Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

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Achtes Kapitel

Und alles, was er blies, das war verlor'n

Vom Konzertplatz schritt Reinhart mißmutig am Seeufer hin. Ein Mann lehnte sich über das Geländer und träumte in das Wellenspiel.

»Guten Tag, Onkel Melchior!«

»Ei sieh, das ist ja der junge Vetter! Ei sieh, ei sieh!«

Sie gingen nebeneinander her. »Wie hast du gestimmt, Onkel?« wunderte Reinhart, um mit etwas zu beginnen.

»Wie Ferdinand,« gab Melchior ruhig zur Antwort. »Ich stimme immer wie er.«

»Wieso? Wie weißt du denn ...?«

»Ich halte doch meine Zeitung und erfahre daraus seine Meinung. Du lachst? Sieh, ich lese die Gesetze auch und begreife sie auch halb, du verstehst, das grobe Garn, das feinere entschlüpft mir, ich bin kein Politiker, Ferdinand hat mir alles vorweggenommen. Drum stelle ich auf ihn ab, das ist so ein kleiner Kniff von mir. Sag es ihm aber nicht, sonst bildet er sich etwas darauf ein!« Melchior kicherte in seinen Bart und klopfte Reinhart auf die Schulter. Sobald Reinhart mit Onkel Melchior zusammen war, ging ihm das Herz auf, er wußte nicht wie. War es das Auge der Großmutter? War es das alte Golsterblut? »Ich komme heute Abend zu euch,« sagte er mit einer raschen Wendung.

»Hast dich lang besonnen,« warf ihm Melchior von der Seite zu.

»Ja, ja, ich weiß, ich verpasse immer die rechte Stunde. Sei nicht richterlich. Ich esse also bei euch.«

Melchior blieb stehen. »Essen? Essen wohl nicht, Vettermann! Verstehst du, es geht bei uns handlangermäßig einfach zu. Man ist für derlei nicht eingerichtet.«

Es fiel Reinhart nicht leicht, dieses Bedenken bei Seite zu schieben. Aber als er gestand, er möchte diesen Abend lieber mit den Ratten, als in der ›Seewarte‹ speisen, gab Melchior nach.

Am Abend empfing ihn der Onkel schon unten auf der Straße und führte ihn hinauf in ein kleines sauberes Stübchen. Aus der Küche trippelte eine winzige, ganz graue Frau in weißer Schürze herein und grüßte den Gast schüchtern errötend, fast wie ein Kind. Sie schien etwas älter zu sein als Melchior und wurde von ihm Bethli genannt, sie war Näherin gewesen, drüben in der Miesmatt, der Heimat der Holzer, und war Melchior in die Stadt gefolgt, natürlich gegen den Willen ihrer Eltern. Sie suchte sich augenscheinlich in dem Haus zum Schatten zu machen, und flocht, wie Reinhart gleich bemerkte, in ihre übergroße Bescheidenheit nur ein ganz kleines Zipfelchen Eitelkeit, indem sie nämlich ihr dichtes Haar über den Schläfen in kunstvolle Schnecken legte, eine zirkelgenau wie die andere, vielleicht heute etwas sorglicher als sonst, dem Vetter zulieb. Sie trippelte wieder in die Küche. Melchior nötigte Reinhart in einen altväterischen Armstuhl und machte sich dann daran, eine Flasche zu öffnen, worin er offenbar ein Anfänger war. Ein Stück des Zapfens verschwand in die Flasche. »So schwimm!« meinte Melchior trocken, und die Sache war gut. Bethli erschien wieder, schwer beladen. Man setzte sich. Es ging durchaus nicht handlangermäßig einfach zu. Die beiden Leutchen hatten alles aufgeboten, um ihrem Gast Ehre anzutun. Bethli war in großer Sorge, es möchte ihm nicht munden. Er sei es gewiß besser gewöhnt? Melchior erhob sein Glas und wartete mit einem kleinen Trinkspruch auf, etwas unklar im Ausdruck, aber deutlich in der Gutherzigkeit. Es war wohl die erste Rede in seinem Leben. Seine Augen leuchteten, seine Lippen und Wangen lächelten, und sein Kragenbart ging weidlich auf und ab, es wäre alles etwas lächerlich gewesen, wenn die Aufrichtigkeit nicht ergriffen hätte. Bethli schien stolz auf seine Redekunst, stolz auch, einmal einen Gast und Verwandten bei sich zu haben, und das Lob, das Reinhart ihrer Kochkunst zollte, ging ihr zu einer roten Freudenblume auf. Man plauderte, von ›drüben‹ natürlich, lang, mit heimwehsüchtigen, nur halb ausgesprochenen Worten. Dann erzählte Melchior aus seinem und Bethlis Leben, von einer ganzen Kette von Mißgeschicken und Unglück. Zwischen hinein seufzte Bethli: »Warum mußte das alles über den Melcher kommen, Vetter? Womit hat er es verdient?« Sie sprach nie von sich und ihrer Last, sie konnte wohl gar nicht ernstlich an sich denken, abgesehen vielleicht von dem wichtigen Augenblick, da sie ihre Haarschnecken über die Schläfen ringelte. »Ach ja,« berichtete Melchior, »wenn's einem Pärlein bestimmt ist, durch's Leben zu hinken, so sieht man's gleich nach den ersten Schritten.« Mit einem Hausbrand fing's bei den zweien an, sieben Wochen nach der Hochzeit, ehe etwas versichert war. Wer denkt auch gleich ans Schlimmste? Das Jahr darauf Bethlis lange Krankheit, dann für Melchior eine verdienstlose Zeit, fast einen ganzen kalten Winter lang, kaum daß er ein paar Tage Schnee schaufeln konnte; dann der Krach einer Sparkasse, dann Melchers Beinbruch, der ihm für's ganze Leben zum Wettervogel werden sollte. Und als Schwerstes der Weggang der beiden Kinder. Es waren Mädchen, ein Jahr auseinander, und ein Jahr auseinander vergingen sie, an der gleichen Krankheit, der Miethauskrankheit, mit achtzehn Jahren, erwürgte Schönheit und Hoffnung und Elternfreude. Nicht einmal Bilder besaßen sie von ihnen, der zum Photographieren nötige Überfluß war nie vorhanden gewesen, oder man meinte, ihn nicht zu haben. Das Unglück macht ängstlich. Und so ward es zu spät. Melchior erzählte das ruhig, sachlich wie fremdes Erleben. Nur die Worte, die Bethli etwa hineinfädelte, verbanden das Geschehen mit dem Erzähler.

»Ja, warum geht man in die Stadt?« Mit dieser Frage schloß Melchior seinen Bericht.

»Man ist gegangen und muß es tragen,« tröstete Bethli tapfer. Ihren Kummer weinte sie aus, wenn sie allein war.

»Ich will doch noch einmal in Ehren auf dem Golsterhof erscheinen,« beteuerte Melchior; man wußte nicht, sprach er so, um seine Landflucht zu rechtfertigen, oder um Bethli und sich selber Mut zu machen.

»Ich hol' dir die Flöte wieder einmal aus der Kommode, sonst werden wir noch traurig,« schlug die kleine Frau vor und zog, ohne Melchers Zustimmung abzuwarten, das Instrument ans Licht. Er zögerte, klapperte auf dem Tastenwerk, wie um die knotigen Arbeiterfinger auf ihre Gelenkigkeit zu prüfen, und setzte endlich zu einem Volkslied an. Bald war er im Zug, sein Geist war fern, hinter allem Unglück und Erdenleid, in der Heimat, in der Jugend, in der Seligkeit, ›Im schönsten Wiesengrunde‹. Beim dritten Lied stimmte Bethli ein. Er überließ ihr die erste Stimme und blies leise gedämpft die zweite. Sie sang mit einer kleinen, aber klaren und hohen Stimme, ohne alle Kunst, wie die Mädchen auf dem Lande singen, in Spinnstuben und auf Spaziergängen, die Frühlingshecken entlang, am Bach, am Wiesenrain, wenn die Schlüsselblumen blühen. Nach einiger Zeit war ihr Hals müde. Melcher blies weltverloren weiter, auf seinem Gesicht und in seinen Augen lebten die Seelen der Lieder auf, die er spielte. Sein Herz zerschmolz ganz in den Weisen. Zuletzt setzte auch Bethli wieder ein, von seiner Liederlust mitgezogen.

»Es blies ein Jäger wohl in sein Horn,
Und alles, was er blies, das war verlor'n ...«

Melchior brach plötzlich ab, Bethli sang noch ein paar Noten weiter und schwieg dann auch, verwundert, was war denn?

»Und alles, was er blies, das war verlor'n, verloren, verloren –« sprach Melchior tonlos, und seine Augen wurden verschleiert. Bethli löste ihm sanft die Flöte aus der krampfhaft geschlossenen Hand und strich ihm über die Stirne, wie eine Mutter ihrem Kind, auch ihr zitterte eine Träne über die Wange. Reinhart nahm rasch Abschied.

Von der Straße blickte er nochmals zu dem Fenster hinauf, hinter dem eben noch die Flöte gejubelt, geklagt, geschluchzt hatte. Ihm war, er habe ein seltenes Glück erfahren, wie anders war da die Lust als bei Holzers, als in der ›Seewarte‹. Fast wie im Märchen! Er hatte in den Lebenskampf zweier armen, tapferen, weltfremden Menschen geschaut und sich daran erbaut, wie der Leser sich etwa an einem romantischen Buche aufrichtet. Das Leid der beiden, ihre Not und Wurzellosigkeit und Tapferkeit erschienen ihm wie etwas Heiliges, für diese Welt zu Gutes. Melchior und Bethli hatten ihr Leben ungeschickt angefaßt und sich doch zusammen ein Thrönlein erbaut, und darauf ein großes reines Glück gesetzt, ohne es zu ahnen.

Reinhart kam bei einer Redaktion vorbei. Es war davor viel Volk versammelt, die Ergebnisse der Abstimmung wurden, wie sie einliefen, auf Leinwandschirme hingeworfen und beifällig oder mißtönig aufgenommen, je nachdem. Eben leuchtete Ferdinands Stimmenzahl auf, er stand an der Spitze der Gewählten, wie zu erwarten war. Es ging in der lauen Sommernacht wie ein frostiger Schauer durch Reinhart.

Zu Hause angelangt warf er ein paar Worte an Paula zu Papier. Als er den Brief nochmals überflog, klangen ihm die Worte ins Ohr: »Und alles was er blies, das war verlor'n.«


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