Helene Böhlau
Im Garten der Frau Maria Strom
Helene Böhlau

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Siebzehntes Kapitel

Das Trennungstier läuft hinter einem Zuge her. Ein Schwälblein verhindert eine Schwindelei. Vier kleine Burgen geben sich offen zu erkennen. Ottomar Strom legt sein Leid in ein Vogelnest. Wolfgang Stürmers Baumsegen.

Fremd, unter fremden Menschen, fährt Ottomar Strom seinem Ziele zu. – Im Eilzug fahren auch Zivilisten. – Ihre gleichgültig teilnahmslosen Augen verbieten ihm diesmal alle Freude, und es ist ihm, als dürfe er sich nicht schaukeln auf den Wellen der Zukunft.

So träumte er in die Nacht hinaus.

Da gleitet mit dem Zug ein leuchtender Stern, sein Stern, und er eilt mit ihm in die Welt hinein.

Ottomar sieht treu zu ihm auf wie zum Auge eines Freundes, treu und tapfer.

Im Park zu Colmar duftet Maienluft. Nicht weit liegen die finsteren Kriegsberge. – Da hat er auch geträumt. Fremd unter Fremden in der Fremde.

Die frohen Sonntagsstimmen im Park wecken seine eigene Einsamkeit. – Allein und fremd.

Und er sinkt in die Tiefe der Erinnerung, Duft von weißen Buschblüten umspielt ihn. Seine Gedanken sind bei der, zu deren Freude die Blumen blühen.

Der Park ist so stolz wie der Prunksaal der Raubtiere – und es wandeln Raubtiere, weiche Wesen, schöne weiche Wesen, die die Kraft und die Ruhe rauben. 305 Sie wandeln aufrecht in frühlingsbunten Kleidern. Sie streifen die blaugrünen Eibenbäume, sie zupfen an weichen Blättern und scheinen den Wald nimmer zu kennen und nimmer zum Freund zu haben, denn der Wald hat gerauscht und hat vor ihnen gewarnt. Sie wandeln und trillern und locken, sind immer froh und verstecken alles Leid in ihrer Brust. – So ist ihre Kunst, doch sind sie so schön. Ein alter Buckliger sitzt im Park auf einer Bank bei den blauen Eiben, der muß sehr reich sein und er spielt mit so einem weichen warmen Tier, mit einem ganz jungen, es ist ein Mädchen mit dunklem Haar und dunklen Augen; ein Kind, doch die schwüle Kunst seiner Art schlummert schon hinter der Stirne und droht zu erwachen.

Der bucklige reiche Mann treibt mit ihm ein seltsames Spiel. Eine glitzernde kleine Mundharmonika wirft er weit fort, den Eiben zu ins Gras und schüttelt sie wieder aus dem Ärmel.

Wenn das kleine schwüle Wesen sucht und nicht findet, zieht er die Brauen hoch und flüstert und raunt:

»Siehgst de schwarz Amsel! Siehgst de schwarz Amsel? De schwarz Amsel hat's g'holt. De schwarz Amsel hat's g'holt.«

Dann erschrickt das schwarzäugige Mädchen – und Ottomar Strom erschrickt auch.

Doch bald versucht das schwüle Junge das Kunststück und macht es besser als der Bucklige, doch in seiner Art. Ottomar fürchtet den Alten und muß an seine einsame Fahrt ins Feld denken, wie ihn der Zug fortschleppte und wie hinter ihm her durch die Nacht das Trennungstier herlief. Mit baumdicken, grausigweichen Pfoten trabte es auf dem Bahndamm und die Gleise drückten sich tief in seine Ballen. Mit seinem ängstlich gehenden Atem trieb es den Zug vor sich her, bis die Räder 306 schnurrten. Wollte es den Zug wirklich verjagen, oder kam es nur nachgerannt? Das war unklar. Aber der Atem ging ihm mit viel Angst. Ob das Tier wohl auch einen Buckel gehabt hat? Ob's wohl hier auf der Bank sitzt und er kennt es nimmer?

Ottomar Strom fühlt, trotz der Fülle der Eindrücke ist der heutige Tag für ihn noch nicht abgeschlossen und richtig, als im Park die Militärkapelle zu spielen beginnt und er dorthin geht, trifft er einen vom dreitägigen Sonnwendfest, einen kriegsmüden Infanteristen, der hat ein schwarzes Hündchen. Ein Wandervogel-Handschlag – und sie singen leise im Park – und sie sprechen so viel, der Kriegsmüde wird freudiger, und Ottomar Strom geduldiger. Zuletzt, aus Freude über das Konzert im Park und über ihr Wiedersehen, wären sie beide beinahe in so eine große gelbe Trompete hineingekrochen.

Ottomar Strom hatte noch einige Tage hinter der Front im schönen Elsaßland zu bleiben.

In diesen Tagen schrieb er an Dorothee Garbe:

Ich kann so plötzlich auftaumeln in wilder Freude, da faßt mich Jubel ob einer lachenden Kleinigkeit – ob einer Wolke – ob einer Blume, einer hellen Stimme, einer lichten Erinnerung.

Mein Oberstleutnant hat mir in die Hand hinein fest versprochen, daß ich bald als Geschützführer und Beobachter ganz vorkommen werde. Oh, der Mann war so fein zu mir und hat mir so schön in die Augen geschaut.

Wie ich so ging im Regen, durch das waldige, grüne Tal und wie unweit das Trommelfeuer und Feuerüberfälle gekracht und getobt haben, da hab' ich sicher und fest gewußt, daß ich hier in den herrlichen Tannenbergen noch viel singen und jubeln werde.

307 Bin wie der Teufel mit zwei gelben Rossen auf einem Leiterwagen in ein Dorf bei Kolmar gefahren. Dort muß ich noch einige Tage bleiben.

In Lebensgefahr war ich noch nicht, so muß ich mit Scham sagen. Wo ich war, gab's überall noch Weiber.

Heut ist über den Brief ein kleines rotes Katzentier gelaufen, drum schreib' ich morgen weiter.

Wenn's so zugeht, da wird's der reinste Maibrief. So viel Sonne, so frisches Wasser und so fein singen und so ganz allein und ganz froh und auch keine Minute, die nicht die schönste wäre im Leben. Am Himmel gibt es Sterne, die sind treu und still wie seltene Menschenaugen.

Und wenn Du wüßtest, Du armes Stubenhockerl, Du gefangenes Sonnenstrählchen Du (ich will nicht kindisch werden), wenn Du wüßtest, was ich tu und wo ich bin, das Herz möcht Dir vergehen.

Ich bin mitten im Elsaß, in einem alten Bauernhaus (1420) in einem kühlen Zimmer ganz allein. Mein Zimmer hat zwei mannshohe Fenster. Ich schau über ein blühendes Dorf mit bunten Giebeln, mit moosigen Dächern, weit, weit auf dunkle Vogesenberge. Ich höre den Donner der Geschütze, er lockt mich und doch bin ich froh. Hab' mich ja oft schon gefreut im Leben, aber nicht so groß gefreut wie jetzt.

Und jetzt denk' ich oft an Goethes Faust, weiß nicht warum! Wohl, weil er so wuchtig ist, und weil mir heut das Leben auch so schlägt und wuchtet!

Und glaubst Du mir, daß man in so einem Zimmer, zu solch einer Zeit mit so viel Erinnerung und Sonne auch singen kann?

Wenn ich morgens aufstehe und zum Appell gehe, dann sagt mir der alte Großvater: »Guten Morgen, 308 Herr Unteroffizier! Schon so lustig? Singen am Morgen, da singt der ganze Tag.«

Heut ist Sonntag! Jetzt paß auf, wie froh ich bin! Tu aber nicht lachen! Es ist ein halb zehn und ich war schon beim Appell. Hab' schon gefrühstückt, hab' mein Zimmer dreimal gekehrt und einmal gewischt, hab's Bett gemacht, hab' mich gewaschen und sitze nun mitten in meinem kühlen Zimmer am Tisch auf meinem roten Plüschstuhl, beide Fenster weit offen. Die Bodenbretter in meinem Zimmer sind goldgelb vom Waschen und duften ganz gut! Und wie ich erst sauber bin! Weißt, so eine Soldatenwascherei hat eine ganz sonderbare Reihenfolge. Erst putze ich die Stiefel und stelle sie neben den Brunnen, dann die Zähne; dann kämme ich mich, dann wasche ich mir die Hände und dann wasche ich mich erst. Das muß so sein.

Das kommt daher, weil man doch immer ein fließendes Wasser hat und weil man damit rechnen muß, sich nicht von neuem zu beschmutzen.

Wie ich's Zimmer geschroppt habe, hat die Elsässer Großmutter mir gesagt: »Er si brav, er si brav!« und der Großvater hat gesagt, wie ich am Brunnen war: »Allis süber wasche am Süntag!«

Wie ich so sitz' und den Brief nochmals les', da hab' ich ganz laut eine Schwalbe zwitschern gehört – und hab' gedacht: Sollst du dem Maidli jetzt vorschwindeln, es sei eine Schwalbe ins Zimmer geflogen? Da rauschte ein buntes Schwalb beim Vogesenfenster herein und beim Fenster, das zur Kirche schaut, wieder heraus. – Sind Glücksvögel die Schwalben, weil sie so viel und schön durch sonnige Luft und über grünes Laub und kühle Wasserspiegel fliegen.

Flieg, Schwälblein, flieg zur Isar
Und grüß mein Wunderquellchen.

309 Wenn auch viel Dummheit drin ist, jetzt freut mich mein Brief, er hat so was Hausbackenes und riecht so nach Landluft.

Oh, schreib mir doch recht selten und recht fein. Fast möcht ich Dir meine Adresse nicht verraten, schreib mir erst, wenn ich tapfer war und vor dem Feind. Hier, hinter der Front da tut jeder Brief ein bissel weh.

*

Der schönen Zeit im Hinterland folgen nun für Ottomar Strom eine Kette von Tagen, in der Vogesenstellung seiner Batterie.

Mancher Kampftag ist dabei.

Dann im Sommer führt das Schicksal die Batterie vor eine Anhöhe vor Verdun, Höhe 388.

Die Batterie bekommt auf dem Bergrücken eine früher von den Franzosen benützte Stellung.

Früh drei Uhr beginnt die Fahrt den Berg hinauf. Um zwölf Uhr sind sie oben.

Der Lehmboden ist grundlos, Granatloch an Granatloch. Stacheldraht im Weg. Oft versinkt ein Geschütz hilflos. Gutes Kommando macht die Geschütze flott. Tiefe Löcher, verdeckt von Schlamm, ziehen den Kanonieren die Stiefel aus. Pferde brechen nervös in die Taue, treten unterm Schlamm in Kisten, scheuen vor Leichen und Kadavern.

Es wird heller Tag, der französische Fesselballon geht hoch und Granaten schlagen ein. Der Bergrücken ist kahl und zerschossen, ein braunes Trichterfeld. War es einst ein Wald? War es eine Wiese?

Mitten darauf die Batteriestellung. Die Geschütze fahren im Galopp ein. Die Gäule mit den Fahrern jagen zurück zur Protzenstellung. Noch stehen die vier Haubitzen frei im feindlichen Feuer. Auf Leben und Tod wird geschanzt. Es wachsen mannshohe 310 Sandsackmauern, rund um jedes Geschütz. Vier kleine Burgen trotzen und geben sich frei zu erkennen. Eine jede Burg besitzt bis in den Felsen des Höhenrückens hinunter einen bombensicheren Unterstand für die Mannschaft. Dies noch von den Franzosen her; nur daß damals die Geschütze in der anderen Richtung schossen.

Vier kleine Burgen. Vier Zufluchtsorte. Vier neue Zuhause.

Wenn's irgend ging, führte Ottomar Strom sein Tagebuch.

Mein Geschützeinschnitt. Meine liebe Erdenheimat, die unser Leben bewahrte. Jeden Morgen finde ich eine Handvoll Eisen in meiner Burg, wenn ich aus dem Stollen steige, Schrappnellkugeln und große Splitter.

Heute nacht, unter der Erde, haben wir eine Stunde vom Mut gesprochen. Meine Leute sind alle mutig und das verbindet uns wie Freundschaft. Tags schauen wir neugierig über die Mauer. Vor uns stehen Batterien. Wir schießen über sie hinweg. Hinter uns stehen welche, die schießen über uns hinweg und ihre Frühkrepierer jagen uns Schrecken und Eisen in die Burg.

Wolfgang Stürmer soll in der Nähe sein, drüben im Tal.

Nun ist's Nacht. Seit zehn Stunden schießt mein Geschütz Gasgranaten, im fürchterlichsten Krieg, auf der fürchterlichsten Kampffront mit der schaurigsten Waffe.

Schuß auf Schuß; ich habe die Bedienung geteilt.

Keiner kann aber schlafen trotz der Ablösung, so zittert und dröhnt der Berg.

Keiner wagt zu schlafen, und alle haben die Gasschutzmaske zur Hand und lauschen auf einen Gasalarm. Luftdruck löscht im Unterstand das Licht aus, und das Geschütz oben speit Schuß auf Schuß Gift zum Feind, 311 und immer neu bekommt die Haubitze ihre giftige Nahrung. Alle zehn Minuten ruf ich: »Haaalt! Nicht mehr einsetzen! Rohr wischen! Rohr kühlen!« Durch die Züge preßt sich der Rohrwischer mit saftigem Öl und außen aufs Mantelrohr kommen dreifach feuchte Sandsäcke. Wie das Wasser verbraucht ist, hab' ich welches gebettelt beim ersten und zweiten Geschütz, und wie das wieder verbraucht war, hab' ich Kaffee genommen. Ich will mein Geschütz erhalten. Wir pflegen es wie ein Kind.

Um drei Uhr bringen uns sechzig Fahrzeuge Munition in der Nacht. In der Nacht kommen sie auf dem beschossenen Weg und schwinden wieder.

Um vier Uhr morgens bekommt die Batterie starkes Feuer, doch das Brüllen unserer Haubitzen übertönt die Einschläge und beruhigt uns.

Um ein halb fünf fährt ein Feuerschein auf. – Es wird taghell und gleich folgt ein betäubender Krach.

Eine neue Waffe?

Brennt der ganze Berg?

Ist's doch endlich aus mit uns?

Bei der gegenseitigen Talwand, da, wo ich Wolfgang vermute, ist ein Munitionslager getroffen.

Fünf Minuten später Meldung: Erstes Geschütz fällt aus.

Um vier Uhr vierzig vom zweiten Geschütz Meldung: Vorholfeder gebrochen, zweites Geschütz fällt aus.

Meldung vom dritten Geschütz: Volltreffer. Drittes Geschütz fällt aus.

»Halt, Leute, langsam! Wir sind das letzte Geschütz! Wir müssen's erhalten! Noch einmal kühlen! Nur noch zwei Schuß!

»Einen Schuß und noch einen!« so ruft mein Richtkanonier.

Ich verstehe: Nur noch einen Schuß – und so spring ich nach dem Schuß vors Rohr und lege feuchte Lumpen 312 auf die Mündung. Im Schlachtenlärm hör' ich das Laden nicht, höre nicht, wie der Richtkanonier aufsteht – und ich höre nicht, wie der Einser zum Abzugsgriff springt.

Da rufe ich: »Herrgott, das Rohr glüht ja fast!«

Und – durch Zufall haben sie mich gehört!

Als später der verhängnisvolle Schuß losging, spritzte heißes Glyzerin aus dem Rücklauf. Und beim Kühlen kochte es unter dem Rohr wie eine Maschine. Da muß ich Meldung machen: »Viertes Geschütz fällt aus: Brennflüssigkeit verkocht.«

Es ist vier Uhr fünfzig.

Um fünf Uhr darf kein Geschützschuß mehr fallen. Dann stürmt die Infanterie.

*

Nirgends fühlt man sich wohl. Im größten Granatloch nicht – und auch nicht bei einem Nachbargeschütz, nur bei seinem Einschnitt, da lacht man dem Schlachtendonner.

Ich glaube, man hört weit über hundert feuernde Batterien.

Um sechs Uhr früh ist starker Gegenangriff. Alles, der ganze Bergrücken, speit glühendes Eisen. Unsere Batterie ist vernichtet und schweigt.

Da hab' ich einen Brief von Wolfgang genommen, bin im Freien sitzen geblieben und habe ihn gelesen. Den Brief trug ich seit drei Tagen bei mir, hatte keine Zeit zum Lesen gehabt. Darin stand, daß er bei Verdun steht, daß er noch am selben Tage stürmen müsse, und viele schöne und ernste Sachen. Und es stand darin von Freundschaft bis in den Tod. Solches habe ich gelesen, selbst vor Verdun, selbst im schweren Granatfeuer.

Freund! Freund! bleibe du am Leben. Bleibe du am Leben! – Und heute wußte ich, was Freundschaft sei. 313 – Und heiß drang sie mir zu Herzen! Ich war mutig, doch als ich den Brief gelesen hatte, den Brief mit seiner Todesahnung und seiner großen Treue, da wurde mir der Mut erst selbstverständlich. Mich wundert, daß ich von Dorothee Garbe nur kleine, nichtssagende Briefchen bekomme, fast hilflose. Jetzt, wo ich schon so lange an der Front bin.

*

So stand es in Aufzeichnungen Ottomars.

Am Tage nach diesem Gasangriff hielt der Hauptmann einen Appell ab:

»Ihr habt es wohl schon oft von der Infanterie gehört, daß unsere Artillerie zu kurz geschossen hat; hier vor Verdun bei dem Massenbetrieb ist das leider kaum zu vermeiden. Die Infanterie beklagt sich über schwere Verluste.

Der Sturm auf Fort Sauville, der für heute abend geplant ist, ist ein groß gedachtes Unternehmen. – Und so kommt eben die Anfrage: Welche Artilleristen sich freiwillig zu diesem Infanteriesturm melden. Ein Unteroffizier darf sich auch melden.«

Es meldeten sich zwei.

»Der von den beiden, dem besonders daran liegt, kommt mit vor,« entschied der Hauptmann.

Da trat Ottomar Strom vor.

»Dann bin's halt ich, Herr Hauptmann, es liegt mir viel daran.«

Bei sinkender Sonne ging er zu einer nahen Quelle, dort hat er sich von Kopf bis zu Fuß gewaschen. »Sauber will ich mein Leben wagen,« summte er dazu vor sich hin. Dann schrieb er einen Brief:

Du liebes Schweizer Maidli! Aus Gründen, über die ich heut wohl schweigen muß, hat es sich als nötig herausgestellt, daß den heutigen großen Infanteriesturm auch 314 Artilleristen begleiten. Freiwillige vor! Ein Unteroffizier und drei Mann, und der Unteroffizier bin ich geworden. Dies Brieflein bekommt ein Freund von mir, ein Wandervogel meiner Batterie – und wenn ich mit den anderen nicht mehr zu unserer Feuerstellung zurückkehre, da schickt er es ab, bin halt dann gefallen oder gefangen, oder hab' mich verlaufen. Der Platz wird klein, ich wollte Dir schreiben, wie treu ich's zu Dir wollte – und wie treu ich's mit dem Freund Wolfgang Stürmer gemeint habe. Eine Lösung für unsere drei Schicksale kann ich mir selbst nicht vorstellen. Grüß dann meine Mutter, die ich mit ganzem Herzen liebe. Ottomar.

Heut ist der Tag, an dem ich mich dem Gottesgericht unterstelle, Wolfgang tat's schon.

*

Nach zwei Tagen kommt Ottomar Strom als einziger von den Freiwilligen der Batterie zur Feuerstellung zurück. Er hat viel erlebt.

In der Nacht kommen die Protzen, und die Batterie fährt in Dunkelheit den Berg, den Blutweg wieder hinunter.

In einem Ort, das heißt den Trümmern des Orts, bleibt Stroms Geschütz eine Zeitlang in einem Schlammsee stecken.

Er bleibt zurück, bekommt Feuer. Granaten schlagen selbst in die Pfütze ein, in der er festsitzt. Im Dunkeln sieht er einen Reiter mitsamt dem Gaul in den Schlamm stürzen. Zweimal rafft sich das Tier auf, zweimal bricht's wieder zusammen – dann schlägt dort eine Granate ein.

Als es weiter geht, bekommen sie Sperrfeuer von einem schweren Geschütz.

Traaab!

315 Er hat kein Pferd mehr und läuft neben dem Geschütz. Wer stolpert, wer sich den Fuß bricht in den Granatlöchern, wer getroffen wird, der wird in den Straßenkot gefahren.

Keine Rücksicht, kein Erbarmen.

Sterbende und Tote liegen im Weg.

Die Granaten wühlen immer mehr den Boden auf. Schwankende, Verwundete brechen zusammen. Er läuft und stolpert. Mit einer Hand klammert er sich ans Haubitzenschild.

Da, in schwerer Not, betet er inbrünstig: »Wolfgang, für dein Leben bitt ich, nicht für meines, dein Leben halt ich in der Hand. Unsere beiden so verschiedenen Leben sind so seltsam verbunden.«

*

In der Protzenstellung vor der Höhe 388 wurde Ottomar Strom zum Vizewachtmeister befördert. Der Abschied von dieser kahlen Höhe war ihm wunderlich schwer geworden.

Wie heimatlos fühlte er sich hier unten in der öden Protzenstellung. Kein Geschütz, keine Erdhöhle, zu der er gehört. Und die Menschen zeigen sich hier in der Sicherheit von neuem in ihrer wertlosen Art.

Die Protzenstellung war ein Waldlager vor Verdun.

Mit weichen Lippen knabberten Pferde an den Baumrinden. In den Blätterkronen rauschte kalter Wind und saugte begierig den warmen, blauen Rauch von all den hungrigen kleinen Lagerfeuern mit sich fort, weit über die Bäume hin.

Manchmal schlug ein Pferd, manchmal tönte eine rauhe Stimme, manchmal zogen Männer hinter einer Bahre den Waldweg vorbei, trugen den Helm in der Hand und beteten. Manchmal schlichen seltsame Klänge am Waldboden hin – Begräbnisklänge: »Bleib du 316 im ewigen Leben mein guter Kamerad«, und ein zweites Lied: »Bald wird die Trompete blasen, dann muß ich mein Leben lassen, ich und mancher Kamerad.«

Aber ständig, ständig donnerte die große Schlacht. Und ihr Donner ist das Gespräch der Königreiche, die da sprechen vom Wahn der Menschheit.

Ja, es stöhnten und starben die Menschen rings ums deutsche Land.

Ottomar Strom empfand damals mit voller Wucht das riesenhafte Sterben. Zum ersten Male fühlte er die zwingende Faust, die die Männer zum Kampfe trieb – ohne Ende – ohne Ende. –

Die Sonne sank, Begräbnisklänge schwebten aus den Wäldern, und er schrieb einen Brief.

Lieber Freund!
Lieber Mädchenfreund!

Ich bin fortgegangen vom Waldlager. Fort vom Zank und vom Kartenspiel, fort von aller Wertlosigkeit, habe meine Gitarre mitgenommen und bin dem Schlachtendonner zugezogen, den ich heut erst verlassen mußte.

Es gibt Leute, wenn die wandern, gehen sie stets nach Süden, der Sonne zu; und ich, ich möchte doch immer dem Donner zu, dem Schlachtdonner zu. – Kann nie genug bekommen davon.

Ich muß früher nicht mutig gewesen sein, denn jetzt erst kenne ich die Freude am Mut – muß nicht gesund gewesen sein, denn jetzt erst kenne ich die Freude an der Gesundheit.

Muß nie gelebt haben, muß nie geliebt haben. Nun ist Liebe mir die Brücke vom Himmel zur Erde geworden. Die Brücke zwischen Gott und den Menschen, deren beginnende Pfeiler unter dem Wogen meines 317 betrübten Herzens zerspringen wollten. – Liebe verzeiht die ganze schwere Sündenschuld der Erde – und so stehe ich jetzt da als froher Erdensohn.

Meine Jugend war so schön, daß ich mich nicht weiter zu leben traute. Doch lebte ich. – Es folgte mein erster Kriegszug nach Flandern – noch herrlicher wie meine erste Jugendzeit –; kam zurück mit einem Herzen, trunken von der Sonne des Krieges, und – lernte Dich kennen.

Da scheuchte mir Dein frohes, leuchtendes Leben jeden Schatten aus der Brust, nun schien Sonne, Sonne des Lebens auf mich und auf Dich, und wir schieden.

Ich wuchs – was in mir schlummerte, was ich am Freund bewunderte, was ich vom Vater ahnte, was ich in Träumen sehnte, das keimte in mir, das alles wuchs in mir, aus dem Nichts und aus dem Sehnen mit junger Pracht.

So wurde ich nun Mann – wurde ein Landsknecht, wurde ruhig und nachdenklich, wie mein Vater einst war und hab' in mir eine nie versiegende Quelle der Freude gefunden. Hab' frohe Augen bekommen und mit all meiner Gesundheit, mit meiner Kraft und Tapferkeit, mit meinem Ernst, mit meiner großen Freude schau ich Dich, Dich und Dein schlankes blühendes Leben.

Auf einem kahlen Bergrücken war's – kein Gras, keine Blume, aber Granatloch an Granatloch und Grab an Grab – in donnernder Einsamkeit –, da hat sich meine weiche Menschenbrust geweitet und bei Tag und Nacht hab' ich kein Fleckchen Furcht in mir geduldet – und wo Furcht nicht ist, da ist ewig die Freude – und da leuchten die Augen! Furchtlosigkeit – Ziel des Lebens!

Furchtlosigkeit, höchstes Gut im Himmel und auf Erden! Sechs- und zehnfach haben sich deutsche Batterien hintereinander in den Boden gewühlt – und wenn des Nachts die grünen Leuchtkugeln das Zeichen zur Sturmabwehr gaben, bebte der Berg in den Grundfesten. Dann setzten tausende glutheiße, zackige Splitter durch die geprellte Luft und Pulverwolken verhüllten Tal und Berge. Und solche Wolken steigen auf und sammeln Feuchtigkeit, bis es regnet.

So weint alle, alle Abende der Himmel über das große Sterben am zerwühlten Berg.

Muß früher nicht mutig gewesen sein, denn jetzt kenne ich erst die ganze Freude am Mutigsein. – Kenne jetzt dich, seltsame, dich, taumelnde Freude.

Gelt, Kameraden, da leuchten die Augen! So hab' ich's in der Gasschlacht am 23. Juni zu meinen Kanonieren gerufen. –

Es waren acht herrliche Tage und auch Nächte. Nun sitz' ich und kann singen, so tief bewegt wie nie zuvor, und kann schreiben, so freudig wie nie zuvor – und doch – und dennoch bangt mich die Zukunft! Wenn doch noch lange, lange Kriegszeit wäre!

Oder wünsch' ich den Frieden?

Es bangt mich die Zukunft.

Ich kenne auch das Grauen des Krieges, kenne Stunden, die sich nie vergessen lassen – glaub' aber nicht, daß ich davon sprechen kann.

Ottomar.

Und als Ottomar den Brief geschrieben hatte, bleibt er lange nachdenklich sitzen, schüttelt einige Male betrübt den Kopf. –

Dann zieht er zwei von Dorothee Garbes Brieflein heraus, das letzte war vor einem Monat geschrieben. Es sagte Ottomar nicht viel – war seltsam leichthin geschrieben – auch in der Schrift, und stand darin, daß Dorothee mit ihren Eltern in die Schweiz übergesiedelt 319 sei und sich dort wohl befände. Auf keinen seiner Briefe war eine eingehende Antwort darin zu lesen.

Ein wunderliches Lächeln spielt um Ottomars Mund.

Er erhebt sich – geht langsam seines Weges – die beiden Brieflein und seinen Brief in der Hand.

Der Abend sinkt dämmernd herab.

Ottomar Strom tritt wieder in den hochgewölbten Buchenwald. – Im Abendwind rauschen die Baumwipfel – fern rollt der Schlachtendonner. Zarte Vogelstimmen singen träumerisch ihr Abendlied. – Die Begräbnisklänge schleichen weiter über den Waldboden hin, wollen nicht verstummen.

Ottomar Strom geht wie einer, der ohne Ziel und wie im Traume geht – die Briefe in der Hand.

Auf seinem nachdenklichen Gesicht spielt wieder und wieder das seltsame, schmerzliche Lächeln. So als spräche er im Geiste mit einem ihm lieben Menschenwesen, das ihm nahesteht, dem er sich erklären möchte, das ihn aber nicht versteht.

So steht er lange vor einem Busch im letzten Abendlicht und schaut auf ihn, ganz in Gedanken verloren – und schaut so auf ein zierliches Gebilde, das in den Zweigen wie eingewoben, halb verborgen ist, ein verlassenes Grasmückennest. Wiewohl er solch ein Nestlein kennt aus frühesten Kindheitstagen. Er schaut und schaut, faltet mit zarten Strichen die drei Briefe, die er in der Hand getragen, ganz zierlich und klein zusammen und legt sie behutsam ins Vogelnest. – Dann bückt er sich, pflückt etwas Moos und streut es leicht und sorglich darüber, damit sie ganz verborgen liegen.

Und so ist's, als hätte der nachdenkliche Wanderer sein Ziel gefunden und geht zurück zu seinem Waldlager – ein wunderlich Gefühl im Herzen.

*

320 Tage, Wochen, Monate, Jahre vergehen, noch immer war Krieg. – Ottomar Strom war am Leben geblieben. Wolfgang Stürmer aber war gefallen. Immer noch tobten wütende Schlachten.

Sie hatten schwere Kämpfe gekämpft und waren dann in eine letzte Schlacht des Krieges eingeschoben worden.

Es war eine Batterie bayerischer Feldartillerie; sie hatten vier neue Haubitzen; aber nach vier Wochen, da war's keine bayerische Batterie, da waren's keine vier Haubitzen, da waren es keine Soldaten, da waren's nur noch sieben verwilderte, tief erschütterte junge Menschen. Nur sieben Kanoniere, die zurückkehrten zur Protzenstellung, zu den Fahrern und zu den Pferden.

Bei den sieben ist Ottomar Strom dabei.

Und das war wieder einmal in einem Waldlager. Sie hörten die Rosse schnauben und scharren, weil die hungrig waren, sie hörten den Geistlichen sprechen, um den die sieben mit dem Rest der Fahrer ihrer Batterie im Kreise standen, und fern hörten sie zermalmenden Donner. Es ist die Schlacht, die sie übrig gelassen hatte. –

Mildes Sonnenlicht fiel durch die Blätter und ruhte am Boden.

Es ist schön in der Sonne und schön im stillen Wald. Das wußten sie auch noch – aber weiter wußten sie nichts mehr. Sie waren nicht müde, sie waren auch nicht erregt. Sie waren wache Traumwandler. –

Und der Geistliche sprach zu ihnen: »Gott hat unverständliches Grauen über uns verhängt, es ist mehr als Menschen tragen können.«

Sie wußten alles, was der Mann zu ihnen sprach, sie brauchten seiner Worte nicht zu achten und brauchten auch nicht mit zu denken; denn sie erfaßten seine Worte unmittelbar, seine Worte waren ja ihr eigener Zustand.

So spricht er weiter. – Und es kam wieder: 321 »Es ist mehr als Menschen ertragen können. – Wir sind tief, tief erschüttert worden. –Wir haben den letzten Halt verloren. – Wir ringen nach Tapferkeit. – Wir haben gerungen. – Wir ringen von neuem – und wir, wir fühlen, wir können nicht mehr!« –

Da hoben sie die Köpfe und sahen den Mann scheu an, sie verstanden ihn – und er verstand sie.

– »Wir können nicht mehr!« Jede Fiber schreit es in ihnen. – »Wir können nicht mehr! – Und dennoch werden wir bleiben. – Wir müssen bleiben. – Wir sollen und wollen es.« –

Und das Übergrauenhafte der Stunde spricht deutlich zu ihnen: Gott will von euch, daß ihr bleibt, Amen.

Sie hoben wieder den Kopf, sahen den Mann an, und er verstand sie.

Danach begruben sie alle ihre Kameraden im Waldgrab.

Ottomars sechs Kanoniere waren bleicher und eingefallener im Gesicht als die Kameraden, die sie in die Särge legten. Sie hatten Hunger gelitten.

Wenn Ottomar durchs Lager ging und hie und da einen kauern sah, dann war es ihm, als seien in jede Lichtung, von Stamm zu Stamm, mächtige Spiegel eingefügt, die Baumstämme als Rahmen – und der Tod sei durchs Laubdach gesprungen und beschaue sich grinsend in sieben großen Spiegeln.

Er selbst, der Zugführer, hatte noch das meiste Blut in den Wangen.

*

Im Wald entsprang als sprudelnde Quelle ein fertiger Bach. Die Sonne schien aus die Quelle.

Dort badeten sie nach dem Essen, dann nahm jeder seine Decke; sie krochen unter im Gebüsch und dort schliefen sie zwei Tage lang.

322 Menschen, die Freude haben am quellenden Leben, müssen den Krieg lieben, weil der Krieg der urlebendige, ständige Wechsel und die überstarke Betonung des Augenblicks ist. – Solange einer beim Wechsel der Bilder mitkommt und im Bild ist, solange muß Freude und Lebendigkeit sein Wesen ganz erfüllen.

*

Damit die Batterie neu ergänzt und wieder kampffähig zur großen Schlacht werde, wurde sie drei Tagereisen weit an einen kleinen Ort in der Bretagne zurückgenommen.

Der zweite Marschtag war ein sonniger Tag. Frischer Wind wogte in den Buchenkronen. Weiße Wölklein eilten über den Himmel. Der Morgenwind strich über Pferde und Reiter hin und nahm ihnen viel von der Erinnerung der überstandenen Zeit.

Ottomar Strom atmete auf in Sonnenschein und Morgenwind. Landknechtsart, Reiterglück und Morgenglück wurden ihm so recht bewußt.

Da war eine Mauer aus grobem Stein und von der Mauer herab schwankte in Wind und Sonne ein Zweig blühender Rosen.

Dorthin lenkte er, hob sich in den Bügeln und brach sich ein Röslein.

Und wenn du ihn befragst über all die Angst und Not, wie über das Grauen des Krieges, so weiß er dir ganz bestimmt zu sagen:

Dieses Röslein an der Mauer, im Reiten gebrochen, wiegt ihm alles auf. 323

 


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