Helene Böhlau
Der schöne Valentin
Helene Böhlau

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Bei dem neuen Meister in dem bayrischen Städtchen Bayreuth hatte er sich ganz erträglich untergebracht und war wohlwollend aufgenommen worden. Der erste Abend brach herein, den er in neuen, bindenden Verhältnissen zubrachte. Man hatte ihm seine kleine Kammer mit dem Blick auf einen freundlichen Hof angewiesen, da hielt er eben Umschau. Die Kammer lag zu ebener Erde und war gerade mit dem Notwendigsten versehen. Ein steifbeiniges Bett stand an einer Seite, an den Wänden verteilt zwei hölzerne Stühle, ein Tisch, ein eisernes rundes Öfchen, das seinen Lebenszweck längst schon vergessen zu haben schien, denn es war vollgepackt und gezwängt mit allerlei außer Gebrauch gesetzten Gegenständen, alten Schraubenziehern, rostigen Nägeln, verstaubten Bürsten und Haken, alten Lederstücken und Bindfaden, was sich so zusammenfindet, wenn ein geduldiges Behältnis sich dazu hergibt, allerlei unnötiges und zu Schaden gekommenes Kleinzeug in sich aufsammeln zu lassen. Über dem Bette des Gesellen hing ein verblichener Kranz aus rosa Strohblumen, auf vergilbtem Papier befestigt, unter Glas und Rahmen. Ein etwas ungleich gedrucktes Gedicht füllte den Raum aus mitten im Kranze und war verfaßt zu Ehren des Hochzeitstages des Kilian Merne mit einer Eva Sauerbrei.

Der Name des Instrumentenmachers, in dessen Werkstatt Valentin eingetreten, war Merne, Peter Merne. Also mochte jener einst besungene Hochzeiter mit dem Meister in Verwandtschaft stehen, wohl aber längst aus der Reihe der Lebenden gestrichen sein, sonst würden sie schwerlich solch ein Ehrenblatt über das Bett des Gesellen gehangen haben. Der Hof, in den das einzige Fensterchen blickte, war weitläufig und luftig. Er stammte aus der heitern, raumverschwendenden Zeit, Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Das Hauptgebäude machte einen stattlichen Eindruck und hatte lustig verschnörkelte Fensterverzierungen. Es war, wie die meisten Häuser der Stadt, aus grauem Sandstein, der in nächster Nähe gebrochen wurde, aufgeführt. Aus demselben Material bestanden auch die Nebengebäude, welche den Hofraum bildeten, und diese hatten, wo die Laune des Erbauers es für gut befunden, auch ihr lustig geschnörkeltes Säulchen bekommen. Über den Lattentüren des Holz- und Kohlenstalles, über der grau verwitterten Türe der Waschküche prangten verschwenderisch unsinnige Ornamentenbüschel, als ob ein armseliger Holzstall so tollen Schmuckes bedurft hätte.

Valentin hatte seine Freude an dem Stübchen, an dem schönen, einst für das Auge des Besitzers geschmückten Hofe; aber auch das ganze Städtchen schien ihm zu behagen. Die meisten Häuser trugen denselben Stempel wie das Haus des Instrumentenmachers und nahmen sich stattlich aus. Doch Valentin war in die Reize, Behaglichkeiten und den Eigensinn der munteren Rokokozeit, die sie vertraten, zu wenig eingeweiht, um sich, wie erst vor wenig Tagen in dem alten Nürnberg, jetzt von den bepuderten und bezopften Herrschaften, die zu ihrer Zeit sich für die Krone der Schöpfung hielten, beunruhigen zu lassen. Er nahm dies schön geputzte Städtchen als ein fremdartiges Ding, ohne über dessen Entstehen fürs erste nachzudenken; aber in dem Zauber des heitern Geistes, der hier einst geherrscht hatte, war er schon befangen. Seine Meistersleute machten einen behäbigen Eindruck. Der Meister stand in den sechziger Jahren, und die Frau schien sorgsam und beweglich zu sein. Sie hatte dem neuen Gesellen gleich in der ersten Stunde einfach und gelassen gesagt, was im Hause Sitte sei, ihm die Stunden der Mahlzeiten genannt, seinen Aufenthalt angewiesen und Valentin so mit den Hausgesetzen vertraut gemacht.

Außer Valentin war noch ein Geselle im Geschäfte, ein frischer, guter Junge, der sich mit ihm schon kameradschaftlich begrüßt hatte.

Der Meister schien viele Mietsleute im Hause zu haben, denn er lebte beschränkt im Erdgeschoß, trotzdem das Haus des Instrumentenmachers Eigentum war. Das wußte Valentin von seinem Vater, der ihn über Peter Mernes Verhältnisse, soviel er sie kannte, unterrichtet hatte.

Als Valentin noch in seinem Stübchen stand und nicht recht wußte, was er anfangen sollte, da öffnete sich die Tür, und sein Mitgeselle Karl Frey steckte den Kopf hinein und sagte: »Gehen wir mit? 's ist Samstag, wir spazieren miteinander durch die Stadt. Der Meister hat's gesagt.« Valentin schien das sehr recht zu sein, denn der junge Bursche gefiel ihm. Es war für ihn etwas Neues, mit einem fremdlichen Kameraden umherzustreifen.

»Dann haben wir hier ein Theater«, fuhr der Eingetretene fort, »das sollt Ihr Euch ansehen. Es sind nicht immer Schauspieler bei uns, aber diesen ganzen Sommer haben wir welche.«

Valentin war ganz hingerissen von der Freundlichkeit des guten Burschen. Er beeilte sich, fertig zu werden, strich sich vor dem kleinen Spiegelchen, das bescheiden in der Ecke am Fenster hing, das Haar zurecht und zog seinen guten Rock über.

»Es kommt nicht darauf an«, sagte der Geselle, der unsern Freund unverwandt gemustert halte. »Bemüht Euch nicht; wir wollen schnell gehen, solange es noch hell ist!«

Nun wanderten die beiden durch das Städtchen, und Karl Frey zeigte dem neuen Gesellen anheimelnde Straßen und Gassen. Die Stadt war einst Residenz prachtliebender Fürsten gewesen. Geheimnisvolle öde Plätze, schöne, halbzerfallene Portale, die von wildem Wein und Efeu überwuchert waren, verkündeten, daß das Leben, welches diese hervorbrachte, längst entronnen sei.

»Wer lebt hier? Wem gehört das?« fragte Valentin und blieb auf einem weiten Platze stehen, dessen eine Seite von einem prächtigen Palaste geschmückt war. Das anscheinend flache Dach des Gebäudes zierten Figuren in kühn flatternden Gewändern. Die Front strotzte im reichsten, abenteuerlichsten Schmuck, Drachen, Imperatoren, unglaubliche Frauenzimmer und bewegliche Kinder, Blumengewinde, Säulen in ausartenden, närrisch übertriebenen Linien klammerten sich an Vorsprünge, Balkons, Fenstersimse unruhig und gefährlich an.

»Wem gehört das?« fragte Valentin wieder.

»Das weiß ich nicht«, sagte sein Begleiter, »ich bin in dergleichen nicht groß. Der Meister wird es vielleicht wissen.«

»Wohnt schon lange niemand mehr drin?« fragte Valentin noch einmal, der gar zu gerne vertrauter mit diesen wunderlichen Gestaltungen, deren Fülle das fürstliche Haus wahrhaft überströmte, geworden wäre.

»Ich habe noch nicht gesehen, daß jemand hier gewohnt hätte«, erwiderte gleichmütig der Geselle. »Der Brunnen da läuft nur Sonntags.« Damit wies er auf ein unsinnig häßliches Gebilde von Tuffstein.

Jetzt zog Karl Frey seine große silberne Uhr vor und sagte: »Es würde nun an der Zeit sein, wenn wir zum Theater wollen.«

Valentin vertraute seinem Gefährten mit einiger Überwindung an, daß er noch nie in einem Theater gewesen sei.

»Nun, das macht nichts. Man kann nicht allenthalben welche haben und braucht auch nicht allenthalben gewesen zu sein«, sagte der Geselle herablassend. »Ich gehe oft hinein, weil es einmal da ist. Der Direktor wohnt im Haus von unserem Meister, da machte es sich so. Heute bezahlt nur, das nächste Mal wollen wir schon sehen. Sie haben nämlich Raum die Hülle und Fülle, da kommt es nicht darauf an, ob ein paar so darunter mit hineinschlüpfen.« Valentin ging erwartungsvoll neben seinem Mitgesellen einher.

»Da ist eine niedliche Schauspielerin, so ein Frauenzimmerchen, über das sie alle entzückt sind«, fuhr trocken der Geselle fort. »Ich mache mir nichts aus ihr, denn ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Sie ist freundlich, aber es ist kein Verlaß auf sie. Neben uns wohnt sie, die Gärten stoßen aneinander.

Valentin achtete kaum auf seinen Begleiter und ging schweigsam dem lockenden Ziele zu.

»Das ist das Theater!« sagte der Geselle.

Sie standen vor einem Hause, das sich von den anderen durch reichen, architektonischen Schmuck auszeichnete. Auf den ersten Blick sah man, daß es aus derselben Zeit, in der das Schloß erbaut war, stammte, aber eine gewisse Ruhe und Größe, welche dem Schlosse und den meisten hervorragenden Gebäuden der Stadt abging, war in dem Schmucke, der die Fassade gliederte, zu spüren. Unsere beiden Gesellen traten ein. An der Kasse standen die Leute gedrängt. Karl Frey drückte sich aber geschmeidig durch und verschaffte Valentin im Handumdrehen ein Billett. Sie stiegen auf breiten Treppen, die altertümlich weiß gestrichene, hohe Geländer hatten, hinauf zur zweiten Galerie und traten ein. Da staunte Valentin über die Pracht des Theaters. Kein Fleckchen, keine Ecke war reizlos, an den Wänden blühte es von Gold und Rot, von eigen reizvoll kapriziösem Zierat. Der ganze kleine, aber ziemlich hohe Raum wirkte wie ein Wunder auf ihn.

»Die dunkle Loge der Bühne gegenüber war sonst Fürstenloge«, bedeutete der Eingeweihte dem Neuling, vor dessen Augen bei diesen Worten die Dinge einen bestimmten Charakter annahmen. »Die solche Pracht geschaffen haben, sind nicht mehr«, dachte Valentin und sah in den dämmerigen Raum, der einst von hohen, für ihn in geheimnisvolle Unbestimmbarkeit gehüllten Herrschaften belebt worden war. Das ganze heitere Theater machte ihm mit einem Male den wehmütigen Eindruck einer uns hinterlassenen Erbschaft, deren einstige Besitzer aus den glücklichsten Verhältnissen weggestorben waren. Die Leute, die jetzt den prächtigen Raum füllten, schienen ihm nicht hinein zu gehören, hatten sich spatzenhaft darin eingenistet. Die Frauen waren behäbig in dunkler, gegen den Farbenüberfluß ihrer Umgebung mißfarbenen Kleidung gekommen. Wegen der lieben Zeitausnutzung hatten sie ihre Strickstrümpfe mitgebracht und klapperten mit den Nadeln so eifrig wie sie schwatzten. Die Hausväter saßen behaglich und ruhten sich von ihrer Tagesarbeit aus, und das junge Volk plauderte und lachte.

Das Theater mag sonst ein anderes Gesicht gehabt haben, grübelte Valentin und blickte die Insassen, die es gegenwärtig belebten, interesselos an, oder so, als wären sie nur dazu da, um über sie hinweg oder durch sie hindurch zu blicken, um in weiter Ferne unbekannte, der schönen Umgebung würdigere Menschen zu finden.

Jetzt ging der Vorhang auf und Valentin durchschauerte es. Ein großer Augenblick schien ihm hereingebrochen zu sein.

Sie gaben ein Volksstück, welches wohl selten über die Bretter einer so stattlichen Bühne gegangen sein mochte, »Die heilige Genoveva«, so stand es auf dem kleinen, schmalen Theaterzettel. Die Schauspielertruppe war eine umherziehende, die ihren Spielplan für die Herzen der Bauern und Kleinbürger einrichten mußte, und der Zufall hatte sie auf dieses prächtige Theater verschlagen; aber sie spielte nicht übel. Die heilige Genoveva war eine mächtige, etwas ältere Person, der man bald ihren Kummer zu glauben anfing. Sie hatte eine gute, treue Stimme, und da es ihr so übel erging, war man geneigt, über mancherlei hinwegzusehen.

Valentin wurde tief ergriffen; noch hatte er in das wahre Leben wenig hineingeblickt, ahnte kaum, was für Wandlungen mit dem Wesen der Menschen vorgehen können, mit Sprache, Bewegung und Ausdruck, wenn Schmerz und Leidenschaft in die ruhige Alltäglichkeit hereinbrechen. Nun staunte er, wie scharf die Ereignisse auf die Geschöpfe wirken können. So klar trat ihr Eindruck auf den Gesichtern derer, die betroffen waren, zutage, daß es ihn wunderbar berührte. Er empfand das unhemmbare Ineinanderfließen der äußeren Einflüsse und der inneren Kräfte beängstigend, wie er noch nie ähnlich gefühlt hatte. Und der Wert von Glück und Schmerz stieg vor den Augen des jungen Beobachters.

Um mit angreifenden Empfindungen, wie Mitleid, Bewunderung, nicht zu ermüden, hatte der Dichter eine kleine muntere Rolle eingeschoben, eine listiggute Bauerndirne, ein schelmisches Ding, das sich bei jeder Gelegenheit seiner Haut zu wehren wußte, treffende Redensarten im Mäulchen führte, einen lustigen, harmlosen Liebeshandel betrieb und seiner Herrin, der Genoveva, in Treue ergeben war. Dieses Dirnchen schien dem gesamten Theaterpublikum eine angenehme Erscheinung zu sein; wo es nur anging, gab es ihm Beifall zu erkennen, und als nach dem ersten Akte der Vorhang fiel, da ließ es seiner Bewunderung für die hübsche Person freien Lauf. Geklatscht wurde und gerufen, daß es eine Art hatte. Die jungen Leute, die Handlungsdiener und Leutnants waren rot vor Anstrengung geworden. Sie hatten sich fast die Hände wund geschlagen. Und als der Vorhang aufging, damit man dem schönen Liebling für dessen anmutiges Dasein und das vergnügliche Talent danken konnte, knickste das Mädchen anmutig und lächelte ruhig und gelassen. Valentin wurde es ganz eigen ums Herz. Jedesmal, wenn die muntere Kleine die Bühne betrat, war es ihm, als würde er heimischer in dem fremden Raum. Er staunte nicht über sie, sondern was ihn zu ihr hinzog, schien einer unbewußten Erinnerung zu gleichen, und er forschte in ihren Zügen, als müßte sie ihm schon begegnet sein. Doch betrachtete er sie ruhig und zufrieden, wie jemand, der an dem Gegenstand, auf den seine Blicke fallen, nichts auszusetzen hat. Wenn er ein Ideal von weiblichem Liebreiz in sich getragen, so sah er es wahrscheinlich in dem schönen Kinde erfüllt und betrachtete die Kleine deshalb mit fast selbstzufriedenem Behagen, als verehrte er in ihr zugleich seinen eigenen Schönheitssinn. »Das ist sie«, sagte Karl Frey, nachdem das Stück gehörig vorgeschritten und sie schon zu den verschiedensten Malen zum Auftreten gekommen war. Er hatte seinen Platz nicht neben Valentin gefunden und mußte sich weit zu ihm hinüberbeugen, um ihm diese Bemerkung zuzuflüstern.

»Wer?« fragte Valentin.

»Ich meine die, von der ich vorhin sprach. Ambrosius heißt sie, auf dem Zettel steht es.«

Valentin hatte keinen Zettel bekommen. Eine Nachbarin, über deren Person hinweg die beiden Gesellen sich unterhielten, reichte Valentin den ihrigen. Da stand es: »Lulu Ambrosius«, und auf Valentin wirkte dieser Name wie ein gelinder Zauber. Im Nu stand er ihm im Herzen, wie eingegraben, daß es der Zeit schon Mühe kosten mochte, ihn wieder zu löschen.

Nach dem befriedigenden Ende der »Genoveva«, welche allen Jammer, den man mit der Armen durchgemacht, in Gerechtigkeit und Fröhlichkeit vergessen sein ließ, war es dem Direktor für gut erschienen, noch eine Nachfeier anzuschließen und zwar eine allerseits willkommene. Das Bauerndirnchen hatte sich, als der Vorhang wieder aufgegangen, in eine reizende Tänzerin verwandelt, die vor einer ziemlich breiten Spiegelwand, welche Eigentum des Theaters war, sich bewegte und mit dem eigenen Bild, das ihr aus dem Glas entgegenlächelte, Kurzweil trieb. Bei einer munteren Tanzweise sprang sie ab und zu, scheinbar unwillkürlich, eilte mit offenen Armen ihrem eigenen Spiegelbilde zu, daß sich das schöne blonde Haar wie ein Schleier um sie her bewegte, und zog sich langsam und betreten wieder zurück, um in aller Anmut wieder auf sich selbst zuzustürmen; bog sich dann sachte vor, küßte den Mund, der ihr entgegenschimmerte und küßte ihn mit solcher Innigkeit, als wäre sie von ihrem eigenen Anblick tief berückt.

Sie trug einen Kranz von frischen Rosen im Haar, rund und voll, unter dem ihr zartes Kindesantlitz zwanglos lächelte. Jetzt hob sie die Hände und brach aus dem Kranze zwei Rosen, sorgsam, daß ihr der Schmuck dadurch nicht entstellt würde, und nun begann ein reizvolles Spiel. Sie hielt die Rosen, als könnten sie ihr entwischen, behutsam in geschlossener Hand, schlich sich träumerisch damit vor, kniete hin, öffnete die Hand mit einer Gebärde, als wollte sie schonend die zarten Dinger des Lichtes wieder teilhaftig werden lassen, plötzlich aber, ihre sanfte Stimmung unterbrechend, flog es wie Mutwille durch ihr ganzes Wesen. Sie warf die Rosen fast heftig in die Höhe, fing sie wieder auf, die flinken Fingerchen zerpflückten die Blüten, und dann, den Kopf zurückgebogen, ließ sie die einzelnen Blätter wie rosige Schmetterlinge über sich herflattern, haschte etliche auf und trieb damit, sich lebhaft drehend und bewegend, das leichte Ballspiel von neuem. So taumelte sie im Takte der Melodie wie ein vom Laufe fast schwindelndes Kind, zwei Rosenblättern nach, die sie durch geschicktes Fangen und Werfen nicht zum Fallen kommen ließ.

Sie trug ein leichtes, halblanges, faltiges Kleid aus weißem, sich anschmiegendem Wollstoff, welches Arm und Hals ihr freiließ. Das natürlichschöne Bewegen ihres jugendlichen Körpers erstaunte und fesselte alle, und als der Vorhang niedergelassen wurde, brach ein Jubel aus. Sie hatten Grund dazu, denn Anmut war ihnen hier deutlich und verständlich vor Augen getreten. So kindisch des Mädchens Spiel erscheinen mochte, hatten sich dem hübschen Dirnchen doch Mächte verbunden, die über jede Weisheit, jede Größe, jedes Anbetungswürdige leicht siegen, die zum Vergessen, zur Freude locken, und deren Lockung in jeder Brust Widerklang findet.

Valentin war wie sich selbst entrückt. Das schöne Mädchen hatte ihn mit seinem Einfluß überströmt, seine ganze Person erfüllt, und es kam ihm unglaublich vor, als er sich vergegenwärtigte, daß die Schöne von seinem Dasein nicht das geringste wußte; das erschien ihm ungerecht und kränkend. Schweigsam ging er neben dem Gesellen Karl Frey einher.

»Nun, was sagt Ihr, hat es Euch gefallen?« fragte dieser. »Das wäre ein Schätzchen für Euch, nicht wahr? Ich glaube, Ihr seid einer, hinter dem die Mädels gehörig her sind. Die Nachbarinnen zwischen uns haben ehrlich miteinander getuschelt.«

»So?« sagte Valentin, der nicht wußte, was er erwidern sollte. Er war bis jetzt, wie schon gesagt, trotz seiner Schönheit wenig beachtet worden. Sein Begleiter schmunzelte in sich hinein und tat sich wichtig. Er führte Valentin in ein Speisehaus, wo sie noch einen Schoppen miteinander tranken und plauderten.

Karl Frey in seiner eigentümlich kahlen und unkultivierten Weise unterrichtete Valentin, wie es fast schien mit Absicht, spärlich über die Verhältnisse der Lulu Ambrosius, denn der schlaue, trockene Geselle hatte bald heraus, daß der schönen Lulu ein neuer Anbeter zugefallen sei. Wie es schien, war ihm die Nähe der beiden Gärten, deren er vor dem Theater erwähnte, einigermaßen gefährlich geworden; da er aber ein praktischer Bursche war und wahrscheinlich vor den Augen der Schönen keine Gnade gefunden, so hatte er sich dem Mädchen kritisch gegenübergestellt. Er war nicht besonders auf sie zu sprechen. »Niedlich ist sie«, sagte er, indem er seinen Schoppen Wein zum Munde führte, »das muß man ihr lassen, aber faul und lügenhaft ist sie auch, darauf könnt Ihr Euch verlassen! Da lobe ich mir die Frau Ambrosius, das ist eine tüchtige Frau, die es sich sauer werden läßt. Vor der kann man Respekt haben. Sie hat die Garderobe der Truppe in Verwaltung und besorgt die Wäsche. Ich lasse auch bei ihr waschen, und noch mehrere in der Stadt benutzen das halbe Jahr, welches sie sich im Städtchen aufhält, um Sonntags schön gebügelte Vorhemden zu haben. Sie versteht das Glanzplätten, und die Frauenzimmer hier, die es lernen wollen, lernen es bei ihr. Da geht es im Hause immer ein und aus, die Lulu aber sitzt in ihrer Faulheit im Nebenstübchen. Sie haben nämlich eine große Stube gemietet unten im Erdgeschoß neben uns, darin wird nun gefeuert und geplättet. Die Ambrosius hängt auch die Wäsche dort auf, wenn es regnet; aber glaubt Ihr, daß die Jungfer da mit Hand anlegt? Die geht höchstens zwischen gezogenen Leinen hin und her, klatscht an der nassen Wäsche herum und treibt Allotria. Kommen fremde, ehrbare Frauenzimmer, um bei der Mutter das Plätten wegzukriegen, da hängt sie ihnen Unverschämtheiten an, stellt sich hinter sie, wenn sie bei ihrer Arbeit sind, und macht ihnen ihren Eifer possierlich nach. Und Publikum hat sie tagsüber immer, denn alle Augenblicke geht die Türe, und es kommt einer und fragt, wie weit es mit seiner Wäsche gediehen ist und hält sich dann eine hübsche Weile auf, oder die Frauenzimmer lösen einander ab, es sind immer gleich ihrer mehrere da. – Die kleine Kröte hat ihren Zeitvertreib, stiehlt dem lieben Herrgott die Tage und ist ein leichtsinniges Geschöpf. So tüchtig die Mutter ist, hat sie die Tochter doch gründlich verzogen. Ein vernünftiger Mensch muß darüber seinen Ärger haben. Alles sieht sie ihr nach und läßt sie die lieben Stunden vertrödeln, läßt sie Unarten treiben, die so ein Mädel längst abgelegt haben müßte; und schimpfen tut sie wie ein Schulbube. Neulich morgens stehe ich neben der Ambrosius am Bügelbrette und warte auf mein Vorhemdchen. Es war gerade Sonntag, und ich wollte noch zur Kirche gehen. Da sagte mir die Alte: »Sieh Er mal hinaus, wie es sich mit dem Wetter macht; ich möchte heut gerne noch etwas zum Trocknen bringen!« Da gehe ich ans Fenster, und wie ich seitwärts in die Wetterecke hinein sehe, daß mich die Sonne blendet, da fährt mir die Lulu so im Vorübergehen über die Visage und sagt einfach, wie eine andere einem ›guten Morgen‹; bietet: ›Schafsgesicht!‹; Nun frage ich, was sind das für Manieren?«

Valentin sah den Gesellen an, lachte und dachte bei sich: Was hat der Mensch für eine zurückweichende Stirn und eine gerade, große, weiche Nase, und auch die dummen, hellen Löckchen. Er fühlte und begriff mit der unartigen Lulu und sagte nichts, sondern schüttelte nur belustigt den Kopf.

»Nein, glaubt nur«, fuhr der Geselle unbeirrt fort, »sie ist ein unleidliches Ding, und ich wollte ihr gönnen, wenn sie einmal eine Tüchtige von der Mutter aufgeblitzt bekäme.«

Valentin blickte ihn ungläubig lächelnd an. Vor seinen Augen tanzte das süße, verlockende Kind, dem Karl Frey eine so hausbackene Unannehmlichkeit zugedacht hatte, und er fühlte sich von dem sanftnasigen Gesellen geärgert.

Als Valentin diesen Abend im Bette lag, fand er, daß es ihm sehr wohl ginge, und er wünschte sich selbst Glück dazu, gerade dahin gekommen zu sein, wo die Welt so recht im Gange war. Er schien am Herzen der Erde zu wohnen und dachte vergnügt: Was für ein Glückspilz bin ich, so wenig er auch bis jetzt zu dieser Annahme Grund gehabt haben mochte.

Am andern Morgen erwachte Valentin gerne und freudig, denn es war Sonntag und schönstes Maiwetter. Das Städtchen lockte, und Haus an Haus mit ihm wohnte das kleine Wunder. Seinen Morgenkaffee trank er mit den Meistersleuten und dem Gesellen Karl Frey. Der Meister fragte, ob er den Garten schon gesehen habe, da lachte Karl Frey, als ginge ihn diese Frage etwas an, als dächte er sich sein Teil dabei, und Valentin wurde rot bis hinter die Ohren.

»Nun, was ist zu lachen?« fragte der Meister und blickte den jungen Burschen ungehalten an. »Was fällt Ihm ein zu lachen?«

Da machte Karl Frey ein dummes Gesicht und schaute in seine Tasse.

Nun trat der Meister Merne an das Fenster und wies auf den Hof hinaus. »Hier neben dem Holzstall durch den kleinen Schuppen geht es in den Garten. Ihr könnt ihn Euch nachher ansehen. Seht ihn Euch an!«

Der Garten war der Stolz des Meisters. Die seltensten, schönsten Rosen zog er darin, baute gute Obst- und Gemüsesorten und hatte auch einen Verschlag für Kaninchen darin angelegt. Niemand konnte ihm einen größeren Gefallen tun, als wenn er ihm den Garten lobte.

Die beiden Gesellen gingen miteinander zur Stube hinaus. Karl Frey hielt eine Weile mißlaunig die Türklinke seiner Kammer in der Hand und blickte Valentin nach, der durch den Hof schlenderte und in der grauen Türe, die durch den Geräteschuppen in den Garten führte, verschwand.

Der Garten war ein schön gepflegtes Stück Land, schmal und lang, am Ende begrenzt durch den geraden Kanal, der die Stadt durchfloß. Meister Mernes Land lag so recht mitten im Grünen, denn die Nachbarsgärten zeichneten sich durch alte, schön entwickelte Bäume aus, während der Instrumentenmacher auf junge, kräftige Obstbäume gehalten hatte, denen mancher würdige Alte wohl hatte weichen müssen. Am Holzstaket, welches das Besitztum begrenzte, führte rechts und links ein reinlich gehaltener Kiesweg entlang, und beide vereinigten sich am äußersten Ende des Grundstückes, welches der Kanal bildete, so daß der Meister bequem die Runde um sein Eigentum machen konnte.

Der Nachbarsgarten zur Rechten, von dem Karl Frey gesprochen, war schön beschattet, ausgedehnt in die Breite wie in die Länge, so daß er nicht mit einem Male zu übersehen war. Valentin ging zaghaft unter den blühenden Zweigen hin, die ihm fast die Schultern berührten, und trat unbewußt auf den Zehen auf, weil der Sand ihm unter den Füßen knirschte, und lugte mit klopfendem Herzen seitwärts, ob nicht etwas zu erspähen sei.

Da fuhr er zusammen; es schimmerte durch die Zweige. Wie er näher kam, sah er, daß es Wäsche war, die zum Trocknen hing. Die Leinen waren an den Stämmen der Kastanien, die einen freien Platz umgaben, befestigt. Das ist die Wäsche der Frau Ambrosius, dachte Valentin und blickte ehrerbietig mit wonniger Erregung darauf hin. Er stand vor einem blühenden Kirschbaume und sah zwischen den schneeigen Blüten die weißen, sonnbeglänzten Tücher sich vom Maigrün abheben. Die belasteten Leinen waren von Stangen gestützt. An einer der Stangen, ganz in seiner Nähe – im ersten Augenblicke hatte er das Rechte, da seine Augen andachtsvoll auf die Wäsche gerichtet waren, übersehen – lehnte der hübsche Liebling, der in manchem Herzen in dieser Nacht sein Wesen getrieben haben mochte. Der Morgenwind bewegte die Falten des braunen Röckchens. Sie schien noch verschlafen zu sein und dehnte sich jetzt wie eine Katze in ihrer sonderbaren, rosaverwaschenen Jacke, in welche sie nur so hineingeschlüpft zu sein schien, um sich darin recht behaglich und wohl zu fühlen. Das Haar hing ihr in Locken und Zöpfen noch wirr und lustig um die hübsche Stirn. – Valentin lauschte atemlos.

Von den Kastanienbäumen fielen hin und wieder glänzende Knospenhüllen, welche die kräftigen Blätter in schnellem Wachstum abstreiften, zu Boden. Solch ein braunes, frisches Schälchen segelte sachte auf Lulus Ärmel nieder, die es mit halb offenen, blinzelnden Augen von der Seite ansah. Die Sonne schimmerte in dem frischen Harzüberzug, und das mußte Lulu verlockend erscheinen; sie bog den Kopf und tastete mit ihrem rosigen Züngelchen in die Knospenhöhlung hinein, bis die Kapsel fest daran saß. Das gefiel der hübschen Spielliese. Sie blickte auf das rosige Ding herab, das mit seinem braunen Hütchen sich munter hin und her bewegte.

Valentin mußte sich ganz entzückt das Lachen verbeißen. Wenn sie wüßte, daß jemand ihr zusieht, dachte er.

Jetzt hatte sie genug von ihrer sinnreichen Unterhaltung. Das braune, kleine Blatt war herabgefallen und die Zunge erfrischt in das Mäulchen wieder eingeschlüpft. Die Kleine aber lehnte sich nun mit verstärkter Behaglichkeit an die Wäschestange. Dieser Halt wäre ganz bequem und ausreichend für eine verschlafene, leichte Person gewesen, wenn die Stange einen festeren Standpunkt gehabt hätte: so aber rutschte sie mit einem Male im nachgebenden Grunde, löste sich dadurch von der Leine, und Lulu fiel mit ihr der Länge nach in den Sand.

Da lag sie, und die großen, nassen Wäschestücke sanken tief herab, schleiften auf der Erde und bedeckten das Mädchen. –

Valentin sprang erschrocken hinter seinem Kirschbaum vor.

Das Mädchen erhob sich wieder, haspelte sich aus den Wäschestücken heraus, setzte sich auf und blickte ganz verdutzt um sich. Da erblickte sie Valentin. »Helfen Sie mir doch!« rief sie böse und weinerlich.

Das ließ sich Valentin nicht zweimal sagen; ohne Aufforderung hätte er es schwerlich gewagt. Im Nu war er über den Zaun.

Da stand sie schon wieder auf den Füßen und brachte ihre paar Sächelchen in Ordnung, strich sich das Haar zurück und sagte. »Da liegt die Wäsche, und heute ist es eine dumme Geschichte. Die Mutter hat es gerade satt. Da könnte es schon etwas geben. Was tun wir?«

Dies »Was tun wir« berührte Valentin eigentümlich. Er fühlte sich plötzlich mit dem schönen Geschöpf in dem Wörtchen »wir« wundersam verbunden, starrte sie staunend an und vergaß fast zu antworten. Endlich erwiderte er zaghaft, gebrauchte aber das ihm geheimnisvolle Vereinigungswort aus Scheu nicht, als könne das Mädchen die tiefe Bedeutung der Silbe, die sie in seinem Munde erhielt, erraten und sagte: »Man muß die Wäsche in die Höhe nehmen, das wird schon gehen.«

»Ja, aber sie hat geschleift, da wird sie wohl hin sein«, erwiderte Lulu kleinlaut.

»Das wäre!« Valentin nahm die Leine in die Höhe und richtete die Stangen wieder zur Hebung und Stütze auf. Da bewegten sich die Wäschestücke mit einem großen, braunen Saume hin und her.

»Nun haben wir's«, rief Lulu, und beide standen ratlos und betrachteten das Unglück.

»Wird das auszuwaschen gehen?« fragte Valentin.

»Ja, aber wie? – So große Stücke!« seufzte sie. »Die Mutter wird es schon so schlimm nicht machen, wir wollen es lassen.«

Unser Freund erinnerte sich an den bösen Wunsch, den Karl Frey dem schönen Geschöpfe zugedacht hatte, und er fürchtete, Ähnliches könnte wirklich in Erfüllung gehen. »Nein, nein!« sagte er deshalb, und in der Erregung gebrauchte er das bedeutungsvolle Wort. »Wir waschen es aus.«

Da sah ihn Lulu lachend an: »Eine närrische Waschfrau, die über den Zaun springt. – Dann«, sagte sie, »müssen wir die Treppe zum Kanal hinunter und das ganze Zeug mitschleppen. Wir werden es dabei vollends zu Grunde richten.«

»Ach was«, unterbrach sie Valentin, »das wird gehen.« Und er machte sich darüber her, die geschädigten Stücke von der Leine zu nehmen. Das war für seine Ungewohntheit und für sein geringes, praktisches Geschick nicht leicht. Überall zipfelte und schleppte es, als er die großen Laken sich über Arme und Schultern legte, und Lulu lachte und räsonierte, daß sie ihn um sein bißchen Überlegung, die ihn in dieser ganz absonderlichen Situation überkommen hatte, brachte.

Als sie seinen Bemühungen ein gutes Weilchen zugesehen hatte, sagte sie: »Wir bringen es nicht hinunter, da wollen wir uns das Wasser heraufholen und oben waschen: das wird besser sein.«

»Mir ist's recht«, sagte Valentin atemlos unter seiner schweren, nassen Bürde.

»Legt die Stücke nur auf den Rasen, da liegen sie gut. Wir holen derweilen das Wasser.«

Nun gingen sie miteinander durch den Garten. Im äußersten Eckchen am Kanal stand ein verwittertes, ungepflegtes Gartenhaus. Das ganze Anwesen stimmte dazu, denn Wege und Rasenplätze schienen arg verwildert zu sein. Der Garten war aber trotzdem ein schönes, großes Stück Land. Er schien gleichsam der Pflege entronnen und war daran, wieder in seinen Naturzustand zurückzukehren. Jedes Kräutlein durfte wachsen, wie und wo es wollte, und allerlei Geniste, Gestrüppe und dürres Holz störte so wenig, als es in einer Wildnis gestört hätte. In dem verfallenen Gartenhaus war die Waschküche der Frau Ambrosius. Ehe man dies Gartenhaus erreichte, führte von dem grasüberwucherten, breiten Weg ein schmaler Pfad seitab durch hochgewachsenes Strauchwerk. Lulu bog die Zweige auseinander und schritt auf dem Pfade voraus. Nur wenige Schritte brauchten sie durch das grüne Dickicht zu gehen, da standen sie auf einem kleinen, sonnigen Platze und ihnen gegenüber ragte ein hohes, hölzernes Kreuz das in einen breiten, steinernen Sockel eingerammt war. Die Stelle, an der einst des Herrn Haupt gelehnt hatte, war mit einem von der Zeit gebräunten, vergoldeten Strahlenkranze umgeben. Hinter dem Kreuze erhoben sich zwei schöne, vollzweigige Tannen dunkel in die Mailuft hinein. – Die Wipfel dieser Tannen hatte Valentin schon von des Meisters Garten aus bemerkt. Die hellen Triebe der beiden ernsten Bäume funkelten im Sonnenschein.

Dieser kleine Platz war unbeschreiblich schön und machte in seiner Abgeschlossenheit einen ganz eigentümlichen Eindruck. Das düstere, wahrhaft mächtige Kreuz inmitten aller Frühlingspracht berührte Valentin tief. Er stammte aus protestantischem Lande und ihm war die Sitte, an Gottes Leid und seine Liebe auf Weg und Steg erinnert zu werden, noch neu, und es wurde ihm jetzt zumute, als sei er in die Kirche getreten. Lulu stand schweigend neben ihm, gelassen und doch mit einer wichtigen Miene, wie sie sich jemand zu geben pflegt, der etwas ihm Bekanntes, zur Bewunderung Aufforderndes einem andern zu zeigen bemüht ist.

»Wie kommt das Kreuz hierher?« fragte Valentin.

»Das ist noch vom Kloster her«, sagte Lulu. »Das ganze Haus war ein Kloster, daher wird es wohl stammen. Sonst hat ein großes Christusbild daran gehangen, denn, wenn Ihr Euch so stellt, wie ich stehe, da seht Ihr noch die Nägel, die ragen weit hervor. Im Hause soll einer gewohnt haben, der das Kreuz wieder instand bringen ließ. Der Hauswirt freilich hätte das nicht getan, der ist ein rechter Liederlich, der sich um nichts kümmert; man hat ewig nur Streit mit ihm. – Aber das ist ein schöner Platz«, fuhr sie fort, »der dunkle Busch ist eine Eibe. – Die ist giftig!« fügte sie hinzu.

Valentin war von der Weihe des Platzes ergriffen, und vor seiner Seele stand ein frommer Klosterbruder, der einst das Kreuz errichtet und die Bäume gepflanzt und in heiliger Widmung sein Leben in dem schönen Garten verbracht hatte.

»Kommt nun!« sagte Lulu und schlüpfte ihm wieder voraus auf den Weg zurück.

Im Waschhause der Frau Ambrosius standen die Kübel, der Zuber und allerlei Geräte in Feiertagsruhe. Lulu zeigte auf ein handliches Geltchen, das in der Ecke lehnte. »Damit ginge es schon«, sagte sie, und Valentin nahm es auf. Die Kleine war, da die Sache wie Spiel aussah, in Eifer geraten und packte das Gefäß hurtig mit an. Sie schleppten es miteinander die schmale Kanaltreppe hinab, und Valentin füllte es.

Oben unter den Leinen fing nun das Spülen, Plantschen und Wringen an. Die hellen Wassertropfen, welche die beiden in ihrem Treiben um sich her spritzten, funkelten im Sonnenscheine, der durch die frischgrünen Zweige blitzte. Valentin hatte seinen Sonntagsrock ausgezogen, die frischen Hemdärmel etwas aufgestreift und war glücklich, und die Kleine schien auch bei bester Laune zu sein. Sie wirtschaftete in dem Wasser wie ein munterer Spatz, der sich in einer Pfütze das Gefieder putzt, war über und über schon naß und tropfend.

»Sieh nur«, sagte sie zu Valentin und wrang den Zipfel ihrer rosa Jacke aus, daß ein paar Tröpfchen ihr die Finger herabrannen.

Valentin war eben dabei, eines der Tücher, das sie so halbwegs zu Ende gebracht, auf die Leine zu hängen, da fragte sie: »Wo kommt Ihr denn eigentlich her?«

Er nannte ihr seine Heimat.

»So?« sagte sie. »Wo liegt die?«

»Weiter im Norden hinauf!« erwiderte er.

»Wir kommen mehr aus Süden«, sagte sie beiläufig und doch so, daß man merkte, sie wollte sich mit dieser Bemerkung einen Vorzug geben. »Was tut Ihr hier?« fuhr sie weiter fort.

»Ich bin der neue Geselle bei Merne«, antwortete Valentin.

»So? Ist denn der alte noch da, oder muß der nun fort?«

»Nein, der bleibt.«

Lulu rieb, plantschte an ihrem Wäschestück und erwiderte in einem geschäftsmäßigen Tone: »Der ist ein rechtes Schafsgesicht; ich meine, er sieht aus wie ein Schaf.«

Da blickte Valentin sie belustigt an.

»Die meisten haben Tiergesichter«, fuhr sie fort.

»Wie denn?« fragte er.

»Ja, das ist so. Ich kenne viele Menschen, wenn man von Kindheit an in der Welt herumkommt, da gibt sich das so; und immer neue – immer neue zu sehen, das macht einen verwirrt. Da habe ich mir etwas erfunden, damit ich überall gute Bekannte finde.«

»Nun, was denn?« fragte er.

»Wenn man viele beieinander sieht und sie sich ordentlich anschaut, da bemerkt man etwas. Die einen sehen aus wie Pferde, – ich meine die Gesichter, – das sind gute Leute und haben immer etwas Witz. Dann gibt es Affen, die sind sehr schnell, klug und lustig, ganz wie die Affen. Und Katzen gibt es, kleine Miezekatzen und große Tigerkatzen, wie man sie in den Buden sieht, das sind böse Leute, und die ganz großen Katzen sind würdige Leute, aber man muß sich vor ihnen hübsch in acht nehmen. Auch Hähne gibt es und Gänse, da weiß man schon, wie man mit ihnen daran ist. Papageien, das sind seltene Vögel, aber es steckt nichts dahinter, sie sind dumm und lügenhaft. Euer Meister und die Meisterin sehen beide wie Biber aus, so hübsch glatt und rund. – Wißt Ihr das? Und ich möchte, mein Mann, das heißt, den ich einmal bekommen werde, hätte ein Pferdegesicht. Die Pferde sind mir die liebsten, denn sie sind hübsch, klug, vornehm und sehr oft reich. – Das ist so«, versicherte sie und fuhr zu schwatzen fort. »Und derart Gesichter sehe ich überall wieder, so weil wir auch umhergezogen sind. Da kommt der Hase, denke ich, wenn ich in einem Städtchen bin und so einem begegne, und wenn er zu sprechen anfängt, denke ich, daß es mein alter Hase ist, den ich im anderen Städtchen kennenlernte. Und auch, wenn ich dem Schaf, der Katze begegne, kenne ich sie schon.«

Valentin blickte sie nachdenklich an, es beängstigte ihn, daß sie die Menschen so absonderlich behandelte. Ob das wohl recht von ihr ist? dachte er. Wie alle gegen sie gut sind, und sie hält sie zum Narren!

Ohne recht zu wollen, fragte er: »Was für ein Tier bin ich?«

Sie blickte ihn an und sagte: »Ein Hund!«

Das war ihm nicht recht; was hätte er um ein anderes von ihr so sehr bevorzugtes Tier gegeben! Da er sich aber gerade über die Waschwanne zu ihr hinbog, strich sie ihm mit ihrer kleinen, feuchten Hand leicht über das volle Haar, wie man einem Hunde über den Kopf fährt. »Aber ein sehr schöner, netter Hund«, sagte sie. Dabei blickte sie ihn tief an.

Da bemerkte er, daß sie grünlichbraune Augen zu ihrem blonden Haar hatte, und die Gestalt der Apollonia, an die er lange, lange Zeit nicht mehr gedacht, belebte sich mit einem Male körperlich vor ihm. Er wußte jetzt, an wen Lulu ihn bei dem ersten Anblick erinnert hatte, in Wahrheit an sein Ideal, das in der frühesten Jugend schon klar und deutlich in seiner Phantasie gewohnt hatte. Bei dieser Erkenntnis stieg ihm das Blut siedend heiß zu Gesichte: und Lulu lachte.

»Weiß ich doch nicht einmal, wie Ihr heißt?« fragte sie.

»Valentin Bärlein«, sagte er.

»Bärlein?« wiederholte sie. »Hündlein, was für einen Namen hast du? Der ist nicht schön und zu komisch für dich. – Du bist auch sicher arm. – Nicht wahr?«

»Nun, arm gerade nicht! Wir haben ein hübsches Häuschen auf dem Kannerückchen« – das entfuhr ihm so.

»Nun gar auf dem Kannerückchen!« rief sie. »Das muß ein schönes Haus sein, wohl von Pappe? Also ein so kleines Häuschen hast du, daß es auf dem Kannerückchen stehen kann?«

»Die Gasse, in der wir wohnen, heißt so«, erwiderte er.

»So?« sagte sie. »Aber weißt du, was ich reich nenne? das ist so: – Wenn man mit seinem Gelde auf der Gasse Fangeball spielen kann und bückt sich nicht, wenn es davon gerollt ist.«

»Das ist schon richtig, so reich bin ich nicht«, stimmte Valentin ihr bei.

»Nun siehst du, dann ist es auch nichts Rechtes für dich. Wer so aussieht wie du, der muß alles vollauf haben und dürfte mit nichts zu knausern brauchen. Der müßte witzig sein, müßte Geld haben, so viel Geld, wie ich meine; müßte alle Tage ein reines Vorhemdchen anziehen und tun und treiben können, was er nur wollte. So aber kommst du mir und allen, die dich begreifen werden, wie bestohlen vor, und man ärgert sich, daß du dich hast bestehlen lassen. Du Taps!« Damit spritzte sie ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht. Und Valentin dachte, daß es mehr als nötig sei.

»Der Tausend auch«, sagte er. »Sie sind ein rechter kleiner Bengel. Die Leute haben ganz recht, über Sie zu räsonieren.«

»Wer räsoniert? Vielleicht Karl Frey. Sie aber nicht, Valentin, du räsonierst nicht!« Das sagte die kleine Hexe, so leicht hin. Valentin, der sich bis jetzt im stillen verwundert hatte, daß sie ihn so ohne weiteres »du« nannte, wollte sich auch etwas herausnehmen und begann zaghaft und unsicher: »Was für eine Mode ist das, einen wildfremden Menschen, wie ich für Sie einer bin, ›du‹ zu nennen?«

»Das ist meine Mode«, sagte sie. »Warum sollte ich es nicht tun? Zu jedem werde ich nicht ›du‹ sagen, und wen ich so nennen will, der hat nicht darüber zu klagen, und tut er es, so ist er ein –.« Sie tippte mit ihrem Fingerchen bedeutungsvoll auf ihre hübsche, gewölbte Stirne. »Wenn Ihr über den Zaun zu mir herüberspringt, und wir zusammen hier waschen, das kommt nicht alle Tage vor. – Ich nenne dich ›du‹ und damit gut.«

Valentin war es bänglich ums Herz, er fühlte sich in der Nähe der Kleinen unsicher. Etwas Fremdes, Ungewohntes berührte ihn und flößte ihm Scheu ein, zog ihn aber zu gleicher Zeit mächtig zu ihr hin. Das einzige Weib, das ihm bis jetzt das Herz bewegt, die Apollonia, die Vorstellung, die er sich von dem längst verschwundenen Geschöpfe gemacht hatte, erschien ihm heimischer als das Wesen der hübschen Lulu, das ihm jetzt entgegentrat. Wunderbar, daß jenes von ihm fast vergessene Phantasiegebilde sich jetzt in die Wirklichkeit schattenhaft einschlich und in zarten Zügen sich neben der munteren Schwester lieblich bewegte.

Lulu ahnte schwerlich, welch eine Nebenbuhlerin sie hatte. Valentin aber war von dem süßen, ernsten Reiz seiner ersten Liebe hier in Lulus Nähe sehnsüchtig bewegt. Er gedachte der rührend innigen Dinge, welche die alte Machlett von ihr zu erzählen wußte, und er ahnte eine Tiefe von Leid und Hingebung in den Augen jenes armen Schemens, die ihn bis ins Innerste wie reine Wahrheit und Größe berührte.

»Nun, was denkt Ihr?« fragte Lulu. Da schüttelte er den Kopf, erwiderte nichts und blickte sie mit seinen mächtigen Augen, die zu dem schüchternen Wesen nicht im Einklang standen, an, so daß sie betroffen schwieg. Es war ihr unbegreiflich, daß er so blicken konnte.

Ehe die beiden mit ihrer Wäsche zu Ende kamen, rief Lulu: »Da ist die Mutter und will nach dem Trocknen sehen.«

»Wird sie böse sein?« fragte Valentin.

»Wollen sehen!« meinte Lulu gelassen. Da kam die Frau den Weg entlang. Sie ging in einem dunkelblauen, faltigen Wollrock sonntäglich geputzt einher, ohne nur aufzublicken, und ruhig im Bewußtsein, alles in schönster Ordnung vorzufinden, und war höchst erstaunt, das Töchterchen mit einem schönen Burschen am Waschtrog zu sehen. »Nun, was soll das?« fragte sie.

»Ich habe die Wäsche herabgeworfen«, sagte Lulu einfach, »die haben wir miteinander wieder gewaschen.«

Die gute Frau Ambrosius wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. »Warum treibst du dich auch bei der Wäsche umher«, begann sie unzufrieden. – »Und wer ist denn der junge Herr?« fragte sie befremdet.

»Hündlein heißt er«, erwiderte Lulu.

»Ach was, keinen Unsinn!« brummte die Alte.

Da fuhr ein kleiner Teufel über Lulus Gesicht. Sie verbesserte sich. »Nein, nein«, sagte sie, »Bärlein heißt er!«

»Willst du still sein!« Die Mutter nahm sie etwas unsanft bei der Hand, und damit sie sich nicht erkältete, streifte sie ihr den nassen Ärmel in die Höhe. »Wie du aussiehst! Schämst du dich nicht?«

Jetzt trat Valentin auf und sagte: »Ich heiße Valentin Bärlein und bin der neue Geselle bei Merne. Die Tochter hatte mit der Wäsche Unglück, da bin ich übergestiegen und habe geholfen.«

»So? da habt ihr miteinander gewaschen?« fragte die Erstaunte und musterte den fremden jungen Menschen von oben bis unten. »Das ist etwas Neues! – Aber kann man den Rücken wenden, ohne daß sie sich mit einer Dummheit abgibt? – Gott bewahre! Statt daß sie Rücksicht nimmt, wenn sie sieht, wie man sich die Woche über geplagt hat und den Sonntag dann genießen möchte, nein, da denkt sie sich ganz besondere Dummheiten aus, damit man nur nicht Ruhe hat. – Du Bösewicht!« sagte die Frau mit einem so innigen, zärtlichen Tone, daß Valentin betroffen war, da er meinte, nun ginge der Sermon erst recht an.

Die Frau Ambrosius zog das Töchterchen fest an sich. »Wie naß du bist, läppisches Ding: da könnte unsereins Tag und Nacht waschen und richtete sich nicht so zu«, sagte sie zu dem ihr Unbekannten gewendet, grüßte und wollte mit Lulu davon gehen.

»Wie wäre es, wenn er mit spazierenginge?« fragte Lulu die Mutter und sah Valentin an.

»Mir ist's recht«, meinte die Alte, »wenn er will.«

»Also so gegen viere«, sagte die Kleine.

Er konnte kaum etwas erwidern; die kräftige Frau Ambrosius hatte die nasse, sehr zerzauste Lulu an die Hand genommen und ging mit großen Schritten mit ihrem Mädel dem Hause zu. Lulu nickte ihm lachend zu, solange sie ihn erblicken konnte, und Valentin legte noch die unfertigen Wäschestücke, die wild auf dem Rasen umherlagen, über das Waschgefäß, um der armen Ambrosius, wenn sie darüber käme, das Übel nicht zu augenscheinlich zu machen; stieg dann wohlgemut über den Zaun und schlenderte mit klopfendem Herzen durch des Meisters gepflegten Garten dem Hause wieder zu.

Er war in größter Bewegung und sehr erstaunt, daß es so zugehen konnte. Bei Tisch, als der Meister ihn fragte, womit er sich den Vormittag vertrieben, erzählte er sein Abenteuer, mußte aber innerlich lachen über die Art und Weise, in der er es mitteilte, so trocken und alltäglich, daß niemand ahnen konnte, was für eine Welt von außergewöhnlichem Reiz und Erregung die einfachen Tatsachen, deren er erwähnte, umschlossen. Und Valentin erschrak, als er empfand, wie unmöglich es sei, von dem, was er gefühlt und erlebt, reden zu können, und daß er sich in Geheimnisvolles, Unaussprechliches begeben habe. Fast zaghaft sagte er: »Den Nachmittag hat mich die alte Ambrosius aufgefordert, einen Spaziergang mitzumachen.«

»Nun, nehme Er sich nur in acht«, meinte die Meisterin. –

Glückselig und stolz, aufs beste ausstaffiert, spazierte Valentin um die besprochene Stunde mit der Garderobefrau und mit der Tochter zur Stadt hinaus. Es wurde ihnen nicht wenig nachgeblickt, denn die schöne Lulu war von jedem gekannt.

»Was hat sie sich da für einen Prinzen mitgenommen?« fragten sich im Vorübergehen ein paar muntere Burschen.

Das hörte Lulu und blickte Valentin lächelnd an.

Ein so herrlicher Maitag in Gesellschaft eines schönen, gefährlichen Kindes verbracht, könnte es einem jungen Burschen wohl fürs Leben antun.

Valentin war es bis jetzt nicht beigefallen, daß das Leben so Schönes bieten könnte, und was sich ihm im Herzen regte, schien ihm völlig neu; also war die Welt doch reicher, als er geglaubt. Von jeher hatte er sich unbefriedigt von dem Gegenwärtigen gefühlt und deshalb die weite Vergangenheit zur Vervollständigung, gleichsam zur Dekoration seines Lebens mit herangezogen. Jetzt aber hätte wohl die Zauberkraft eines alten Ringes oder Gemäuers nicht hingereicht, um ihm den Augenblick vergessen zu machen.

Die schöne Landschaft war dazu angetan, daß der Mai sich heimisch in ihr aufhalten konnte. Blühende Bäume hatten all seine Pracht in den Zweigen aufgefangen und trugen sie zur Schau. Das junge Grün funkelte in feuchter Klarheit. – Lulu war in bester Laune. Die Mutter ging schweigsam und würdig neben der Tochter einher und trug ehrbar ihre braune Plüschtasche mit Gebackenem gefüllt am Arm.

Sie wanderten auf Lulus Vorschlag nach einer Mühle, die ein Stündchen von der Stadt entfernt lag. Unterwegs griff die Kleine manchmal in die Tasche der Frau Ambrosius, brach ein Bröckchen von dem Kringel ab und knusperte daran.

»Hier, Valentin Hündlein!« sagte sie einmal, sah ihn schelmisch von der Seite an und schob ihm einen kleinen Bissen zwischen die Lippen.

Der Frau schien Lulus Benehmen nicht ganz recht zu sein, und sie klagte gegen Valentin, als Lulu Anemonen pflückend vor ihnen vorausgegangen war, daß das Mädchen so ein böser Schelm sei und ihr deshalb viele Not mache.

»Meine einzige Sorge«, sagte sie, »ist, daß Lulu einen guten und reichen Mann bekommt, der es mit ihren Launen aufnehmen kann. Reich muß er durchaus sein, denn nur mit Verbieten und Verweigern ist hier nichts getan, man muß viel gewähren können, wenn der kleine Narr zufrieden sein soll. Es wird mir es niemand glauben, wie schwer ich zu tragen habe und wie ich den lieben Herrgott bitte, daß mein Herzenswunsch in Erfüllung gehen möchte. – Ich sage Euch das«, fuhr die Frau fort, »damit Ihr auf Eurer Hut seid und es Euch nicht zu Kopfe steigen laßt, wenn sie gar zu freundlich ist. Ich kann es ihr nicht verwehren, denn sie ist so von Kindheit an gewesen. Ihr könnt denken, daß bei dem Leben, das wir führen, viele Aussicht zu Anbetern ist, aber wenig zu einem Mann, wie sie einen braucht und wie Ihr keiner seid.« Das sagte die Frau treuherzig klar und fuhr dann fort: »Da sie meine Tochter ist, muß ich für das Mädel sorgen, und so schlimm sie manchmal sein kann, mein ganzes Glück bleibt sie doch.«

Valentin rührte der sorgliche Ton, mit dem die behäbige Frau Ambrosius ihm die Eröffnung gemacht hatte. Die reizende Zutunlichkeit der Tochter sprach so viel deutlicher und mächtiger als die Warnung der Mutter, daß letztere ihn kaum beunruhigte und bei dem nächsten Blick und Wort Lulus vergessen war.

In der Mühle ließen sie sich von der Wirtin einen Kaffee kochen und saßen miteinander in dem Mühlengärtchen unter frischgrünen Birken. Der Sohn der Wirtin, ein fünfzehnjähriger Bursche, wußte gar wohl, welch einen seltenen Gast die Mutter heute zu versorgen hatte, und schlich dieser nach, als sie die bunten Tassen aus dem Schranke nahm und hinaustrug. Er wagte sich nicht bis an den Tisch, wo die Fremden saßen, sondern blieb in einiger Entfernung am Birkenstämmchen gelehnt stehen und sah sich das Wunder, die Schauspielerin, an und zwar ausdauernd.

Lulu bemerkte ihn und machte Valentin auf den Knaben aufmerksam. Kaum hatte sie das getan, war der Neugierige mit einem Male verschwunden, kehrte aber bald zurück und hielt auf dem Zeigefinger einen zahmen Star, dem er über die Flügel strich, ihm auffällig zunickte und sich mit ihm zu schaffen machte.

Nach einigen Bemühungen fing der Vogel ganz gewaltig zu schnarren an, sträubte die Federn und gebärdete sich possierlich. Lulu sagte:

»Nun seht nur, was für ein Schlingel der Junge da ist«, und sie zwitscherte kaum hörbar, lächelnd zu Valentin gewandt:

»Sitzt mein Schatz am grünen Hang
Und die Nachtigallen singen.
Ach! daß solch ein süßer Sang
Möcht in ihre Seele dringen!

Schweige, arme Nachtigall.
Schweig von deinen Schmerzen,
Denn es dringet Liebesklang
Dieser nicht zu Herzen.«

»Was für ein Lied ist das?« fragte Valentin.

»Das ist mein Lied«, erwiderte sie lächelnd.

»Wie denn?«

»Das hat der Schulmeister in Schnabelweid für mich gemacht. Frau Schulmeister hätte ich auch werden können«, sagte sie und strich fast unbewußt bei diesem Gedanken die Löckchen zurück und nickte der Mutter bedeutungsvoll lachend zu.

Valentin fiel es aufs Herz, daß sie so unbefangen heiter von den Hoffnungen eines Menschen sprach, die sie zerstört hatte, und das Liedchen, so unbedeutend es war, schien ihm unendlich rührend, das Mädchen bitter anklagend. Er sah sie im Geiste mit dem Schulmeisterlein reizend und zutraulich sich betun und ahnte, daß dem Armen der Abschied gar schwer geworden sein mochte.

Da war die harmlose Freude an dem schönen Geschöpfe, wie es schien, für einen Augenblick aus seiner Seele verschwunden. Schmerzlich blickte er auf Lulu und empfand doch das brennende Verlangen, das Mädchen in die Arme zu schließen.

Während Valentin solchergestalt sich den dämonischen Mächten beinahe widerstandslos dahingab, spielte der Knabe unter der Birke in der Absicht, daß die Schöne ihn bemerken sollte, angestrengt mit seinem Stare.

»So, nun komm' einmal her!« rief Lulu schelmisch. Dem Bürschchen kam diese Aufforderung immerhin unerwartet, und es trat, rot übergossen, zaghaft näher.

»Beißt er?« fragte Lulu und hielt den Finger dem Vogel hin.

»Nein, er ist gut«, sagte der Knabe, und Lulu ließ den lustigen Kumpan auf ihrem Ärmel spazieren.

»Hast du ihn selbst erzogen?«

»Ja!« sagte er, stolz, daß er eine befriedigende Antwort geben konnte. »Er kann auch sprechen, aber er ist eigensinnig und will nicht.«

»So, dann gib ihm einen Klaps auf sein dickes Federgesicht; da ist Platz zu einer kleinen Ohrfeige. – Nicht wahr, mein Stärchen?« und sie versuchte, ihn mit dem Finger so zu strafen, wie sie es eben vorgeschlagen hatte. Der Knabe fühlte sich außerordentlich dadurch belustigt, lachte aber kaum, sondern musterte Lulu erstaunt von oben bis unten.

»Sind wir denn schon einmal im Theater gewesen?« fragte sie jetzt und schaute auf den Vogel herab.

»Ja, gestern«, erwiderte der Knabe, hatte seine Stimme nicht in der Gewalt und errötete von neuem.

Da streifte Lulus Blick Valentin, der sich noch nicht hatte entschließen können, mit ihr von dem Abend zu sprechen. Er schlug die Augen nieder, denn er konnte auch jetzt kein Wort hervorbringen. Da lächelte Lulu, schwatzte mit dem Knaben noch eine gute Weile über den Vogel, und zuletzt bot der kleine Narr seinen Liebling zum Geschenk an.

Sie schüttelte das Tier aber leicht von ihrem Ärmel ab und sagte: »Was soll ich mit ihm tun? Behalte ihn nur und rufe deine Mutter! Nicht wahr«, sie blickte fragend auf, »wir gehen jetzt?«

Das war allen recht und man machte sich bald auf den Heimweg. Lulu hing sich ganz behaglich, als wäre sie es seit Wochen schon so gewohnt, an Valentins Arm, und wenn er auf sie herabsah, erschrak er, wie nahe ihr Köpfchen sich zu seiner Schulter neigte. Den Hut hielt sie in der Hand, und eine blonde, glänzende Locke hatte Valentins Arm umschmiegt, als sei das schöne Geschöpf durch solch vollen Strähn an ihn gefesselt.

Lulu wurde müde und wandelte ganz still wie ein ermattetes Kind.

Valentins Phantasie aber begnügte sich nicht mit der allerliebsten Gegenwart, sondern beschrieb weite, dämmernde Kreise um das Glück, das ihm an der Seite ging, spielte mit den beiden Schwestergestalten, die sich in seinem Herzen zusammengefunden hatten, mit der Apollonia und der beglückenden Lulu, ein wunderliches Spiel. Wie zwei Flammen ließ er sie schön ineinander fließen, dann teilten sie sich wieder sanft und kaum merklich, um neu sich zu vereinigen und das Spiel wieder zu beginnen.

Als Valentin Abschied von seinen Nachbarinnen genommen hatte und der kleine, warme Arm nicht mehr in dem seinigen ruhte, war es ihm öde und sehnsuchtsvoll ums Herz. Bedrückt und doch selig suchte er spät am Abend sein Lager auf.

Am andern Tage begann die Arbeit, und gut war es für ihn, daß er bis jetzt sein Lebtag gleichgültig und ohne Liebe das Tagewerk vollbrachte, sonst hätten ihm Ungeduld und Erinnerung böse Streiche spielen können. Er kannte die Arbeit nur als eine vom Glücke zurückhaltende Beschwerlichkeit, und er hatte sich, wenn auch dazu gezwungen, fest in ihr Joch eingewöhnt.

Jeden Feierabend aber, an dem er sich wegstehlen konnte, verbrachte er drüben in der großen Bügelstube der Frau Ambrosius oder rannte gleich nach Beendigung der Arbeitszeit wie besessen in das Theater. Aber immer tiefere Erregungen, immer größere Unruhen wuchsen in ihm.

Das Benehmen der reizenden Lulu blieb sich ihm gegenüber gleich. Sie änderte sich von dem ersten Tage ihrer Bekanntschaft an in nichts. Wie die Sonne an einem schönen Frühlingsmorgen überstrahlte sie die, denen sie erlaubte, sich ihr zu nähern; aber die Sonne stieg nicht höher, sondern blieb in der funkelnden Frühstunde stehen.

Welches Verlangen aber nach Feuer lebendiger Wärme das schöne Mädchen dennoch erregte, konnte sie wohl schwerlich ermessen, und welche Welt von Qual und überschwenglichem Glücke Valentin an ihrer Seite verlebte, wußte sie nicht zu empfinden. Der schöne, gute Mensch hatte sie im ersten Augenblicke angezogen, in ihr lag ein mächtiger Trieb nach Schönheit, der auch Gelegenheit hatte, sich augenscheinlich zu offenbaren. Erstaunlich war es, welch tiefgefühltes Verlangen nach Vollendung in ihren Bewegungen lag. Ihr Tanz erschien ein künstlerisches Wollen, das Schöne darzustellen und, so lange es in ihrer Macht stand, festzuhalten. Eigentümlich war es, daß sie Valentin gleich bei der ersten Begegnung richtig gewürdigt hatte. Von seiner Schönheit wahrhaft betroffen, hatte sie erkannt, daß in dieser der größte Wert des armen Burschen liege. In ihrem Herzen fühlte sie mit Valentin Mitleid, weil er die große Gabe seiner Schönheit nutzlos mit sich umhertrug und wenig durch sie beglückt werden konnte aus dem Grunde, weil an einem armen, einfachen Burschen so übermäßige Schönheit ein unnötiges Anhängsel ist. Ohne viel darüber nachzudenken, hatte sie Valentin an sich gefesselt. Es war ihr angenehm, ihn um sich zu sehen. Sie mochte wohl bei ihrer Lebensweise mit viel unlauterem Gesindel verkehrt haben, denn ihr tat das scheue, sanfte Wesen des schönen Menschen wohl.

Sie plauderten abends, wenn die Mutter noch an ihrem Bügelbrette beschäftigt war, miteinander in einer dämmerigen Ecke des großen Raumes. Lulu erzählte ihm lustige Theatergeschichten, und bei der Art, wie sie erzählte, wie sie es verstand, sich immer in neuen, wechselnden Verhältnissen und immer selbst erlebend darzustellen, entrückte sie sich fortwährend seinen Augen. Er hatte dadurch nicht das Bewußtsein, daß sie, im Augenblicke wenigstens, in seiner Nähe und ihm gehörig sei, sondern mußte ihrem reizenden Erzählen folgen und das Mädchen immer mit neuen Menschen in lebhafter Verbindung sehen. Sein eigenes Verhältnis zu ihr, das leidenschaftlich in alle Weiten sich auszudehnen bestrebt war, wollte ein Leben ausfüllen, es schien durch das Beispiel der vielen sich knüpfenden und sich wieder lösenden, mannigfaltigen Verbindungen, die sie lebendig vor ihm sich entwickeln ließ, in den engbegrenzten Raum einer Episode gezwängt zu werden.

Er hörte ihr oft mit Qualen zu, die etwas Verzehrendes in sich trugen, und zwischen Lulus lachender, leichtsinniger Heiterkeit und dem großen Ernste, mit dem Valentin ihre Begegnung auffaßte, lag eine Kluft – tiefer als zwischen Haß und Liebe.

An einem Abend war Valentin bei der schönen Lulu in der großen Stube der Frau Ambrosius, und zwar schien das Beisammensein der beiden auf den ersten Blick wenig bedeutungsvoll zu sein. Es gab den Eindruck, als wären sie von der Gewohnheit zueinander geführt oder als läge es in der Macht jedes der beiden, ruhig, ohne Schmerz sich nach Belieben wieder zu meiden. Sie waren allein im Zimmer, und die Gewalt des Schicksals, das übermächtig zusammenführt, war in dem stillen Räume nicht zu spüren. – Lulu wandelte auf und nieder und lernte ihre kleine Rolle für den folgenden Tag und Valentin lehnte übergeduldig an dem großen Kachelofen. Lulu trug wieder das behagliche, eigentümlich kleidsame Hausgewand; die wunderlich rosa Jacke, das braune Röckchen. Sie schlenderte im Zimmer auf und ab, als ginge der junge Bursche, der träumerisch am Ofen stand, sie nicht das geringste an.

Valentin mußte warten, bis sie geendet hatte. Sie lernte ihre Rolle schwer und widerwillig, und niemand durfte es wagen, sie dabei zu stören. Lulu war eine mittelmäßige Schauspielerin, hatte sich aber, da ihr die Bretter von frühester Kindheit an heimisch geworden waren, eine gewisse Geschicklichkeit und Sicherheit im Darstellen angeeignet, die dem Publikum vollständig genügte, und außerdem stand sie unter dem Schutze eines guten, natürlichen Taktes.

Heute schien ihr die Aufgabe unpaß gekommen zu sein. Das Heft, aus dem sie lernte, lag auf dem Bügelbrette. Wenn sie hineingeschaut und das Gelesene im Auf- und Niedergehen ihrem Köpfchen einprägen wollte, hatte sie es halbwegs schon wieder vergessen und suchte von neuem, gähnend und gedankenlos, in den Zeilen.

In Valentin begann sich nach und nach die Ungeduld zu regen. Er wußte noch aus Erfahrung, daß es etwas mit dem Lernen auf sich habe, und hatte vor Lulus Anstrengungen allen Respekt, aber das scheinbar vollkommene Vergessen seiner Person ließ ihn länger nicht ruhen. Ärger und Schmerz darüber stiegen ihm zu Kopfe.

»Lulu!« rief er erregt, als sie wieder einmal achtlos an ihm vorüberging. Sie stand ihm gerade gegenüber, und als sie aufsah, trafen sich ihre Blicke mit denen Valentins, in dessen Augen die ganze Qual plötzlich mächtig ausgesprochen lag.

Da streckte sie den Arm in die Höhe und legte das Händchen auf seine Augen. »Du sollst nicht«, sagte sie fast innig erregt. Da umfaßte er sie heftig und küßte sie. Sie wehrte sich nicht dagegen, und als er sie ganz berauscht von seiner Kühnheit und seinem Glücke wieder losließ und in demselben Augenblicke sie wieder faßte und in voller Leidenschaft um Verzeihung bat, lachte sie, machte sich wie unversehens frei von ihm und sagte beinahe unverständlich und gelassen: »Was fällt dir ein! So ein Narr, wie du bist!«

Indem sie das sagte, streckte sie sich und gab ihm ein kühles Küßchen auf die Wange.

»So einer fliegt wieder davon, du Bärlein!« flüsterte sie lächelnd, ging zurück an ihr Buch und suchte wieder in den Zeilen.

Valentin blickte verletzt vor sich hin. Das Küßchen der klugen Lulu hatte ihn in seinem heißen Herzen kühl berührt.

Sie hatte eine wunderlich reizende und doch klare Art gewählt, zurückzuweisen. Unmöglich hätte man von ihr eine Härte oder Grobheit erwarten können.

Valentin hielt sich noch ein Weilchen auf und wußte nicht recht, was er tun sollte. Endlich entschloß er sich zu gehen und reichte Lulu die Hand zum Abschiede.

»Du willst nicht bleiben?« fragte sie.

Er schüttelte schweigend den Kopf.

»Nun, geh!« fügte sie freundlich hinzu.

Als Valentin über die dunkle Straße schritt, lag das Leben hoffnungslos vor ihm und tief erregend. Er beschloß, als er nachts nicht schlafen konnte, den nächsten Abend nicht hinüberzugehen. Dieser ziemlich sinnlose Entschluß brachte ihm endlich Ruhe. Er hielt aber sein Vorhaben nicht, sondern konnte am andern Tage kaum die Stunde erwarten, die ihn wieder zu Lulu brachte.

So ging ein gut Teil des Sommers hin, ohne daß etwas Besonderes geschehen wäre, als daß es in Valentins Herz fort und fort brannte, und daß Lulu nicht aufhörte, reizvoll zu sein.

Seit jenem Abend aber hatte er nicht gewagt, sie wieder zu küssen, trotzdem ihn nichts davon abzuhalten schien. So war das wunderbare Verfahren der kleinen Hexe wohl verstanden worden. Sie mußte einen starken Willen haben, daß sie wagen durfte, das ihr Erwünschte durch dessen Gegensatz zu offenbaren. Vielleicht wußte sie aus Erfahrung, daß ihr Wille siegreich durch alles hindurchleuchten konnte; doch schien ihr Benehmen fast unwillkürlich zu sein, als wäre es der Atem einer schön entwickelten, eigenartigen Natur.

Valentins Hoffen und Verlangen aber kam neben diesem kräftig begabten Geschöpf wenig zur Geltung. Er führte neben ihr seit jenem Abend ein vollkommen lautloses Leben, litt und träumte unermüdlich, aber wagte nicht wieder, mit einer Äußerung seiner Gefühle hervorzutreten. Das Glück, als es noch in weiten Fernen gestanden, hatte er sich als etwas Klares, Unleugbares vorgestellt; jetzt, als es ihm näher getreten war, erschien es ihm als großes Rätsel. Er hatte sein Lebtag noch keinen tiefgreifenden Schmerz erfahren, und nun wollte es ihn bedünken, als fühle er Glück und Leid, die beiden weit getrennten Mächte, eng vereinigt in seinem Herzen leben.

Von Karl Frey, dem Gesellen, erfuhr er, daß die jungen Leute im Städtchen auf ihn mißgünstig blickten, und daß er der Beneidete war. Karl Frey teilte ihm dies einigermaßen spöttisch mit, klopfte ihm auf die Schulter und lachte.

»Was willst du?« fragte Valentin unwillig.

Sie kamen, wie schon öfters, wegen der schönen Lulu aneinander.

»Habe ich es dir nicht gesagt«, erwiderte Frey, »daß auf das Frauenzimmer kein Verlaß ist. – Ich mache mir nichts aus ihr und laß dir deinen Ruhm. – Ärger und Not hat man von ihr und weiter nichts. Laß sie laufen, rat' ich. Hübsche Mädels gibt es genug in der Stadt. Weil du ein dummer Kerl bist, hat sie es mit dir vor und läßt dich, wenn sie etwas Besonderes findet.«

Solche Ermahnungen des guten, praktischen Gesellen stimmten Valentins Lebenshoffnungen tief herab, verhinderten ihn aber nicht, einen Tag wie den anderen hinüber zur Frau Ambrosius zu gehen, wo ihn Lulus lebendige Art, ihn zu bewillkommnen, alles vergessen ließ.

Noch einen Freund hatte Valentin im Städtchen gefunden, der mit Staunen und Freude im Theater einst den schönen Gesellen inmitten der gleichgültigen, alltäglichen Leute hatte sitzen sehen. Dieser Freund war ein alter Maler, dem es recht wohl ging, denn die Auffassung seiner Heiligenbilder, er hatte sich ganz diesem Fache gewidmet, sagte den Leuten zu, und er hatte sein Lebtag Bestellungen gehabt. Er war ein feinfühlender, guter Mensch, und trotzdem er die Kunst, da die Verhältnisse es so geboten hatten, etwas schablonenmäßig betrieb, war er dennoch fähig geblieben, die göttliche Abstammung seiner Begabung zu ahnen. Der Anblick der in wunderbar schönen Verhältnissen gewachsenen Gestalt des fremden Gesellen hatte den alten Künstler erregt. Er nahm sich vor, den vor allen anderen so ausgezeichneten jungen Mann kennenzulernen. Nach einer Vorstellung machte es sich, daß Valentin und er die Treppe miteinander hinabgingen, und der Maler redete unseren Helden fast zaghaft an, fragte, woher er komme, was er hier treibe, und ließ sich in ein längeres Gespräch mit ihm ein, dem Valentin nur widerwillig folgte, denn er versäumte dadurch, Lulu den Weg vom Theater nach Hause zu begleiten. Der Alte aber war so überaus freundlich, und Valentin spürte das Wohlwollen, das ihm entgegengebracht wurde, daß er sich damit aussöhnte, von dem Ziele, auf das alle Tagesstunden zuzugehen schienen, abgehalten zu werden.

Der Maler bat, daß Valentin ihn besuchen möchte, und diese Bitte brachte er so eigentümlich vor, als wäre sie ihm wirklich Herzenssache, daß sich unser Freund, dem Ähnliches noch nicht geschehen war, mit seinem Versprechen, die Bitte zu erfüllen, auch für gebunden hielt, trotzdem er sich sagte, daß er um eine Stunde in Lulus Nähe betrogen werden würde.

An dem Sonntage darauf hatte er sich zu dem alten Maler aufgemacht und es nicht bereut, dort gewesen zu sein.

Er, der in einem hübsch gebauten, weinumrankten Häuschen lebte, war augenscheinlich erfreut den Gast bei sich zu sehen. Er führte ihn in sein Atelier, das zugleich Wohnraum zu sein schien, zu ebener Erde lag, und dessen Fenster in ein schön gepflegtes Blumengärtchen hinausging. Da es Sonntag war, hatte er seine Gerätschaften fein ordentlich beiseite gerückt. Die Leinwand stand umgekehrt auf der Staffelei, und an der Wand hingen, sauber abgerieben, die Paletten. Es machte den Eindruck, als hätte ein ordnungsliebender Handwerker, um den Feiertag zu heiligen, sein vielbenutztes Arbeitszeug sich aus den Augen gestellt. Die behäbige Haushälterin des Malers brachte Gläser und eine Flasche Wein herein, und Valentin wurde es, ohne daß er recht wußte weshalb, behaglich zumute. Und dieses Gefühl hatte einen schönen Grund, für ihn war ein Augenblick hereingebrochen, der seiner Erscheinung auf Erden die volle Weihe gab. Zum ersten Male wurde er ohne Rückhalt als das anerkannt, was er war, und zum ersten Male war es ihm vergönnt, mit seiner Begabung zu beglücken. Diese Stunde glich jener in seiner frühesten Jugend an Bedeutung, in der er sich an dem kleinen Waldsee mit der freien Natur schön und widerstandslos vereinigt gefühlt hatte. Von dem alten Maler war er wie ein Segen, wie eine Offenbarung aufgenommen worden. Der kümmerte sich wenig darum, ob diese Schönheit auch den Rechten durchdrungen hatte, ob es vorteilhaft für den jungen Menschen sei, so ausgezeichnet worden zu sein oder nicht. Er war ganz glückselig, daß so schöne Menschen noch auf Erden lebten. Er schenkte sich und seinem lieben Gaste in herzlicher Freude eifrig ein, so daß beide ganz redselig wurden. Er begann wie ein Neuling, der seinem Herzen noch Luft machen muß, von den Sorgen und Kämpfen, welche die Kunst mit sich bringt, zu sprechen. Bei dem Anblick Valentins überkam ihn jedes Mal ein Schmerz, daß er in seinen Schöpfungen von dem Erhabenen sich so weit entfernt hatte. Er stand auf, kehrte das Bild auf der Staffelei um und sagte: »Seht, was für ein Lump das ist!« Valentin blickte in das hübsche, sanfte Engelsantlitz eines frommäugigen Johannes, der in einem rötlichen Gewande auf seinem Goldgrund einen gar freundlichen Eindruck machte.

Valentin war dieses Bild gerade recht. Es schien ihm der Inbegriff eines schönen Gemäldes zu sein, und er stand andachtsvoll davor.

Dem guten Maler aber verwirrten sich in seiner Weinlaune und Freude die Begriffe um ein Geringes. Ihm schien es nicht mehr recht klar, daß Valentin nicht seiner eigenen Schönheit Schöpfer war; denn als unser guter Kerl den frischen, hübschen Johannes noch recht bewundern wollte, sprang der Alte behende an die Staffelei und drehte mit einem kühnen Griff Valentin die Rückseite des Bildes wieder zu, sagte, indem er das tat, zu ihm, wie er es vielleicht einem großen Maler gegenüber getan haben würde: »Bemüht Euch nicht. Es ist in Wahrheit nichts wert!«

Valentin blickte ihn ganz erstaunt an. Da lachte das Männchen verlegen und rückte mit dem, was er zu sagen hatte, zaghaft heraus: »Ihr könntet mich recht zu Dank verpflichten, wenn ich Euch malen dürfte«, begann er.

»Mich?« fragte Valentin.

»Ja!« sagte der Künstler und blickte ihn fast bittend an. »Wenn Ihr mir nur zwei Sonntage sitzen wolltet, da würde ich eine schöne Studie haben.« Valentin war durch dieses Verlangen etwas betreten. Er wußte nicht recht, wie er sich benehmen sollte, und zwei Sonntage, zwei dieser glückseligen Sonntage herzugeben, schien ihm ein starkes Verlangen.

»Nun, Ihr wollt nicht?« sagte der Alte mit einem innigen, gefaßten Ton, daß es Valentin zu Herzen ging und er erwiderte: »Oh ja, es würde gehen.«

»Mir wäre es eine rechte Freude, wenn Ihr es möglich machtet, und Ihr sollt sehen, der Schaden ist nicht groß, einem alten Manne etwas zu Gefallen zu tun.« Das sagte er liebenswürdig und bescheiden, daß es Valentin von einem so geschickten Meister fast wehmütig berührte.

»Ja«, wiederholte er noch einmal, »ich will kommen.«

Der Alte gab ihm die Hand und sagte: »Das freut mich!« mit einem Tone, daß Valentin sich mit einem Male wie der reiche Mann bedünkte, der sich den ersten besten zu Dank verpflichten kann. Er nahm nun in gehobener Stimmung von seinem neuen Freunde Abschied und verabredete die Zeit, die ihn am nächsten Sonntage wieder zu dem Maler bringen sollte.

Noch eine Vormittagsstunde hatte er übrig, die er benutzte, um zu Lulu zu laufen, die er wunderbarerweise allein fand, was Sonntag vormittag fast nie zu geschehen pflegte. Er erzählte ihr von seinem Begegnis, erzählte auch, wie liebenswürdig und gütig der Maler gewesen sei.

Lulu sah ihn lächelnd an und sagte: »Da kommst du auch einmal an den Rechten. Das ist mir lieb! – So ein bißchen Bewunderung tut gut, mein Schöner, nicht wahr?« Indem sie das sagte, blickte sie gedankenvoll auf ihn hin.

»Lulu!« rief Valentin, faßte ihre beiden Hände und blickte das Mädchen unendlich innig an. »Lulu, was könnte ich tun, damit ich dir recht wäre?« sagte er außer sich.

»Valentin«, erwiderte sie, »wie lange wird es dauern, da sind wir fort. Ich bin es wahrhaftig nicht wert, daß du dir solche Not um mich machst. Weshalb hältst du es nicht wie ich und genießt das Leben und was es bringt? Du bist so wenig klug.« Der gute Mensch hatte sie, während sie sprach, fest angeblickt mit einem Ausdruck, als schaute er seinem eigenen Elend in das Gesicht.

»Lulu«, flüsterte er hastig, »du meinst, daß du gehen wirst?«

»Nun, was sonst?« sie blickte leicht befangen nieder. »Wie du nur fragen kannst.«

»Da gibt es nichts«, fragte er heftig weiter, »was dich halten könnte, und wenn ich alles täte, was in meinen Kräften stände?«

»Laß das!« sagte sie. – »Was könntest du tun? Denke doch!«

»Ich habe es dir schon einmal gesagt, wir sind nicht arm«, fuhr er erregt fort.

Sie lächelte, wahrscheinlich bei dem Gedanken an das Haus auf dem Kannerückchen, und unterbrach ihn, als er eben noch weiter fortfahren wollte. »Tu mir die Liebe, Valentin, und nimm dich zusammen. Wenn du wüßtest, wie unnötig es ist, was du sagst, würdest du hübsch davon schweigen und die kurze Zeit, die wir noch miteinander haben, genießen.«

Da leuchtete es in seinem Gesichte wunderbar auf. »Du genießest die Zeit also, wenn wir beisammen sind?« fragte er jubelnd.

»O du Dummer!« sagte Lulu und faßte seinen Kopf zärtlich zwischen beide Händchen und sagte ernsthaft: »Du sollst vernünftig sein, Valentin. Es war für dich kein Glück, daß wir uns sahen.«

Das sagte sie so leicht hin mit einem kleinen wehmütigen Anhauche, der ihr wie ein leichter Wind über die heitere Seele fuhr. »Komm heute gegen Abend wieder und sei hübsch artig.«

Da trat die Mutter ein, und Valentin machte sich tief gequält schnell davon. Er liebte Lulu mit der ganzen Kraft seiner Natur. Alles, was in ihm unentwickelt und unvollkommen lag, wandelte sich und wurde zur heißen, leidenschaftlichen Liebe. Er verbrachte den ganzen Tag in dumpfem Hinbrüten und wartete nur bis es endlich so weit war, daß er wieder hinüber konnte.

Der Instrumentenmacher war zur Zeit zufrieden mit dem Gesellen, weil dieser seine Arbeit gleichmäßig und ruhig vollbrachte. Wie schon erwähnt, mochte dies auch in bewegten Lebenszeiten stetige Hinarbeiten Valentins darin seinen Grund haben, daß er nie gewohnt gewesen war, mit ganzer Seele bei seinem Tagewerk zu sein.

Dennoch fiel dem Meister bei Tische das Benehmen seines Gesellen auf. Mit der Meisterin hatte er schon darüber gesprochen, und sie waren einig geworden, daß der Bursche einen Kummer haben müsse.

Als Valentin endlich Lulus Aufforderung, wiederzukommen, Folge leisten konnte, lebte er auf. Er fand das schöne Kind im Garten. Als sie ihm entgegenkam, durchleuchtete die Abendsonne ihr blondes Haar, und Lulu erschien ihm unbeschreiblich reizend. Sie gingen miteinander durch den sommerlichen Garten. Zwischen Ahorn und Linden trugen Obstbäume ihre reifende Last. Die Frühäpfel schimmerten schon rötlich in den Zweigen, und alles fühlte sich sicher und warm in der Sommersmitte.

Valentin schlenderte neben der sorglosen Lulu und machte sich keine Gedanken darüber, daß er den Mund noch kaum aufgetan hatte.

»Nun«, sagte Lulu, »heute habe ich nachgedacht, daß du ein recht Verschwiegener bist. Was habe ich dir nicht alles erzählt, und du spielst dich immer geheimnisvoll auf. Sage mir nur eins. Wie die geheißen hat, die dir früher gefiel.«

»Es war keine!«

»Nicht?« fragte sie. »Das wird nicht wahr sein.«

»Doch! Es war keine«, wiederholte er.

»Das glaube ich nicht«, meinte sie.

Valentin sagte nachdrücklich: »Eine, die schon lange nicht mehr lebte, als ich von ihr hörte. Die kann man nicht rechnen.«

»Sie lebte nicht mehr?« sagte Lulu. »Was meinst du?«

»Nein! Ich habe nur von ihr erzählen hören.«

»Das ist mir etwas Rechtes«, unterbrach sie ihn.

»Im Aussehn glich sie dir«, sagte Valentin ernsthaft.

»Mir? Wieso? Ich denke, du hast sie nicht gesehen?«

»Gesehen nicht, aber sie wird so gewesen sein. Solch Haar und solche Augen, wie du sie hast, hatte sie auch. Das weiß ich.«

»So? – Wie hieß sie?« fragte Lulu. »Apollonia hieß sie«, sagte er.

Da dachte sie, er meinte vielleicht die Kalenderheilige, und war so gar besonders nicht mehr interessiert.

Valentin erzählte nun mit einem eigentümlichen Ernste, mit dem man eine bedeutungsvolle Erfahrung mitteilt, das, was er von der alten Machlett über die Apollonia gehört hatte. Er erzählte tief erregt, daß selbst Lulu das längst Vergangene der Geschichte während der Erzählung vergaß. Valentin war wieder von den wenigen Zügen, die des Mädchens heiligste Liebe und ihre innigste Hingebung geheimnisvoll andeuteten, im Allerinnersten bewegt. Wunderbar rührte ihn von neuem die einfache Geschichte, wie Apollonia vor ihrem Kommodchen kniete. Ein Schmerz durchzog ihn, als er bedachte, wie alles spurlos in das Vergessen hinein verschwinden muß – und er litt bei dieser Empfindung.

Im Erzählen waren sie fast unversehens auf den Platz gekommen, auf dem das Kreuz stand. Sie blieben beide stehen und blickten darauf hin. »Es ist eine schöne Sache, geliebt zu werden und jemanden gerne zu haben«, sagte Lulu, »und es gibt so viel Gutes, wenn auch ein wenig Kummer darunter ist. Aber man lebt nur ein einziges Mal, und daß sich manche das Leben so ganz verderben können, daran mag ich nicht denken. Mir gefällt es nicht, daß du die Apollonia liebst. Ich meine, man hätte das Leben bekommen, um klug damit umzugehen. Mit der Liebe ist es wie mit der Flamme, achtet man hübsch auf sie, so hat man ein schönes Licht; läßt man sie aber brennen und verzehren, so viel sie will, dann ist das Feuer im Hause. Daß die Liebe vergeht, sieht einer alle Tage. Wie ein Fest und ein Schauspiel vergeht, so vergeht sie auch. Daß die, die nicht füreinander passen, kein Einsehen haben, möchte ein besonnenes Geschöpf in Ärger bringen. Was hast du nur mit deiner Apollonia?« fuhr sie fast komisch auf. »Keine Vernunft hast du!« sie reckte sich und zauste ihn leicht am Haare. »Könnte man dumme Leute kurieren! So ein Traumhans, der ein paar Jahrhunderte zu spät sich in eine verliebt, die nach einem ganz anderen, als er ist, ausgeschaut hat, und die mir nicht gefällt, weil sie zu denen gehört, die durch ihre Unklugheit schuld daran sind, daß viele glauben, die Liebe sei unüberwindlich und trage das Leben oder den Tod in sich.«

»Du weißt nicht, was Liebe ist, Lulu!« sagte er betroffen.

»Warum nicht?« erwiderte sie. »Nur denke ich Liebe nie allein. Liebe und Leben, denke ich, das ist's. Verstehst du mich?«

Valentin blickte die hübsche Freundin an, die so sicher und heiter dachte, und er fühlte herzbeklemmend, was alles zwischen ihnen läge. Er sah auf. Die Abendsonne schien über die Tannenwipfel, und der Platz in seiner ernsten Schönheit machte wieder auf ihn Eindruck. Das Kreuz stand düster und mahnend in seiner Größe vor den dunkeln Bäumen. Lulus leichtlebige Worte wollten ihm hierher wenig passen; aber weit entfernt war er davon, über die Kleine zu urteilen. Sie erschien ihm reizend und bewunderungswürdig, und er war ganz in ihr befangen.

»Lulu«, sagte er, »da wird jemand von mir gehen und gar nicht mehr an mich denken.« Seine Stimme klang dumpf, als er das aussprach.

»Nein, nein!« sagte sie begütigend. »Ich werde an dich denken.«

Valentin aber war es, als hörte und spräche er alles unklar und bedeutungslos. Sie übte durch ihre ausgesprochene Art, die Dinge leicht zu nehmen, nie außer Fassung zu kommen, auf ihn Einfluß. Er wagte in ihrer Nähe nicht, seiner Leidenschaft die Worte zu geben, nach denen sie verlangte, sondern milderte fast unbewußt alles, was ihm das Herz bedrängte. Jetzt hätte er gerne alle Gewalten, die in ihm tobten, freigegeben, sagte aber gelassen: »Schade – schade! Es müßte schön sein, wenn du mich liebtest!«

»Was wolltest du mit mir nur anfangen, Valentin?« erwiderte sie darauf. »Glaubst du, ich hielte es auf dem Kannerückchen in deinem kleinen Hause aus? Und was würden deine Leute sagen, wenn du ihnen so ein Gesindelchen wie mich mitbrächtest?« Das sagte sie so liebenswürdig und freundlich, wie nur sie es tun konnte. »Komm nun!« bat sie und zog ihn halb dem kleinen Fußpfad wieder zu, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen und begann abermals: »Von dem Platze hier wird mir der Abschied schwer werden; auf der ganzen Welt kenne ich nichts Lieberes. Mir ist es hier ganz heimatlich zumute geworden, wie sonst nirgends. Am Morgen, wenn du bei der Arbeit bist und es bei uns mit den vielen Frauenzimmern aus- und eingeht, da sitze ich hier auf der Bank.« Sie berührte mit dem Füßchen eine hölzerne Kiste, die ganz im Grünen versteckt stand, und sagte: »Die habe ich mir hergeschleppt, da lerne ich meine Rollen und gucke ins Grüne. Ich habe ein unruhiges Leben gehabt, da kannst du dir nicht denken, wie lieb mir der stille Platz ist; und bei uns geht es so drunter und drüber.«

Noch nie hatte Valentin sie mit solch einem herzlichen Tone reden hören. Er hatte es an ihr vermißt und war nun ganz bewegt davon.

»Die Mönche haben das Kreuz aufgebaut«, fuhr sie fort. »Es muß schön gewesen sein, wie noch vor den dunkeln Tannen der Herrgott da oben hing, schöner als in der Kirche, denke ich. Und die Eibe, das hohe Gras am Steine, darüber der Himmel. – Ich habe oft versucht, wenn ich hier allein saß, mir den Heiland da oben so lebensgroß zu denken, mit der Dornenkrone. Hier der Strahlenkranz hat ihm den Kopf umgeben; wo seine Füße standen, sieht man auch noch, und die Nägel, die durch die Hände gingen, sind fest geblieben.«

Valentin blickte auf und vergegenwärtigte es sich, und unverwandt starrte er zu dem Kreuze hinauf.

Da tauchte eine Erinnerung aus seiner Kindheit, leicht wie eine Welle in seinen Gedanken und Gefühlen auf, sie hob sich und zerfloß. In dem Stübchen der alten Machlett sah er das Bild des Gekreuzigten, das ihm trotz der Unvollkommenheit einen der ersten großen Eindrücke gebracht hatte. Schon tat er den Mund auf, um Lulu davon zu erzählen, da empfand er, als sollte er es lieber lassen; weshalb, war er sich selbst nicht recht klar bewußt.

Lulu unterbrach das Schweigen Valentins und verriet durch ihre Worte, daß auch sie sich noch mit der Vorstellung des Gekreuzigten beschäftigt hatte. Sie sagte: »Es ist vielleicht besser so, daß der Christus fort ist. Vielleicht war er so häßlich geschnitzt, wie wir sie oft haben; so mit häßlichen Armen, das Gesicht verzerrt; und er sollte doch schön sein wie sonst nichts auf der Welt.« Jetzt schaute sie Valentin an und sagte nachdenklich: »Wahrhaftig, wenn ich dich ansehe, du mußt es mir nicht übel nehmen«, sie sah lächelnd zu ihm auf, »da denke ich: Wie schade! Aussehen tust du, daß der liebe Herrgott, ohne sich zu schämen, so auf der Erde hätte umhergehen können, und dabei bist du ein armer Schelm, von dem kein Mensch ein Aufhebens macht. Kaum, daß du eine pfiffige Antwort geben kannst.«

»Da magst du recht haben«, sagte Valentin.

»Recht oder nicht recht«, fuhr sie fort, »aber es wäre dir besser, wenn du ein gleichgültiges Gesicht hättest, dann würdest du reputierlicher sein. Da könnten die Leute sagen, der paßt in seinen Rock und seinen Stand, da ist nichts Besseres zu wünschen; und sie würden dich gebrauchen, wozu sie dich für gut fänden.«

Valentin lächelte schmerzlich, erwiderte aber nichts.

Sie gingen jetzt wieder miteinander aus dem verborgenen Heiligtume.

Nichts hat größere Wirkung, als wenn unvermutet eine immer heitere Person einmal Ernst zeigt. Valentin war von der Art, mit der Lulu ihm von ihren einsamen Stunden gesprochen hatte, gerührt; und daß das Ergreifendste und Gewaltigste, was die Welt kennt, ihrem Herzen so nahe stand, erstaunte ihn, so daß er von dem Eindrucke ganz befangen war und kaum auf Lulus sonderbare Offenheit geachtet hatte.


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