels von Landsturmtruppen besetzt. Der Krieg war zur Gewißheit geworden. Überall lauerten Bajonettspitzen. Der Zug, der am Morgen noch sorglos dahingebraust war, schlich jetzt vorsichtig und mißtrauisch seine Bahn. Im Wagen war wirres Hin- und Herreden, Mutmaßen und Prophezeien, mitunter auch frivoles Scherzen und Prahlen. Eine junge deutsche Frau weinte still vor sich hin, während ihr Mann, offenbar ein Reserveoffizier, einem ältern Herrn auseinandersetzte, daß von den Sozialisten kein Unrat zu befürchten sei, da sie sich im Grunde mit Haut und Haar dem Staat verschrieben hätten, so unabhängig und regierungsfeindlich sie sich auch gebürdeten. Nur zwei oder drei von denen, die im Wagen saßen, schienen zu fassen, daß die Menschheit in diesen Stunden auf die Wage gelegt wurde.

Reinhart, von dem hohlen Geschwätz seines Nachbars angewidert, blickte ins Land hinaus, das heute so groß und still atmete, so friedsam und fruchtbar sich dehnte, wie gestern und ehegestern. Wie liebte er dieses Land und sein Volk von Kindheit an! Aber jetzt wußte er, daß das Volk krank war wie alle andern. Es hatte sich einst in einer entschlossenen Stunde aus dem Welthader zurückgezogen und den leidenschaftlich geliebten Krieg abgetan. Aber da kam ein neuer Dämon und mit ihm eine neue Art Krieg in die Welt, nicht mit klirrenden Waffen, aber mit lockendem, klingendem Firlefanz, und ihm unterlag es wie die ganze flittergierige Welt ringsum. »Es ist voller Schwären, die nun aufbrechen werden, wird es die Krisis überstehen? Oder wird es vereitern? Es wird zerfallen, wenn es nicht, wie vor vierhundert Jahren, einen Ruck der Gesundung vollbringt, wenn es sich kein Banner aufsteckt, das von seinen Firnen mit einem eigenen Glanz über die Welt leuchtet. Alles Große entstand auf dem Boden eines Vaterlandes, aus einem Volkskörper, und nicht in der Verschwommenheit irgendeiner Zwischenstaatlichkeit. Aus dieser Erkenntnis heraus ist die Schweiz zu retten und mit ihr die Wiege für irgend etwas Großes oder einen Großen.«

So sann Reinhart und erträumte sich ein Volk, das der Welt ein Menschlichkeitsideal vorbildete wie einst ein Freiheitsideal, und das als Keimzelle im großen Organismus aller wirkte.

Es war tief in der Nacht, als der Zug sich in den Bahnhof tastete. Kaum vermochte Reinhart sich durch die Hallen zu drängen. Alle Fremden flohen aus den Kurorten ihrer Heimat zu, wie vom Sperber verfolgte Schwalben ihrem Nest. Überall lagen Kisten und Koffer in den Gängen aufgeschichtet, Zu Hunderten und Tausenden, zu Bergen, und die Reisenden schoben sich hin und her, schrien sich an, gebärdeten sich wie toll, alle schon im Kriegswahnsinn. Der Bahnhof glich einem Haus für Tobsüchtige, das die Wärter verlassen hatten.

Plötzlich erhob sich jemand vor Reinhart von einem Koffer. »Welch ein Glücksfall, daß du kommst!« wurde er angerufen. Er brauchte geraume Zeit, um sich zurecht zu finden.

Er war noch draußen mit seinem Land. »Jutta, du bist's! Wie denn? Wieso denn?«

Sie beachtete seine Verwirrung gar nicht. »Hast du ihn nirgends gesehen? Er ging fort, um die Fahrkarten zu lösen und nun warte ich schon bald eine halbe Stunde. Ist es nicht schrecklich? Er muß einrücken, telegraphisch aufgeboten. Ich begleite ihn bis zur Grenze. Oh, wie' entsetzlich das alles ist!«

In Reinhart dämmerte es langsam auf. »Von wem sprichst du? Von ...?

»Ei ja doch, von meinem Bräutigam. Aber freilich, du weißt es ja nicht. Ich bin doch mit Helmut verlobt. Ich hätte dir geschrieben, aber niemand wollte deine Adresse kennen. Du sollst ja ganz rot geworden sein! Gruselig!« So sprudelte sie. Dann auf einmal geschäftlich, kalt, wie sie sein konnte: »Hör', my dear, du könntest mir einen großen Dienst erweisen! Ich sehe, daß du kein Gepäck hast, würdest du mir nicht diesen Koffer ein paar Minuten hüten? Ich gehe zum Schalter, um nach Helmut zu sehen. Gelt?« Fort war sie.

Reinhart war wie damals, als ihn Geierling mit dem Rakett über den Kopf geschlagen hatte. Er taumelte, er mußte sich wiederholen: »Also Jutta hat sich mit Helmut Geierling verlobt in aller Form und begleitet ihn jetzt zur Grenze. Und mich hat sie hier aufgepflanzt, um seine Reisetasche zu hüten.« Reinhart wußte ja schon lange, daß es aus war, aber seine Seele war doch all die hundert Traumnächte um Jutta geschlichen, wie ein verlorener Geist, und hatte um Erlösung und Seligkeit gebettelt. Er sah die beiden daherkommen. Jutta ging voran. Er grüßte sie, als sie nahe war, mit dem Hut, und wollte davonstürzen. Aber es drehte ihn nochmals zurück, er trat auf sie zu und reichte ihr die Hand. Geierling beachtete er nicht.

Beim Ausgang wurde er angehalten. Er sah aus sich heraus. Es war Klas, der ihm aufgelauert haben mochte: »Sie haben Imma heimgeschafft?«

Reinhart antwortete wie im Traum: »Ja, ja, 's wird schon sein.«

»Komm, Knabe,« fauchte Klas und verstellte ihm wieder den Weg, »wir machen es grad' aus, da, in den Anlagen.«

Reinhart machte sich los, was war ihm dieser Klas und seine Verrücktheit! Er schritt wieder dem Innern des Bahnhofes zu, um durch einen zweiten Ausgang das Freie zu erreichen. Er merkte, daß ihm Klas, so rasch das Gedränge es erlaubte, folgte. Beim Nebenausgang stieß er auf David und Faustulus, die sich an einen Pfeiler anlehnten, wie sie ihn gewahrten, strafften sie sich. Reinhart fühlte den drohenden Anschlag, aber so, wie man in der geballten Wetterwolke den Blitz fühlt: ohne eigentlichen Bezug auf sich selber.

»Also Jutta ist Geierlings Braut!« Dieser Gedanke nahm ihm alle Klarheit und Besinnung. Er taumelte davon. An die Verfolger dachte er schon nicht mehr. Auf der Brücke, die über den Bergfluß führt, lehnte einer am Geländer und wünschte ihm überlaut einen guten Abend. Reinhart erkannte den Totengräber Unold. »Aha,« dachte er, »der ist also auch im Komplott und auf dem Anstand.« Er hörte wie im Traum die Schritte der andern drei hinter sich hertappen.

»Gehen wir zusammen,« redete ihn der Totengräber an, »man hat doch den gleichen Heimweg.«

Reinhart kam der Gedanke: »Wenn sie mich lahm schlagen, kann ich Benedikt morgen nicht abholen.« Er steuerte schief nach der andern Seite der Brücke hinüber. Es waren in dieser Gegend nicht mehr viele Menschen auf der Straße, alles Leben war beim Bahnhof zusammengeströmt. Aber die einzelnen Fußgänger, so spärlich sie waren, verhinderten die vier Verwegenen doch an einer Gewalttat. »Wenn ich einen Bekannten antreffe, bin ich gerettet. Ich muß doch morgen den armen Benedikt abholen.« Er schlug eine Straße ein, in der noch einige Schatten wandelten. Auf einmal sah er David und Klas vor sich. Sie hatten durch eine Parallelstraße einen Vorsprung gewonnen. Er trat in eine Wirtschaft ein. Sie folgten ihm nicht. Der Raum war fast leer, von Rauch wie von Traumluft erfüllt. Reinhart sann: »Sie fährt mit ihm dem Rhein zu. Beim Abschied wirft sie sich ihm an den Hals und weint und bittet ihn, gesund und munter zu bleiben und ja recht oft zu schreiben, sie werde es auch tun.« Er erinnerte sich an den Eislauf auf dem See, in der ersten Zeit, als sie noch ein Kind war. »Nun sitzt sie ihm gegenüber und drückt ihm die Hand. Eine Träne zittert unter ihren langen Wimpern. Sie denkt: Es traf sich doch glücklich, daß mir im Bahnhof gleich der Dienstmann Reinhart entgegen kam.«

Die Kellnerin stellte ein Glas Bier vor Reinhart hin. Er bemerkte, daß das Glas einen Sprung hatte und dachte: »Es wird noch heute zu den Scherben geworfen werden.« Plötzlich stieg es wie Todesahnung vor ihm auf: »Wenn mein Leben jetzt zerspränge, was bliebe davon übrig? Ein paar Scherben wie von dem Glas. Und das jetzt, da die Menschheit neu gegossen wird!« Er erinnerte sich an die hoffnungsvolle Sternennacht, oben auf dem Berggrat. Er sehnte jene Stunde nochmals herab. Er schloß die Augen und suchte aus der Umwelt zu scheiden, wie einst am Ufer des Flusses neben Enzio, und es erwachte wie ein tiefer Gesang in ihm: »Oh Leben, du herrlicher Strom, ich liebte dich viel zu wenig, ich liebte dich falsch, drum verrannst du mir. Oh Welt, du Kleid des Geistes, ich liebte dich viel zu wenig, ich liebte dich falsch, drum schwand ich aus dir heraus! Oh Mensch, du Brennpunkt der Welt, ich liebte dich viel zu wenig, ich liebte dich falsch, drum stießest du mich ab! Oh Liebe, du Abglanz des Ewigen, ich liebte in dir mein eigenes Glück, drum konnte ich dich nicht halten! All mein Tun war eitel Stückwerk, all mein Wollen und mein Herz zu schwach. Ich muß neu beginnen! Ich würde jetzt alles besser begreifen, stärker angreifen! Ich muß ein Handlanger sein der neuen Zeit! Ich sehe alles ganz genau: wir sind in einer großen Wassersnot: wer auf dem Trockenen ist, muß in die Flut springen und die Ertrinkenden retten, nicht aber mit einer Stange auf ihre Köpfe schlagen. So lange nicht jeder sich hindrängt, die andern auf das Feste zu ziehen, ertrinken alle. Und wir müssen auch den Geist der Welt retten. Denn auch er ist am Ertrinken.« Reinhart sah die große Not vor sich: Im Morast schwamm der Geist und um ihn patschten die Menschlein. Die einen stießen ihn, andere klammerten sich hilfesuchend und selbstsüchtig an ihn, und alle wirkten zusammen, ihn immer tiefer hinabzuzerren. Da rief endlich einer: »Wir müssen den Geist retten, so wird er auch uns retten!« Sie horchten auf. Einige legten Hand an, andere folgten nach. Und nun mühte sich ein jeder nicht mehr um sich selber, sondern um den Geist, und der vereinte Wille aller zog ihn langsam empor. Jeder wurde eine kleine Säule für ihn, und er aller Obdach und zugleich Herrscher. Er leitete ihre Kräfte, ihren guten Willen, ihr Gewissen nach einem gütigen Plan, und sie erwiesen sich stark genug, alles Böse, alles Elend niederzuhalten. Das alles schien so einleuchtend und naturgemäß, wie daß die Sonne den Tag bringt. Das war die Erlösung der Menschen.

»Bitte, zahlen,« tönte es neben Reinhart, »wir sind hier nicht fürs Schlafen eingerichtet. Das Nachtasyl ist ein paar Straßen weiter.« Es war der Wirt, der schließen wollte. Reinhart trat wieder in die Nacht hinaus und bog nach links in der Richtung des Hauses zur Hoffnung. Im Gehen sann er seiner Rettungsträumerei nach. »Ich war immer ein vortrefflicher Retter! Die Mutter und Küngold, Paula und Jutta! Jutta!« Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, wie konnte er ihr zürnen! Sie war ihm auf den Weg gesandt, daß er sie rette, aber er hatte den starken Ruf nicht gefunden und war um sie herumgegangen, wie ein blasser Traum um den Schläfer. Nicht sie war in seiner Schuld, sondern er in der ihrigen. Das wollte er ihr schreiben, gleich folgenden Tages.

Er hörte Schritte hinter sich. Da war wieder Klas mit seinen Verschworenen. Sie hatten ihren Anschlag also nicht aufgegeben. »Soll ich mich retten? Sich selber retten hat doch keinen Sinn!« sagte sich Reinhart, immer noch halb in seine Träumerei versponnen. »Aber was wird dann aus Benedikt und dem kleinen David und meinem Buch und meinem Handlangertum an der neuen Zeit?« Er mußte verkünden, was er im Wirtschaftsrauch gesehen hatte, das sollte seine Botschaft sein: »Die Menschen müssen Gott retten, sonst ertrinken sie.« Er wollte das Buch »Rettung« oder »Himmelsschlüssel« taufen, ja, »Himmelsschlüssel«. Er beschloß, ins Nachtasyl einzutreten und dort bei Mauderli zu warten, bis die Kerle sich verzogen hätten. Dort war es schon. Dann wollte er noch vor dem Morgen die neuen großen Sätze bauen.

Die Verfolger waren nun dicht hinter ihm, sie mußten eine Strecke gerannt sein. Oder war er in seinem Sinnen still gestanden? Er fühlte es: es gab kein Entrinnen mehr. »Ich muß mich wehren, ich will ihm ins Auge sehen, er soll es wagen, mein neues Leben und mein Handlangertum zu erschlagen, bevor ich sie begonnen habe. Und Benedikt!« Es leuchtete in ihm auf: »Ja, Benedikt! Wenn jeder Gutwillige nur einem hilft, so ist der Menschheit geholfen!« Er wandte sich entschlossen um. Statt Klas, wie er erwartet hatte, stand David vor ihm, die andern waren ein paar Schritte zurück. In Davids Hand glänzte etwas. Gegen Klas hätte sich Reinhart verteidigt, jetzt stand er wie gebannt da.

»Du hast die Gewalt verhöhnt, jetzt frißt sie dich!« schnaufte David und schwang die Faust mit dem Schlagring. Reinhart flammte es im Kopf auf wie ein ungeheurer Brand, und er stürzte hin.

Als er aus der Betäubung erwachte, beugten sich zwei Salutisten über ihn. »Gott sei Dank, da sind Sie ja wieder in dieser Welt!« Es war die Stimme Mauderlis. »Sie müssen nun gleich ins Spital, wir telephonieren.«

»Nein, heim,« ächzte Reinhart.

»Wohin heim? Nach dem Haus beim Friedhof?«

»Nein, nach dem Golster. Heim! Heim!«

Ein Arzt kam und machte einen Notverband. Mauderli fragte ihn, ob Reinhart die Fahrt nach dem Golsterhof ertragen würde. Der Arzt zuckte mit den Achseln. Als aber Reinhart wieder seine Bitte stöhnte, meinte er: »Wenn man ganz langsam fährt ...«

Der Morgen graute, als das Auto aus den Golsterhof einschwenkte. Reinhart hatte auf der Fahrt zu fiebern begonnen und war nun wieder besinnungslos.


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