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XI.
Senilia

Das komplizierte Wesen Turgenjews, das der Dichter gern auf die Gestalten seiner Erzählungen übertrug, schien bereits in seiner äußeren Erscheinung ausgeprägt. Inmitten der kleineren Franzosen fiel seine gewaltige Figur sofort auf. Als einen Riesen, als einen Koloß haben seine Pariser Freunde ihn oft bezeichnet. Sie haben mit diesem Ausdruck weniger den Begriff des Ungeschlachten verbinden, als das Heldenhafte und Schöne seiner Persönlichkeit hervorheben wollen. Merkwürdigerweise klang nun in dieser breiten Brust eine sanfte, verschleierte, melodiöse Stimme. Die Natur hatte den Mann zu einem nervenstarken, gewaltsamen Kraftmenschen altrussischer Art modellieren wollen, aber der Geist hatte sich mit seinen tausend feinen Fibern in dieser Wohnung ein wundersam subtiles, künstlerisches und edles Gemütsleben gebaut.

Den Eindruck der schlichten Herzensgüte, den der Tonfall seiner Worte weckte, verstärkten seine Gesichtszüge, – unter der breiten, wohlgebildeten, gewölbten Stirn, von buschigen Brauen geschützt, die tiefliegenden graublauen Augen, in denen der schwermütige Ernst schlief, und die breite slawische Nase. Einst braun, nun vom Alter gebleicht, umgab ein voller Bart und dichtes, auf die Ohren fallendes Haar das Antlitz. Gern legte sich die eine Haarsträhne über die Stirn, wenn eine lebhaftere Erregung die Ruhe aus seiner Haltung verjagte. Schon seit den sechziger Jahren plagte den Dichter die Gicht, und dieser Feind war nicht aus dem Felde zu schlagen, ob der Arme auch alle Ärzte konsultierte und alle Heilmittel unermüdlich anwandte. Tausend bitterböse Stunden hat das Leiden ihm bereitet und manchen Plan zerstört. Und wenn der Sonnenschein durchs grüne Laub fiel, lag er oft genug an sein Bett geschmiedet oder kroch auf Krücken durchs Zimmer. Da ist denn der Schmerz die Resonanz in so vielen Briefen, die er an Flaubert schrieb. Bald ist der Kranke so entnervt, daß er nur noch »wie eine Kröte in ihrem Loch« lebt, bald verdammt er das Alter trotz Ciceros de senectute, bald erscheint er sich wie eine poire molle, wie ein vieux chiffon, und bald spricht er mit einem Anflug von Galgenhumor: »Wer die Gicht hat, lebt lange.« Als 1870 in Baden-Baden der Königsberger Professor L. Friedländer ihn über seine Krankheit tröstete und diese ein gesundes Leiden nannte, erwiderte Turgenjew: »Sie erinnern mich an eine Äußerung Puschkins; als den einmal ein Freund in einer sehr üblen Lage mit der Sentenz tröstete, das Unglück sei eine vortreffliche Schule, antwortete er: »Aber das Glück ist eine noch viel bessere Universität!«

Man denkt an Leo Tolstois Greisenjahre, der in einem Alter, das Iwan Turgenjew bei weitem nicht erreichte, keine geistige und körperliche Ermüdung zu spüren scheint. Er lebt allerdings unter all den Bedingungen, die er selbst in seiner Moralphilosophie zur Grundlage menschlicher Glückseligkeit macht. Ein Familienleben, ein enger Verkehr mit der Natur und den Mitmenschen, eine freie, angenehme Arbeit und eine feste Gesundheit gehören dazu, – Voraussetzungen, die Turgenjew fehlten. So wurzelt Tolstois Resignation nicht in dem Gefühl, daß sein eigenes Leben zu schnell und freudenlos verrinnt, sondern in der Erkenntnis, daß sein Volk in dumpfer Gegenwart unter schwerer Last dahingeht. Allein dies Bewußtsein lähmt ihn nicht; flügelstark ringt sich die Sehnsucht nach einem besseren, selbstlosen Menschentum hindurch und gibt ihm immerdar Kraft zu neuen Werken voller Größe und Schönheit.

Turgenjew ließ uns als Resumé seiner alternden Tage die »Gedichte in Prosa« (1882). »Senilia«, Dichtungen eines Greises, hatte er selbst auf den Umschlag des nicht allzustarken Heftes geschrieben. Die Wehmut, mit der er das Leben schwinden sieht, durchzittert diese Sammlung von epigrammatischen Beobachtungen und skizzierten Phantasieen. Hier regiert das Wesenlose, die Stimmung. Der große Realist verzichtet auf die alte plastische Gestaltungskraft und auf die Treffsicherheit der Farben und Konturen. Er verblaßt zum Romantiker und läßt die Bilder und Empfindungen ins Nebelhafte und Geheimnisvolle zerrinnen. Das schließt nicht aus, daß sie von dichterischer Schönheit, das Werk eines großen Dichters sind und einen reichen Schatz an lauterer Lebensweisheit bergen. In die Vielseitigkeit seiner Begabung gibt auch dies lyrische Finale seines Lebens einen überraschenden Einblick.

Nicht ganz unerwartet stößt der Leser hier auf eine romantische Unterströmung. Schon in den Clair-obscur- Erzählungen »Visionen« (1863), »Eine seltsame Geschichte« (1873), »Lied der triumphierenden Liebe« (1881), »Klara Militsch« (1882) und einigen anderen kleinen Novellen tritt sie zu Tage. Es stachelt hier den Dichter, das Ziel, das dem Menschengeiste in seiner Erkenntnis gesetzt ist, mit der Phantasie zu überfliegen und sich auf den lockenden Irrgängen des traumhaft Unbewußten und der Geisterwirkung zu ergehen. Die Ahnung des nahen Todes ließ ihn an solchen Flugversuchen jetzt von neuem Behagen finden.

Dünner und spärlicher – heißt es in den »Senilia« – wird das Laub des langsam absterbenden Baumes, aber seine grüne Farbe bleibt. So flüchtet der Greis aus der unmutigen Gegenwart und versenkt sich in die Tiefe seiner Erinnerungen, und da auf dem Grunde seiner Seele glänzt die geschwundene Zeit in altem, frischem Grün, … aber nur nicht vorwärts den Blick richten!

Eine der Impressionen ist »Ein Besuch« betitelt. Der Dichter sitzt am geöffneten Fenster in der Morgenfrühe. Es ist der erste Mai. Ein Vogel fliegt ins Zimmer mit Rauschen, … nein, es ist ein diamantschimmerndes, kleines Frauenwesen auf rosenroten Schwingen. Einen Maiglöckchenkranz trägt sie im Haar, und auf der Stirn, den Fühlern eines Schmetterlings gleich, nicken zwei Pfauenfedern. Und lächelnd berührt sie das Haupt des Einsamen mit dem langen Stengel der Blume, die die Russen Königsscepter nennen. Als er sie haschen will, enteilt sie … »O Poesie, o Jugend, o Frauenschönheit, wie selten sind die Augenblicke, da ihr dem Leben eines alternden, verlassenen Dichters einen Schimmer von Glück und Glanz verleiht!«

Den Träumer umspielen, die seligen Tage der Jugendzeit, und es umrauscht ihn ein Klingen immerdar: »Wie waren die Rosen so frisch und so schön!« – Zu seinen Füßen liegt zusammengerollt sein treuer Hund, sein letzter, einziger Gefährte … er zittert und erschauert … dem Dichter aber wird es kalt … alle Freunde sind tot … tot. Und nun hebt der Hund seinen Kopf, und die Blicke senken sich ineinander. Wer will den Unterschied der zwei Flämmchen feststellen, die im Menschen und im Tiere glühen! Dasselbe Gefühl beherrscht in diesem Moment beide Wesen, und aus jedem Augenpaare spricht hell und deutlich das Bedürfnis nach gegenseitiger Anschmiegung.

Turgenjew hört den Geigenstrich des Todes an seinem Ohr erklingen.

Der Engländer George Frederic Watts läßt auf seinem »Gericht des Todes« den Tod selbst als eine geflügelte, herrliche Gestalt in ewiger Milde thronen und alle Stände ihm willig ihren Tribut bringen. Ähnlich hat der Franzose Bartholomé auf seinem monument aux morts die Idee des Todes als die ewige Ruhe gestaltet, die das müde, gehetzte Leben in ihren Schoß nimmt, als die ewige Liebe, die stärker ist denn das Sterben, als das ewige Licht, das den vom Schatten des Grabes Umfangenen strahlt. Und auch Leo Tolstoi kennt keine Todesfurcht; er sprach von der Süßigkeit der Krankheit, die ihn beschlichen hatte, und sagte: »Leben ist gut, aber Sterben ist besser.«

Für Turgenjew war der Tod nicht der Tröster der Menschheit, er sah nur seinen grausigen Stachel. Die klanglose, klaglose Demut, mit der er seine russischen Bauern sterben läßt, fehlte ihm selbst. Die Angst vor dem Aufhören des Seins krallte sich in seiner Seele fest, und sein gepeitschter Geist verzerrte den Tod zu einem entsetzlichen Gespenst, wie es die Lebenskünstler alle getan von jenem Bildner an, der auf den Silberbechern von Boscoreale die Skelette unter Rosenguirlanden zu den Poeten und Philosophen gesellte, bis zu dem Freskenmaler des Camposanto in Pisa – und von Holbein und Dürer weiter bis zu Böcklin und zu Klinger.

Unheimlich kriecht schon in den »Visionen« das Ungetüm Tod heran, massig, formlos, finster, plump, schwarzgelb gefleckt wie der Bauch einer riesigen Eidechse. Langsam, schlangengleich schiebt es sich über die Erde vorwärts; dann hebt es sich, dem unheilvollen Flügelschlage eines Raubvogels gleich, der nach seiner Beute Umschau hält. Nun drückt es sich in unsagbar widerlicher Weise an die Erde, wie die Spinne sich an die im Netze gefangene Fliege schmiegt. Alles Lebendige erstirbt, wo das Entsetzliche sich naht, und eine faulige, pestilenzialisch riechende Kälte verbreitet sich ringsum. Und diese Kälte macht das Herz des Menschen erstarren, vor seinen Augen wird es finster, und die Haare stehen zu Berge. Er fühlt, das ist die unüberwindliche Macht, der nichts Halt gebieten kann, die, obschon ohne Gesicht und ohne Denkvermögen, doch alles sieht und weiß, die gleich einem Raubvogel sich ihre Beute aussucht, gleich einer Schlange sie erdrückt und mit eisigkalter Zunge begeifert.

Auch in den »Frühlingswogen« erschauert der Dichter unter der nagenden, fressenden Angst vor dem Tode. Ihm ist, als sitze er in einem kleinen, schaukelnden Kahn, und dort, tief unten in dem dunklen, schlammigen Abgrunde zeigen sich in unbestimmten Umrissen häßliche, ungeheuren Fischen ähnliche Ungetüme – der ganze Jammer dieses Lebens, Krankheiten, Gram, Armut, Blindheit, Wahnsinn … Er blickt schärfer, und siehe, eins von den Ungeheuern taucht empor aus der Finsternis, höher und höher steigt es, immer deutlicher, immer deutlicher wird es in seiner abscheulichen Häßlichkeit. Noch einen Augenblick, und das von ihm emporgehobene Boot schlägt um! Aber da scheinen die Umrisse des Tieres wieder undeutlicher zu werden; es gleitet fort, sinkt wieder in den Abgrund hinunter, und dort liegt es, kaum noch die Flossen bewegend … Aber kommen wird der verhängnisvolle Tag, da das Boot umschlägt.

In den »Senilia« sehen wir den Dichter über ein weites Feld schreiten. Auf leisen Sohlen folgt ihm eine kleine, gekrümmte, graue Frau mit gelbem, zahnlosem Gesicht. Ihre Augen sind erblindet, und doch kann der Fliehende ihnen nicht entrinnen. Ob er zur Linken, ob er zur Rechten sich wendet, immer hört er den verstohlenen, leicht raschelnden Schritt hinter sich. Und nun erblickt er auf seinem Wege mitten vor sich einen schwarzen Fleck wie eine Grube; und dieser unheimliche schwarze Fleck ist überall, ist hier, ist dort; und nun fängt er gar an zu kriechen und kriecht auf den Geängstigten zu. Der wendet sich mit Entsetzen ab, zurück – da steht wieder die Alte hinter ihm und schaut ihn starr an, und ein höhnisches Grinsen verzerrt ihren Mund. Kein Entrinnen – es ist das Schicksal – ist der Tod.

»Was werde ich denken, wenn ich sterben muß?« so sinnt er weiter. »Werde ich daran denken, wie schlecht ich mein Leben angewendet, wie ich es verschlafen und verträumt, wie ich unfähig gewesen, seine Gaben zu genießen? Werde ich im Geiste bei den wenigen hellen Augenblicken, bei den mir teuren Gestalten und Personen verweilen? Werden meine bösen Taten sich meiner Erinnerung aufdrängen, und wird meine Seele den brennenden Schmerz zu später Reue empfinden? Werde ich dessen gedenken, was meiner jenseits des Grabes harrt? … Ja, und harrt meiner dort überhaupt etwas? Nein, ich glaube, ich werde mich bemühen, gar nicht zu denken, und mich eifrigst mit irgend einer Dummheit befassen, um meine Aufmerksamkeit vor der mir drohenden, immer schwärzer mich umhüllenden Finsternis abzulenken.«

Es erinnert diese Phantasie an ein Gespräch, das der Dichter im Mai 1874 nachts im Eisenbahncoupé auf der Fahrt von Berlin nach Königsberg mit L. Friedländer hatte. Sie erörterten die Frage des Todes und der Unsterblichkeit, und Turgenjew schloß: »Wie man sich auch dazu stellen mag, ein Abgrund bleibt es immer; das eine ist ein schwarzer Abgrund, das andere ein weißer.«

Im Sommer des Jahres 1881 hatte Turgenjew sein Vaterland zum letzten Male gesehen, und wieder hatte er zu fühlen geglaubt, wie dort auf der Heimaterde seine Schaffenskraft noch einmal wachsen wollte.

Aber schon im März 1882 warf ihn in Paris sein altes Leiden von neuem aufs. Bett, von dem er sich nun nicht mehr erhob. Zu der Gicht gesellte sich ein tückischer Knochenfraß an der Wirbelsäule, den die Ärzte nicht erkannten, und ein Leberleiden, das mit unsagbaren Schmerzen seine Seele zerriß. Rasch zerfiel der Körper, die gelben Wangen wurden hohl, die Züge scharf, und in den welken Blicken erlosch die Hoffnung.

Ein armer Gefangener, – und draußen unter ihm im Staub und trüben Dunst lärmte Paris. Seine Sehnsucht flog darüber hinweg nach Bougival, nach den stillen Wipfeln seines Parks, wo die Rosen blühten und der frische Heuduft von den Wiesen stieg.

»Wenn wenigstens jetzt, jetzt vor dem Tode, – wenn wenigstens irgend eine freundschaftliche Stimme meinem Schmerz den Abschiedsgesang singen wollte, vielleicht versöhnte ich mich dann mit dem Tode. Aber dumpf und dumm sterben …« so ließ einst der Dichter seinen »überflüssigen« ins Tagebuch schreiben. Frau Viardots Haus war voll von Sang und Klang, und die Töne drangen aus dem erleuchteten Saale herauf in die halbdunkle Krankenstube. Aber kein Lied klagte mit dem armen Dichter, nur der Schmerz leistete ihm Gesellschaft.

Sobald seine Kräfte es zuließen, führte man ihn hinüber nach Bougival. Vom Bette wanderten die Gedanken des Sterbenden nach der Heimaterde, und im leidenschaftlichen Fieberdrang suchte seine Seele das Vaterland. Da war es, daß er mit Bleistift an Tolstoi jene Zeilen schrieb, die den Freund bestürmten, seiner hohen dichterischen Mission eingedenk zu sein: »… Ich liege auf dem Sterbebette. Genesen kann ich nicht; es ist gar nicht daran zu denken. Ich schreibe Ihnen aber in der Absicht, um ihnen zu sagen, wie sehr ich mich freue, Ihr Zeitgenosse zu sein, und um Ihnen meine letzte und aufrichtige Bitte vorzutragen. Mein Freund, kehren Sie zur literarischen Tätigkeit zurück. Es stammt ja dies Ihr Talent von dorther, von wo alles andere stammt. Ach, wie glücklich wäre ich, könnte ich glauben, daß meine Bitte bei Ihnen Erfolg hat. Ich aber bin ein Mensch, mit dem es zu Ende geht. Mein Freund, großer Schriftsteller des russischen Landes, erfüllen Sie meine Bitte! … Ich kann nicht mehr, ich bin müde.« Der letzte Hauch – seinem Volke.

»… Ich werfe die Feder hin, … es ist Zeit! Schon naht der Tod mit jenem immer stärker werdenden Donnern, das an das Rasseln eines Wagens erinnert, der nächtlicherweile über das Pflaster rollt: Er ist hier, er umweht mich gleich jenem leichten Hauch, der des Propheten Haar aufrichtete … Ich sterbe.« (»Tagebuch eines Überflüssigen.«)

Das Schicksal sandte ihm einen Landsmann, der an seinem Lager stand, als die Auflösung begann. Fürst Meschtschersky, mit Turgenjew befreundet, kam am 2. September 1883 von Paris nach Bougival gefahren und war ein Zeuge des traurigen Todeskampfes. Frau Viardot stand mit ihren Kindern am Bett. Der Sterbende gab der Freundin den letzten Zoll der Dankbarkeit. Als ein lichter Augenblick über ihn kam, sprach er: »Das ist die Königin der Königinnen; wieviel Gutes hat sie getan!« Dann entrückten ihn die Fieberträume nach seinem Rußland. Schwer atmend redete er verworrene Laute in der Muttersprache, blieb ein Russe bis zum letzten Atemzug.

Die Schwäche des Körpers ward immer trostloser, der Kämpfer immer müder. Am Nachmittage des 3. September um 2 Uhr versuchte er sich aufzurichten und sank dann mit einem erstickten Aufschrei tot in die Kissen zurück. Die Verzerrung des letzten erschöpfenden Ringens wich bald von seinen Zügen; der Tote schien wie im Leben milde, weich und ruhig. Ein paar Rosen lagen auf seinem Bett …

Als die sterblichen Reste Frankreichs Boden verließen, sprach Edmond About dem toten Freunde den Abschiedsgruß: »Du hast zwanzig Jahre bei uns gelebt, fast den dritten Teil deines Lebens. Unsere Kunst, unsere Literatur, unsere ästhetischen Genüsse waren dir während deines Aufenthalts in Paris zum Bedürfnis geworden. Du hast Frankreich geliebt, und hast es mit jener Ritterlichkeit geliebt, wie es geliebt sein will. Es hätte dich mit freudigem Stolz als Sohn angenommen, wenn du gewollt hättest, – aber du bist deinem Rußland immer treu geblieben. Und daran hast du gut getan, denn wer sein Vaterland nicht liebt mit ganzer, blinder, physischer Liebe, ist ewig nur ein halber Mensch. Du würdest nie so populär geworden sein in dem Land, wo man dich jetzt erwartet, wenn du nicht ein guter Patriot gewesen wärst. – In einer Zeitung habe ich gelesen, daß ein Mann aus der Kaste, die überall am zahlreichsten und mächtigsten ist, – aus der Kaste der Dummen – die Äußerung tat: »Ich kenne diesen Turgenjew nicht; er ist ja ein Europäer, und ich bin ein russischer Kaufmann!« Der Tor! Es war zu engherzig, daß er dich auf die Grenzen Europas beschränken wollte, dein Herz gehörte der ganzen, weiten Menschheit. Doch Rußland nahm in deiner Liebe den ersten Platz ein; ihm hast du vor allem und mit aller Kraft gedient!«

Am 9. Oktober 1883 empfing auf dem Wolkowo-Friedhofe in St. Petersburg die Vatererde ihren treuen Sohn. Über dem frischen Grabe schwieg Neid und Streit. Das Volk, das von der Weichsel hin bis nach Sibirien und wieder bis zum Kaukasus sich in einmütiger Trauer beugte und dem Unvergeßlichen aus ehrlichem Herzen die letzten Spenden seiner Liebe bot, hat in dem großen Toten sich selbst geehrt.

 

Druck von F. E. Haag, Melle i. H.


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