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Achtes Kapitel.
Am Thron der Sonne

Nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte, weil das Mondlicht wie das wahrsagerische Gespenst einer ewigen Todeskühle an den zerbröckelten Mauern entlang geisterte, die mich vor den Gefahren der Außenwelt schirmten, erwachte in meiner Brust der Wunsch, jene Höhen zu erreichen, auf denen des Morgens das rote Gold der aufgehenden Sonne leuchtete. Es verlangte mich danach, von jener kühlen, hohen Ruhe aus auf das indische Land jenseits der Berge hinabzusehen und angesichts der unermeßlichen, hügligen Weite meine Gedanken noch einmal durch jene Tage zu führen, die ich durchlebt hatte, bevor ich in Cannanore angelangt war.

Panja riß die Augen auf, als ich mit meinen neuen Plänen herausrückte. Er stampfte den Wasserkessel in das Feuer, daß die Funken stoben und betrachtete mich eine Weile auf jene Art, die Leute an den Tag zu legen pflegen, die aus lauter Hoffnungslosigkeit, jemals überzeugen zu können, am Rande der Verzweiflung angelangt sind, und die doch darüber ihren Wunsch zu überzeugen nicht verbergen können. Als ich meinen Lebensretter so erblickte, im Augenblick aber mehr Verlangen nach dem Tee, als eben nach seinem Verständnis trug, mußte ich für eine kurze Weile an eine Schulstunde zurückdenken, in der mir von einem ähnlich ergriffenen Männerangesicht zugemutet wurde, Pythagoras dadurch gleichzusein, daß ich ihn begriff. Auch dort erstickte ein bedauernswerter Zorn in der Hochflut anschwellender Ohnmacht, und sprachlos gewordene Verachtung sagte mir an bösem Lebensgeschick weit mehr voraus, als ein vereinzeltes Gemüt, mit leisem Hang zum Grübeln, ertragen kann.

»Du siehst aus wie Professor Stolzenburg«, sagte ich zu Panja, denn ich halte dafür, daß man böse Gedanken guten Leuten gegenüber am besten offen ausspricht, damit sich ein Weg zum Ausgleich mit gemeinsamen Kräften suchen läßt. Hätte ich das nur in der Schule auch schon gewußt, vielleicht hätte der gestrenge Verbitterer so mancher meiner Morgenstunden zwischen zehn und elf Uhr mit sich reden lassen.

Panja verschmähte es der Bedeutung meines Vergleichs nachzuforschen, er sagte nach einer Weile resigniert:

»Nun, es ist ja gleichgültig, Sahib, ob wir hier oder dort im Wasser umkommen.«

Das befestigte meinen Beschluß aufs beste, denn wie alle leichtsinnig und zugleich eigensinnig veranlagten Naturen habe ich oft dem Hang in mir nachgegeben, jede Latte, die mir zwischen die Füße geworfen worden ist, als Sprungbrett zu benutzen. Man muß allerdings springen können, um dererlei wagen zu dürfen, das ist wahr, und dieses »Springen-Können« ist im Grunde nichts anderes, als das, was die Menschen in der Regel »Glück-Haben« nennen. Glück haben gibt es nicht. Das sogenannte Glück ist so eng mit Geschicklichkeit verbunden, wie Unglück mit Ungeschick, und diese Wahrheit bezieht sich durchaus nicht einzig auf äußere Vorgänge, auch das Unglück der Seele ist zuletzt Ungeschick, wenn auch in einem weit höheren Sinn, der sein Recht in der Gesetzmäßigkeit des Weltwesens findet.

Ich habe das Panja damals nicht gesagt, er lief hin und her und hantierte dergestalt mit den Gegenständen, daß man deutlich wahrnehmen konnte, daß keine Zweckmäßigkeit mit seinem Eifer verbunden war. Es ist merkwürdig, daß Leute, die ärgerlich geworden sind, so oft dazu neigen, leichtere Gegenstände von einem Platz auf den anderen zu stellen, und dann mitunter sogar wieder von dem neuen Platz auf den alten zurück. Offenbar liegt es daran, daß ihre Gedanken mit den Entschlüssen ähnlich verfahren, und daß ein heimlicher Hang existiert, den Körper und die Seele möglichst im Einklang miteinander zu erhalten. Ich erinnerte mich bei Panjas nutzloser Beschäftigung meines Vaters, wenn er aus irgendeinem Grunde zum Ausdruck brachte, daß seine Weltanschauung sich nicht mit der meinen deckte. Leider geschah dies gewöhnlich bei den Mittagsmahlzeiten, denn sonst vermied ich es nach Kräften, ihm ohne Grund längere Zeit ruhig gegenüberzusitzen, und dann sah ich, wie das Messer oder die Gabel, auch das Salzfaß oder der Serviettenring bald an die rechte, bald an die linke Seite des Tellers wanderten. Leider hatten wir damals Messerschärfer aus Schmirgelstein in Gebrauch, runde, schwarze Stäbe von der Länge einer mäßigen Spargel und mit einem polierten Handgriff aus Hartholz. Wenn zufällig eine besonders wichtige Meinungsäußerung meines Vaters mit dem Transport dieses nützlichen Gegenstandes zusammenfiel, so geschah es in der Regel, daß der Schmirgelstein zerbrach, denn seine Überlegenheit, selbst dem besten Stahl gegenüber, bewährt sich nicht im Kampf mit der Tischplatte.

Dies erhöhte den Verdruß meines Vaters bis an die Grenze bedenklicher Einseitigkeit und zog die Laune meiner Mutter in Mitleidenschaft, während es meist meinem Selbstbewußtsein einen erheblichen Aufschwung verlieh und mir nicht ohne Berechtigung den Gedanken beibrachte, daß mein Charakter in den Augen meines Vaters um vieles milder angesehen würde, wenn wir Messerschärfer aus gerilltem Stahl in Gebrauch nähmen.

So sagte ich denn Panja meine Ansicht über Messerschärfer, und dieser unerwartete Ausdruck meiner Überzeugung brachte ihn so weit zur Besinnung, daß ich Tee bekam.

Er trank mit, wie gewöhnlich, hockte mir gegenüber in der Morgensonne und rückte melancholisch an seinem Turban. Außer ihm trug er nun schon seit Wochen nicht mehr als ein schmales Lendentuch, aber auf seinen schweren Turban verzichtete er selbst in der größten Hitze nicht. Es ist wirklich recht merkwürdig mit diesem Panja gewesen, je entschiedener sein Widerspruch oft zu Anfang war, um so lebhafter wurde sein Eifer für gewöhnlich von dem Augenblick an, in dem er merkte, daß ich nicht umzustimmen war. In beidem erkannte ich die ehrliche Besorgnis seiner Neigung, und ich erinnere mich seiner niemals ohne den Kummer über einen der größten Verluste meines Lebens. Die Harmonie unseres Verhältnisses mag im Grunde auf seiner Gewißheit beruht haben, daß die Überlegenheit meiner Rasse mit der Unerschütterlichkeit eines Naturgesetzes feststand. Das nahm seinem Wesen jede Devotion im niedrigen Sinn und machte seine Ergebenheit durch eine Demut würdig, die beinahe einen Einschlag von Religiosität hatte. Heute bebaut er in Malabar die Reisfelder am Purrha, jenem beschatteten Landstrich am Palmenwald, auf dem die Hütte seines Vaters stand, und den er aufgeben mußte, um in der Fremde zu dienen, weil seine Brüder den Verlockungen der großen Städte in Verschwendung erlegen waren. Der Rückkauf dieses Stückchens Land war meine letzte Gabe an ihn, und es bedrückt mich, daß ich ihm niemals die Gewißheit habe verschaffen können, daß seine Gaben an mich reichere und unvergänglichere Geschenke gewesen sind. Als der Tee getrunken war, sagte er wütend:

»Aber Pascha bleibt hier.«

Er tat immer noch so, als wäre an diese Reise auf keinen Fall zu denken, und wahrscheinlich meinte er deshalb nach einer Weile:

»Es sind drei Tage oder Nächte für den Aufstieg nötig, aber in der halben Zeit steigen wir ab. Hast du etwa geglaubt, wir brauchten länger?«

Ich hatte es nicht geglaubt.

Panja sah hinauf zu den Gipfeln. Oben flutete alles in Licht, ein nie gesehener Glanz verklärte die einsame Ruhe, die kreisenden Adler schimmerten, als wären sie aus Gold.

»Alle Träume bleiben lange leicht von der Frische der Höhen«, sagte er versunken.

»Panja, höre, nur wer die Schönheit der Erde lieben gelernt hat, hat die Erde in seinen kurzen Lebenstagen wahrhaft beherrscht. In diesem Sinn ist sie uns von Gott gegeben, so hat er es mit uns gemeint, als er sie uns gab.«

Panja lächelte kindlich, in solchen Augenblicken hätte ich ihn in die Arme schließen können.

»Dir wird nichts geschehen, Herr«, sagte er still und wie zu sich selbst. Ich weiß nicht, ob er bei solcher Zuversicht an Gottes Hilfe glaubte oder an seine, gewiß ist, daß ich selten im Leben wieder durch eines Menschen Nähe so glücklich geworden bin wie durch die seine. Durch nichts vermag ein Mensch uns seine eigenen Kräfte besser zur Verfügung zu stellen, als indem er die unseren glaubt.

 

So wagten wir vor Anbruch des kommenden Tages den Aufstieg zu zweien, noch als die Nacht umher herrschte und über den blauen Zelten der Berge vor uns die Sterne leuchteten. Wir schritten im spärlichen Gesang der Grillen durch dürres Steppengras unter den hohen Latambäumen dahin, die in weiten Abständen voneinander standen. Zuweilen schalt über unseren Köpfen ein Affe, den unser Tritt geweckt hatte, oder ein Vogel flog auf mit einem lauten Warnruf, der unser Nahen der ahnungslosen Natur verkündete, die an diesen Stätten wohl seit undenkbar langer Zeit der Fuß keines Menschen betreten hatte. Es war kühl und still, Panja sprach nicht, und ich schritt im Traumbann einer so tiefen Einsamkeit dahin, daß mir zuweilen war, als sähe ich, wie ein fremder Dritter, uns kleine Zwei durch die riesenhaften, graugrünen Wogen der Hügellandschaft dahinschreiten, im Dämmerlicht unter den Bäumen und Sternen.

Es war unvorsichtig genug, daß wir den Weg ohne Fackeln machten, denn am Morgen ist in dieser Jahreszeit der Panther am kühnsten, wenn er nach vergeblichem nächtlichem Raubzug durch die Dämmerung schweift. Aber es war so hell unter den Sternen, daß wir das Land weithin übersahen, und ich trug die Büchse in der Hand. Panja schritt schweigend neben mir dahin, leichten Tritts und mit erhobenen Augen, Kraft und Freude gingen von ihm aus, und ich empfand ihn als allen Lebewesen seines Landes zugehörig, und die Harmonie seiner Seele teilte sich mir mit, als sei auch ich in der Heimat.

Plötzlich begann er leise zu singen, immer die Augen auf die Höhen gerichtet und so versunken in sich selbst, als schritte er allein durch das Land. Seine gedämpfte Stimme erinnerte mich, wie auch der eintönige Rhythmus seines Liedes, an den Singsang der Priester, deren Tempel in Cannanore hinter dem Garten meines Hauses im Grünen lag, und jählings war ich aus der freien Höhe und aus der kühlen Luft in die tropische Niederung versetzt, so daß mir war, als schlügen die schwülen Dämpfe des leidenschaftlichen Wachstums über mir zusammen.

Als ich nach einer Weile die Blicke hob, nachdem wir die letzten Baumbestände durchschritten hatten, erschrak ich vor einer zackigen, flammend roten Lichtlinie, die den Himmel vor uns, hoch oben, in wagerechter Richtung zerteilte. Totenstill und wie aus Farbe zog sich dies rote Band längs des Gebirgskamms dahin, hinter den Höhen war die Sonne aufgegangen. Ich wandte mich erschüttert um und sah hinter mir das Land unter dem besternten Dämmerblau der sinkenden Nacht, fern auf dem Meer regte sich ein matter Silberglanz. Wie zwischen zwei Himmeln aus Blut und Silber pochte mein entzücktes Herz seinen Lebensschlag auf den weiten, grünbraunen Wellen der Erde, unendlich klein und doch die beseligte Quelle meiner unfaßbaren Daseinsfreude. Panja warf sich auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen. –

Eine Stunde, nachdem die Sonne über die Bergzinnen schaute, hörten die Bäume fast ganz auf. Wohl sahen wir, sobald wir eine Höhe erklommen hatten, zur Rechten oder Linken die dunklen Mauern großer Wälder in der Ferne, aber bald wurde uns der Ausblick erschwert, da wir in einer Schlucht, im Bett eines eingetrockneten Gebirgsbachs aufwärts klommen. Einen der Berggipfel ersteigen zu können, stellte sich bei der Art unserer mangelhaften Ausrüstung bald als unausführbar heraus, und so schlug Panja den Versuch vor, einen der nächstliegenden Pässe zu besteigen. Wir konnten fast den ganzen Morgen hindurch marschieren, denn die Luft war kühl und von einer Durchsichtigkeit, gegen die ein wolkenloser deutscher Sommertag wie in Nebel gehüllt wirkt. Panjas Fröhlichkeit erleichterte mir jede Strapaze, er lachte oft ohne allen erkennbaren Grund, nur aus Überfluß von Daseinskraft und glücklich über die Tatsache, in der von himmlischem Blau überdachten Welt da zu sein.

Als wir gegen Mittag, um vieles höher, im Schatten eines Felsens Rast machten und Panja unser Mahl bereitete, schreckte in nicht allzu weiter Entfernung ein dumpfer, anwachsender Donner mich auf. Panja sprang empor und spähte mit geschützten Augen in die flimmernden Steppenwogen.

»Die Büffel!« rief er, »sieh die Wolke, die sich den Hang niederwälzt.«

Es war das erstemal, daß ich aus so unmittelbarer Nähe eine Büffelherde gewahrte. Sie rollte wie eine dunkle Lawine dahin, und der Erdboden dröhnte. Nur für kurz unterschied ich im Vordergrunde einen oder den andern der schwer gehörnten schwarzen Köpfe, den Glanz der großen Augen und den Fall der Mähnen. Ich schoß nicht, da Panja mir erregt in den Arm fiel, als ich die Büchse emporhob, und später erklärte er mir, daß es vorgekommen sei, daß der leitende Stier, durch einen Angriff in Schrecken oder Wut versetzt, plötzlich die Richtung geändert und gerade auf das Hindernis zu genommen habe. Zwar hätten wir einen Schutz auf den Felsen gefunden, aber wenn unsere Flucht uns mißlungen wäre, so würden wir zerstampft worden sein, da die ganze Herde dem Stier folgt.

»Die Büffel kämpfen mit dem Tiger,« erzählte mir Panja, »selbst die gezähmten fürchten ihn nicht, und wenn du mit ihnen das Reisfeld bestellst, so wird der Tiger sich hüten, euch anzugreifen. Der Büffel spürt ihn eher als du, und es wird dir nicht gelingen, ihn von seinem Standort zu verdrängen, denn er wendet sich genau dem Tiger zu, wie eine Fahne, die du gegen den Wind trägst. Wenn der Tiger den Sprung wagt, so endet er auf den Hörnern, und du bist in Sicherheit, solange du dich hinter dein Tier stellst.«

Die Staubwolke verrauchte im tieferen Gelände, und die klare Luft war wieder still. Ich schlief kurz nach diesem Vorfall ein, ohne Nahrung zu mir genommen zu haben, und Panja weckte mich nicht, denn er kannte die ermüdende und gefährliche Kraft der Sonne, deren Strahlen auf den Berghöhen nicht anders wirken als im Tal, obgleich die Kühle darüber forttäuschen kann. So gilt es in den Bergen, fast mehr noch als im Tal, den Kopf und die Schläfen nicht ungeschützt zu lassen, die Sonne hat viele tödlich getroffen, die ihre Macht über diesen kälteren Regionen nicht geglaubt oder vergessen haben. Mein Korkhelm drückte mich auch keineswegs sonderlich, im Gegenteil, er wurde von Tag zu Tag leichter, weil eine Schar mottenartiger Parasiten von ihm Besitz ergriffen hatten und ihn zugleich bebauten und verzehrten. Bisweilen rieselte ein feines Korkmehl nieder, wie ein liebevoller Beweis der Natur, daß sie keinen Menschen in völliger Vereinsamung seinen Weg machen läßt. Panja war bereits mit allerlei Mitteln gegen diese Tiere ins Feld gezogen, aber sie verließen sich auf mich und vermehrten sich um so leidenschaftlicher, je mehr Panja sie unterdrückte. –

So geschah es mir, daß ich bald darauf von einem hohen Paß aus einen Blick in das weite indische Land hinab gewann, das ich vor meiner Zeit in Malabar durchreist hatte. Die ungeheure Hügellandschaft erstreckte sich, wie von Urzeiten her gelagert, ohne ein Anzeichen menschlichen Werks, und wie die riesenhaften Wogen eines Meeres, das mitten im Sturm in Erstarrung geraten war. Die Ebene in weiter Ferne schimmerte lichtgrau und wie die Oberfläche eines gewaltigen Sees, ich glaubte winzige Spitzlein und Türmchen in ihr zu erkennen, deren Silhouetten nicht anders gegen den Himmel abstachen, als sei der Horizont mit feinem Stacheldraht umzäumt.

Wir blieben den Tag über auf der Paßhöhe, unter dem Dach eines schräg gesunkenen Felsens gegen die Strahlen der Sonne geschützt, und durch die unbeschreibliche Stille der Höhe zogen die Gestalten meiner Erinnerung, wie in der Stunde eines Abschieds, unter dem Lied der Adler, noch einmal durch meinen Sinn. Geister kamen aus dem Blau zu meinem Geist, Dahingesunkene drangen in die Bewußtseinswelt des noch Verweilenden ein, Brüder und Gegner in Gesinnung, Hoffnung und Schicksal, Freunde und Feinde in der Welt der Lust und Trübsal und des raschen Todes.

Auf jedem Erdteil hat der Tod ein anderes Angesicht, nirgends sind seine Züge feierlicher, als bei uns in Europa, ich habe ein wenig verlernt, seine pathetische Sonntagsgebärde meiner Heimat zu überschätzen. Es hat noch niemand dem Gespenst der Willkür sein Schauriges dadurch genommen, daß er es heiligsprach; sicherlich ist die schwerfällig romantische Auffassung vom Tode, die in Europa herrscht, eine Folge der Einwirkung der Kirche, die die Tatsache des Todes so sehr in das Bereich des Ungeheuerlichen gerückt hat, um aus ihrer Einwirkung einen Teil ihrer Autorität zu gewinnen. Uns ist das Sterben in der Vorstellung so schwer gemacht, daß sicherlich ein gut Teil Gerechter und Ungerechter beim Tode auf das angenehmste enttäuscht sein wird.

Sterben ist Pflicht, wie auch das Leben. Es wird ein jeder so leicht oder so schwer sterben, als seiner Natur das Leben geworden ist, und wer das eine verstanden hat, wird auch das andere können. Die Menschen Indiens sterben leichter, selbstverständlicher und gewissermaßen unauffälliger als wir, sie überlassen der Gottheit die Sorge für ihr künftiges Ergehen und werden den Gedanken schwer erfassen lernen, daß sie selbst in letzter Stunde für einen geordneten Abzug verantwortlich sein sollten. Diese Auffassung, die christlich genannt wird, entstammt auch keineswegs der Überzeugung des unschuldigen Begründers unserer Kirche, sondern vielmehr der berechnenden Klugheit ihrer Verwalter.

Langsam zog die Sonne ihren strahlenden Bogen, und das Land wechselte in ihrem Schein. Wann wieder sollen Tage für mich kommen, die in so großer Stille dahingehen, dem Gedanken und der Erinnerung geweiht, durchklungen vom Kampfruf der Adler? Während ich hinabschaute ins Land, bald umwunden vom schwermütigen Weinlaub des Traums, das glühte von Licht, bald in wunderbare Klarheit des Äthers getaucht, durchlebte ich noch einmal so manches, das ich gesehen und erfahren hatte, als ich das Land zu meinen Füßen durchzog. Gegen Nordosten mußte Bitschapur liegen, die alte Königsstadt, aus deren Schlösserruinen sich die mächtige Halbkugel erhob, die einst ein mohammedanischer Fürst erbaut und ganz mit Gold hatte ausschlagen lassen. Sie war gegen die aufgehende Sonne geöffnet, deren Licht sich in tausendfachem Glanz darin brach, so daß kein Auge hineinzuschauen vermochte, ohne geblendet zu werden. Mitten im Herzen dieser Kuppel, unter dem gewölbten Golddach, waren die beiden Thronsessel des Maharadscha und des Maharadscha Khunwar, des Königsohns, aufgestellt, und in dem zornigen Strahlengefunkel, das das Feuer der Morgensonne millionenfach widerspiegelte, empfing der König seine Gäste. So dienten das kostbare Blut seiner Berge und das Himmelslicht des neuen Tages seiner Herrlichkeit, und die bestürzten Freunde seines Reichs, die im Augenblick des Sonnenaufgangs vor seinen Thron geführt wurden, hörten den Gruß des Fürsten aus einem Glanz erklingen, der ihre Augen schloß und die Knie zu Boden zwang. Es mag gewesen sein, als dienten Himmel und Erde einem Allmächtigen, um seine Hoheit unfaßbar zu machen. Zwischen jener Goldkuppel und dem Marmorplateau, auf welches die Ankömmlinge geführt wurden, war ein tiefer gelegener Garten voll blühender Blumen, wie sie sich in Duft und Pracht nur dem tropischen Himmel öffnen, und die Wohlgerüche ihrer Kelche gesellten sich dem Glanze.

Der prachtliebende Sultan fiel von der Hand eines stärkeren Königs, der von Norden kam und die Stadt zerstörte. Ihre Tore waren bis an die runden Bogen der Gewölbe mit Toten angefüllt, und die Zähne des gefallenen Herrn der Stadt konnten nicht aus dem elfenbeinernen Griff seines Säbels gelöst werden, den er, zerfetzten Leibes, den Feinden nicht hatte überlassen wollen. So ist er unter einem Berg seiner gefallenen Getreuen gefunden worden, und die Sage erzählt, daß er auch so bestattet worden sei unter dem gewaltigen Kuppelbau, den er sich selbst, wie alle Fürsten jener Zeit, zu seinen Lebzeiten hat erbauen lassen.

Diese riesenhaften Grabdenkmäler der Stadt überragen noch heute das Trümmerfeld von Bitschapur, sie erinnern in ihrer Bauart und Größe an Moscheen, auch wird in einigen noch Gottesdienst gehalten, oder sie locken Tausende von mohammedanischen Pilgern als Wallfahrtsort aus weiter Umgebung in die heilige Stadt der großen Toten. Man erblickt in diesen Bauten seltene Steinblöcke eingefügt, deren Entstammung bis heute nicht hat aufgeklärt werden können, besonders als Grabsteine sind hier und da schwarze, basaltartige Felsstücke verwandt worden, deren Beschaffenheit die Gelehrten sich nur dadurch erklären können, daß sie sie unter die Meteorsteine einreihen. Die größte dieser Kapellen ist von einer Kuppel gedeckt, von deren Galerie der schwindelnde Blick unter sich die beiden Grabsteine klein wie Streichholzschächtelchen erblickt, und das Auge ist nicht in der Lage, einen Menschen von Angesicht zu erkennen, der sich ihm gegenüber auf derselben Galerie befindet, wohl aber versteht er das leiseste Wörtlein, das drüben im Flüsterton, gegen die Wand gesprochen, fällt, da das Kreisrund des Steingefüges auf wunderbare Art den Schall bewahrt und deutlich herumträgt. Man erzählt, daß der Sultan auf solche Art die Ergebenheit seiner Minister, die Treue seiner Gäste und die Neigung seiner Frauen erprobte, von denen er die einen oder anderen mit ihren Vertrauten auf diese Galerie führte und sich, nach herausfordernden Worten, wie zufällig von ihnen trennte, um dann Wort für Wort ihre Gedanken am verräterisch erklingenden Kreisrund der Galerie zu erlauschen. In banger Ehrfurcht vor diesem Wunder zittert das Volk noch heute in der Erinnerung an die geheimnisvolle Macht des Toten.

In einem dieser Dome, fast dem größten, fand ich statt der gewohnten zwei Grabsteine, die die Leiber des Königs und der Königin bergen und den einzigen Inhalt der Gebäude darstellen, deren drei und erfuhr die Geschichte dieser seltsamen Ausnahme, in der die Geliebte des Königs neben ihm und seiner rechtmäßigen Gattin, der Mutter des Königssohns, beigesetzt worden ist. Es geschieht sonst in keinem Fall, da nur die Favoritin, die den Erben des Reichs geboren hat, im Tode neben dem Sultan ruht, seine übrigen Frauen bleiben rechtlos, sowie auch deren Kinder, so ausgiebig sie ihre Macht und ihren Einfluß im Leben angewandt oder mißbraucht haben mögen. Aber die Geschichte erzählt, daß der König diese junge Gefährtin seines Alters zärtlich liebte, und als er aus einem Kriegszug heimkehrte, gelang es den Intrigen der Benachteiligten, Mißtrauen gegen ihre Treue in sein Herz zu säen.

Sie beschwor ihre Unschuld, aber die falschen Beweise überzeugten den König gegen seinen Glauben. Jedoch im Zwiespalt seiner Empfindungen mag er auf den Gedanken gekommen sein, ein Gericht Gottes über Schuld und Unschuld der jungen Frau entscheiden zu lassen. Er führte sie auf die hohe Galerie seiner vollendeten Grabkirche, über deren niedriges Steingeländer hinab dem Blick das Gefüge der großen Steinquadern des Bodens klein, wie die Musterung eines Schachbretts, erscheint, und befahl ihr, hinabzuspringen. Die Luft verfing sich während des Falls in ihren weiten Gewändern, und sie langte unversehrt in der Tiefe an, grüßte hinauf zu ihrem Herrn, der ihr mißtraut hatte, und tötete sich mit einem kleinen Dolch, der noch heute in der Gegend ihres Herzens hockt. Das Volk nennt sie »die Fremde«, ihr Grabstein wird mit heimlicher Scheu erwähnt, es mag dies seinen Grund darin haben, daß ihr freiwilliger Tod nach erwiesenem Recht dem Geist der orientalischen Weltbetrachtung wunderbar und unerklärlich erscheint.

Der König fiel in Schwermut, und der Gram seiner Reue soll oft in große Grausamkeit umgeschlagen sein, seine Rachsucht ist furchtbar gewesen und erst durch den Tod gestillt worden, man erzählt, daß er seit jenem Tage, nachdem die Verleumder eines gräßlichen Todes gestorben waren, allmorgendlich die Schärfe seines krummen Säbels im nackten Rücken des Sklaven prüfte, der ihm die Steigbügel seines Pferdes hielt. Sein Bildnis, das Händler der Stadt in kunstvollen bunten Kopien aus Wasserfarbe feilbieten, zeigt ihn auf einem hohen Samtkissen hockend, das Schwert über den Knien und den Blick unter dem roten, mit Edelsteinen geschmückten Turban starr und erkaltet in die Weite gerichtet. Seltsam genug meldet die Kunde von ihm, daß er, obgleich er niemals in Berührung mit seinem Volke gekommen ist und sein Anblick Entsetzen verbreitete, auch kein Mädchen seines Landes vor ihm sicher war, doch zugleich geliebt worden sei, wie kein anderer Fürst vor oder nach ihm. Seine Krieger sollen für ihn in den Tod gegangen sein, als spräche die Sterbenspflicht unter seinem Willen ihre Seelen für alle Ewigkeit frei, und seine Widersacher verfielen der Volkswut. Es ist dies ein neuer Beweis dafür, wie wenig die Volkstümlichkeit eines regierenden Fürsten mit seinen guten Eigenschaften zu tun hat, und daß kein Irrtum größer ist als der, daß die Liebe der Untertanen und die Nahbarkeit des Herrschers Hand in Hand gehen.

Als ich Bitschapur sah, lag die Stadt voll Toter. Wir kamen in der Morgenfrühe auf Pferden an, ohne Kunde davon erhalten zu haben, daß die Pest in so furchtbarer Weise in der Stadt wütete. Als wir nahe vor den Toren waren, wies mein Begleiter auf die Hügel im Umkreis der Stadt, die mit Zelten bedeckt waren, und riet zur Umkehr, aber es bot sich uns keine Möglichkeit dazu, da es uns an Wasser und Nahrung gebrach.

Die Lager auf den Höhen unterrichteten uns darüber, daß die Bewohner aus der Stadt geflüchtet waren, und so fanden wir nur Tote im Bereich der herrlichen Ruinen. Die Pferde zitterten, als uns der erste, widerlich süße Hauch der Verwesung entgegenschlug, und Wolken von Aasgeiern erhoben sich träge mit häßlichem Geschrei bei jeder Straßenbiegung. Die Leichen lagen in den offenen Türen und auf den Gassen, aus leeren Augenhöhlen und geschwärzten Angesichtern starrte der Tod uns an, und die Hufe unserer Tiere verwickelten sich in den faulenden Schläuchen der menschlichen Eingeweide, die die Geier weit über die Wege gezerrt hatten.

Die unbarmherzige Sonne spiegelte im Marmor, ihren stillen Liebeszorn bewegte kein Lufthauch, ein paar vergessene Ziegen irrten durch die furchtbare Todesöde und den gigantischen Prunk der Vergangenheit. Es war eine Hungersnot vorangegangen. Heute noch sehe ich die mageren, dunkeln Menschenkörper, geschwärzt vom Gift der Verwesung, gegen weiße Mauern gelehnt, über Steintreppen geworfen, oder am rötlichen Boden. Zwei Kinder, die einander umschlungen hielten, schienen am Rand eines Tempelteichs eingeschlafen zu sein, die Lage ihrer zärtlichen Gestalten verriet weder Angst noch Schmerzen, aber die Augen fehlten, und in geschäftigem, frohem Eifer bohrte ein grauer Geier seinen Schnabel unter die Stirnen, so daß die Köpfchen schaukelten. Als ich mich näherte, hob der Vogel den kahlen Kopf mit dem harten Schnabel, und seine gelben Augen sahen mich räuberisch an, als ob er Verwunderung darüber empfände, daß ein aufrechter, lebender Mensch sein Totenreich betrat.

Als die Sonne ins Meer gesunken und ihr letztes Licht wie in violettem, feuchtem Qualm über dem fernen Wasser zergangen war, brannte Panja ein kleines Feuer auf der Berghöhe unter unserem Felsen an, der uns nach zwei Seiten hin schützte. Wir mußten mit dem Brennmaterial sparsam umgehen, Panja hatte es zum guten Teil unterwegs sammeln und bis zu unserer hohen Lagerstätte schleppen müssen.

Die Nacht war totenstill, die ganze Welt schien erstorben, nur ein paar große Nachtschmetterlinge besuchten mein Feuer, und ihr Surren zitterte in der Luft, bis Panjas Schnarchen sie füllte. Aus weiter Ferne unterschied ich Hyänenstimmen und schwaches Bellen der Schakale. Der Sternschein tauchte in blassem Dunst der Tiefe glanzlos unter, aber über den Bergkuppen und -zacken funkelte das Licht hart und zornig, wie im göttlichen Rausch seiner unirdischen Freiheit. Der schmale Mond war erst gegen Mitternacht zu erwarten.

Ich schlief nur ganz kurze Zeit, um den Aufgang der Sonne nicht zu verpassen, und die Stunden eines einsamen Wachens auf der Höhe, in der blauen silbernen Tropennacht sind mein unvergängliches Eigentum geblieben, ein feierliches Kleid der Erinnerung, das meine Seele niemals ablegen wird. Es ist ihr bannender Zaubermantel gegen die Bedrängnisse des kleinen Alltags geworden, das Leben und der Tod wiegen ihr in solcher Hülle leicht, und der Gedanke an das Unendliche rückt nahe, wie sich das Bild im spiegelnden Wasser dem Knienden nähert.

Ich vergaß in jener Nacht, daß die Erde bewohnt ist, und ich begriff, daß wir Menschen unseres Jahrhunderts unser ganzes Wesen zu sehr darauf eingestellt haben. Unsere Beziehung zur Natur ist oft nur durch eine Flucht vor den Menschen und aus unseren Lebensverhältnissen möglich, und so erscheint uns das nur für kurz gegönnt, was uns von Anfang an zum Eigentum bestimmt war. Der Satan der neuen Welt entschädigt uns überreichlich für die Verluste unserer alten Rechte, und doch werden wir am Ende die Betrogenen sein, denn der beste Teil entgeht uns, jener Anteil, der die Gelassenheit der Besinnung mit sich bringt, die Ruhe des guten Gedankens und den Frieden der Erkenntnis unserer selbst.


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