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Elftes Kapitel.
Mangalore

Die merkwürdige Tatsache unseres irdischen Daseins ist mir immer in den Augenblicken des Erwachens am wunderbarsten erschienen. Wenn sich unsere Sinne, unter dem Glanz der Morgensonne oder durch das Lied eines Vogels im Licht erweckt, aufs neue zum Bewußtsein zusammenfinden, so bricht über das Herz bisweilen wie ein Schauer von Glück und Erstaunen die Gewißheit herein, am Leben zu sein, noch nach Unzähligen, die versunken sind, und nach Ungezählten, die kommen werden, auf der beschienenen Oberfläche der Erde ein lebendiger Mensch zu sein. Ich wurde mir dieses freudigen Erstaunens in keiner Stunde stärker bewußt, als an jenem Morgen, an dem ich im Boot auf dem Fluß erwachte. Am Abend vorher hatten wir einen toten Arm des versandeten Stroms gefunden, in dem das Wasser, still wie in einem See, unter einer grünen Decke wunderlicher Sumpfpflanzen lag, und da keine Möglichkeit bestand, die Boote durch den Morast der Ufer an festes Land zu ziehen, hatte Panja geraten, auf dem Wasser zu übernachten. Es war mir gegen Morgen entgangen, daß das Boot, in welchem ich schlief, wieder in die Strömung gestoßen wurde, und so erwachte ich erst, als schon die Sonne schien, und der leise Gesang des Wassers traf meine leicht bestürzten Sinne. Ich erinnerte mich nur langsam der Lage, und sogar meine Lebenszeit hatte sich mir für Augenblicke verwischt. In einem von aller Zeitrechnung befreiten Aufstieg meines Bewußtseins wurde mir nur eines zur Gewißheit: Die Sonne scheint auf die Erde, in den Bäumen rufen lebendige Geschöpfe und du selbst lebst.

Solche Augenblicke erscheinen uns oft in späterem Gedenken daran sehr bedeutungsvoll, da sie mit dem Abstand wachsen, und weil die Erinnerung die Geschehnisse nicht nach ihrer Dauer und ihrem Wert zu bewahren pflegt, sondern nach dem Maße ihrer Eindringlichkeit. Und ob ein Erlebnis uns im Gedächtnis zurückbleibt, hängt wenig von seiner erkennbaren Bedeutung ab. Vielmehr sind es zumeist so unscheinbare, ja oft geradezu kleinliche Begebenheiten, welche unsere Erinnerung unauslöschbar bewahrt, daß wir ihr nur ein Lächeln gönnen, ohne zu begreifen, daß ihre Kräfte ein eigenes sittliches Reich darstellen, dessen mystische Eigenart unserem Willen in keiner Weise untergeordnet ist. »Wenn Gottes Augen, welche ohne Aufhör die Regionen seiner Schöpfung durchschweifen, unser Dasein treffen, so bleibt der Augenblick in unserer Erinnerung für immer haften«, sagte einmal ein buddhistischer Mönch aus Kaschmir zu mir, der Malabar auf der Suche nach einem heiligen Baum mit grauen Blüten durchwanderte. So werden die Lebensstunden, welche wir für groß gehalten haben, oft abhängige Kindlein kleiner Einzelfälle, an die sie sich lehnen müssen, um nicht im Dunkel zu versinken. –

Ich richtete mich im Boot auf und sah die Ufer gleiten, sie waren so dicht umwachsen, daß es erschien, als wären wir zwischen zerbröckelten grünen Mauern auf stiller, eiliger Flucht, zwischen Wänden, die bald auseinanderwichen, bald aufeinander zurückten. Das unsterbliche Himmelsblau, unwirklich in seiner funkelnden Farbstille, spannte sich darüber aus, und bisweilen schossen die blendenden Strahlen der Morgensonne in meine Augen und schlossen sie.

Der zurückliegende Tag war voller Beschwerden gewesen, und wir hatten Uppanangadi nur mit Mühe erreicht, ohne die Stadt angeschaut und ohne länger Rast gemacht zu haben, als es aus Rücksicht gegen die Ruderer notwendig war. Ihre Tätigkeit bestand zu Anfang unserer Fahrt mehr im Steuern als im Rudern, sie taten es stehend, und indem sie, je nach der Richtung, die eingehalten werden mußte, ihr Ruder zur Rechten oder Linken des Kanus ins Wasser tauchten. Dies geschah mit großem Geschick und unterhielt mich lange. Es war häufig vorgekommen, während wir noch auf dem Kumadary schwammen, daß die Boote sich auf Sandbänken festfuhren, wir mußten dann ins Wasser und sie mit vereinten Kräften wieder flott machen. Bisweilen kreisten wir sanft, aber recht ausdauernd, in tiefen Kesseln oder glitten niedrige Fälle nieder, eine Beschäftigung, an die sich meine Sinne gewöhnen mußten, weil die Vorstellung etwas durchaus Erschreckendes hatte, dort zu kentern und vom trüben Wasser an die sumpfigen Ufer getrieben zu werden, oder in Stromschnellen und tiefen Wirbeln mit den Alligatoren in nahe Berührung zu kommen.

Nachts war es am schönsten. Zwar fuhren wir nachts nur die Stromstrecke vor der Stadt Uppanangadi bis an die hölzernen Landungsstege des Orts, aber die wandernden Fackeln im Dunkel der Ufer, die wie riesige Leuchtkäfer aussahen, erregten die Phantasie geheimnisvoll und unterrichteten uns darüber, daß wir uns bewohnteren Gegenden näherten.

Je weiter wir nun den Netrawati hinabtrieben, um so gemächlicher zog die Flut, und die Arbeit der Ruderer setzte ein. Bei Krümmungen des Stroms verloren wir oft das zweite Boot für lange aus den Augen, aber es lag kein Grund zur Besorgnis vor, denn Pascha, der unser Gepäck im andern Kanu bewachte, genoß jenen Respekt bei den Leuten, der schweigsamen Menschen leicht zufällt, die, ohne unhöflich zu erscheinen, niemals ein Lächeln und selten eine Frage erwidern. Meine Träger waren in Schamaji von Panja entlassen worden, ich langte nach dreitägiger Fahrt, in Begleitung von Panja und Pascha, in Mangalore an, die Kanus kehrten im Hafen um, ohne daß die Leute aus Schamaji das Ufer betreten hatten. Sie leben in keinem guten Einvernehmen mit den Küstenvölkern, die sie für abtrünnig und fremdenfreundlich halten.

Die letzten Stunden war unser Boot langsam durch trübes, stehendes Wasser gerudert worden. Die Vegetation nahm immer mehr ab, Reisfelder wechselten mit sumpfigen Einöden, auf denen böse, stille Lachen spiegelten, von schweren Dünsten umlagert und von Menschen und Tieren verlassen. Dort schlief die Pest ihren Sommerschlaf, um mit den ersten Regen wieder zu erwachen. Es war so drückend heiß, daß das Atmen zur qualvollen Mühe wurde, die Ruderer arbeiteten zuletzt wie in einer dumpfen Betäubung, und die Stimmen des trüben Wassers erloschen oft ganz. Der Fluß teilte sich in vielerlei breite und schmale Kanäle, aus den Palmen am Ufer ragte der rote Schornstein der deutschen Ziegelei.

Wir durchfuhren die ganze Stadt bis zum Meerhafen, der am Ort unserer Ankunft kahl und öde, durch eine Sandbank gegen das Meer geschützt, lag, und die Dünste der See, ohne Leben und Frische, enttäuschten mich bitter. Von der Stadt hatten wir so gut wie nichts gesehen, sie liegt ganz im Palmengrün auf drei sanften Hügeln. Nun aber erblickte ich die Häuser des Hafens, schlechte zerfressene Steinbauten, unfreundlich und verlottert, in jener ganzen Roheit und erbärmlichen Charakterlosigkeit, wie man sie oft in orientalischen Häfen findet, deren Tradition längst zerstört und deren neue Gewohnheiten und Einrichtungen dem Geist einer flachen und räuberischen Geschäftigkeit dienen. Ein paar alte, große Segelboote mit hohem Bug und breitem Deck lagen kreuz und quer, bald halb im Wasser, bald eingesunken in schmutzigen Sand. Es war fast menschenleer, nur auf einer kleinen Dampfschaluppe kauerte ein Hindu im Schatten und rauchte. Er spähte neugierig nach uns aus; als ich mich im Boot erhob, sprang er empor, rief gellend und überlaut ein paar Worte über den Damm gegen die trüben Fenster eines bemalten Hauses. Sein kleines Schiffchen vermittelt den Personenverkehr zwischen der Küste und den Hochseedampfern, die einige Kilometer vom Land entfernt Anker werfen, um für zwei oder drei Stunden auf Passagiere zu warten. Der Hafen von Mangalore selbst ist für den Verkehr größerer Dampfschiffe nicht geeignet.

Die ersten Eindrücke, die ich von Mangalore empfing, boten sich mir um so abstoßender dar, als ich nach der Lebensweise der zurückliegenden Zeit alles mit der großzügigen Einfachheit der unberührten Natur zu vergleichen genötigt war. Es kam hinzu, daß die Stadt in einem dumpfen Schlaf der Erwartung lag und mir überall Trägheit, Verfall und Teilnahmlosigkeit begegneten. Der vernachlässigte Hindugasthof, in dem ich meine ersten Tage zuzubringen genötigt war, ermutigte meine Unternehmungslust in keiner Weise, und das qualvolle Harren auf die ersten Gewitter nahm allen und endlich auch mir den Rest wohlbestellter Daseinsfreude. Als Mangalore nach wenig Monaten im Glanz der Frühlingssonne seine bunte Auferstehung feierte, glaubte ich die Stadt nicht wiederzuerkennen. Die Unterschiede zwischen unserem deutschen Sommer und Winter sind in ihrer Einwirkung auf das Befinden und die Lebensgewohnheiten der Menschen bei weitem nicht so bedeutungsvoll, wie der Wechsel der Jahreszeiten in den Tropen. Die Meinung von dem Gleichmaß und der steten Sommerlichkeit der Witterung in diesen Zonen, entstammt der mangelhaften Kenntnis oberflächlicher Passanten oder einer falschen Vorstellung; wer das tropische Jahr von Beginn bis zu Ende in der Nähe des Äquators durchlebt hat und die Menschen in Leid und Freude seines Wechsels beobachtet hat, wird dagegen die Unterschiede unserer Jahreszeiten in den gemäßigten Zonen als unerheblich empfinden.

Später lernte ich vieles in Mangalore verstehen, das ich anfangs mit Geringschätzung übergangen hatte, manches lieben, das mir zuerst fremd und abstoßend entgegentrat, und ich schied mit der Gewißheit aus der Stadt, daß kein bewohnter Ort der Welt an paradiesischer Schönheit und Versunkenheit sich mit Mangalore zu messen vermöchte. Wir erlangen in unseren kurzen Lebenstagen niemals das Maß von Erfahrung fremden Erscheinungen gegenüber, das uns ermöglichte nach dem ersten Eindruck gerecht auf den allgemeinen Wert zu schließen.

 

In einem unbeschreiblichen Zustand von Gereiztheit entschloß ich mich am dritten Tage meines Aufenthaltes kurzer Hand den englischen Kollektor aufzusuchen, um endlich Gewißheit über die Möglichkeit eines längeren Aufenthalts, über die Wohnungsverhältnisse und die Lebensbedingungen zu erhalten.

Die Leute drückten sich überall in einer mir völlig unverständlichen Angst um offene Antworten herum, bald fürchteten sie, es mit der Regierung zu verderben, bald mit den Priestern, selbst meine Opfer an Geld machten mir nur den Pöbel gefügig.

Das Bungalow des Beamten lag herrlich auf einem beschatteten Hügel und erinnerte mich an einen alten Herrensitz. Der Garten war aufs beste gepflegt, die Amtsräume sauber, kühl und groß. Im Vorzimmer saß ein Mischling in weißer, halbeuropäischer Kleidung an einem großen Schreibtisch und stellte sich ungemein beschäftigt. Ich war zu Anfang so bescheiden, als meine Nerven irgend zuließen, aber die gedankenlose Einbildung dieses Sklaven auf seine Beziehungen zu einer Kultur, die er nicht verstand, brachte mich auf. Ich hätte mich sicher beherrscht, wenn Panja nicht an meiner Seite gewesen wäre.

»Stehn Sie auf, wenn ich rede«, sagte ich.

Mein Blut kochte. Es bedarf in der Tat nur eines sehr geringen Grades von Erregtheit, um in dieser Zeit das ohnehin vor dem Sieden stehende Blut zum Überschäumen zu bringen.

Der Schreiber erhob sich träge, als hätte er Blei in den Knien, aber sein frecher, erstaunter Blick entzündete mir Feuer in den Händen, und noch ehe er ganz auf seinen dürren, braunen Beinen stand, schallte eine Ohrfeige durch den würdigen Raum, die ich wie einen kalten Wasserguß genoß. Ihn mag sie anders berührt haben. Er drehte sich einmal um sich selbst, sein Strohsessel machte es ihm in bureaukratischer Ergebenheit dienstbeflissen nach, und, auf der verschonten Wange erbleichend, rang er vergeblich nach Fassung. Die dunklere Linie seiner Abstammung besann sich auf die Gasse.

»Ich wünsche den Kollektor zu sprechen«, sagte ich freundlich. Es ging mir um vieles besser, aber ich bin lange Zeit nicht fähig gewesen mir die Rauheit dieser Handlung voll erklären zu können. Sicherlich hing diese bedachtlose Aufwallung und mein Mangel an Beherrschung mit der Verwöhntheit zusammen, in der ich fast ein halbes Jahr lang nur unter Menschen zugebracht hatte, bei denen selbst auch nur ein Gedanke an Gleichberechtigtheit niemals aufgekommen war, so daß mir der erkennbare Widerstand dieses Menschen weit mehr als Überhebung erscheinen mußte, als er es in der Tat gewesen sein mag.

Der in zweierlei Hinsicht arg betroffene Mann begann den Kampf um seine beleidigte Beamtenehre erst, nachdem er einen Abstand von etwa vier Metern und einen Tisch aus gebeiztem Hartholz zwischen sich und mich gebracht hatte. Alles an ihm war Empörung, sogar sein geöltes Haar, von dessen glänzender Frisur das graue Leinenkäppchen sich entfernt hatte, schien mir vor Entrüstung zu funkeln.

Ich nahm für alle Fälle ein schwarzes Kästchen aus Ebenholz vom Tisch, in dem Stahlfedern, ein Radiergummi und Kupferannas mit dem Anstand geordnet waren, mit dem eine Prinzessin Juwelen verwahrt. Dabei war ich entschlossen das erste unehrerbietige Wort dadurch zu erwidern, daß ich dies Kästchen als Wurfgeschoß verwandte. Ich habe einmal davon gehört, daß Bauern, deren Felder unter anhaltender Hitze in Gefahr sind zu verdorren, den Regen durch Kanonenschüsse herbeizulocken suchen. Eine ganz ähnliche Hoffnung muß mich damals bewegt haben, und ein verwandter Glaube. Aber es kam zu keinem Wort und keinem Gewaltakt mehr zwischen mir und meinem Widersacher, weil die Tür sich öffnete und mit kühlen Augen und wohlrasiertem Antlitz der englische Beamte im Rahmen erschien und seinen Blick gelassen bald von mir zu seinem Sklaven und bald wieder zurück wandern ließ.

Der Abstand, in dem wir uns voneinander befanden, der Tisch zwischen uns, die an die Wange gelegte Hand des Schreibers und meine streitsüchtige Haltung mögen den Beherrscher Süd-Kanaras genugsam darüber unterrichtet haben, was etwa vor sich gegangen sein mochte. Die im Tropendienst und an ausgesetzten Posten bewährten, gebildeten Engländer haben eine bewunderungswerte Besonnenheit in allen ungewöhnlichen Lagen und verstehen es ausgezeichnet, die Dinge zunächst einmal so zu nehmen, wie sie sind, ohne vorschnell kundzutun, wie sie nach ihrer Meinung sein sollten. Das zeugt mindestens von großem Selbstbewußtsein. Und so wandte der Beamte sich mir ruhig zu und fragte höflich, ob er in der Lage sei, durch seine Einmischung diese Situation harmonischer zu gestalten. Dabei wies er ohne weitere Frage auf die geöffnete Tür zu seinem Zimmer und ich trat ein, ohne ein Wort der Beschwerde, denn ich merkte, daß dies in Gegenwart eines Untergebenen nicht erwünscht sei. Ich sah mich gleich darauf in einem bequemen Korbsessel einem Manne von etwa fünfzig Jahren gegenüber, dessen starke, wohlbestellte Gestalt, dessen kluges und zugleich wohlwollendes Gesicht mir das unbedingteste Vertrauen einflößten, und da ich etwa dreißig Jahre jünger war als er, wurde es mir leicht, ihn zu bitten, die ungewöhnliche Art meiner Einführung nicht als Mißachtung gegen die englische Regierung oder gegen seine Person anzusehen. Als ich ihm meinen Namen nannte, sagte er mir kühl den seinen und fragte mich, ob ich Engländer sei.

Wie wichtig den Vertretern dieser Nation diese an sich so unschuldige Tatsache erscheint! Auf meine Antwort hin glitt ein kleiner Schatten von Unwillen über seine Stirn und er fragte mich, ob ich der deutschen Mission in Mangalore zugehörte.

»Schließen Sie das aus der Behandlung, die ich Ihrem Schreiber angedeihen ließ?« fragte ich.

Er lächelte und schüttelte den Kopf, schien aber ohne weitere Erklärung aus der Art meiner Antwort zu ersehen, daß ich seine Frage damit verneinte, und dann wartete er. Als ich sprach, musterte er mich unauffällig, und ohne daß sich auch nur ein Schatten von Kritik in seinen Zügen zeigte. Nach seinem Ausdruck zu schließen, hätte ich selbst und meine Erzählung ihm ebensogut unausstehlich wie angenehm, oder völlig gleichgültig sein können. Bei einer Pause, die ich machte, setzte er eine kleine Tischglocke in Bewegung und gab einem eintretenden Diener, einen Befehl, und gleich darauf pflanzte ein stilles, braunes Wesen ein Tablett zwischen uns auf, das Whisky, Sodawasser und – Eis trug.

Mein Herz schlug in Empfindungen, wie sie nicht zärtlicher für einen Vater hätten sein können, und dies Gefühl wurde noch durch die einfache Warnung des Kollektors erhöht, als er mich bat, mit dem Trinken vorsichtig zu sein, da ich wahrscheinlich in Schamaji kein Eis vorgefunden hätte. Die Geschichte mit dem König hatte ihm gefallen, nach einer Weile meinte er:

»Als ich vor Jahren meinen ersten tropischen Sommer erlebte, wurde ich nahezu ein Mörder, im zweiten ein Verzweifelter und erst im dritten begann ich wieder einem Engländer zu ähneln. Sie brauchen sich deshalb nicht besorgt zu zeigen, wenn Ihre Besinnung Sie für Augenblicke verlassen hat, die Geduld verliert man in Indien zuerst, dann gewöhnlich den Verstand. Nur wenige finden beides wieder, aber diese pflegen sie dann auch zu brauchen.« Ich erfuhr damals, was ich in meiner Angelegenheit wissen wollte, und brauchte dabei nur wenig zu fragen.

Im Amtszimmer des Kollektors fiel auch in späteren Tagen zuerst der Name Mangesche Raos, des Brahminen. Bei diesem Klang und beim Anhören der kurz und ohne tieferes Verständnis vorgetragenen Lebensgeschichte dieses Mannes, empfand ich deutlich eine Beziehung, die weit über Neugierde oder Interesse hinausging. Der Beamte erzählte mir nach und nach folgendes, anknüpfend an meine Bitte, mir in Mangalore unter den gebildeten Brahminen eine Persönlichkeit zu nennen, mit der ich nutzbringenden Umgang pflegen könnte, und nachdem unsere Beziehung zu einiger Freundschaftlichkeit erprobt war:

»Mangesche Rao ist unter den jüngeren Brahminen Mangalores, ja Süd-Kanaras, einer der bekanntesten, und zweifellos auch einer der klügsten. Über seine Gesinnung kann ich keinen Aufschluß geben, da seine Interessengebiete die unseren nur politisch berühren, und kaum eine andere Leidenschaft verhüllt den Charakter des Gegners vor dem Gegner mehr, als eben eine solcher Art. Der Mann hat uns viel zu schaffen gemacht und nur deshalb, weil er das Verständnis und die Teilnahme seiner Kastengenossen nicht einmütig gefunden hat, ist er uns nicht gefährlich geworden. Da er die Universität von Madras besucht hat und so weit akademisch gebildet ist, als die englischen Hochschulen in Indien es ermöglichen, hat er naturgemäß das Vertrauen seiner Kaste verloren, dagegen lange das unsere besessen, im Grunde allerdings niemals mein persönliches. Ich war als Vertreter der Regierung verpflichtet, ihn so weit zu fördern, als er uns nützte, wenn er mir aber, was damals oft geschah, in jenem Sessel gegenübersaß, den nun Sie einnehmen, so bin ich niemals ein Gefühl heimlicher Scheu vor der seltsamen Undurchdringlichkeit seines Wesens losgeworden. Er erreichte bald einen führenden Posten am hiesigen englischen College, man sah ihn unter den Jesuiten, in geheimen Versammlungen seiner Stammesgenossen und sogar im Lager der protestantischen Mission. Ich habe nie in Erfahrung bringen können, ob ihm die Sympathie, die er überall zu erwecken schien, aufrichtig entgegengebracht, oder ob sie ihm gezeigt worden ist, weil man ihn fürchtete.

Vor einem halben Jahre ist er entlassen worden. Ich habe nicht gewagt, weiter gegen ihn vorzugehen, weil ich inzwischen erfahren habe, daß sein Einfluß groß ist, und wahrscheinlich auch sein Anhang, wenn auch nicht eben in der Provinz, so doch im ganzen Reich. Wir müssen uns wohl hüten, in diesem Lande die Strafe als Vergeltung oder Rache aufzufassen, vielmehr dürfen wir in solchen Fällen durchaus nur so weit vorgehen, als unsere Gegner unter ihr machtloser werden. Es hatte sich folgendes ereignet. Ein Jesuitenpater des hiesigen Klosters ließ sich eines Tages bei mir melden, und brachte mir ein kleines, in Malealym verfaßtes Schulbüchlein, wie sie hier überall in den Regierungs- und Missionsschulen nach Form und Aufmachung Verwendung finden. Ich will Ihnen das Buch zeigen.« Er erhob sich und schritt im Nebenraum auf einen eisernen Schrank zu, dem er nach einigem Suchen unter Akten und Papieren ein graues, heftartiges Büchlein entnahm und vor mich hinlegte. Es war schmal und an drei Seiten beschnitten, nüchtern und sachlich von Gewand und wies in der traditionellen Anordnung eines Lehrbuchs einen Titel auf und unten die Abzeichen der Druckerei der Jesuiten, die für ihre Propaganda eine Druckerei mit mehr als zehn verschiedenen Schriftzeichen der Eingeborenensprachen unterhalten. Der Kollektor übersetzte mir den Titel: »Ein Lehrbuch der vergleichenden Sprachwissenschaft über den Zusammenhang der Südindischen Dialekte mit dem Sanskrit. Bearbeitet von Mangesche Rao, Lehrer am englischen College zu Mangalore, gedruckt in der Offizin der S. J. daselbst.«

Der Titel und die ersten zehn Seiten des unscheinbaren Heftes wurden in kurzen Vergleichen seiner Aufschrift gerecht, dann aber folgte eine mit großem Verstand und agitatorischer Inbrunst verfaßte Kritik der englischen Regierung in den Südprovinzen, die um so aufreizender wirkte, als sie sachlich war und eingehende Kenntnis verriet, ohne daß etwa ein Landesverrat nachzuweisen war. Ich habe mir diese Abhandlung später von Panja im einzelnen übersetzen lassen.

Der Beamte fuhr fort: »Der Pater erzählte mir, daß ein Zufall zur Entdeckung dieses Mißbrauchs ihrer Druckerei geführt habe, er lehnte die Verantwortung seines Ordens der Regierung gegenüber mit diesem Eingeständnis ab, und teilte mir mit, daß die bestochenen Leute entlassen seien. Auf meine Bitte, mir seinen Verdacht zu nennen, wen er für den Verfasser dieser Broschüre hielte, erwiderte er in großer Höflichkeit, daß wohl ein solcher Verdacht bestünde, daß es aber nicht zu den Absichten und Gewohnheiten seines Ordens gehöre, über Verbrechen Meinungen auszutauschen, die nicht klar zu begründen seien. Es war augenscheinlich: die Leute hatten Furcht, Furcht, wie hier alle haben, die nicht dem interesselosen Pöbel angehören. Es ist allzuoft vorgekommen, daß die eifrigsten Führer einer Partei an einem Morgen, gekrümmt vom Gift ihrer Gegner, tot in ihren Häusern aufgefunden wurden. So war es an mir, Mut zu zeigen, aber alle unbedachte Art von Kühnheit, die nicht von höchster Vorsicht geleitet ist, hat hierzulande nur den Wert einer eiteln Knabenposse. Mir wurde, noch ehe ich eine Verhandlung eingeleitet hatte, sehr unverblümt deutlich gemacht, daß ich im Falle eines unbesonnenen Eingriffs nicht mit einem leichtsinnigen Verbrecher, sondern mit einer mächtigen Partei des ganzen indischen Reiches zu kämpfen hätte. Das steht mir weder zu, noch garantiert die Tragweite meiner Stellung mir auch nur geringen Erfolg. Ich gab den Fall an die Regierung weiter.

Naturgemäß ging es nicht an, hier nur Vorsicht und sonst nichts erkennen zu lassen. So ließ ich Mangesche Rao zu mir bitten. Diese Begegnung vergesse ich niemals. Zunächst ließ der Brahmine mir sagen, daß ihm ein späterer Tag zu einer Begegnung lieber sei. Ich war betroffen, da ich daraus entweder auf völlige Unbefangenheit, oder auf einen Fluchtversuch schließen mußte, und so ließ ich ihn überwachen, ohne ihn zu drängen. Ich weiß heute, daß er diese Überwachung, die er sofort merkte, absichtlich durch sein Zögern heraufbeschworen hatte, um zu erfahren, ob es sich um etwas Bedeutsames handelte. So kam er am nächsten Tage, und war auf alles gefaßt.

Ich gab ihm, mitten in einer gleichgültigen Unterhaltung, unversehens das Buch.

Er nahm es, warf einen Blick darauf und sagte höflich:

»Ich will es prüfen, sobald ich Zeit finde.«

»Es ist von Ihnen«, sagte ich.

»Ja«, antwortete er ruhig, als habe ich alles andere gesagt, »es geschieht bald.«

»Dies Buch trägt Ihren Namen als Verfasser«, fuhr ich fort, und ich gestehe, innerlich unsicher und aufgebracht.

Mangesche Rao sah mich an, als erwartete er bestimmt, ich würde fortfahren, in jener vermeintlichen Sache zu sprechen, die durchaus nichts mit dem kleinen Heft zu tun hatte, das er gleichgültig zwischen den Fingern drehte. Endlich folgte er meinen Augen und, scheinbar erst jetzt aufmerksam geworden, begann er in dem Heft zu blättern und durchaus nicht, wie es zweifellos jeder andere getan hätte, in den harmlosen ersten Seiten, sondern mitten in dem verräterischen Angriff auf die Regierung.

Er sah einen Augenblick auf, fragte höflich und mit ein wenig gerunzelten Brauen, »Sie erlauben?« und las weiter. Nach einer Weile wandte er die Einbanddecke, betrachtete wieder den Titel, verglich, lächelte befangen und fuhr fort zu lesen. Der Mann hat es fertig gebracht, eine Viertelstunde lang unter meinen Augen seinen eigenen Text zu lesen, nicht etwa mit Anzeichen des Erstaunens oder der Empörung, sondern ohne Anzeichen. Und ich habe die ganze Verhandlung hindurch sicherlich eher als er den Anschein des Geprüften erweckt. Nun, ich blieb geduldig, mir dessen bewußt, daß er innerlich gelassen den Grund meiner Geduld erwog. Als er aber nach einer guten Weile mit einem amüsierten Lächeln aufsah, den Kopf schüttelte und begann, mir einen ganz sonderlich treffenden und zugleich boshaften Absatz vorzulesen, brauchte ich meine ganze Beherrschung, um dieses Lächeln zu erwidern. Er legte das Heft nachdenklich hin und meinte besorgt und mit erhobenen Brauen:

»Das ist nicht angenehm für uns.«

»Haben Sie einen Verdacht, wer der Verfasser sein könnte?«

Mangesche Rao antwortete nicht und ich sah mich genötigt, fortzufahren:

»Wie mag Ihr Name auf dies Heft gekommen sein?«

Der Brahmine beantwortete meine erste Frage, nachdem er mich zuvor kurz angesehen hatte, als wollte er zu meiner zweiten sagen: War das nicht ein wenig plump geforscht?

»Ich habe keinen Verdacht. Was mich am meisten überrascht, ist die Tatsache, daß die Jesuiten ihre Befugnisse so gedankenlos in den Dienst einer Sache stellen, welche der Regierung schadet, die sie schützt.«

Es blieb mir nichts anderes mehr übrig, als nun entweder meinen Argwohn gegen den Brahminen auszusprechen, oder die Unterhaltung abzubrechen, aber das erste durfte ich nicht ohne Beweis, dem ein Eingriff folgte, und das zweite wollte ich nicht. So wählte ich noch einmal einen Mittelweg, obgleich ich die Ergebnislosigkeit meines Vorgehens wußte.

»Wie mag der Verfasser gerade auf Ihren Namen gekommen sein?« fragte ich mich laut.

Mangesche Rao meinte, daß, nach dem flüchtigen Eindruck, den er nach der Lektüre empfangen hätte, ihn dieser Mißbrauch, bei parteiloser Betrachtung des Bildungsgrades, der aus der Arbeit spräche, wenigstens nicht eben bloßstellte, aber dann fügte er ernst hinzu:

»Der Gedanke lag nahe. Wurde das Buch schon in Mangalore gedruckt, so wählte man am besten als Deckung den Namen eines Lehrers vom hiesigen englischen College. Es wird eher deshalb geschehen sein, weil es galt, die Jesuiten zu täuschen, als aus Gründen einer anderen Vorsicht.«

»Man hätte auch einen englischen Namen nehmen können.« Mangesche Rao betrachtete den Titel, dann erwiderte er mir mit bescheidenem Kopfneigen:

»Das wäre nicht klug gewesen, denn jeder in Indien, der lesen kann, weiß, daß ein Engländer nur selten etwas von fremden Sprachen versteht.« Nun, ich schluckte auch dies noch und begriff, daß ich einen falschen Weg eingeschlagen hatte. Als das Meisterlichste dieser diplomatischen Sicherheit meines Gegners erschien mir seine von jedem, auch dem kleinsten Triumph völlig freie Art der Verabschiedung. Er ging still und ein wenig beklommen, als wäre ihm langsam klar geworden, daß diese seltsame Entdeckung ihm doch unangenehmer werden könnte, als er zu Anfang geglaubt hatte. Ich hatte damals bereits Beweise in Händen, die ich weitergab; es ist über jeden Zweifel erhaben, daß Mangesche Rao der Verfasser dieses Pamphlets ist, er hat es mir später, nicht ohne Hohn, auf eine Art eingestanden, die nur mich, mich aber gründlich überzeugt hat. Die Regierung verfügte in höflicher Zurückhaltung seinen vorübergehenden Rücktritt von seinem Posten, mit der Begründung, daß zwar kein Verdacht gegen ihn vorläge, daß jedoch sein Name auf eine Art bloßgestellt sei, die diese Verfügung für kurze Zeit notwendig mache.«

So lautete, aus Einzelheiten zusammengesetzt, die ich nach und nach erfuhr, die Geschichte des Brahminen Mangesche Rao, und meine Erwartungen waren gespannt, als Wochen darauf der Tag kam, an welchem ich seine Bekanntschaft machen sollte.

 

Inzwischen hatten die großen Regen eingesetzt. Es war mir gelungen am Hang einer bewaldeten Anhöhe den Flügel eines schönen Hauses zu mieten, mit großen Zimmern und einer breiten Veranda, die ganz von Buschwerk umschattet war, aber einen Ausblick auf eine herrliche Allee von Platanen eröffnete, die auf ein altes Stadttor führte.

Die niederbrechenden Wassermengen und die furchtbaren Unwetter, die die Regenzeit einleiten, verbannten mich lange in meine weißen Räume, in denen ich wie in einer ununterbrochen mißhandelten Trommel hauste, zwischen Wasserwänden, deren matte Silberströme lau und klatschend vor den Scheiben niederdonnerten. Nachts flackerte das All in bengalischen Flammenkränzen, die Ketten der Blitze knatterten, und oft betäubten die Donnerschläge alle Empfindung, bis zuletzt auch die Furcht in einer dumpfen Ergebenheit versank, in welcher alle Geschöpfe verharrten, wie in den Flammenzeichen des Jüngsten Gerichts, während im Umkreis entzündete Häuser und Bäume aufleuchteten und erloschen. Es ging wochenlang so fort, ohne abzukühlen, unter den undurchdringlichen, nahen Wolkenmassen konnten die schwülen Dünste der monatelang durchglühten Erde nicht aufsteigen. Die Lungen stießen die von Feuchtigkeit und Wärme übersättigte Luft, wie unter den trüben Scheiben eines überhitzten Treibhauses aus und ein, und langsam erlosch die letzte Lebenskraft.

Draußen aber begann ein Wachstum von beängstigender Gewalt. Nach sieben Tagen drang kein Lichtstrahl mehr in meine Räume, und Panja arbeitete mit der Axt im spritzenden Saft. Die blauen Feuer der Blitze zeichneten nächtlicherweile ein kohlschwarzes Blättergewebe, wie ein wirres, flackerndes Gitterwerk, vor die Scheiben meiner Fenster, und es war mir unbegreiflich, an den ersten stilleren Tagen, die Stadt Mangalore noch an ihrem Platz zu finden.

Langsam wurde es unter dem andauernden Regen von Tag zu Tag kühler. Niemand beschreibt die Befreitheit und das Glück meiner Sinne, als mich nach langer Zeit zum ersten Mal die Sonne im Palmengrün weckte. Es ging aufs neue dem indischen Frühling entgegen, und die von Entzücken und tausend Düften geschwellte Brust wußte ihren Jubel nicht zu bergen.

Mangalore brach auf vor meinen Augen, wie eine wunderbare, fremde Blume, bunt und üppig, geheimnisvoll-verschwiegen, von giftig-süßer Lebensgier. Ihr Duft brachte Vergessen mit sich, ihr Klang unnennbare Träume von der Mannigfaltigkeit der Welt, und ihre Farben berauschten die Sinne bis zur Verzücktheit. Über das hölzerne Geländer der Veranda brach wie eine grüne Schlange eine Schlingpflanze, öffnete über Nacht blaue Blumen von der Größe eines Kinderköpfchens, mit einem gelben, gierigen Auge, das am Tage die Falter lockte und sich am Abend schloß. Der Jasmin betäubte mich bis zum Taumeln, die schnarrende Klage der Kröte mischte sich melancholisch und liebesselig in die metallische Klarheit des Nachtigallenlieds, und im Mond blühten die Lotusblumen auf den schwarzen Spiegeln der Brunnen und Sümpfe auf.

Die braunen Menschen in weißen Gewändern im Grünen, lautlos auf rötlichen Wegen dahinschreitend, bewegten sich auf ihrem gesegneten Erdland wie unnahbare Gestalten eines Märchens, erdacht, längst bevor die Wiege unseres Volks, unter Eichen im fernen Westen, von den ältesten Sagen umklungen wurde. Und mit allen Wohltaten solcher Schönheit trat, wie ein Jüngling aus einer tauglitzernden Wiese, der Schlaf wieder an mein Lager und mit ihm das glückliche Bewußtsein von Gesundheit, von Kraft und fröhlichen Daseinsrechten.


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