Helene Böhlau
Der schöne Valentin
Helene Böhlau

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Sie war heute noch im Theater beschäftigt, und Valentin begleitete sie. Am Ende der Vorstellung sollte das Publikum wieder durch eines jener reizenden Nachspiele, die der Direktor zu bieten imstande war, belohnt werden.

Am nächsten Sonntag ging Valentin seinem Versprechen gemäß schon früh am Morgen zu dem neuen Freunde, dem Maler, der sich freute, daß sein schöner Gast Wort gehalten. Wieder hatte Valentin den Eindruck von sonntäglichem Frieden, als er in das kleine, saubere Atelier trat; doch dieses Mal waren die Malergerätschaften nicht beiseite geschafft. Die Staffelei stand ins Licht gerückt, und Palette, Pinsel und Farben lagen in Ordnung bereit, um benutzt zu werden. Ein Flügel des Fensters stand offen, und aus dem Gärtchen strömte sommerlich der Duft von Reseda und Levkoien herein.

Der alte Maler zauderte nicht lange, ließ Valentin sich zurechtsetzen und machte sich an die Arbeit. Die ganze Situation, der Eifer des Malers, der durch Valentins Person erregt worden war, lenkten diesen auf eine kurze Zeit von allen quälenden Gedanken ab, und er gab sich beschaulicher Ruhe hin.

Der Maler schien an seinem Werke wirklich Freude zu empfinden. Es mußte ihm auch gut gelingen, denn um seinen Mund spielte ein befriedigtes Lächeln. Nachdem er eine Zeitlang mit großer Aufmerksamkeit schweigend gearbeitet hatte, begann er, ohne aufzublicken, mit eigentümlich gedämpfter Stimme ein Gespräch mit dem Gaste anzuknüpfen, und dieses brauchte sich nicht lange zu wenden und zu drehen, so hatte Valentin Lulus Namen ausgesprochen, und nun währte es wieder nicht lange, so war der Alte unterrichtet, wie es um seinen jungen Freund stand.

Nachdem in dem friedlichen Atelier ein paar Stündchen vergangen waren, brachte die Haushälterin des Malers einiges zur Stärkung herein und deckte auf einem Tisch auf.

Nun setzten sich die beiden und tafelten; der Alte, ganz erregt von seiner Arbeit, stand während des Essens vom Tisch auf, ging im Raume auf und nieder, blieb öfters vor seinem angefangenen Werke stehen und konnte nicht recht zur Ruhe kommen. Dann schaute er wieder Valentin an, nachdem er auf seinen Platz zurückgekehrt, und sagt«: »Wenn Ihr nur Zeit hättet, Bärlein, da wollten wir etwas Schönes miteinander fertig bringen. Aber nun weiter, daß man zum wenigsten keine Zeit verliert.« – Er richtete Valentins Kopf, wie er ihm günstig stand, und machte sich an die Arbeit; aber vollkommen schweigsam. Doch schien es, als wäre er nicht recht bei der Sache. Er hielt die Pinsel öfters wie gedankenlos in der Hand, blickte auf Valentin, fuhr sich mit den Fingern auf eine merkwürdige erregte Weise in das Haar, blickte wieder auf seinen Gast, schüttelte den Kopf und machte zu den Gedanken, die ihn offenbar bewegten, auffällige Gesten, wie sie einem lebhaft denkenden Menschen leicht zur Angewöhnung werden können. Plötzlich trat er vor den jungen Freund: »Ist das ein Kopf!« rief er, nahm sich nicht die Zeit, Palette und Pinsel beiseite zu legen, sondern fuhr Valentin mit den Händen, so gut es ging, in das volle Haar, rückte ihm den Kopf ins Licht, und in seinen Zügen sprach sich die tiefste Bewunderung aus.

Und ehe sich Valentin besinnen konnte, hatte der Alte ihn wieder losgelassen, hatte sich die Hände frei gemacht, sich zu einer Truhe niedergekniet, gekramt und kam mit einer Dornenkrone hastig auf Valentin zu, setzte ihm die Krone aufs Haupt, trat zurück und sagte: »Bei Gott – und wie es sich die anderen auch denken mögen – das, so ist es das Rechte. Bleibt, bleibt!« rief er Valentin zu, der in Verwirrung sich erheben wollte. Unverwandt blickte der Maler auf ihn. »Ich werde dich so – so als Christus malen – so wie ich ihn mir denke, anders wie alle anderen, ganz anders. Hörst du, ich werde dich malen. Ganz unumstößlich, ich werde es tun!« rief er erregt; dann nahm er Valentin die Krone wieder ab, legte sie auf den Tisch und malte weiter.

Valentin starrte den Alten wie versteinert an.

Dem Maler entging die Bewegung, die sich in Valentins Zügen ausprägte, nicht, und es machte ihm einen wohltuenden Eindruck, daß er es mit einem jungen, gläubigen Menschen zu tun habe, der durch den Gedanken, dem Heiland zu gleichen, tief ergriffen sei. Mit Eifer machte er sich wieder an seine Arbeit, während Valentin, der anscheinend ruhig seine Stellung wieder eingenommen hatte, von Unruhe erfüllt war.

»Nun?« fragte der Maler beiläufig. »Wie ich höre, verlassen die Schauspieler uns in nächster Zeit? Ihr wißt durch die hübsche Lulu jedenfalls Bestimmtes darüber?«

»Ja, Herr Meister – sie gehen«, erwiderte Valentin, und da er vor dieser Frage schon in größte Aufregung gekommen war, sagte er es mit eigentümlicher Stimme, als müßte er ihre Kraft mit Gewalt zurückhalten. »Für mich hat dann die schönste Zeit vom Leben ein Ende.«

»Wieso?« fragte der Maler, der im Eifer über seine Arbeit schon wieder vergessen hatte, daß er, was zwischen Valentin und Lulu vorgegangen, erraten.

Valentin blickte ihn schmerzlich an und sagte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck: »Nun, für mich gibt es dann eine Trennung.«

»Nun, nun!« erwiderte der Alte begütigend. »In ein Theaterprinzeßchen hat sich schon mancher Bursche verliebt. Ihr seid noch jung und meint, das ganze Leben liefe auf die Liebe hinaus, und mit dem Glück und Elend, was sie bringt, damit sei das Lebensrätsel gelöst. Da weiß es so ein alter Mann, wie ich, besser.« Der Maler nickte kaum merklich gedankenvoll mit dem Kopfe, verwandte aber, während er sprach, keinen Blick von der Arbeit. »Wenn die Jahre«, fuhr er fort, »uns immer weiter von der Jugend abbringen, da lassen wir die Liebe wie ein schönes Gärtchen, das uns einst die Welt dünkte, weil wir nicht über den Zaun sehen konnten, hinter uns. Und wenn wir auf der weiten Strecke, die wir durchwandern müssen, Umschau halten, da sehen wir den hübschen Blütengarten ganz entfernt und von uns längst verlassen liegen und darum her die große, weite Ebene, so daß wir erstaunen, wie klein doch das schöne Fleckchen ist.«

Valentin blickte, wahrend der Meister sprach, auf die Dornenkrone, welche vor ihm auf dem Tische lag. Die Worte des Alten erschienen ihm armselig, und innerlich empörten sie ihn. Was ihm als das Furchtbarste erschien, daß die gewaltigste, lebenerschütterndste Leidenschaft zwecklos, ohne Glück oder Tod gebracht zu haben, wieder verrinnen könne, bestätigte er; und diese Bestätigung rief Valentins Stolz wach, der der jugendlichen Natur zu ihrem Rechte zu verhelfen bestrebt war. Im Innersten fühlte er, daß nur dann etwas Versöhnendes in seiner hoffnungslosen Liebe liegen könne, wenn er zu tun fände, was ihr an Kraft gleich stände. Da sah er nichts als den Tod, – das Ende.

Als Valentin später ins Freie trat und die ehrbaren, sonntäglich geputzten Leute an ihm vorübergingen, schien es ihm, als führten sie ein friedfertig ruhiges Leben, als wäre ihre Zeit vom Alltäglichsten so fest ausgefüllt, daß für Absonderliches, Außergewöhnliches durchaus kein Platz bei ihnen zu finden sein würde. And wie er zu Lulu die Straßen mit hastigen Schritten entlang ging, dachte er: Wenn die Leute mir so durch und durch schauen könnten, da würden sie auf dem Fußsteig mir wohl gut ausweichen.

In der Nacht, die auf diesen Sonntagabend folgte, stand Valentin ruhelos an seinem Kammerfenster und sah in den Mondschein hinaus, der alles mit seinem schimmernden Lichte übergossen hatte. Der schön geschmückte Hof erschien ihm einsam und verlassen und machte einen wehmütigen Eindruck. – Das empfand er so zwischendurch in seiner Sehnsucht. – Trotzdem er Lulu kaum vor ein paar Stunden gesehen, war die Qual, die jede Trennung von ihr mit sich brachte, wieder bei ihm eingezogen. Daß zwischen ihm und ihr so vieles Mauerwerk, der Garten und der Mondschein lagen, schien ihm unerträglich, als er es sich vergegenwärtigte, und der Wunsch erfaßte ihn, ihr näher zu sein. Da öffnete er das Fenster, schwang sich hinaus und schlich vorsichtig im Schatten hin durch die angelehnte Pforte, die nach dem Garten führte. Dort strich er den Weg entlang mit klopfendem Herzen. – Alles schien tief still, und der Mond schimmerte lockend durch die Zweige. Da konnte er nicht widerstehen, schwang sich über den Zaun und stand nun tief bewegt auf dem geliebten Boden. Jetzt war er ihr nahe, das empfand er, und ein süßer Friede, wie die Erfüllung eines Wunsches ihn mit sich bringt, berührte ihn.

Über die tauigen Grasplätze, die feuchten Wege ging er um die geheimnisvolle Stunde dem Hause zu. Es war alles dunkel. Die ersten Fensterreihen glänzten silbern, im vollen Mondlicht, das auf ihnen lag. Vor den verhangenen Scheiben, hinter denen Lulu schlief, lehnten zwei Kränze, die im Nachttau sich erfrischen sollten. Valentin hatte, als er Lulu vom Theater nach Hause brachte, diese Kränze, die ihr Liebreiz ihr eingebracht hatte, getragen. Jetzt sah er darauf hin als auf das einzige, was ihm von ihr kündete.

Fast stieg etwas wie Unmut in ihm auf, als er bedachte, wie friedlich die Kleine jetzt schlummerte, während er, gequält von dem Glücke, ihr nahe zu sein, und von der Todesangst, sie zu verlieren, in der Nacht umherstreifte. Während dies Gefühl in ihm aufstieg, konnte er für einen Augenblick die Wandlung seines Wesens, die in letzter Zeit mit ihm vorgegangen war, überblicken, und er entsetzte sich davor. In keiner Faser gehörte er mehr sich selbst, hilflos mußte er über sich ergehen lassen, was die Mächte über ihn beschlossen. Und bis jetzt hatte er ein sehr ruhiges Leben geführt, in dem er sich selbst als sein eigenes, unbestrittenes Eigentum anzusehen gewohnt war.

Unwillkürlich gedachte er in diesem Augenblicke der Tage in Nürnberg, in denen sein Hang, in Vergangenes sich zu versetzen, ihn zu fast ähnlichen, wenn auch unendlich schwächeren Empfindungen, wie sie ihn jetzt aufrieben, getrieben hatte. Dort in Nürnberg, so schien es ihm, hatten die Gefühle, denen er sich hingab, zum ersten Male ihn überwältigt, so daß er sich ihnen widerstandslos überlassen mußte. Zum ersten Male hatte damals eine Leidenschaft an ihm gezehrt. Er hatte in der alten, schicksalsreichen Stadt seiner Anlage nach so empfinden müssen, wie er empfunden. Dieses war durch die äußeren Umstände von seiner Natur verlangt worden, und zwar rückhaltlos. Jede Schwäche, jede Unvollkommenheit hatte herhalten müssen.

So ging es ihm auch jetzt wieder, nur unsagbar mächtiger gebot das Leben, sich ganz hinnehmen zu lassen. Und während in seinem Kopfe solche Erkenntnis aufleuchtete, empfand er seinen Zustand mit Angst und fast mit Empörung seine Hilflosigkeit, die enge, unentfliehbare Verkettung seiner Person mit einer überschwenglichen Leidenschaft.

Nur einen Augenblick aber sah er die Fesseln und das Gewaltsame, in das er sich begeben hatte, mit Schrecken; gleich darauf überkam ihn wieder Blindheit, die das eben Geschaute einem Traum gleich vergessen machte. Und wie im Taumel starrte und träumte er weiter, sog in Gedanken an Lulus Nähe Leben ein, um sich weiter peinigen und beglücken zu lassen.

Sachte schlich er an ihr Fenster, brach von einem der Kränze ein paar Blüten und drückte seine glühenden Lippen auf die frischen Blätter. Darauf ging der arme Gefangene gesenkten Hauptes wieder durch das feuchte Gras den Garten entlang und schlug den schmalen Pfad ein, der durch das tauige Gebüsch nach jenem ernsten Platz führte.

Da stand er und sah den Mondschein auf den Tannen und dem Kreuze liegen. Hier war tiefste, abgeschiedenste Ruhe. Valentin warf sich vor der hölzernen Kiste, die Lulu ihr Lieblingsplätzchen genannt hatte, nieder und preßte die Stirne darauf. Er schloß die Augen, um sich die Stimme der Kleinen und jedes Wort, das sie hier gesprochen, zu vergegenwärtigen. – Wie herzlich und rührend klang es ihm hier noch nach!

Es war das erstemal gewesen, daß Lulu ihm eine ernste Neigung ihres Herzens verraten hatte. Das erstaunte und beglückte ihn jetzt wieder von neuem.

»Sie hat ein gutes Gemüt«, flüsterte er leise vor sich hin und strich mit der Hand schmeichelnd über den Grasboden, den ihre Füßchen betreten hatten. Jetzt öffnete er die Augen, hob den Kopf und blickte auf das mächtige, mondbestrahlte Kreuz, und ihm war, als sähe er mit Lulus Augen, so sehr vergegenwärtigte er sich, daß sie oft und lange daraufgeblickt habe. Unverwandt starrte er hin, das Kreuz schien nach der heiligen Last zu verlangen. Tief durchschauerte ihn dieser Gedanke und kaum begriff er, wie Lulus leichtlebiges Seelchen solch eine große Vorstellung in sich tragen konnte. Er war von der Idee, die Gestalt des Heilands jetzt, hier am Kreuze zu sehn, auf das tiefste erschüttert und beklommen.

Sie hatte ruhig und einfach den Gedanken ausgesprochen, und wunderbarerweise fuhr es Valentin durch den Kopf, daß dies der einzige Wunsch gewesen war, den er je von Lulus Lippen gehört, wie es auch das einzige Mal war, daß sie aus dem Herzen heraus ihm gegenüber gesprochen hatte. Nicht um einen Schritt war er, von ihrer ersten Begegnung an, ihr nähergekommen. Die Form, die sie für ihre Gefühle gewählt, hätte ebensogut einen Reichtum von Liebe umschließen können, wie sie auch ein leichtsinniges Herz verborgen halten konnte.

Da überkam ihn eine wilde Traurigkeit, daß sie ihm so fremd geblieben, und mit einem Male wußte er klar, daß sie von ihm gehen würde, daß nichts sie bei ihm zurückhielte. – Nichts! Diese Gefühle überströmten ihn zum Ersticken. Er sprang auf, stöhnte tief, stand dem Kreuze gegenüber, breitete die Arme gequält aus und blieb so, wie in Gedanken versunken, in der leidensvollen Stellung des Erlösers stehen.

Als er das gewahrte, fuhr ihm ein Schauer, eine seltsame Vorstellung durch die Glieder. Ohne wagen zu können, sich zu rühren, verharrte er so. Heftig fing sein Herz zu schlagen an, und er starrte wie gebannt auf das mächtige, ihm düster drohende Kreuz. Da ließ er endlich seine Arme niedersinken, konnte sich aber zu keiner anderen Bewegung entschließen. Als hätte der Blitz ihn getroffen, stand er, von einem Gedanken berührt, der plötzlich fast unvermittelt über ihn hergefallen war, und unter dessen Gewalt er körperlich erzitterte. – Es dauerte eine Weile, ehe er sich einigermaßen fassen konnte. Angestrengt suchte er nach etwas, das ihn vor dem Überfall seiner schrankenlosen Phantasie sichern konnte, aber währenddessen war er nicht imstande, von dem Kreuze einen Blick zu wenden; gewaltig zog es ihn an.

Da sah er mit einem Male, als erwachte in seinem Hirn etwas längst Vergessenes, den heimlichen Waldsee vor sich, in dem seine Gestalt mit Wolken und hellgrünenden Buchen sich schön vereinigt spiegelte; und er erschrak. Denn mit einem einzigen Überblick stand ihm das vergangene Streben, seiner Person höheren Wert zu verleihen, vor der Seele. Von da an, als er durch die eigene Schönheit beglückt, mit dem wunderbaren Musikanten zusammentraf, bei dessen Künstlertum, im Anhören der guten Leistungen die Sehnsucht nach einer geistigen Gabe und Würde sich in Valentin geregt, bis zu dem kläglichen Ende, das sein nutzloses, armseliges Streben genommen hatte, durchlebte er alles wieder. Aber diese Bilder waren nicht imstande, den einen plötzlich über ihn hereingebrochenen Gedanken zu verscheuchen. Sie tauchten in ihm unter, und nur der Schmerz blieb Valentin davon zurück, daß er nichts erreichen konnte, was ihm den hohen Wert verliehen hatte, den er einst innig für sich ersehnte, und daß er nie und nimmer das nach Reichtum und Glanz strebende Geschöpf an sich zu fesseln vermöge, mit all seiner übermächtigen Liebe nicht. –

Wie er sich endlich mit Gewalt von dem Platze losriß, schien etwas Besänftigendes über ihn gekommen zu sein. So trieb er sich lange im Garten umher, oft an den Fenstern der schlafenden Lulu vorüber, zu denen er in tiefster Versunkenheit aufzublicken vergaß.

Abgemattet und innerlich gequält, ging er endlich, als der Morgen schon dämmerte, den Weg zu seiner Kammer zurück. Schlaf fand er nicht, und wie es an demselben Morgen in der Werkstatt um ihn stand, läßt sich denken. – Die nächsten Tage, welche auf die erregte Nacht folgten, waren wunderlichster Art.

Als er Lulu wiedersah, hatte er das Gefühl, als müßte er vor ihr etwas verbergen, und ihm war es, als könnte sie ihm die Qual der vergangenen Nacht von der Stirne lesen. Lulu erschien heiter, sorglos und mutwillig wie immer.

Valentin, dem das ganze Bewußtsein seiner Leidenschaft zuteil geworden, blickte, dadurch belastet und gefesselt, schwerleidend zu dem freien Geschöpfe auf, und da über Nacht eine Wandlung mit seinen Gefühlen vorgegangen war, erschien ihm Lulu fremd und ihm unendlich fernstehend, so daß er sie gleichsam zum ersten Male wiederzusehen glaubte und den vollen, wieder neuen Eindruck ihres Liebreizes hatte; und zwar empfand er ihn auf eine ungewohnte, erhöhte Weise tief poetisch, denn Poesie ist ein Beiseiteschieben des gewohnheitsmäßigen Schauens, durch welches man mit Bewußtsein und Kraft eine uns vertraute Erscheinung zum ersten Male voll genießt. Menschen, deren innerstes Wesen nach Schönheit strebt, geschieht es, daß die Leidenschaft, wenn sie in das Übermäßige wächst, von Poesie verklärt, doch nicht gesänftigt wird. Die aber gerade sind es, die zu nicht zu sühnenden Verbrechen gegen Sitte und Gesetz und zu tiefsten Leiden getrieben werden.

Die beiden saßen, ganz verschiedenartig empfindend, beieinander. Lulu sprach scheinbar absichtlich oft von ihrem baldigen Abschied aus dem Städtchen, und Valentin hörte ihr jedesmal ohne Erwiderung zu: ihn erstarrte dieser Gedanke. Und da er so große Ruhe, die nicht ahnen ließ, was sie verbarg, bei Lulus Andeutungen an den Tag legte, war dies der kleinen Person nicht recht, weil sie hinter Valentins Benehmen ihrem Ermessen nach vermutete, daß er sich in das Unvermeidliche finde. Sie ließ daher nicht nach, das Feuer höher anzufachen, nicht mit der Absicht, ihn zu schädigen, sondern nur von Unruhe, Neugier und Eitelkeit getrieben, zu erfahren, wie es wohl um ihn stehen möge. Feierabends kam er nach wie vor in die Bügelstube, oder holte Lulu aus dem Theater ab. An dem Sonnabend, am Ende der für Valentin schwer ertragenen Woche, saß er schweigend und bedrückt auf seinem gewohnten Platze. Die alte Ambrosius bügelte noch im vollsten Eifer, ließ bei Gelegenheit, um ihren Stahl zu prüfen, den angefeuchteten Finger das heiße Eisen berühren, daß es kurz aufzischte, und strich dann unaufhaltsam weiter.

Lulu war aufgestanden und an das Fenster getreten, blickte gedankenlos in das Dunkel und sang vor sich hin. – Valentin sah unverwandt schmerzlich auf sie, mit dem Gefühle, als ströme jedes Glück und jedes Elend von ihr aus. Er schloß die Augen, da empfand er, wie in seine Stirn, in den innersten Nerv, Lulus süßes Bild gedrungen war. An die Möglichkeit, sie halten zu können, glaubte er nicht mehr, bei ihrem Anblick lag nur die Voraussicht, von ihr getrennt zu werden, lähmend auf ihm, verstärkte aber den Eindruck ihrer Reize und den heißen Wunsch um ein Beträchtliches, etwas zu tun, das der Kraft seiner Liebe gleichkäme. – Etwas mußte geschehen; unmöglich konnte die Liebe, die ihm als Zweck und Ziel seines Daseins erschien, als Erfüllung jeder Hoffnung, wieder verschwinden, ohne etwas Bedeutungsvolles ausgerichtet zu haben. Daß dieses dennoch geschehen könnte, schien ihm unerträglich zu fassen, und das Grauen, welches ihn bei dieser Möglichkeit überschlich, war tief erregend. Solch eine Lebensgewalt sich ziellos zu denken, zu denken, daß sie nur da sei, um zu erwachen, wie ein Sturm zu wüten und wieder in der Alltäglichkeit zu vergehen, das konnte und durfte nicht sein. Von ihr den Untergang erwarten, war Befriedigung gegen dies zwecklose Austoben mächtiger Kräfte.

Verzweifelte Gedanken bewegten den armen Burschen, der schweigsam und von beiden Frauen kaum beachtet, in dem Zimmer saß und tief empfand, daß er nie verstanden werden konnte. Solch ein Gefühl ist schicksalsvoll für einen Menschen, in dem etwas Ungewöhnliches sich gestalten will: dann erst ist er schrankenlos seinem Verlangen hingegeben, wenn er sich bewußt geworden ist, daß er durch das, was in ihm vorgeht, von seinen Mitmenschen abgesondert, daß ein Mitteilen für ihn unmöglich geworden ist.

Für Valentin begann von dieser Zeit an ein merkwürdiges Stück Leben. Mit Ruhe sah er in jenen Tagen den Abschied näher und näher rücken. Diese Ruhe hatte ihren Grund nicht in einer Verminderung der Leidenschaft für das Mädchen, auch nicht in einer fassungslosen Unterwerfung, sondern in einer gewissen Harmonie, die er zwischen dem Schicksal und seiner Kraft hergestellt hatte, in der Idee, etwas zu tun, das gleichsam den Grenzstein seiner Leidenschaft setzen konnte, sagen zu können: Das ist es, was ich aus Liebe tat. –

Zu dieser Zeit stand er dem Maler oftmals zu dessen Christusbilde und ging nie ohne Erregung und Spannung zu ihm hin. Mit Herzklopfen tat er bei ihm hin und wieder Fragen, an deren Beantwortung ihm lag. Ohne daß der Alte eine Ahnung davon hatte, bewegte sich in Valentin das Wunderlichste, was je in einem jungen, leidenschaftlichen Kopfe entstanden war.

Wenige Tage vor der Abreise der Schauspieler traf Valentin, als er in die schon dämmerige Bügelstube trat, Lulu, welche allein am Ofen saß.

Sie streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Nun geht es von hier; ich möchte, es wäre schon vorüber. Mir ist so ein Abbrechen, die Unruhe und alles das, was man fühlt, wenn man auf Nimmerwiedersehen von einem Orte geht, der einem gewohnt geworden ist, recht zuwider.« Valentin erwiderte nichts. Er hätte auf der Welt nicht gewußt, was da noch zu sagen wäre.

»Wollen wir miteinander in den Garten gehen?« fragte sie. »Ich war heute den ganzen Tag nicht draußen.«

»Ja«, sagte Valentin schwer bedrückt.

Sie gingen beide schweigend nebeneinander her. Lulu hing ihren Gedanken nach und bemerkte Valentins Schweigsamkeit nicht. Der aber war heute gekommen, um eine Bitte, die ihm nicht über die Lippen wollte, an sie zu wagen.

Endlich brach Lulu die Stille und sagte mit ihrer heitern, klaren Stimme: »Das ist zu trübselig, Valentin: wozu das Leben sich verbittern.«

Sie schaute sich um und hing sich fast schmeichelnd an seinen Arm. »Valentin, nicht wahr, du nimmst dir den Abschied nicht zu sehr zu Herzen? Mir sollte das sehr leid tun. Valentin, du bist gut?«

Da wußte er nicht zu hindern, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Er blickte Lulu an, ohne zu antworten, und konnte sich zum Sprechen nicht entschließen. Er führte sie nach ihrem schönen Lieblingsplatz. Der war zu jeder Tageszeit ein ernster, weihevoller Aufenthalt, der in seiner großartigen Einfachheit immer eindrucksvoll blieb. »Mein lieber Platz!« sagte Lulu innig und ließ sich auf ihr hölzernes Kistchen nieder, das vor dem steinernen Sockel des mächtigen Kreuzes stand. »Wer mag die hierher gesetzt haben?« fragte sie.

»Ich!« sagte Valentin. »Das war ich.«

Lulu achtete kaum auf ihn; eine kleine, wehmutsvolle Abschiedsstimmung hatte sie überkommen, an der sie zaghaft naschte, wie ein verwöhntes Kind es an einer unbekannten, wenig vertrauenerweckenden Speise tut.

Valentin stand mit klopfendem Herzen und im Kampfe mit sich selbst, endlich sich den Mut zu reden abzuringen, vor ihr. Doch wollte es noch nicht zum Siege kommen.

»Wenn ich einmal reich bin«, sagte Lulu, »dann soll ein Meister hier für mein Kreuz mir einen Christus zustande bringen, so schön, wie sie noch keinen gesehen haben. Und dann komme ich wieder einmal hierher. Es ist doch ein Trost, wenn man nicht für immer Abschied nimmt.«

»Lulu!« rief Valentin und sank wie überwältigt vor ihr hin: »Ich liebe dich, wie dich nie ein Mensch wieder lieben wird.«

Da erwiderte sie nichts, suchte aber nach etwas, um sich und ihn schnell vergessen zu machen, was er gesagt hatte. Doch wußte sie kaum, was sie sprach und flüsterte: »Du, weißt du noch, wie du mir die Geschichte von der Apollonia erzähltest? Die gefiel mir nicht. Mich ängstigt es, daß es welche gibt, denen die Liebe zum Elend und Unglück wird. Valentin sei klug: die Liebe ist es wahrhaftig nicht wert, daß man sich ihretwegen zugrunde richtet. Nimm dich zusammen! Wenn du es willst, schreibe ich dir einmal, und vielleicht sehen wir uns auch wieder. – Wer weiß das?«

So suchte die kleine, etwas pedantische Hexe den armen, gequälten Burschen auf ihre Weise zu trösten. Daß ihr eigenes Glück bei diesem Handel die Hauptsache bildete, daran, wie begreiflich, zweifelte sie keinen Augenblick. – Sie stand auf und hing sich wieder an Valentins Arm, als wäre nichts geschehen.

»Lulu«, sagte Valentin, »ich werde dich nicht wieder quälen, verzeihe mir. Ich weiß nun zur Genüge, wie es um mich und dich steht, und wenn du gehst, sollst du eine Klage von mir nicht hören. Das glaube mir.« – Hier stockte er und blickte zu Boden. »Aber ich denke, du weißt, wie sehr ich dich liebe, – und wenn ich dich um etwas bitte« – er stockte wieder, das Herz klopfte ihm zum Zerspringen, »dann wirst du es nicht abschlagen. Komme heute noch einmal hierher, ein einziges Mal tue es!«

»Weshalb?« fragte Lulu ruhig.

»Weil ich möchte«, erwiderte er erregt, »daß du einmal etwas tätest, was du meinetwegen tust. Nur auf einen Augenblick komme«, bat er innigst.

»Du bist ein närrischer Mensch. Was hast du davon, wenn ich komme? Sehen wir uns nicht täglich, und kommst du nicht, sooft du nur willst?« Das sagte die Kleine ernsthaft.

»Ja«, erwiderte Valentin; »aber ich bitte dich doch.«

Er war, während er sprach, auffällig bleich geworden. »Sage mir«, fragte er heftig, »ob du willst oder ob du nicht willst? Aber quäle mich nicht.«

Lulu sah ihn an, und etwas wie Mitleid um den Toren, der seiner Gefühle so wenig Herr war, wie es ihr schien, überschlich sie. Zu keinem Menschen außer zu ihrer Mutter hatte sie je solches Vertrauen empfunden wie zu dem guten, schönen Freunde, und sie sagte: »Ja, wenn du nicht anders willst, dann komme ich; aber wann?«

»Heut nacht. Um elf Uhr«, sagte er. »Mit dem ersten Schlage, wenn es an der ersten Uhr schlägt, dann mußt du hier gerade auf dem kleinen Weg sein und dann kommst du.«

Lulu blickte nachdenklich vor sich hin. »Etwas unbequem ist das«, sagte sie lächelnd, »da muß ich zu dem Fenster hinaus, denn durch das Haus komme ich so spät nicht mehr.«

»Wir stellen einen Stuhl davor«, sagte Valentin beruhigend.

»Ja, das glaub' ich«, lachte sie, »versucht hab' ich es schon öfters; aber es wird sehr dunkel sein.«

»Nein«, sagte er, »wir haben Mondschein. Gerade um elf Uhr, da ist es so hell, wie es nur sein kann.«

»Ich fürchte mich nicht«, erwiderte sie.

»Komme ja!« bat er mit einem Ausdruck, der ihr in die Seele dringen mußte. »Aber ich bitte dich, komme mit dem Schlage elf, sonst gar nicht. – Nein, dann komme sicher nicht.«

»So, – dann nicht, du Eigensinn? – Du sollst sehen, daß ich komme. Glaube nur, für mich ist die Heldentat, einmal nachts durch den Garten zu gehen, nicht so groß, wie du es dir vorstellst. Ich habe es schon manchmal getan. Wenn ich an meinem Fenster vor dem Schlafengehen stand, da hat es mich hinausgelockt.«

»Lulu, ich danke dir«, sagte er und gab ihr die Hand. »Hättest du nicht kommen wollen –«, er blickte wie träumend starr vor sich hin und sprach nicht aus. »Lebe wohl! Rufe, wenn du auf dem schmalen Weg gehst, ich höre dich dann.«

Sie versprach es, und Valentin nahm von ihr Abschied, wendete sich noch einmal um und flüsterte heftig: »Du kommst! Du kommst, Lulu!«

»Ja, ich komme, du kannst mir glauben«, sagte sie fast treuherzig und fügte nach einem Weilchen hinzu: »Du warst nie anders als gut mit mir.«

Sie streckte ihm noch einmal die Hand entgegen, die er innig drückte, dann verließ er sie. Das aber ist das letztemal gewesen, daß sie im gewohnten, wenn auch von beiden sehr verschieden empfundenen Glücke beieinander gestanden haben. Die leichtlebige Kleine hatte in der Begegnung mit dem sanften, schönen Menschen eine Befriedigung gespürt, er war ihr sympathisch gewesen, nichts an ihm hatte ihr bewußt Mißfallen erregt; nicht das geringste. Zum eigentlichen Nachdenken über ihn und seine Beziehungen zu ihr war sie nicht gekommen; wie man eine zufällige Annehmlichkeit entgegennimmt, so ließ sie sich seine Güte und Bewunderung gefallen. Er aber hatte, seit er die schöne Lulu kannte, erfahren, daß die Liebe eine todbringende Macht sein könnte; daß, je nachdem die Würfel fallen, sie alles zu geben und alles zu nehmen imstande sei. Und ihm war, nachdem er das erkannt, als müsse man ihr wie ein unschuldig Angeklagter, der auf seinen Richterspruch harrt, entgegensehen. Er liebte mit der Kraft, die der Liebe ihren tiefsten Zauber, ihre unerbittlichste Gewalt, ihre Seligkeit und ihr schwerstes Leid verliehen hat.

Frau Ambrosius war längst in ihrer Bügelstube zur Ruhe gegangen. Das Licht war gelöscht, und sie schlief ihren gesunden, festen Schlaf. Da stand ihr leichtsinniges Töchterchen noch an dem offenen Fenster ihrer Kammer. Sie hatte die Türe, welche sie von der Mutter trennte, leise verriegelt und schaute in den hellen Mondschein, der über dem einsamen, schweigenden Garten lag, hinaus. Mit einem dünnen, dunkeln Tuch hatte sie Kopf und Schultern bedeckt, so daß nur das rosige Gesicht und ein paar muntere Locken hervorschauten. Unbeweglich lehnte sie am Fenster und lauschte. Es war eine warme, schöne Sommernacht, und sie genoß sie ganz behaglich; nur ein wenig Unruhe ließ ihr das Herz schneller schlagen. Sie blickte zum Himmel empor, da sah sie den Mond in blendender Klarheit seine freie Bahn ziehen. Einsam und geheimnisvoll schwebte er in dem gewaltigen Raume, der das silberne, kalte Licht des mächtigen Gestirns in sich aufsog. Wie gebannt blickte Lulu in die schimmernde, alles durchrinnende Luft. – Nichts regte sich. – Ein Heimchen begann zu zirpen und erfüllte scheinbar mit seinen feinen, durchdringenden Tönen die ganze Weite.

Da schlug es durch die stille Nacht an der ersten Uhr und verkündete der Lauschenden, daß sie in der kommenden Viertelstunde ihr Versprechen zu lösen habe. – Da klopfte ihr das Herz, – und wieder schlug es an einer Uhr, – und noch an einer. Dann war alles still, wie vorher; – totenstill. Das Plätschern eines Brunnens, das sie noch nie vernommen zu haben glaubte, tauchte aus der schweigenden Nacht auf gleich einem Gedanken, der mit einem Male uns bewußt aus der Erinnerung aufzusteigen scheint.

Nun wartete sie noch eine Weile – jeder Augenblick schlich ihr langsam dahin – dann schlüpfte sie geschickt wie ein Kätzchen zum Fenster hinaus und schlich vorsichtig am Buschwerk entlang. Die ganz vom Licht überschimmerten Bäume warfen dunkele, festbegrenzte Schatten, und der Boden war von dem hellsten Mondschein, der neben sanftester Dunkelheit doppelt grell erschien, wunderbar belebt. Der vom Tau tropfende Grasrand streifte ihr das Kleid, so daß sie es enge um sich zog. Sie erschrak, – es huschte etwas über den Weg. – Das mochte ein Mäuschen sein. – Was sonst? dachte Lulu, aber das Herz klopfte ihr mit einem Male, als sollte es zerspringen. Sie blieb stehen. – Die tiefe Einsamkeit bedrückte sie. Alles glänzte, schimmerte und leuchtete in unheimlichem Lichte. Ganz entfernt bellte ein Hund; – aber wie entfernt! Nur wenn sie achtsam lauschte, hörte sie es hin und wieder. – Und mit diesem ganz wesenlos, aus unbestimmter Weite drangen Geräusche bis zu ihr, unzusammenhängend, fremd. Ob sie wirklich etwas vernahm, oder ob der eigene Atem sie getäuscht, konnte sie in ihrer Verwirrung nicht unterscheiden.

Jetzt stand sie an dem kleinen Pfad und wartete auf den vollen Schlag der Uhr. Fest hüllte sie sich in ihr Tuch und hielt es mit einer Hand auf der Brust zusammen, da fühlte sie, wie sich das Herz in ihr ängstigte. Noch nie hatte sie auf das Wesen der Nacht so geachtet wie heute. Sie erschien ihr von allem Leben verlassen zu sein, und es graute ihr, als sie überlegte, wie tief vereinsamt und unbekannt diese Stunden ewig gewesen sind und sein werden, solange die Welt steht. Da schlug die Uhr. Lulu fuhr zusammen und bog zaghaft in den schmalen Weg ein. Jeden Schritt, den sie tat, hätte sie zurückhalten mögen, so sehr erschrak sie bei dem Geräusch, das sie verursachte. Ein Zweig, der ihr unter den Füßen brach, schien die grenzenlose Stille zu entweihen.

»Valentin!« rief sie. Nicht weil er sie bei dem Abschied gebeten hatte zu rufen, sondern weil es sie gewaltsam dazu drängte. Es war ihr, als hätte sie, ohne zu rufen, ersticken müssen. – Sie blieb stehen und horchte. – Keine Antwort. »Valentin!« rief sie noch einmal; – aber nichts regte sich. Da schöpfte sie tief Atem und schlich weiter. Jetzt taten die Büsche sich auseinander, das volle Mondlicht glänzte ihr entgegen, scheu blickte sie noch einmal neben sich in das Dunkel hinein, hob dann wieder die Augen; und – das Herz blieb ihr stehen, eisig durchrann es sie. Sie wollte aufschreien, aber die Kraft versagte ihr. Vor ihr, auf dem Kreuze erhöht, leuchtete übersinnlich im Mondschein das Bild des Gekreuzigten mit der Dornenkrone. Die Arme weit ausgebreitet, das Haupt zur Seite geneigt und den Blick zum Himmel gerichtet, gewaltig schön, wie je ein Mensch auf Erden den Gekreuzigten im Geiste hätte schauen können.

Unglaublich war, was sie sah, zu unerhört, um es zu fassen, doch durch die Schönheit, die das Bild ausstrahlte, himmlisch gemildert. Wie gebannt blickte sie darauf hin. Das Erstarren schwand ihr aus den Gliedern, noch wogte jedes Gefühl in ihr, und sie zitterte, von der Gewalt des Schreckens fast verlassen. – Das übersinnliche der Erscheinung durchbebte sie, und etwas wie Anbetung, wie ein Vergehen in dem Augenblick durchdrang sie. Lulu preßte die Hände fest an die Brust und starrte auf das ihr einst bekannte und nun unendlich weit entrückte Haupt, das unnahbar, geisterhaft über sie hinwegschaute.

Und es war ihr, als läge auf den übermenschlich schönen Zügen, deren Schönheit sie bis dahin nicht entfernt geahnt hatte, solch tiefes Leiden, daß ihr davor graute. Ein leichter Windhauch fuhr über die dunklen Tannen, die hinter dem Kreuze, das seine geisterhafte Last trug, in die Höhe starrten. Und bei dem leichten Hauch bewegte sich das Haar, das unter der Dornenkrone dunkel hervorquoll, kaum merklich.

Da durchfuhr es Lulu mit neuem Schrecken. Sie warf noch einen langen Blick auf das Bild, unbewußt, wie um dessen Schönheit und Gewalt tief noch zu erfassen, seufzte schwer auf und trat, die Hände noch immer fest über der Brust zusammengepreßt, unsicher und zitternd wieder in den dunkeln Pfad zurück. Sie ging nicht schnell, das hätte sie nicht gekonnt. Jedes Gefühl in ihr war auf das äußerste angespannt. Sie hatte in dem heiteren Seelchen nicht Kraft genug, zu fassen, was sie gesehen, und ging in schwerer Dumpfheit durch den mondbeschienenen Garten. Seit sie die Erscheinung nicht mehr vor Augen hatte, wuchs in ihr das befremdliche Grauenhafte über jede andere Empfindung. Nicht zurück, nicht nach den Seiten wagte sie zu blicken. Mit niedergeschlagenen Augen, so daß sie nur bei jedem Schritte von dem nächtlichen Garten einen feucht glänzenden Streifen Weg und Wiese schimmern sah, ging sie langsam vorwärts. Dem Hause schien sie nicht näher kommen zu können, so dehnte sich der nebelhafte, durchleuchtete Raum, der sie von ihrem sichern Kämmerchen trennte, vor ihr aus. Von der Gewalt des Erlebnisses war sie ganz niedergebeugt, wie ein erschrecktes Vögelchen in sich zusammengeduckt, und wußte nicht, was sie mit sich selbst beginnen sollte.

Das heitere, leichtsinnige Geschöpf, das die Gewalt, das Verzehrende und den Ernst der Liebe nicht anerkennen wollte, war nun mit einem Male ganz davon geängstigt und überwältigt. Sie entsetzte sich davor. Die Liebe erschien ihr wie ein drohendes Unheil. Da sie selbst nicht imstande war, leidenschaftlich über alles Hindernde hinausstrebend zu lieben, war ihr die Gewalt, die sie in einem anderen Herzen erregt hatte, doppelt fremd und erschreckend. Und ähnlich, wie der Gedanke an den Tod sie mit Grauen erfüllte, so erschütterte sie die Vorstellung der Leidenschaft, die sich ihr übermächtig offenbart hatte.

Da gedachte sie des Abends, als Valentin ihr die Geschichte der Apollonia mit der ganzen Kraft seiner eigenen Empfindung erzählt und wie sie fast widerwillig zugehört und an der Erzählung keinen Gefallen hatte finden können.

Endlich war sie vor ihrem Fenster angelangt, blieb aber lange regungslos, ohne daß sie wagte einzuschlüpfen. Immer von neuem durchschauerte sie die fremdartige Gewalt der Erscheinung.

Als sie in ihrer Kammer angstvoll und bewegt stand, das Fenster geschlossen und den Vorhang fest zugezogen hatte, da fühlte sie sich etwas gesichert und von dem, was ihr draußen in der Nacht erschienen war, getrennt.

Sie zündete ein Licht an. Vor Erregung standen ihr heiße Tränen in den Augen. Ein Madonnenbildchen hing über ihrem Bette, darauf waren Lulus Blicke gerichtet. Sie hob die gefalteten Hände und flüsterte: »Hilf mir; beschütze mich!« Dann begann sie sich auszukleiden; als sie sich aber niederlegen wollte, wurde es ihr sehr bänglich zumut. Sie blieb mit offenen Augen stehen und blickte unschlüssig vor sich hin.

Nach einer Weile nahm sie ihr Licht, schob den Riegel von der Tür vorsichtig zurück und schaute in die große Bügelstube hinein. Da lag Frau Ambrosius und schlief den Schlaf der Gerechten. Lulu wollte sie wecken, entschloß sich aber nicht dazu. Sie schlich wieder zurück, holte geräuschlos Decken und Kissen, ging damit sachte, wie ein Geistchen, bis an das Bett der Mutter, machte sich dort ein Lager zurecht, löschte in ihrer Kammer das Licht und legte sich dann nahe bei der guten Frau Ambrosius nieder. Aber zum Einschlafen konnte die Kleine lange nicht kommen. Wenn sie die Augen schloß, stand das geisterhafte Bild lebendig und gewaltig vor ihr, und immer von neuem erlebte sie die übermächtige Bewegung. Als Frau Ambrosius mit dem Frühesten erwachte, fielen ihre Blicke auf das Töchterchen, das in die Decke gewickelt vor ihrem Bette lag und schlief.

»Da hat die Katze sich gefürchtet«, sagte die Frau vor sich hin und schüttelte lächelnd den Kopf. Schnell war sie auf und fertig, nahm dann die nach langem Wachen festschlafende Lulu in die Höhe und legte den Schelm auf das eigene Bett hinauf. Sie hatte ihren Spaß daran, daß das verschlafene Ding gar nichts davon gemerkt hatte, und schaute sie sich an, weil sie gar so frisch und reizend vor ihr lag. Hätte sie geahnt, welch Geheimnis der hübsche Mund verschloß und welchen Schrecken und Gewalten der Morgenschlaf die Kleine entrückt hatte!

Als Valentin an diesem Morgen in die Werkstatt kam und sich schweigend und düster an seine Arbeit machte, erschrak der Meister beinahe vor dessen Aussehen und betrachtete ihn. Valentin hörte und sah nicht, was um ihn her vorging, und war schwer befangen. Nach der Arbeitszeit, als er ohne aufzublicken in der Werkstatt zurückblieb, trat der Meister auf ihn zu und sagte: »Ich meine es gut mit dir. Daß du einen Kummer hast, haben die Frau und ich längst bemerkt. Willst du es mir sagen? Ich glaube, daß es gut für dich sein würde. – Mir hat dein Umgang drüben mit den Ambrosiussens lange schon nicht gefallen, alter Junge«, dabei klopfte der gutmütige Meister seinem Gesellen auf die Schulter. Dem aber stieg in sein bleiches Gesicht dunkle Röte.

»Drüben wird das Haus bald leer sein«, fuhr der Meister fort. »Das drückt dir am Herzen, nicht wahr?« Valentin aber erwiderte nichts.

»Nun, nun, das gibt sich«, meinte sein Brotherr. »Laß nur die Zeit vergehen«, und er ging, da er nichts Besseres zu sagen wußte, aus der Werkstatt.

In Valentins Seele aber sah es böse aus. In der einsamen Nacht, die er bis auf das äußerste erregt verbracht hatte, waren ihm mit einem Male und zu spät, als die Tat geschehen, die Augen aufgegangen, und er hatte sich entsetzt, als er sich bewußt geworden war, daß er das Heiligste in seine Liebe mit hineingezogen habe. Tiefstes Erschrecken über das, was er getan, eine peinigende Furcht vor sich selbst war mit einem Male in ihn eingezogen, und Angst durchdrang ihn, als er sich überlegte, wie blind und heiß er nach dem jetzt wieder Undenkbaren gestrebt hatte. Ihm war, als könne er keinen Menschen frei anblicken; die Möglichkeit, Lulu wiederzusehen, erfüllte ihn mit Verwirrung.

Er durfte und konnte ihr nicht wieder begegnen und fühlte fast mit Beruhigung sich ewig von ihr getrennt. Er wagte kaum Schmerz zu empfinden, denn er schien sich so tief schuldig, daß er ohne Murren jedes Leiden ertragen hätte.

Die Freundlichkeit seines Meisters verwunderte ihn, denn da, als der Gute in vollem Wohlwollen ihm tröstend auf die Schulter geklopft hatte, war ihm seine Schuld so zu Kopfe gestiegen, daß es ihn schwindelte. Er wäre am liebsten vor seinem Meister niedergefallen, nicht um zu gestehen, denn wie wären die Worte, die sein Geständnis ausgemacht hätten, ihm über die Lippen gekommen. Dunkel empfand er, er wolle um Verachtung, – Elend, Tod bitten. Valentin hatte sich selbst vollkommen verloren. Daß in ihm Widerstandsfähigkeit lebte, mit der er sich jedem Sturm gegenüber eine Meile behaupten könne, fühlte er nicht. Er war von seiner Art zu empfinden ganz niedergeschmettert und wagte in demütiger Zerknirschung keinem Gefühle, das anklagend in ihm auftauchte, sich entgegenzustellen.

So lebte er hin, tat seine Arbeit, und zwar besser als je, antwortete auf alle Fragen des Meisters, die die Arbeit betrafen, kurz und ruhig, sonst aber war er verschlossen und unnahbar.

An dem Tage vor Lulus Abreise stand er in seiner Kammer. Es war gegen Abend, die Luft gewitterschwül, und er hörte hin und wieder einen Windstoß in den Baumkronen des für ihn so sehr verhängnisvollen Nachbargartens. Da mit einem Male durchbrach die Sehnsucht nach dem geliebten Geschöpf mächtig sein niederdrückendes Schuldbewußtsein. Zum ersten Male stieg seit jener Nacht der Trennungsschmerz gewaltsam in ihm auf, so daß jeder andere Gedanke, jedes andere Gefühl davor zurückweichen mußte. Fast ohne zu wissen, was er tat, ging er durch das Haus, über den Hof, durch den Garten des Meisters und nahm seinen Weg über den Zaun. – Noch einmal mußte er ihr nahe sein.

Am Himmel standen dunkle Gewitterwolken, und die spätsommerliche Schwüle, die in der Luft lag, war niederdrückend. Die warmen Windstöße wurden immer heftiger und alles bog und neigte sich ihrer Gewalt. In den hohen Bäumen verfing der Sturm sich wirbelnd, und in dem fahlen Lichte sah das Laub herbstlich und grau aus. Das ist das Ende! dachte Valentin. – Er wußte, daß Lulu ihm jetzt nicht begegnen konnte, und ging mit klopfendem, verlangendem Herzen und als lade er eine neue Schuld auf sich, dadurch, daß er seiner Leidenschaft, die ihn zu großem Unrecht getrieben, wieder Bahn ließ, dem Hause zu.

In das Rauschen des Sturmes mischten sich entfernt verhallende Donnerschläge, und die großen Tropfen fielen. Er ging und starrte düster vor sich hin. Da stand er nahe vor dem Hause; die Fenster glänzten bleifarben durch die schwere Luft Er blieb betroffen stehen, tat keinen Schritt weiter vorwärts. – Ein unsagbarer Schmerz stieg ihm zu Herzen. – Dann schlich er durch den Garten, über den das Gewitter mit voller Macht hinzog, langsam zurück.

Tags darauf, als das Nachbarhaus ganz verlassen und öde war, ging Valentin in der Dämmerung auf der Straße daran vorüber. Er trug etwas, das er unter einem Tuche verborgen hielt, und schritt langsam und bedrückt der Wohnung des Malers zu. Er wußte, daß um diese Stunde der Alte nicht zu Hause zu treffen war, kam in das Atelier, ohne jemand zu begegnen, schlug die Truhe auf und legte das, was er vor Tagen daraus entnommen, wieder zurück und schloß den Deckel sachte darüber. In der Küche hörte er die Haushälterin wirtschaften und das Holzfeuer auf dem offenen Herde knistern. Er wurde nicht bemerkt, trat in das Freie und saß bald darauf hoffnungslos, schwer getroffen mit den Meistersleuten und Karl Frey bei der Abendmahlzeit.

Manches Jahr blieb Valentin in dem Städtchen und führte ein stilles Leben. Der Meister hatte Wohlwollen zu ihm gefaßt, war mit ihm zufrieden und konnte es auch sein, denn aus dem Gesellen, der in frühester Jugend eine Scheu vor der Macht der Arbeit, welche ihm auf dem Leben schwer zu lasten schien, empfunden hatte, war mit der Zeit ein zuverlässiger, fleißiger Mann geworden, der dem alten Meister Hilfe und Stütze im Geschäfte sein konnte. Valentin selbst hatte eine ruhige Zuflucht für sein bedrängtes Herz in der einst von ihm mißachteten Arbeit gefunden. Er gesundete an ihr von den Peinigungen eines schweren, eigentümlichen Schicksals, dessen Gewalt er schweigend wie ein Geheimnis getragen hatte.

Auf das tiefste war er von seiner Schuld durchdrungen. Sein gläubiges Gemüt hatte bei der vollen Erkenntnis dessen, was er getan, gelitten, und die Empfindung, daß er zu jeder Strafe bereit sein müsse ohne zu klagen, war seiner Natur nach in ihm entstanden. Nach der Trennung von der mit gewaltsamer Leidenschaft Geliebten stieg unmerklich aus ihm selbst eine wunderliche Sühne auf, die er voll erfaßte, ruhig hinnahm und gegen die er nicht zu handeln wagte. In Unterwerfung und Demut fühlte er sich selbst in der ersten, mächtigsten Erregung keines Glückes mehr wert, und keines Leidens und Klagens. In eine wunschlose Öde war er mit einem Male gestoßen. Er hätte den Mut nicht gehabt, etwas für sich zu erbitten und etwas, was ihm versagt wurde, zu beklagen; so tief fühlte er sich schuldig. Er versagte sich deshalb, soweit dies denkbar ist, das Leiden um Lulu, und er tat dieses, als müßte er es aus unerbittlicher Naturnotwendigkeit tun.

Auch jede Wehmut bekämpfte Valentin wie einen strafbaren Gedanken, bekämpfte, von dem quälenden Bewußtsein seines Unrechtes nicht freigelassen, das berauschende Sichhingeben an den Schmerz, in das andere sich wie in ein Meer hineinstürzen, darin unterzugehen meinen, doch von den Wogen nur betäubt, unendlich hin und her getrieben, abgemattet, lebensmüde auf ein ödes Ufer geschwemmt werden. Indem Valentin in Reue und Demut nicht zu klagen wagte über das Schwerste, was einem Herzen angetan werden konnte, indem er scheinbar sich strafte, hatte er das Weiseste vollbracht, was ein Mensch ersinnen mochte, um einem Schmerze zu entfliehen. So groß sein Leiden war, wurde es dadurch, daß er es vor sich selbst verleugnete, um seine größte Kraft betrogen, denn nur dann, wenn es vollkommen rückhaltlos mit uns eins wird, dann erst ist es mächtig, läßt von uns nicht ab, zehrt an uns, durchdringt jede Faser und scheidet den, in den es eingezogen, vom Leben. Valentin gesundete, während er schwer zu büßen glaubte, und ohne daß er es gewahr wurde, lag nach einem Zeitraum das Erlebte unbestimmt, nebelhaft hinter ihm. Und er saß Tag für Tag in seiner Werkstatt und arbeitete ruhig, von nichts mehr abgelenkt. Träumerei und phantastisches Drängen und Treiben, mit dem er begabt worden war, fanden jetzt keine Freistatt mehr, waren an ihm wie die erste Jugend vorübergezogen. Da es nutzlos für ihn schien, sich mit dergleichen abzugeben, fiel es in den reiferen Jahren, die mit den Kräften schon mehr haushielten, von ihm ab.

Diese unvollkommene, unnütze Gabe, die sich in ihm mit nichts, was ihm vollen Wert gegeben hätte, verbinden konnte, hatte ihn zu jener so schwer nachwirkenden, geheimnisvollen Tat getrieben. Und dennoch hatte diese Gabe etwas an ihm vollbracht und schien sich deshalb genügt und ihn verlassen zu haben. Wie es Tausenden ergeht, die in der Jugend träumen, berauscht leben und fühlen, und wenn sie in ein ruhiges Alter treten, solch wundervolles Leben wie eine abgetragene Kleidung beiseite legen und völlig ehrbar werden, so erging es Valentin. – Solche Naturen stehen unter dem Einfluß der verschiedenen Altersstufen und nicht unter der Gewalt des eigenen Charakters. Ihnen bringt die Kindheit Kindliches, so rein und frisch, wie sie es bringen kann – die Jugend, ganz Jugend, ahnungsvollstes Leben, Torheiten. Feuer und Leidenschaft schlägt ihre Herrschaft in ihnen auf, wie in einem Tempel, der nur zu Ehren dieser erbaut wurde, – doch läßt sie nichts von aller Herrlichkeit zurück, wenn es zum Scheiden kommt. Es gibt unzählige Menschen der Art, die nicht durch sich selbst, nur durch ihr Alter uns vor Augen geführt werden. Wäre das nicht der Fall, wie müßte man staunen, daß nicht mehr Wunder verrichtet werden, wenn man an die große Gewalt wundergläubiger, frischer Jugend denkt, die unübersehbar auf Erden verbreitet ist. Nur wenigen ist es vergönnt, die Macht und Reinheit junger Jahre festzuhalten und ihre Kräfte zu eigner Kraft zu machen. Solche halten die Lebensalter schön verbunden in sich selbst zusammen und es steht bestes von ihnen zu erwarten. Sie haben, was vorüberziehen wollte, unter ihre Herrschaft gebracht. Wenig ist ihnen geraubt und vieles gegeben. Valentin aber trat aus dem Jünglingsalter erleichterten Herzens und atmete in der Alltäglichkeit so frei und zufrieden, als lägen nicht, wenn er die Blicke nur heben wollte, lockende Weiten vor ihm und um ihn. Durch sein zufriedenes, von Erinnerung kaum mehr behelligtes Leben war mit seiner Schönheit ein Wandel vorgegangen. Das Zarte, Geistige, was seinen Zügen und seiner Gestalt einen so wunderbaren Reiz verliehen hatte, der vor Zeiten von den Nachbarsleuten übel gedeutet worden war und der diesen von je ein ärgerlicher, fremder Anblick gewesen, diese Weihe der Schönheit war mit den Jahren von ihm gewichen. Das Leben hatte das seinige dazu getan. Er war gehörig voller und stämmiger geworden. Seine Gesichtszüge hatten sich nicht verändert, nur standen sie jetzt in einem ungleichen Verhältnis zu den Wangen, die aus ihren feinen Formen getreten waren, sich verbreitert hatten und Augen, Nase und Mund gleichsam einzuengen schienen.

Da geschah es, daß ihm eines Tages der Tod seines Vaters gemeldet wurde. Er hatte den Alten seit Jahren nicht wieder gesehen. Meister Bärlein war am Schlagfluß gestorben, nachdem er bis dahin friedlich und in erträglicher Gesundheit seine Jahre auf dem Kannerückchen zugebracht. So schnell es ging, machte Valentin sich auf, um nach seiner Vaterstadt zu reisen.

An einem Frühlingstage langte er dort an. Das Begräbnis des Vaters hatten sie ohne ihn abhalten müssen, und er stand in der wohlbekannten, traurig verlassenen Werkstatt allein. Die Geigen hingen noch immer wie sonst an dem Fenster, und die Sonne warf deren Schatten langgestreckt, wie Valentin es oft in seiner Kindheit beobachtet hatte, auf die Dielen. Jetzt lag ihm als erste Pflicht ob, den Nachbarn für die geleistete Hilfe bei des Vaters Begräbnis zu danken. Er zog seinen Sonntagsrock an und ging mit einer der Sache angemessenen, bewegten, doch würdigen Haltung aus seinem väterlichen Hause.

Viele der Nachbarsleute saßen an dem schönen Frühlingsnachmittage an den offenen Fenstern und vor ihren Türen und wollten den Augen nicht trauen, als sie in dem stattlichen Mann den Valentin erkannten.

Daß er angekommen sei, wußten sie; die Geschwister Degele hatten ihn bewillkommt, und, so schnell wie es ihnen möglich war, seine Ankunft auf dem Kannerückchen verbreitet. »Der Tausend, hat der sich herausgemacht«, sagte Jette Degele, als sie die Neuigkeit dem ersten besten mitgeteilt hatte. »Man sollte es nicht für möglich halten, daß aus einem so windigen, unnützen Burschen so etwas Reputierliches werden könne.«

Die Nachbarn empfingen ihn alle mit einer gewissen achtungsvollen Scheu, die Valentin, welcher von ihrer Seite von früher her an eine ganz andere Art der Behandlung gewohnt war, außerordentlich wohl tat. Zum ersten Male behandelten sie ihn als ihresgleichen mit einer gewissen Vertraulichkeit, die zwar noch nicht recht zum Durchbruch kommen konnte, aber schon bei der ersten Begegnung auf dem Wege dazu war. Die Nachbarn schienen alle von seinem hübschen, ruhigen Benehmen befriedigt und angenehm berührt zu sein. »Da ist nichts mehr, was einem an dem Menschen fremd ansieht. Das hat sich alles ausgeglichen«, sagte einer, der früher besonderen Widerwillen gegen den ernst schönen, unnahbaren Burschen gehegt hatte.

Und so war es auch. – Manche Naturen werden von einem gewaltigen Schmerz, den sie überstanden haben, nicht gereinigt und verklärt, sondern das Zarte, Unschuldsvolle ihrer Seele, das sie vor anderen auszeichnete, wird ihnen vom Unglück, das über sie hinwegging, verwischt, und sie gehen daraus hervor, ihres Besten beraubt, stumpf, gleichgültig, kleinlich, nicht mehr unschuldig, ganz wie die Gewöhnlichen, die ihnen früher ihrer Reinheit und Unberührtheit halber gram waren. Dann aber geht die gute Zeit für die sonst Vereinsamten erst an; Gevattern hier und dort, gut Freund auf Weg und Steg und leidliche Sicherheit vor übler Nachrede, und Behagen und Ruhe, wenn sie nur halbwegs ihren Pflichten nachkommen.

Als die alte Machlett, die etwas gebrechlich geworden war, Valentin zum ersten Male wiedersah, da wollte sie es gar nicht glauben, daß sich ihr Bürschchen so sehr verändert habe. Sie schüttelte wehmütig den Kopf und sagte: »Du warst ein gar lieber Junge. Nun, wir bleiben gute Freunde, denke ich, so lange ich es noch mitmache, auch jetzt noch«, und sie reichte ihm die Hand hin.

Valentin fühlte sich allmählich ganz behaglich und wohl auf dem heimatlichen Kannerückchen. Das hätte er wohl früher nicht gedacht, daß es ihm hier so gut zumute sein könnte. Er ließ das alte Lädchen schön herrichten, die Fensterrahmen innen blau anstreichen, weil das hübsch zu den Geigen stand, und von außen ließ er das Holzwerk glänzend braun lackieren.

Auf dem Kannerückchen war ein Jahr vor Valentins Ankunft eine Bäckerswitwe mit zwei Kindern hingezogen; die war eine noch junge und frische, behäbige Frau, stand bei den Leuten in bestem Ansehen und verdiente sich ein Stück Geld mit Weißnäherei. Man konnte ihr in keiner Weise etwas Übles nachsagen, und es dauerte gar nicht lange, da hatten die Nachbarn es damit vor, die junge Frau mit Valentin zusammenzubringen. Und es machte sich auch bald, ganz wie von selbst, daß auf dem Kannerückchen Hochzeit gefeiert wurde.

Die Jahre gingen hin, da saß Valentin in einem schönen, geblümten Schlafrock, den ihm die Frau verehrt hatte, auf einer grünen Bank vor der Haustüre; vor ihm unter den Eichen spielten, mit unter denen, die sich hier aus Gassen und Gäßchen zusammengefunden hatten, seine eigenen und die Kinder seiner Frau. Der schön entwickelte Baum auf dem Eichenplatze, der sich vor seinen Kameraden so kräftig herausgemacht hatte, wurde voller und schöner von Jahr zu Jahr und erfüllte seine Bestimmung, Geschlechter zu überdauern, mit Stolz und Kraft. –

Wenn der Instrumentenmacher so in der Dämmerstunde seinen lärmenden Buben von dem hohen Kannerückchen aus zuschaute, ob da nicht ein Widerschein der alten Schönheit über sein Gesicht zog, ob da nicht Unglaubliches in dem guten Hirn des Bürgers auftauchte und ob nicht fernes, wunderbares Glück und Leid ihn sehnsüchtig aufatmen ließ?

 


 


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