Jakob Boßhart
Ein Rufer in der Wüste
Jakob Boßhart

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Ein Festtag

Die Stadt war beflaggt, von den Kirchtürmen, in allen Straßen, aus allen Häusern wehten Fahnen, die Gasthäuser und Bierwirtschaften taten es allen zuvor. Die Landes- und Standesfarben flatterten lustig durcheinander, Rot, Blau und Weiß führten die Herrschaft. Menschen strömten sonntäglich bunt durch die Gassen und Straßen, alle in gleicher Richtung. Eine Blechmusik schleuderte ihre Töne in die Morgenluft. Das Messing der Instrumente zersplitterte die Sonne und blitzte blendende Strahlenbündel in das Volk. Hinter der Musik schritt ein langer Schützenzug, sechs, sieben Vereine aneinander gereiht, mit umgehängtem Gewehr. Jedem trug eine mittelalterliche Prachtgestalt eine Fahne voraus.

Die Stadt war in diesen Tagen das Herz des ganzen Landes. Es wurde eines der großen vaterländischen Schützenfeste gefeiert, die der Stolz jedes Schweizers sind. Sängerfeste und Turnfeste sind auch eine allgemeine Landesfreude, auch an ihnen erheben sich die Gemüter, auch zu ihnen strömt, was immer nur kann, herbei. Die Schützenfeste aber sind seit der Staatserneuerung vaterländische Anlässe im höchsten Sinn.

Es war ein Sonntag, der Hauptfesttag. Reinhart zog es auch zum Festplatz hinaus. Er hoffte, die allgemeine Freude werde auch ihn für ein paar Stunden auf ihre Flügel nehmen, er hoffte auf ein Wort, das ihn aus der Gedrücktheit des Alltags befreite. Er hatte auf dem Weg seine Lust an dem Geflatter der Flaggen und dem Klatschen der großen Fahnen, die auf einzelnen Häusern vom Ostwind wie Peitschen geschwungen wurden. Wahrhaftig, alles war auf Freude gestimmt, die Menschen, die Häuser, die Bäume in den Alleen, die Luft, der Wind, die Julisonne. Die mächtige Festhalle war von Fähnchen ganz gespickt und glich einem buntfarbigen Lustwäldchen, in dem kraftüberströmendes Trompetengeschmetter alle menschlichen Stimmen überwältigte.

Auf der Rednerbühne stand Ferdinand, breit, wuchtig, gebieterisch. »Liebwerte Miteidgenossen!« Es klang wie ein Trompetensignal. Es wurde still, alle blickten nach dem im ganzen Lande bekannten Volksführer. Er sprach in kurzen Sätzen, mit gedrungenen, geballten Worten, mit kurzen Pausen nach jedem Gedanken. Nach und nach wurde er erregter, von innerer Leidenschaft aufgerührt, in Brand gesetzt, die Sätze dehnten sich. Auch das kleinste Geräusch in der Halle verstummte. Er sprach als Soldat, von der Bedeutung der Schützenfeste für den Schutz des Vaterlandes, er rief die längst dahingegangenen Geschlechter auf, jene, die bei Morgarten, Laupen, Sempach, Grandson und Murten, bei Darnach und Marignano gefochten und geblutet hatten, bis zu den verzweifelten, heldenmütigen Herzen, die ihr Blut bei Neuenegg, an der Schindellegi und in Unterwalden verströmt hatten. Er sprach von der Gefahr, die durch die unablässigen Kriegsrüstungen aller Nachbarländer immer bedrohlicher sich jenseits unserer Grenzen erhebe und zur Wachsamkeit mahne. Er gab der Hoffnung Worte, daß die Generation, der jetzt die Abwehr des Feindes anvertraut wäre, im Falle der Not sich vor das Vaterland stellen würde wie die Helden von St. Jakob. Als er sein Hoch ausbrachte, das einer einigen, wehrhaften, ihrer Tradition treu bleibenden Schweiz galt, brauste ihm die gedrängt gefüllte Halle wie Sturm entgegen, und man hörte fast, wie in den Seelen sich das Gelübde schmiedete, dem Vaterlande Treue zu halten bis zum letzten Atemzug. Auch Reinhart war ergriffen und fühlte sich in diesem Augenblicke mit dem Vater verbunden.

Während die Musik das wuchtig losstampfende Sempacherlied blies, stieg ein anderer Redner, der Vertreter der eben angekommenen Gäste, auf die Tribüne und überbrachte der Feststadt den vaterländischen Gruß seines Kantons. Der Sprecher war ein Industrieller und fand seine ganze Beredsamkeit erst, als er auf den wirtschaftlichen Zustand der Schweiz zu sprechen kam. Er schilderte, was er in den Morgenstunden dieses Tages auf der Fahrt durch das Land gesehen hatte: fruchtgesegnete, der Sichel und der Sense entgegenreifende Felder, blühende Ortschaften, im Obstbaumkranz, Städtchen und Städte mit alten, ehrwürdigen Kirchen und neuen von Betriebsamkeit strotzenden Quartieren, mit Schulhäusern, die wie Paläste dastanden und Zeugnis ablegten von dem Bildungseifer des ganzen Volkes, die unserer Industrie und unserem Handel tüchtige Kräfte lieferten und von unschätzbarem Nutzen seien. Bei fast allen Ortschaften große aufs Beste eingerichtete Fabrikanlagen, an den Wasserläufen Kraftwerke, zum Teil vollendet, zum, Teil im Bau, auf den Höhen einladende Gasthäuser, die Bahnhöfe übervoll von Gütern, die aus allen Ländern flossen, nach allen Ländern rollten, überall Wohlstand ausgebreitet, überall Fortschritt am Werk, überall der Aufstieg aus einer guten Gegenwart in eine bessere Zukunft. Sein Hoch galt der Feststadt, die so recht den neuen, tüchtigen, sich aufschwingenden und wagefrohen Zeitgeist verkörpere, der auch einem kleinen Volke zu Ansehen und Macht verhelfe. Auch diesem Redner toste die Halle entgegen. Die Musik spielte das selbstzufriedene »Schwyzerhüsli«.

Ein dritter Redner trat auf, aber seine Stimme war für den großen Raum zu schmächtig. Man sah nur seine nervösen Gebärden und vernahm hie und da einen Fistelton, sonst herrschte das Klingeln der Gläser, das Klirren der Teller, die aufgeregten Stimmen der ihrer Arbeit nicht gewachsenen Kellnerinnen, das Hohaha und Hihaha der Gäste vor. Reinhart fand an einem Tisch ein schmales Plätzchen und wurde gleich Zeuge eines heftig geführten Disputs. Zwei Männer im angegrauten Alter stritten über den Tisch weg, ob man Demokratie oder Demokrazie ausspreche. Es schien ihnen um ein heiliges Prinzip zu gehen, wie um Fortschritt und Rückschritt. Sie wurden schließlich so wild, daß der t-Demokrat den z-Demokraten einen Aristokraten nannte und dafür den Namen Rotkrawättler einheimste. Kaum waren diese verletzenden Worte gefallen, als beide aufsprangen und sich über den Tisch weg herausfordernd und mit roten Gesichtern anblitzten. Wäre der Tisch nicht gewesen, sie hätten sich gefaßt. Gleichzeitig, wie sie aufgesprungen, setzten sie sich wieder, und wie auf Verabredung schenkte jeder sein Glas voll, trank und knurrte hinterher: »Donnerhagel, so etwas!« Reinharts Nachbar, der t-Mann, wandte sich plötzlich an ihn: »Entscheiden Sie, junger Mann.« Reinhart erwiderte: »Es kommt nicht darauf an, wie man das Wort ausspricht, sondern wie man es lebt.« Mit einem Schlag waren die beiden Gegner einig und wendeten sich nun gegen den Grünschnabel. Es fehle der Jugend an Ernst, an Achtung vor den Veteranen, an wahrer Demokratie. Und seltsam, jetzt schrie der t-Mann das Wort plötzlich mit z und der andere mit t, jeder brachte dem Mitkämpfer das Opfer seiner Überzeugung dar.

Reinhart wurde sein Platz zu warm. Er beglückwünschte seine Angreifer zu ihrer politischen Einsicht und verabschiedete sich. Er sah Immergrün mit dem Notizbuch in der Hand in der Nähe der Rednerbühne und wich ihm aus. Er schlenderte durch die Budenstadt. Die Karusselle waren in brausendem Schwung und gossen ihre Leiereien über die Kinderscharen aus, die sie gaffend und begehrlich umstanden. Bei einer Schießbude stand Geierling und zielte mit einem Flobertgewehr nach gipsenen Pfeifenköpfen. Nach einem glücklichen Treffer sah er sich mit stolzem Selbstbewußtsein um und gewahrte Reinhart.

»Sie üben sich wohl für einen Gewehrmatch, Herr Geierling?«

»Fällt mir nicht ein, wir treiben doch alle Kinderei, hier wie im Stand, jeder auf seine Weise. Sagen Sie doch selber, Herr Stapfer, was soll diese tagelange Knallerei? Es fehlt ihr der rechte Ernst! Hinter dergleichen muß der Krieg oder doch seine Möglichkeit stehen. Sie sollten einmal ein deutsches Bundesschießen mit ansehen! Da weiß jeder, wo die Kugel eigentlich hin will. Ha!«

Reinhart ging mit zugekniffenem Munde davon. Er empfand Geierlings Hohn um so mehr, da seine anfängliche Festfreudigkeit und Erhebung empfindlich gedämpft worden waren. Die Reden, die er gehört hatte, schallten ihm hinterher unangenehm in der Seele nach. Sie waren beide in ihrer Art wohlgelungen, aber wovon handelten sie? Die eine vom äußeren Wohlstand, die andere vom Ruhm der Vergangenheit. Soll man an einem solchen Tag nicht von und zu der gegenwärtigen Seele eines Volkes reden? Was hatten Industrie und Handel und Hotelgewerbe mit dem tiefsten Kern des Volkes zu schaffen? Wohlfahrt? Haben Sokrates und Plato, Buddha und Christus nach dieser Wohlfahrt gestrebt? Warum sprach man nicht von Gegensätzen, die sich im Volk wie Schrunden auftaten und ehrlich überbrückt werden mußten, wenn die Gewehre, die eben so lustig knallten, nicht einst gegeneinander loswettern sollten? Warum sprach man nicht von den Sünden, die im Namen der äußeren Wohlfahrt verübt wurden? Warum schläferte man die Gewissen ein, statt sie zu wecken? Warum löste man das Rätsel nicht, daß trotz der gepriesenen Wohlfahrt und Freiheit so viel Unzufriedenheit und Elend und geistige Vaterlandsflucht anzutreffen waren? Warum nicht jenes andere Rätsel, daß im Lande der Wohlfahrt Hunderttausende täglich um ein bescheidenes Leben erbittert kämpfen mußten? Und warum sprach man zu Leuten, die sich tagtäglich an der Gegenwart zerrieben, von Semvach und St. Jakob? Warum schaute man immer zurück zu einer Vergangenheit, die man in ihren Triebfedern doch nicht mehr verstand? Warum suchte man in einer fernen Zeit Ziel und Ideal der nahen? Machte dieses Zurückschauen nicht blind für die Gegenwart, züchtete es nicht einen schädlichen Eigendünkel und eine Selbsttäuschung durch's ganze Volk? Ja, Geierling hatte wahrer gesprochen, als er wähnte. Es war etwas Künstliches, Unechtes an diesen Festen, es fehlte ihnen die Pfahlwurzel, die sie in Volk und Zeit verankerte. Das Volk war gespalten, die Zeit der allgemeinen Volksfeste dahin. Und wie die innere Seite, so die äußere, wie fad und verwaschen war dieser Festschmuck, immer der gleiche, wie von einer Stadt der andern geliehen, stereotyp, wie die Reden ans Volk.

Reinhart wand sich durch die dicht gedrängte Menge hindurch. Auf einem Karussell sah er Paula mit glühenden Wangen vorbeischweben. Sie saß mit anderen jungen Leuten in einer auf- und abwogenden Kutsche, entdeckte ihn und winkte ihm rückwärts gewandt mit der Hand zu.

Vor dem Triumphbogen, der am Eingang des Festplatzes aus Kränzen gewunden hoch über die Straße sprang, blieb Reinhart stehen, um die Inschrift zu lesen. Ein Zweispänner fuhr heran und drängte ihn auf die Seite. Aus dem Wagen schwang sich eine Hand in weißem Handschuh, und eine Stimme rief: »Grüß Gott, Herr Stapfer!« Es war Jutta. Sie befahl dem Kutscher zu halten und stand schon neben Reinhart, dem sie die Hand kräftig schüttelte. Sie war ganz weiß gekleidet und wie zum Auffliegen beschwingt. »Excuse me«, rief sie in den Wagen, »ich treffe da einen alten Freund, den ich grüßen muß. Fahren Sie unbesorgt weiter!« In dem Wagen saßen ein elegant gekleideter, nicht mehr junger Herr und ein Knabe. Der Herr sagte verwundert, aber durchaus verbindlich: »Oh, wir warten gern, Fräulein Jutta!«

»Nein, nein, fahren Sie bitte zu, fahren Sie immer zu!« Der Herr im Wagen biß die Lippen zusammen und gab dem Kutscher ein Zeichen. Die Pferde zogen an. »Come along!« raunte Jutta Reinhart zu. »Seit wann sind Sie zurück? Welch ein Festtag!« Er verstand nicht.

»Kommen Sie! So kommen Sie doch,« befahl sie eher, als daß sie bat. »Schnell, wir schwatzen nachher.« Sie gewahrte den Triumphbogen. »Das fängt gut an, ist das nicht ein Siegeszeichen?« Sie schritten in großer Bewegung unter dem Bogen durch. Jutta schien wie gepeitscht. Sie ging rasch und blickte nach einiger Zeit rückwärts. Dann kicherte sie: »Ich bin auf der Flucht. Er darf mich nicht wieder einholen. Mir ahnte, daß Sie auf dem Festplatz wären, darum verlangte ich hierher zu fahren. Die ganze Stadt ist doch beim Fest, dachte ich.« Erst bei den ersten Häusern der Stadt verlangsamte sie den Schritt. »Jetzt sind wir geborgen. Kommen Sie, wir gehen rechts über die Anhöhe.« Der Weg war nur für Fußgänger eingerichtet und überwand die Steigung an zwei Stellen durch Treppen. Oben an der zweiten hielt Jutta an und lachte hell auf: »Jetzt sind wir geborgen! Das wird einschlagen zu Hause!«

»Nun erzählen Sie aber,« bat Reinhart, »ich verstehe rein nichts.«

»Später! Come along!« Sie zog ihn fort. In ihm jauchzte es. Froh und feierlich schwebten jetzt die Fahnenfarben in der Luft, wie singende jubelnde Zungen. »Was nur geschehen ist?« fragte sich Reinhart.

Die beiden standen am See. Jutta hatte ihren Plan. »Dort ist ein Segel für uns ausgespannt!« Sie sprang voran in das Boot wie von Stahlfedern geschnellt, Reinhart folgte ihr und richtete das Segel. Draußen in der Mitte des Sees überließ er das Boot dem Wind und setzte sich neben Jutta.

»Das ist ja ein tolles Wunder! Nun reden Sie! Seit wann sind sie zurück?«

»Seit Donnerstag und schon dieser Überfall. Ah! Das war der Herr von Steinfeld, ein Verwandter der Tante, seit vier Jahren Witwer, reich, erzreich. Die Sache war schon lange abgekartet, of course, man wollte nur warten, bis ich gar sei. Sie hatten nicht mit mir gerechnet! Heute früh kam er, er hatte es eilig! Man ging zusammen in die Kirche, nach dem Essen lud er mich zur Ausfahrt ein. Er wollte meine Liebe im Sturm erobern. Isn't amusing? Ha! Er hat fast gar keine Haare mehr, haben Sie's gesehen? Mit ihm ließ mich die Tante allein ziehen! Wissen Sie noch im Wald? Er erzählte mir auf dem Wege lange von seiner Seligen, einfach wunderbar! Ich fand, es sei beautiful, daß so liebe Engelein auf die Erde kämen und sich der guten frommen Männer so zärtlich annehmen. Darauf fing er von seinem Knaben zu reden an. Er gleiche ganz der Mama selig, ganz so blond sei auch sie gewesen. Der Junge ist aber rot wie ein verbranntes Plättetuch!« Sie lachte. »Bubi habe eine solche Sehnsucht nach einer neuen Mama. So er. Dann habe ich plötzlich sie erspäht, den Retter! Mitten auf unserem Wege standen Sie, wie ich Sie erwartet hatte. Der Entschluß brauchte nicht erst gefaßt zu werden: Ich mache der Sache mit einem Krach ein Ende. Nun wissen Sie's.« Wieder erklang ihr frohlockend trotziges Lachen.

Reinhart war wie von Sinnen. Er umschlang sie und preßte ihr in die Ohren: »Laß uns in den See fallen, glücklicher werden wir nicht mehr!« Seine dunkeln Augen glühten auf ihr. Sie wand sich sachte los. Ihr Gesicht war von der Aufregung gerötet, aber ihr Blick war nun ruhig. Sie schien in der englischen Luft noch gewachsen zu sein, viel sicherer und entschlossener als früher war sie. Er kam sich neben ihr klein vor, wie in den alten Kleidern stecken geblieben. Wie herrlich war sie mit ihm durch die Stadt geschritten, wie leicht und sicher ins Boot gesprungen! Wie frech hatte sie Herrn von Steinfeld abgefertigt. Sie begann sachlich zu reden. Ihm war es nicht um Sachlichkeit zu tun. Er wollte sein Glück wissen, er wollte ihre Nähe empfinden, er wollte hören, daß er der Auserwählte sei.

»Und dein Vetter Hans de Luternau?« fuhr er heraus. »Ach was, längst vorbei! Man hat der Tante hinterbracht, daß er in Basel eine Maitresse unterhalte. Der Rest war Entsetzen und Grauen. Aber hör', mir müssen wirklich ernst werden.« Sie überschlug die Lage, die sie sich durch ihren Streich geschaffen hatte, »was fängst du nun mit deiner Durchbrennerin an?« drang sie aufs Ziel. Er war ratlos. Er hatte jahrelang im Geist mit ihr gelebt, aber nach Art der Träumer, mit Umgehung der nackten Lebensfragen. Er litt an dem Meß- und Zählbaren dieser Welt und hatte in der Liebe das Heilmittel gegen dieses sein Leiden erkannt. Denn wo sieht die rechte Liebe nach Gold und Ansehen und Macht? Nun fühlte er in Jutta eine Liebe, die rechnen wollte.

»Bist du noch nicht selbständig?« tönte es ihm in die Ohren. »Du hast mir nach England geschrieben, du habest dich jetzt ins Geschäft eingearbeitet und daneben noch studiert.«

Er berichtete ehrlich: »Studiert? Stückwerk! Wie einer botanisiert, der nur den schönsten Blumen nachläuft! Und erst das Geschäft! Es ist mir die Hölle. Zum Braten oder zum Ersticken.«

Sie sann ihm scharf in die Augen und sprach dann langsam und hart: »Ein Gentleman hat mir einmal gesagt, wer an der Welt teilhaben wolle, müsse mit der Welt gemeinsame Sache machen.«

»Und so denkst auch du?«

»Drüben lebt man nach diesem Satz und lebt gut. Ich habe in Florenz einen andern Schlag kennen gelernt, verarmte Adelige mit tönenden Namen und Titeln, immer bemüht die Fassade zu schonen und dabei kleinlich, verkümmert, mißgünstig, aufgebläht. Was ist nun besser?«

Reinhart wurde es immer enger. »Du hast die Zeit gut angewandt drüben,« sagte er bitter. Sie warf ihre Lippen auf: »Nun, so hat es doch eins von uns beiden getan.«

»Wie ein so weich geschwungener Mund so hart sprechen kann,« wunderte Reinhart und er schloß ihr die Lippen mit den seinen. Es war ihm zum Ersticken. Sie lachte gezwungen: »Ich habe dich bös angelassen. Aber sieh, ich habe nun einen Skandal angerichtet, das Hombergsche Haus wird schlimm tönen heut' abend. Ich muß vorwärts, es gibt kein Halten, wir beide müssen uns helfen, eins dem andern. Wir sind nun doch Verlobte. Wir wollen es erzwingen. Erzwingen, erzwingen, erzwingen! Nicht? Wir haben unsere Väter gegen uns, dazu eine Tante, die hartmäuliger ist als vier Väter zusammen, die noch alle ihre Stockzähne haben.«

Er mußte trotz seiner Beklemmung lachen und sie stimmte frei ein. »Denk' dir, auch unser Vater gibt der Zeit nach! Er sitzt jetzt stundenlang über dem Börsenblatt und zeichnet Kurven. Er soll viel Glück haben, sagt die Tante, wenn es der alte Mann noch unternimmt, wie könntest du es nicht?«

Reinhart schüttelte wehrlos den Kopf. Sie wurde wieder bestimmter: »Du mußt zu Geld gelangen. Nur so kommen wir zusammen. Jener Gentleman sagte einmal, mit einer halben Unze Verstand könne man das größte Vermögen zusammenscharren. Und du hast doch mehr als eine halbe!« Sie küßte ihm die Bitternis von den Lippen und aus den Augen.

»Ich will einen Weg suchen,« redete er sich zu. »Ich muß ja kein neues Geschäft gründen. Ich habe doch das unsrige.« Er wollte hinzufügen: »Das wird uns schon nähren,« aber er schwieg. Die Aktiengesellschaft Stapfer, Geierling und Cie. besaß sein Vertrauen nicht.

»Du mußt das Geschäft nur lieb gewinnen, du mußt nur vorwärts kommen wollen, dann wird alles gut.«

»Hat es einen Sinn, mit deinem Vater zu sprechen?« fragte er.

»Das muß natürlich geschehen, nach dem, was ich Teufel heute angestellt habe. Ich werde den Boden vorbereiten. Und nun bringe mich ans Land. Ich will heim und ihnen unter die Zähne stehen. Je früher, desto besser.«

Der Wind trieb das Boot ohne Lust ans Ufer. Reinhart begleitete Jutta bis vor das Hombergsche Haus. Sie trat mit entschlossener Stirne ein. Er staunte ihr nach mit Augen, die in einer andern Welt saßen. Nun hatte er die ersehnte Braut. Aber wie seltsam! Ihm war, es sei Anfang und Ende zugleich, er habe Jutta in der gleichen Stunde gewonnen und verloren. Er fühlte sich auch gedemütigt in seiner schiefen Rolle.

»Ach, laß!« beschwichtigte er die aufdunkelnde Traurigkeit. »Dir zulieb ist sie dem andern davongelaufen, ist dir das nicht genug? Und hat sie unrecht, wenn sie dich ins Leben treibt? Du Taugenichts! Du Taugenichts?« Ihre entschlossene Stimme klang ihm ins Ohr und er sang halb, halb stöhnte er: »Sie ist ein Wunder!«

Einige Tage später erhielt er von Jutta ein paar Zeilen, aus einem kleinen abgelegenen Bad. »Lieber Reinhart, es war ein grauenhaftes Gewitter! Am Montag hat mich Tantchen zusammengepackt und hierher gebracht. Wie lange wir bleiben, weiß ich nicht. Schreibe nicht an Papa, bevor ich Dir einen Wink gegeben habe. Deine Jutta.«


 << zurück weiter >>