Helene Böhlau
Im Garten der Frau Maria Strom
Helene Böhlau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Sie kommen schön langsam ins Jugendländchen. Ottomar verwandelt sich. Er bekommt einen Wunderstein und auch das Ruthle bekommt einen. Maria fängt hin und wieder den Aal, der sich selten mehr greifen läßt. Der Tisch mit den Fransen. Sie wirken und schaffen. Der Garten steht in voller Blüte und feiert sein hohes Fest. Sebald baut sich, eine Welt in einer Nußschale. Vor Maria steht Ottomar als ein fremdes Kind und Wesen.

Der Garten wuchs sich ein auf die Gesinnung, die Kräfte derer, denen er zugehörte. Er war im Lauf der Zeit noch farbenreicher geworden, eine freudige Fülle, und man hatte ihn erweitert, ein angrenzendes Stück Wald, das sich hügelig bis an den See erstreckte, hinzu gekauft; eine schöne Wildnis, die das ganz besondere Reich der beiden Ströme war, die ihre Kräfte, ihre Phantasie in diesem Stück Natur hatten toben lassen können. Und wie der Garten, war alles unmerklich in seiner Wesenheit verwandelt. Es war derselbe Garten, es waren dieselben Stroms und doch, die Wege, die ins Jugendländchen führten, waren betreten. Heinrich war immer ruhiger, freundlicher geworden, ein Beschützer und Helfer Ottomars, eine Stütze der Mutter, ein guter, stiller Geist im Hause. Nichts an ihm beunruhigte Maria; er ging seines Weges ohne Mühe, und Ottomar hatte an ihm fast einen väterlichen Freund. Maria fragte ihn in vielen Dingen um Rat. Seine Meinung 124 war ihr wertvoll, sie war ihm so dankbar, daß alles selbstverständlich und friedlich sich mit ihm zutrug. Nie eine Not in der Schule, keine Erkrankung, die Kinderkrankheiten leicht und gutartig. Ottomars Natur war fast das Gegenteil. Der Zauber seiner Kindheit war stark und eigentümlich gewesen, der Charakter seiner Bubenzeit unbändig verschlossen, seine Erkrankungen leidenschaftlichster Art. Ungestüm liebevoll, ungestüm unverschämt, voll Trotz und Weichheit, von zartester Güte – und die Schule – ein Weh für Maria und ihn. Und ein Kummer für Heinrich. Man hatte alles mit ihm versucht, oft mit Erfolg, da ging's ganz leidlich; aber da kamen tausend Dinge dazwischen.

Wie wußte er sich im Herbst auf das Oktoberfest zu schlängeln, bald war er da, bald dort; so viele Freunde im Landerziehungsheim, die ihn mit zu ihren Eltern nach München nahmen, da war kein Halten. Der herrlichste Tag neben dem Oktoberwiesenfest, der Faschingsdienstag, da fand man ihn sicher in München, da hatte er seine Verbindungen. – Und mitten durch das angsterregende Getriebe der Maximilianstraße bahnte sich ein kleiner Mann seinen Weg, – ein sehr kleiner Mann zu jener Zeit noch; aber er erregte trotzdem Aufsehen und vielfach Entrüstung. Er war ein hellblauer Kasperl, mit spitzem Hut und einer Halskrause; auf dem Hut hatte er zwei wunderschöne Rebhuhnflügel angenäht und rechts und links trug er in den beiden grundlosen Taschen des Kittels je vier Pfund Konfetti. In der einen Hand hielt er eine Stange mit einer Tafel, in der anderen eine von den ohrenzerreißenden Blechtrompeten. Auf der Tafel aber stand: siehe Rückseite! Blieb man dann stehen und ließ den kleinen Mann an sich vorbeitrompeten, dann errötete man über solche Frechheit, denn auf der Rückseite der Tafel stand: Wer hinter mir geht, taugt nichts.

125 So kam denn auch ein unfreundlicher Gesell, der bearbeitete den Kleinen mit seiner aufgeblasenen Schweinsblase, die an einem Strick und einem Stock hing, derartig, daß er sich ganz klein machte und zuletzt wie ein Häufchen Elend auf der Straße kauerte. Der große Kerl nahm ihm die Tafel ab und ging damit fort, – und Ottomar fand sich mit einmal in einer ihm gänzlich unbekannten Stadtgegend.

Wie's der Zufall wollte, kommt sein Freund Wolfgang Stürmer des Wegs, bei dem er wohnte, der ihn mit zu seinen Eltern genommen hatte; der ist nicht älter, aber er ist weitaus geschickter als Ottomar, wohl schon weil er aus Norddeutschland stammt, selbstverständlich ist er auch stadtkundig. Er war maskiert als Münchener Kindl, beruhigte den Freund, brachte ihn auf den rechten Weg und schenkte ihm zehn Pfennige. Ottomar besaß zwei hellblaue Kasperlanzüge. Einer flatterte in der Faschingszeit immer an der Waschleine. So schlüpfte er von einem Kasperl in den anderen, denn auch daheim auf dem Lande trug er an diesen köstlichen Tagen sein blaues Narrengewand.

Es ist merkwürdig, wie gern der Wolfgang Stürmer den Ottomar hatte. Er sagt Ottomar oft, nur seinetwegen blieb er im Landeserziehungsheim und der Dorothee Garbe, dem Maidli wegen. Er hing an Ottomar und liebte ihn und Ottomar erwiderte ihm diese Liebe oft nicht.

Es war einmal, da konnte man Ottomar am Gittertor des Gartens sehen, er stand auf dem Gittertor und schaukelte, auf dem Weg stand Wolfgang Stürmer und Ottomar rief ihm gerade die Worte zu: »Also Wolfgang, du kannst nicht mein Freund sein, und du darfst nur mein Bekannter sein und du darfst von heute ab, einen ganzen Monat lang, nimmer zu mir kommen, weil ich mei' Ruh' haben möchte!«

126 Und Wolfgang ging betrübt fort vom Freund und jetzigen Bekannten. Er ging zurück ins Landeserziehungsheim und strich sich an seinem Kalender den Tag rot an, an dem er Ottomar wieder besuchen durfte, kam aber den nächsten Tag wieder und keiner war verlegen, nicht Ottomar und nicht Wolfgang Stürmer.

Schöne Abende verlebten Ottomar und Heinrich im stillen Haus bei Brankonis. Dort gab es viel zu sehen und zu hören. Sie saßen beide gern bei dem fremdartigen Mann, der malte ihnen mit einem Pinsel und roter Tinte ihre beiden Namen in Sanskrit, und die Knaben malten es ihm nach und kamen sich gelehrt und geheimnisvoll vor. Er erzählte ihnen vom Orient, von den sanften Menschen dort, die sich nicht scheuten, gottergeben zu sein. Wer da den alten schönen Mann durch seine Zimmer gehen sah, der freute sich, und wer den Mann sprechen hörte, was ihm der Orient geworden und was er dann im Orient geworden, der verstand ihn dann auch in seiner Seltsamkeit und Einsamkeit. Er erzählte ihnen geheimnisvolle indische Legenden, sie hörten von Buddah und von Manus uraltem Gesetzbuch. Den beiden Strömen wurde es immer ganz feierlich zumute, und wenn sie dann mit Ruthle zu Frau Brankoni kamen, und mit Tee und Kuchen gespeist wurden, erschien ihnen der Kuchen fremdartig und der Tee hatte einen Duft wie ferne Blumen, und Ruthle war so still und freundlich und lieblich wie ein Kind aus einem unbekannten Lande. Heinrich war zart und fast verlegen mit Ruthle, als wäre es was Unnahbares.

Eines Tages holte Ruthles Vater aus seinem Schrank zwei rote Steine. Ottomar und Ruthle waren gerade bei ihm, er hatte sie vor Jahren im Orient geschenkt bekommen, und es verbanden sich ihm mit diesen Steinen wohl schöne Erinnerungen.

127 »Halte sie einmal gegen das Licht und schau durch, Ottomar.«

Da blühten sie in wunderbarem Feuer. Und Ruthles Vater nannte sie die zwei Wundersteine. Ottomar bekam den einen geschenkt, Ruthle den anderen. Dies war die letzte Erinnerung für Ottomar an den ihm sehr liebgewordenen fremdartigen Mann.

Ruthle hatte bei Stroms gespielt, zwar nicht mehr Löwenviechlein; aber sie hatten miteinander ihre lieben Kindheitsspiele und dazu gehörte, daß Ruthle Ottomars Mutter war und ihn schön machte. Die Haare kämmte sie ihm mit einem kleinen Kämmchen, und dann nahm sie eine Kleiderbürste und bürstete ihn sauber und klagte, daß er so wild aussehe und so ein böser Bub sei. Dann gingen sie miteinander zu einem Wässerchen, das sie liebten.

Als sie damals heimkehrten, kam Maria ihnen entgegen und trug wunderlicherweise eine Brille mit rosa Gläsern in der Hand, lächelte und setzte sie Ruthle aufs Näschen. – Und als das arme Kind mit ihrer rosa Brille heimkam und hinauf zu ihrem Vater ging, um sich ihm so zu zeigen, da war der Vater gestorben – und das Kind sah durch ihre rosa Brille das Ungeheuerste, das Furchtbarste des Lebens.

*

Maria hatte jetzt statt einem zärtlichen und seltsamen Kinde einen borstigen, oft verschlossenen großen Buben, dem schwer beizukommen war. Sein junges Leben brannte wild auf.

Fast ging er unter in Ereignissen, fast verschwand er unter den vielen Freunden und Freundinnen. Er kam nicht zu sich selbst. Eine Unruhe trieb ihn.

Selig und ruhig aber war er in dem wilden Stück Wald, das zum Garten gehörte, das auf sanft 128 abhängender Berglehne sich hügelig zum See hinzog. Dort grub er in der Erde, legte tiefe Löcher und Gruben an, schmale Pfade und sagte, er liebe nur die, die in der Erde graben, und wer ihm nahe kommen wollte, müßte mit ihm graben. Und als Maria ihn einst fragte, hast du Wolfgang Stürmer gern, antwortete er ihr: »Er gräbt mir zuliebe. Für ihn gibt's Schöneres.«

»Wer gräbt denn dem Graben zuliebe?«

»Niemand,« sagte Ottomar, »nur ich. – Ruthle vielleicht; aber sie ist nicht stark genug und Gudrun ist nicht ruhig genug, sie will mich immer von da fort haben zu ihren Tieren; aber Erde ist mir lieber; Heinrich gräbt auch gern, aber er ist sonst zu fleißig, da hat er nicht Zeit. Ich weiß natürlich auch, daß man nicht nur in der Erde wühlen darf, aber ich tu's am liebsten.«

Maria ließ den wilden Buben und Mädchen, die sich aus dem Landeserziehungsheim täglich bei ihr einfanden, freien Lauf in Garten und Haus.

Ottomar liebte sie alle, Mädel und Buben, wie sie da kamen; da waren die Schwestern Gudrun und Vera von Romberg. Vera, die jüngere Schwester, sollte Tänzerin werden. Sie hatte viel Anmut. Diese beiden Schwestern hatten kein schönes Heim. Die Mutter lebte geschieden vom Manne in einer engen unfreundlichen Mietwohnung in München. Dann war noch das liebe Ruthle da, die alte Freundin, und Dorothea Garbe, eine Schweizerin, das Maidli, Wolfgang Stürmer und Walter Frühauf.

Maria konnte ihren Aal oft kaum erwischen; aber doch kam hin und wieder ein stilles Stündchen, ein seltener Gang hinaus in Wald und Feld, wo sie ihren großen Schlingel einmal wieder halten und fassen konnte, und da fand sich immer das gute, seltsame Kind wieder getreulich ein.

129 So gingen sie eines Abends einverständlich miteinander am Seeufer. Ottomar war ganz zahm, ganz zutunlich, »Mutterl,« sagte er, »denk dir, ich hab' schon mehrmals gelebt und ich erinnere es mir zweimal. Was Erinnern doch für ein Wort ist. – Man erschrickt, wenn man's mit einemmal richtig hört. – Ich erinnere es mir zweimal. »Er-Innere.« Einmal, aber lach nicht, war ich ein Schwein und einmal war ich ein Prinz; aber du mußt nicht denken, daß der Unterschied zwischen dem Schwein und dem Prinzen so sehr groß war. Das Leben vom Schwein war sehr beruhigt und zufrieden, sein Tod sehr einfach. Das Leben vom Königssohn war weniger ruhig und weniger zufrieden, sein Tod war nicht so einfach; aber der Unterschied war doch nicht so groß, wie man meinen sollte. Aber jetzt geht es höher hinauf!«

Maria machte keine Bemerkung.

Aber Ottomar war ärgerlich. »Du wolltest doch sagen: hoffentlich, oder so was?«

»Vielleicht wollte ich es gar nicht,« meinte Maria, »nun und wenn?«

»Dann wär's aus. Wem soll man denn so was sagen? Alle antworteten was Dummes, wenn du auch, – is unsereins ganz verlassen.«

»Du könntest doch auch ein bißchen höflicher sein, eben wie ein Sohn mit seiner Mutter ist, wie es Heinrich ist?«

»Wenn du das willst, kannst du's haben; aber mit der Wahrheit ist's dann aus. Willst du eine feine Mutter werden, da kannst du auf Wahrheit warten. – So oder so!«

Maria lachte etwas.

»Da ist gar nichts zu lachen. Gebildete Leute sind ekelhaft, immer nicht wahrhaftig. Weißt du, als Maschkerl sprang ich auf den Tritt eines feinen 130 Herrschaftswagens, nicht etwa Mietwagen oder Droschke, eine richtige Equipage: alles voll feiner Leute sitzt drin, – gesteckt voll, und ich werf ihnen Knallerbsen an das Wagendach, geknallt hat's! Aber so – sehr – erschrocken – sind – sie – gewesen. – Weil sie so – sehr gebildet waren. – Sie wollten mir damit einen Gefallen tun – so dumm, statt zu rufen: Lausbub verdammter! Wie sich's gehört.«

»Das war aber doch gerade das Gegenteil. Du meinst doch, ich wollte rufen, Lausbub verdammter!«

»Mit feinen Leuten weiß eben eins nie, wie's dran ist. Werd' bitte nicht fein, Mutti!«

Da kam ihnen Heinrich entgegen, so, wie eine Kornähre so gelb und so schwer, wie Ottomar einst sagte, und wie der Maria und den Bruder so innig und traulich zusammen sah, da wurde auch ihm es ganz warm ums Herz, und er umarmte sie alle beide miteinander und schien etwas beschämt, so wie es seine Art war, wenn er sein Empfinden zeigte.

»So werd' ich euch immer sehen wie jetzt, wenn ich nun bald nicht mehr bei euch bin.«

»Noch aber bist du da, gottlob!« sagte Maria zärtlich, und alle drei gingen eng verschlungen miteinander; Heinrich in seiner Wortlosigkeit, war warm und zärtlich, wenn er einmal den Mut dazu gewonnen hatte.

Ein andermal gingen Maria und Ottomar in den Wald und fanden einen sehr großen Satanspilz und zerschlugen ihn, da lief er in greulichen Farben an und wurde in einigen Sekunden blauschwarz. Dieser große Farbenwechsel folgte so schnell aufeinander, so giftig und häßlich, daß Maria meinte: »Komm, gehen wir, mir wird ganz übel.«

Ottomar: »Mutti, das ist nicht recht von dir, er kann dir nichts tun, du mußt dir die Dinge nicht so 131 tief einbilden. So müßte es bei dir sein: wenn dich eine giftige Schlange wirklich bisse, froh müßtest du bleiben und so stark, daß es dir nichts schaden könnte. Aber künstlich dürfte das Gefühl nicht sein, es müßte so ganz gleich mit allen anderen Gefühlen sein, ganz einfach. Ich habe mein Bündelchen Gedanken und Gefühle, die gehören mir; aber es lebt noch etwas in mir, das kenne ich nicht, und das bin ich selbst, das ist das Größte, das Geheimnisvollste, das muß dir helfen, dich nicht so vor den Dingen zu fürchten. Was willst du denn machen, wenn etwas Schlimmes geschieht? Das gibt's doch auch. Du lebst doch so, als wenn es gar nichts Schreckliches auf Erden gäbe. Ich glaube, du willst gar nicht furchtlos sein.«

Maria wurde es heimisch, wenn ihr Kind so sprach, da wachte eine unaussprechliche Liebe in ihr auf, eine Liebe, die mit keiner anderen zu vergleichen war.

Sie schwieg.

»Mit dir ist aber schwer zu reden. Sag' doch was.«

»Ich überleg mir alles.«

»Das kann jeder sagen. Du sollst doch antworten, ich spreche doch, um dir zu helfen.«

»Ich will nie vergessen, was du sagtest.«

»Nur nicht so feierlich, Mutti, es ist so einfach.« Er lächelte lieb und innerlich, so grob wohl auch die Art und Weise geklungen hatte.

 

Franz Sebald, Heinrich, Ottomar, das Schlänglein und König David waren jetzt sehr viel beieinander. Sie hatten etwas im Treiben; auch Wolfgang Stürmer hatten sie mit zu sich aufgenommen, auch das Ruthle und Walter Frühauf. Nur Maria schien ausgeschlossen.

In König Davids und des Schlängleins Scheunenstube ging es hoch her, da wurde gemeißelt, gehämmert, 132 da stäubte und spritzte Steinstaub vom scharfen vorsichtigen Meißelschlag, von einer beträchtlichen Sandsteinplatte, die einst wohl als Grabstein gedient haben mochte, denn sie war bemoost und wurde glatt gerieben und an ihrem Rand entstand ein wunderliches mühevolles Werk, Fransen aus Stein, die die ganze große Platte umgaben.

Das Schlänglein arbeitete daran und Sebald, auch König David, und es war ein sauberes Werk, was sie da schon vollbracht hatten. Die Fransen bauschten sich ganz weich, ein wunderlicher Anblick. Die großen Buben gingen ab und zu, wurden zu diesem und jenem gebraucht, durften die Platte reiben und glätten, doch wußten sie nicht, was ihre und der anderen Arbeit zu bedeuten hatte; aber sie waren gern dabei. Ihr guter Freund und Lehrer brauchte nur einen Wunsch zu äußern, da fand sich keiner und keine, die nicht mit Leib und Seele diesen Wunsch erfüllen wollte.

Vier runde Steinsockel kamen eines Tages an, ein Bauer brachte sie in seinem Fuhrwerk.

Maria und das Schlänglein waren an diesem Tag über den See gefahren und wollten erst abends mit dem letzten Schiff wieder zurückkehren.

Da gab es an diesem Tage ein großes Schaffen, die kunstvolle steinerne große Platte wurde zu den vier Säulen oder Sockeln auf den Wagen geladen. Alle halfen, die großen Buben, König David, Franz Sebald und das Ruthlein; das ging neben Sebald, bei allem was er tat, wo er seine Hand hatte, da waren auch ihre Händchen, es war ihm so ganz ergeben. Ja, und es hob und trug gewaltig mit, das kleine Zarte.

Und o Wunder! Der Wagen hielt vor Stroms Garten, und bald lag der Stein auf den vier Säulen.

133 »Ein Tisch; aber ein weihevoller Tisch, ein Tisch für einen König,« rief Wolfgang Stürmer.

Auf dem herrlichen Platz, vor den Buchen, am See, stand nun der Tisch. Die Buchenbäume wie eine eherne Mauer und das Gebirge strahlte, der Grasboden wie ein Teppich und Rosenbeete blühten. Mächtige Sträucher tiefroter Rosen. Heinrich sagte leise: »Es ist, als sollte hier zu Gericht gesessen werden wie vor uralten Zeiten oder als sollte ein Opfer gebracht werden.«

König David fragte Ottomar: »Du, was meinst du?«

»Weiß es nicht.«

Ruthle aber sagte: »Es ist wie in einer Kirche hier und der See rauscht leise wie Glocken, die ganz weit fort sind.«

»Ihr werdet sehen,« meinte Sebald; er ging mit König David unter den herrlichen Buchen hin und sie hoben etwas und trugen etwas Großes behutsam. Und als sie näher kamen, war es ein Kruzifix aus braunem alten Eichenholz unter einem Schutzdächlein, und wie die Buben und das Ruthle hinzutraten, sahen sie, daß schon ein Stein in die Erde eingelassen war, in dem das Kreuz stehen konnte, und wie König David und Sebald es aufrichteten und in die Steinhülse steckten, waren die großen Kinder ganz ergriffen. Jesus Christus hing am Kreuze und hatte sein Haupt in Gottes Schoß gebettet. Ein alt ehrwürdiges Werk, das Sebald aufgefunden hatte.

Wie ein Zauber war alles entstanden.

»Ach, daß die Mutter das nicht sah, wie alles so entstand!« rief Ottomar, »wenn es fertig dasteht, ist's kein solches Wunder mehr.«

Alle waren bewegt.

An dem Tisch wurde noch hantiert und einiges gerichtet; aber es schien wirklich ein Wunderwerk, wie alles paßte und stand.

134 »Aber ein Schmerz; die Säulchen, die unsere herrliche Platte tragen, sind aus Beton – ein Jammer!« rief Sebald. »Eisenbeton, das Wahrzeichen unserer Zeit! – Nicht gewachsen, schaut wie Kraft aus – aber kein Leben drin! – Zusammengebacken, nicht als heiliges Natur- und Gotteswesen, im Urgrund der Ewigkeit wurzelnd –, ein Ding ohne Seele, ein Stein ohne Gott.«

König David meinte: »Schöner könnte es gar nicht sein. Verdeckt und bedeckt ist dieser Stein einer lebensfernen Zeit durch eine mächtige schöne Kraft, die ihn überwältigt hat.«

So war es auch Sebald zufrieden. »Morgen vor Sonnenaufgang seid ihr alle hier und auch Gudrun und Vera, auch Dorothea Garbe, auch du Stürmer und der Walter Frühauf, und als erste eure Mutter und das liebe Schlänglein. Meine Frau bringt, was auf den Tisch gehört.« Nun schüttelte Sebald allen die Hand und ging. Und die großen Kinder standen betroffen und schauten, waren still und gingen bald auseinander – jedes in träumerischem Nachsinnen seines Weges.

Vor Sonnenaufgang, in allererster Morgendämmerung, stand Frau Sebald vor dem geheimnisvollen Tisch und hatte in einem Korb goldfarbene Brote, und wieder hatte sie Ähren daran gebunden blühende, silberfarbene Ähren. Und diese Brote legte sie auf den Tisch und stellte einen großen Krug daneben und helle, blinkende Gläser und eine Schüssel köstlicher Erdbeeren aus ihrem Garten und allerlei Tischgerät. Dann trat sie einige Schritte zurück, hielt den Kopf schief und schaute sich das Werk ihrer Hände an und den Tisch mit den Fransen. »Einen Altar haben sie sich gemacht.«

Sie setzte kein Wort weiter hinzu; – aber ihr ganzes Befremden.

135 Dann ging sie leise und eilig davon. Ihr Mann aber trat unter den Buchen vor: »Wie schön,« sagte er, »und wie herrlich sind deine Brote! Bleib da.«

»Unsinn!« antwortete sie, lachte hell auf und war eilig davon. Er blickte ihr lange nach, da hörte er Schritte, und Marie mit Heinrich und Ottomar kam des Weges und hinter ihnen die jungen, frischen Gestalten der großen Kinder, die Sebald sich geladen hatte mit der zarten Frau König Davids.

Der gute Freund kam ihnen entgegen und schüttelte Maria und den Strömen die Hände und deutete auf die ganze Herrlichkeit vor ihnen! Das auftauchende Gebirge im Rosalicht der ersten Frühe, die mächtige, fast erzene Wand der sonnenbelaubten Buchen, den schimmernden, in Duft gehüllten See, auf dem die ersten Sonnenblitze funkelten, und die Blütenpracht der Rosenbüsche, davor der Altar, auf dem das schöne Frühmahl stand, so weihevoll, als wäre es von einer Priesterin hingestellt zum Opfer für eine freundliche Gottheit. Und vor den Buchen, dem heiligen Tisch gegenüber, das ernste Bild des Erlösers, der sein Haupt in seiner ewigen Heimat gebettet hatte.

Die Schönheit war so groß, daß niemand ein Wort zu äußern wagte. Maria aber faßte beide Hände ihres Freundes. In ihren Augen standen Tränen tiefster Bewegung. Franz Sebald deutete auf die Buchenwand, vor der eine Reihe kleiner, strohgeflochtener Stühle stand, und die Jugend folgte dem Wink und kam mit den strohgeflochtenen Sesselchen zurück, die sie um den freundlichen Altar stellten. Da kam Bewegung in die Staunenden, die schönen Mädchenkinder leuchteten in Jugendfröhlichkeit und man konnte das Wort: »Ein Altar, ein Altar?« von manchem Mund befremdet flüstern hören.

136 »Und nun,« sagte Sebald, »Maria, teile uns unser Mahl aus, das Frühsommermahl, und faßt euch alle bei den Händen.« Das taten sie. Da sagte er warm, bedeutungsvoll: »Wir danken dir für Speise und Gemeinschaft.« Da füllte Maria die Gläser mit Milch und gab jedem von den zarten Broten und füllte die Teller mit duftenden Erdbeeren und es war allen feierlich und andächtig zumute in der Schönheit der Stunde. Ein überquellendes Herz gab ein großes Fest, allen denen, die sahen und erkannten – und nicht fragten, und da war keiner der Erwählten, der das Gebot der Stunde übertreten hätte. Der Garten erhielt die hohe Weihe, die Sebald ihm schon lange zugedacht hatte. »Maria,« sagte er, »mir war, als müßte ich ein Zeichen aufrichten in dieser Zeit, die mir wie ein Unheil erscheint. Einen Tempel können wir nicht bauen – aber einen Garten, eine eingefriedigte Freistatt, es soll ein Heim warmer Seelen sein, die sich beistehen wollen, die gut sein und gottergeben sein wollen. Und das heilige Bild habe ich aufgerichtet, denn Liebe hängt immer auf Erden am Kreuze. Die einzige Erlösung auf Erden ist Liebe und Freundschaft in jeder Not. Unfaßbar, wenn auf Erden der Gedanke Erlösung sich nicht verkörpert hätte, es mußte eine Zusammenfassung aller Erlösung durch Liebe auf Erden sein, denn nur durch Erlösung von Freund zu Freund, von Freund zu Gott, leben und atmen wir, sonst wäre es Grauen.

Durch göttlichen und menschlichen Trost leben wir. Durch Annäherung an das Göttliche. – Durch Näherung, durch Nahrung, beides fließt aus einem.

Der mir seinen Mantel vererbte und sein Werk, daß ich nachts unter dem gestirnten Himmel oft liegen konnte ohne zu frieren, gab mir diese tief innerste Erkenntnis.

137 So sagte er:Aus dem Werke »Das hohe Ziel der Erkenntnis« von Omar al Raschid Bey. Piper & Co., München. »Alles Verlangen ruht auf Unzulänglichkeit, auf Bedürfnis, auf Mangel, auf Gebrechen und Bedrängnis, auf Sehnsucht, auf Furcht und Hoffnung, auf Not und Qual; alles Verlangen ruht auf Zwiespalt, Zwiespalt der Seele; alles Verlangen auf Ursprung, alles Verlangen ist Verlangen nach Ergänzung, Verlangen nach Wiedervereinigung mit Gottheit. Ich empfinde mich als Bruchstück, darum hungert Ich nach dem Entgangenen; darum lebt alles Ich außer sich, darum ist alles Ich friedlos; darum sucht Ich, begehrt Ich, sehnt sich nach anderem, bewegt sich, neigt sich, nähert sich anderem, – nährt sich von anderem. Aus einer Quelle fließt: sich eines anderen Seele nähern – sich von eines anderen Körper nähren.

Darum lebt alles dieser Welt durch Nahrung, durch Gemeinschaft, durch Einverleibung, durch Aneignung; darum lebt alles Ich durch ein anderes und lebt kein Ich ohne nicht-Ich und lebt alles Ich durch nicht-Ich – seelisch wie sinnlich.

Aus Verlangen und Nährung ist diese Welt gebildet.«

So sagt der, der mir den Mantel und sein Werk vererbte. Christus unser Erlöser wußte des Gesetzes Furchtbarkeit und Göttlichkeit, daß aus Verlangen und Nährung diese Welt gebildet ist und daß aus einer Quelle fließt: sich eines anderen Seele nähern, sich von eines anderen Körper nähren. Und er bot seinen Leib und seine Gottheit im Abendmahle – und heiligte die Nahrung dieser Welt und heiligte das Verlangen nach Nahrung, als er seine Göttlichkeit als Nahrung bot. – Aus einer Quelle fließt, sich eines anderen Seele nähern, – sich von eines anderen Körper nähren.

138 Wer das so ganz aus tiefstem Herzensgrund weiß, nimmt bei jedem Mahle das heilige Mahl Christi.«

Maria nickte ihm wie bejahend zu und die großen Kinder hatten wohl mitempfunden.

Ein schönes bleiches Mädchen, stolz und gerade, um den kleinen feinen Mund einen wehen Zug, mit offenem Blick und weiter Stirne, breitete die Arme aus und rief mit wunderlich dröhnender Stimme: »Und wer schlägt ein? Auf wahre, wahrhaftige Freundschaft? Denn das ist doch, was man so ersehnt!«

Und alle reichten ihr die Hände. Da zog über den feinen Mund ein fast verächtlicher, trauriger Zug. Sebald schaute auf das Mädchen. Niemand hatte den Wandel in ihrem Gesicht bemerkt, nur er. Und er drückte ihr die kräftige Hand wärmer als allen andern.

»Vergeßt die Stunde nicht – was euch fremd berührt hat, wird euch näher kommen.

Haltet unseren fröhlichen Altar heilig, auf dem das große Opfer vollbracht ist, die Einswerdung vom Alltäglichen und dem Höchsten, die den Menschen so fremd wurde.«

Ottomar stand neben seinem guten Freund und sagte leise: »die so schwer ist.«

»Nur schwer für den, der sie nicht durchschaut. Versprecht, ihr wollt diesen Altar im Garten nicht vergessen. Findet euch hier ein, wenn Not an euch kommt und ihr Verstehen braucht.«

Da schallten frohe starke Rufe: »Ja, wir vergessen nicht! Es ist unser Altar.«

So riefen sie in jugendstarker Begeisterung. Die Sonne stieg höher, die jungen Menschen gingen bewegt an ihre Tagesarbeit, auch Sebald. Aber ehe er ging, hatten Maria und er einen stillen Augenblick. »Und 139 zu welchem Schicksal weihtest du uns?« sagte Maria leise. »Mir ist, als führtest du uns –ich weiß nicht wohin?«

»Sei getrost,« sagte er.

»Und deine Frau?« sagte Maria, »ich sehe doch, daß alles,« sie zeigte auf den heiligen Tisch, »von ihrer Hand kam, wo ist sie?«

»Eingesponnen, wie sie nun einmal ist. Ich habe dir oft gesagt, ein Wesen, das alles flieht, was über die sichtbare Natur hinausgeht.«

»Was sie aber gibt, ist doch wie von einer ganz besonders Beseelten,« antwortete Maria.

»Ja, geben ist vielleicht ihr Gottesdienst im Leben.«

Dieser Tag, der so ungewöhnlich begonnen, der in Marias schönen blumenreichen Garten das Bild des Gekreuzigten gestellt hatte und einen weihevollen Tisch, auf dem jedes Mahl zum Gottesdienst werden konnte, brachte ihr noch etwas, als er sich fast zum Ende geneigt hatte.

In der schönen Sommerabenddämmerung bat Ottomar, daß sie mit ihm hinunter zu den Buchen gehen sollte, und sie gingen miteinander zu dem neu geweihten Platz, ganz still, und sie gingen zu dem Altar, der schön und heilig stand, als warte er auf frohe Feste.

Ottomar machte eine Schnute, wie er sie schon als Kind gezogen, wenn er verlegen war, und diese Schnute war Maria immer rührend. Es lag eine hilflose Drolligkeit und Scheu in dieser Sonderbarkeit. Sie schaute auf ihn und sah, wie er aus seinem Rock weiße geschriebene Blätter zog. »Da!« sagte er und legte sie auf den Tisch. Maria griff langsam danach.

»Guck 'nein.«

Maria schlug die erste Seite zögernd auf, da stand, im Dämmerlicht noch gerade zu lesen:

»Die Menschenfalle oder Im lichten Hirnlande der Lustmolche.«

140 »Was ist denn das?« fragte Maria verwundert.

»Lies es, wenn du in deinem Bett bist,« meinte der große Bub. Da lachte Maria und nahm ihn an der Hand, faßte die Blätter und führte ihren Jungen dem Hause wieder zu, und er ging mit wie ein gutes Kind. Miteinander schauten sie auf den geweihten Platz zurück und Maria sagte: »Gott segne uns alle, mir ist etwas bange.«

»Bange – weshalb bange? Hast du ihn denn nicht verstanden? Er wollte ja alle Bangigkeit von uns nehmen.«

»Es ist ja auch kein Grund zur Bangigkeit,« sagte sie.

»Grund?« antwortete Ottomar barsch. »Grund ist immer da, wenn man nicht . . . dazu hat er ja das Bild in den Garten doch gestellt, daß ein jeder wissen soll, wo er sein . . .« – es wurde ihm schwer, »Haupt« zu sagen – »niederlegen soll.«

Und Maria las in dieser Nacht, was ihr selbst unglaubhaft schien: ihr Kind, ihr Ottomarlein, stand mit einemmal vor ihr als ein ihr ganz fremdes – und doch so nahes Wesen. Und wie sie in seiner Kindheit sich manches Mal gefragt hatte: Wo kommst du her, wo gehst du hin, so fragte sie auch in dieser Nacht, welches Leid spricht da? Ja, war sie denn blind und dumpf, wie sah der Junge die Welt an und was hatte er erfahren in diesem kurzen Leben, das ihr so schlicht erschien? Und sie glaubte, ihre Kinder ganz in ihre Liebe und in ihr Wissen eingehüllt zu haben – da standen sie nun – unaussprechlich fern. O Seeleneinsamkeit dieser Welt.

Maria las in jener Nacht:

*

Auf der breiten Straße, die von Pol zu Pol führt, getreten von den Völkern aller Länder und aller Zeiten, vorbei an den Wassern des Glücks und den Schluchten des Leids schritt ein junger Bursch.

141 Seine dunkeln Augen strahlten noch den Glanz des Kindes, den ihnen der liebefrohe Blick der Mutter gegeben hatte. Dunkle Brauen, die der Sonne Licht tranken, lagen wie Schatten im jungen Gesicht. Er war kurz erwacht vom stärkenden Schlaf am Wegrand. Ein Traumbild hatte ihn verwirrt und sein Lied wollte nicht klingen: Ein junges Weib mit lichtem Blick und langem, offenem Haar war vor ihm gestanden. Mit kühlen rosigen Fingern hielt sie ihn weich bei beiden Händen, daß er in der Hand sein eigen Blut schlagen fühlte, sah ihm lange ins Auge und küßte ihn dann auf die Stirn, warm, daß es seinen Körper durchrann. Und er erwachte im Traum. Wach schien ihm die Schönheit noch größer und er wollte seine Hände befreien und wollte sie umfassen, da sang sie mit seltsamem Klang in der Stimme:

»Du gehst die breite Straße des Seins,
Du wähnst zu steigen zu fernem Heil –
Und gehst im Kreis!«

Und wie er starrte und sann, da schien ihm die Schöne zart wie der Wind. Durch ihre kirschblütenweiße Brust sah er die Bäume und das Land und sie verschwand.

Nun erwachte er in Wahrheit, stand auf vom Wegrand und ging des Wegs. Die Bäume rauschten, das Blut schlug noch in den Händen, auf der Stirne haftete warm der Kuß. Ein flimmerndes Schimmern lag in der Luft: so trank er die Schönheit der Welt. Und er sagte sich: »Du Welt bist warm und sonnig wie ein Weib, wie ich dich liebe.«

Er mußte sie lieben, die Welt, er hatte sie in der Brust eines Weibes geschaut. Heut hatte er ihr seine Seele auf lange Zeit verschrieben.

Und wie er ging und schritt, da vernahm er ein Klingen. Es waren Töne, die ihn wie an Ketten zogen, und doch kaum hörbar.

142 Er lief und rannte, daß er sich gegen die Luft legen konnte, die er teilte. Offen den Mund, Auge und Züge im Banne starr, so folgte er dem Locken.

Hier aus dem Buschwerk, da mußte es kommen! Ein Klingen wie ewig lachende Lust, ein Klingen von Metall. Wie er das Laub teilte, sah er einen kreisrunden Brunnen. Doch wie er hinabblickte, schrie er auf und drückte die Fäuste vors Auge: »Gold!« Es klang herauf, als wühlten Hände in Bergen von Gold.

Um den Brunnen lag, zum Kreis geringelt, eine Schlange, scheinbar starr, den Kopf über den Brunnenschlund erhoben. Sie biß mit dem Giftzahn in ein Seil, das in die Tiefe hing. Ihre Haut waren Schuppen aus Gold. Nur in den Augen Leben. Diese gelben Schmalaugen folgten ihm, als er mit Grauen das Tau faßte, um hinabzugleiten. Kaum hing er ganz an dem Seil, war es ihm als käme rauchendes Gift aus dem Schlangenzahn und rinne ihm am Seile nach. Schnell fing er an zu gleiten.

Beim Gleiten wuchs ihm die Kraft und der Wille wuchs. »Ich muß das Leben kosten und fassen!« Er glitt und glitt endlos.

Der Schacht ward weiter, die Wände wichen, und er wurde unendlich weit und kreisrund. Abwärts glitt der Wanderer, daß die Handflächen glühten.

Am Ende des Seils, mannstief unter ihm, lag leuchtendes Gold, ein Berg wie von glimmenden Kohlen. Er öffnete die Hände zum Sprung – und versank im Lichte.

Wie eine Kröte, die auf eine Wasserfläche geworfen wird, kurze Zeit regungslos treibt, schwimmt und flieht, so kauerte der Kletterer im rollenden Glutgold und starrte schachtaufwärts. Das Seil, frei vom Gewicht, verkürzte sich und schnellte in die Höhe. Es surrte im Brunnen und aus geisterhaften Kehlen fauchte es hart wie Metall: »Du bist gefangen wie wir!«

143 Er watete auf leuchtendem Gold und strauchelte wie auf Geröll, sank ins Knie und trachtete weiter. Er staunte über das glühende Licht, das seinen Leib durchdrang, das keinen Schattenfleck im weiten Raum duldete. Selbst die Felswände gaben fahles Licht. Da griff er nach dem Glutgestein und schöpfte im Licht mit beiden Händen und preßte kalte Glut an die Stirn; und ließ rieseln und klingen, klingen wie ewig lachende Lust. Da schrie er, stürzte hintenüber und wälzte seinen Leib in Gold. Schlürfte Licht und Lust und ließ Herz und Brust mittönen und zittern, in klingendem Rausch.

Seltsame Wirkung! Wie durch die Macht der Klänge angelockt, kamen rings aus mündenden Gängen Menschen. Männer mit wippenden Schritten, mit spitzen Lackschuhen, doppelschwänzigen Fräcken und spiegelblanken Zylindern. Sie hatten wohl Westen, doch kein Hemd, so daß die mageren Hälse wie aus einer Schildkrötenschale vorstanden. So quoll es aus den mündenden Gängen, die gleich dem Brunnenweltraum mit blassem Licht gefüllt waren, erzeugt von den Wänden. So quoll es schwarz aus dem Gedärm der Erde. Sie drängten sich um den Berg von rollender Goldglut; blieben stehen, regungslos, und bewegten nur die Köpfe langsam an den langen Hälsen. Scheinbar frei aller Leidenschaft träumten ihre Augen in die Glut hinein.

Der Kletterer starrte und verlor alle Furcht, so seltsam war alles. Fast fühlte er sich König, der dunkeln Menschenvögel unter ihm. Er setzte sich bequemer und brachte so leuchtendes Gestein ins Rollen.

Da klang es von neuem, daß sich seine Finger zu Krallen krümmten vor Lust und unbekannter Gier.

Auch der Menschenring am Fuße des Lichtberges bekam Bewegung. Sie faßten mit beiden Händen 144 die Zylinder an den Krempen und zogen sie fest auf die Köpfe. Dann zwickten sie die Monokel mit den schwarzen dünnen Rändern fester in die Fleischwülste vors Auge, schoben die Ärmel leicht zurück und ließen sich sachte mit würdiger Ruhe auf die Knie. Doch war das nur Form, und ein Mittel, um die Freude zu erhöhen, denn sie begannen zu wühlen im Gold, wie Hunde nach der Maus, und so verscharrten sie sich selbst bis zum Hals in klingendem Licht, daß die Lust in ihre Ohren gellte und durch ihre Leiber raste.

Nach Stunden sanken sie ermattet in die gescharrten Löcher und dann wankten sie nacheinander in die Gänge zurück. Müde und beruhigt, obwohl ihnen Blut aus den Fingern rann. Unter tiefem Schweigen, wie sie gekommen, zogen sie ab. Wie es ruhig geworden, stieg der Wanderer vom Goldberg. Trotz des wonnevollen Klingens kam niemand. Waren sie müde? Hunger quälte ihn und nahm ihm die Scheu. So drang er in einen der lichten Gänge.

Der Kletterer sah und staunte. Er betastete die Wände, und seine Finger griffen ins Licht und doch war es kalter, harter Stein.

Und in diese Wände waren rechteckige Vertiefungen eingehauen. In manchen von diesen lagen schwarze Menschenvögel, auf dem Rücken, wie in einem Sarg von Alabaster. Den Zylinder über das Gesicht geschoben und die beiden Frackzipfel fein säuberlich im Arm. Sie schliefen, bestrahlt vom Glutlicht der Erde, wie Matrosen in ihrer Koje.

Einer war wach.

»Verschaffe mir zu essen, ich bitte dich! Mein Hunger ist groß.«

»Ah, kommen Sie endlich, mein Herr, Sie ließen auf sich warten. Gestern starb einer von der besseren Welt.

145 Es war ein Meister und, verzeihen Sie, aber ich habe mich doch gewundert, daß der Ersatz noch nicht da war. Sie werden nicht wissen, sobald einer hier in unserer besseren Welt stirbt, so kommt von oben am Seile Ersatz. – Küss' die Hand mein Herr! Recht küss' die Hand!«

Der Jüngling sprach mit Schauern:

»Bessere Welt, in der besseren Welt?«

»Ja, was glauben Sie sonst! Albernes Vorurteil dieser Neulinge! Glauben Sie etwa, ihr da oben, die ihr euren Fraß erst morden müßt und zubereiten, die ihr arbeiten müßt und lernen, um ein Glied der Gesellschaft zu werden, glaubt ihr besser zu sein? Alle Arbeit ist gemein! Sie werden kaum verstehen, und dennoch, geben Sie acht! Wir machen alles mit dem Hirn, wir arbeiten nur mit dem Hirn. Wir schaffen Speise mit dem Hirn. Wir führen Krieg mit dem Hirn. Und wenn wir morden, so morden wir nie mit der Hand! Ich setze mich an einen stillen Platz und ordne meine Gedanken. Ich zerlege genau: Was hat dein Feind für Schwächen? Worin bin ich überlegen, was für Momente kann ich sonst verwerten, wie kann ich ihn überraschen. Geb ich mir in dieser Art gehörig Mühe, so fällt der Feind vom Fleisch und stirbt. – Es ist ja im eigentlichen Sinne auch kein Morden. Es ist wohl viel milder. – Recht küss' die Hand mein Herr! Hab' die Ehr'!«

Der Frackträger hatte gesprochen. Ermattet sank er zurück in seinen Alabasterglutsarg. Ein wenig zuckte und schnellte er noch unruhig, bis der Zylinder gut auf dem Gesicht stand und bis er die beiden Zipfel seiner schwarzen Hülle in die Arme gebracht hatte. Dann schlief er, das Monokel in der Hand.

Der Kletterer mußte weiter. Die endlosen Gänge im fahlen Gestein schienen ihm die Windungen eines 146 großen Gehirns. Die Schattenwesen in den Lichtgängen wie Gedanken. Gute, böse Gedanken? War er neugeboren, in neuer Welt? War's ihm zum Heil?

Hier schliefen die meisten. Jeder in seinem Sarg. Neugierig nahte er auf Fußspitzen einer Wandnische und lüftete einen Zylinder. – Ah, da lag er wieder, der zu ihm gesprochen, am Rücken, die Frackzipfel im Arm und das Einglas zwischen den Fingern! – Doch der daneben? Auch dasselbe Bild, dieselben Falten! Sie lagen alle, alle gleich. Nur waren die Bäuche verschieden gerundet.

War es Morgen geworden? Wohl lagen sie noch alle still am Rücken und ihr Atem ließ ruhig die Bäuche steigen und fallen. Aber Erwachen glitt durch die Gänge, eine Welle Morgenwind, und am Gestein schimmerte es und es tropfte gleich Tau. Da, wie Puppen eines Uhrwerks, begannen sie gleichzeitig mit Husten und Spucken. Sie gähnten, bis ihr Gesicht ein rotes, fleischiges Loch war. Dann fiel ihnen das Maul mit einem feuchten Knall zu. Abwechselnd spreizten sie ein Bein in die Höhe und ließen durch Fußrollen die spitzen Lackschuhe knarren und es klang, wie Hahnenruf am Morgen.

Da fegte eine neue Welle daher.

Da rieben sie mit dem Handrücken die Augen wie Kinder und schnellten dann auf, strichen sorgsam die Kleider. Dann netzten sie an den breiten Lippen die Finger und glätteten den Scheitel, und wie dies beendet war, leckten sie ihren Zylinder wie Menschenkatzen.

Der Jüngling drückte sich in eine Koje und hatte Furcht. Einer, ihm ganz nahe, benahm sich wie toll. Er kratzte sich, er schrie und weinte, denn seine Kleidung war verschoben. Es half nichts. Da spähte er feige 147 umher und zog sich plötzlich aus und – der Kletterer schrie auf – der Leib war weiß und durchscheinend, wie der Leib einer Made, und gegen das Licht der Steinwand hob sich deutlich ein dicker, schwarzer Darm ab, der beim Kopf begann. Des Fracks aber konnte er sich nicht ganz entledigen. Er hing wie mit ihm zusammen.

Und der Wanderer begriff, weshalb sie in Kleidern schliefen, und er war froh, als sich der Mann anzog. Ohne Fräcke wären alle nur dunkle Därme mit Mäulern, umgeben vom blassen Schimmer ihres Leibes. Ohne ihre Bekleidung blasse, schleichende Wesen. Der schleichende Gedanke: Mensch in der Gehirnwelt, tief in der Erde.

Eine dritte Welle weht die leuchtende Wand entlang, legt sich heiß um die Schläfen des Eindringlings. – Die Welle Hunger!

Es triefen die Mäuler und sie schlürfen vor Gier.

Der Menschenmolch, den er nackt gesehen, litt am stärksten. Er kauerte in einem Winkel seines Alabasterbettes. Mit den Armen umschlang er beide Beine. Den Rücken krumm, das Kinn auf den Knien, der Hut stand vor ihm und seine Hände waren brünstig gefaltet. So dachte er angestrengt, bis ihm die Augen quollen und sich röteten.

Und was er dachte, war furchtbar; jeder vernahm's, ohne daß es gesprochen wurde: »Mich hungert. Hört ihr, mich hungert! Mich sollte nicht hungern! Versteht ihr? Mich, euren Bezwinger, mich, euren Herrn und Meister, mich hungert! Muß ich töten? Muß ich totdenken? Mich, den großen Brudermörder, mich, den Bruderbezwinger, mich hungert. – Ich will haben. Ich – will – haben –

Nahrung!
Speise und Trank!«

148 Wie er hockte, da schüttelte es ihn. Schauer durchlief ihn bis in die Zipfel seines Fracks. Und diese Zipfel hatten Leben und schlugen wie Fischschwänze an sein Schienbein. Schlugen sie seinen Puls? – Sein Kleid war aus Fleisch, aus seinem eigenen, warmen Fleisch. – Und es stiegen Dünste, die die Koje füllten. Eine Masse war's, die sein Hirn erzwungen hatte. Und siehe, es begann schmackhaft zu riechen.

Er stützte sich auf die Hände und begann den Nebel durch den Mund einzusaugen. Die Augen glühten rot.

Andere kamen auf den Knien an seine Koje und saugten mit.

Hunger trieb den Wanderer und so näherte er sich auch.

Der Meister knurrte ihn an, da sank er auf die Knie und – aß mit, und es schmeckte ihm.

Wie Gallert schwankte und wogte es, bis der letzte Rest in die runden Mäuler gesogen war.

Nach dem Mahle verlor sich ihr tierisches Wesen. Wohlgerundet strahlten sie in dankbarer Friedlichkeit. Mit ihrer Speise hatte er den bösen Hunger bezähmt und ihrem Wesen hatte er gelauscht, so durchdrang ihn Verstehen für ihre Art. Und wie sie dankbar und unaussprechlich zufrieden am Boden kauerten, und wie sie aufeinander zuhopsten und sich wie Kinder die Wangen klatschten, da kroch auch er zu ihnen, um sich unter sie zu mengen. In ihrer Gemeinschaft ward er empfänglich für die allumfassende Zufriedenheit, wie für die Nächstenliebe, die sich jetzt, nach dem seltsamen Mahl, von Herz zu Herzen spannte. – Da kam's wie das glühende Stoßen des Föhnwindes, da kam es warm wie Dankesworte durch den Raum. Geschüttelt von der Macht der Andacht faßten sich die Kauernden bei den Händen. Durch ihren Kreis schlug von Hand zu Hand, von Puls zu Puls ein Gebet.

149 Schauerlich klang es:

»Meister hab' unseren Dank – lebe lange!
Gib Gold, gib Gold, gib Perlen, gib Kraft,
Daß wir gewinnen die Menschin!«

Dumpf mit unerbittlichen Schlägen dröhnte im Rhythmus der Männergesang. Der Wanderer staunte: Sein Mund war geschlossen, das wußte er, da er die Lippen an die Zähne gesaugt hielt, und dennoch, er hatte mitgesprochen, laut und im Takt. Seine Stimme war's ganz deutlich, die er durchgehört hatte. Und jetzt war's ihm, als hätten auch die anderen den Mund nicht bewegt; ja, die wühlende Glut, die solches Dröhnen geboren hatte, brannte in den Hirnen, hinter Stirnen, und war stärker als alles Wort.

Der Meister schnellte auf und schrie:

»Schafft selbst, geht ans Werk, strebt, hastet, eilt! Geht ans Werk und säumt nicht! Dann liegt die Macht in euch! in euch! Ehrt eure Welt!«

Wieder schufen sie die Strömung der Energie und Bewegungen kamen über die Masse.

Gummiabsätze an spitzen Lackschuhen! Gespensterhaft, mit wippendem Gang trieb die Masse zu dem leuchtenden Brunnengewölbe. Mit langen, federnden Schritten, mit Armbewegungen und zierlich geschlossenen Fingerspitzen, als gält's, Figuren zum Tanze zu bilden, wogte es zum Glutgestein. Tief in der Erde, im Lande der bleichen Luftmolche.

Der Goldberg, das Glutgebirge war das Ziel. Sie hielten am Bergfuß. Scheinbar gedankenlos standen die schwarzen Gestalten, scheinbar gedankenlos schaukelten die blassen Köpfe mit den Zylindern, doch in den Augen trugen sie alle einen dumpfen Traum. Stille vor dem Sturm. – Dann kam der Teufel über sie. Sie zogen 150 die Zylinder wieder an den Krempen in die Stirne, sie wühlten das Monokel tief in die schweißglänzenden Fleischwülste, schoben die Ärmel leicht zurück und begannen ihr Tagewerk. Eine kurze Zeitspanne knieten sie noch tatlos und jeder staute hinter Brust und Stirne Mächte, strudelnde Gewalten, die stärker waren als sie.

Dämme brachen – Energiewellen entluden sich und tausend bleiche, blutende Hände spielten auf leuchtendem Instrument ein ewiges Spiel von klingender Lust. Und wühlten, wühlten, wühlten.

»Leb' lange!
Gib Gold, gib Gold, gib Perlen und Kraft,
Daß wir gewinnen die Menschin!«

Der Weltenwanderer war mitgewogt, war mitgekniet – und hatte nicht gewühlt.

Wie er kniete, und wie sein Auge träumte und in ihm die Mächte sprudelten, da huschte es an seiner Wange vorbei, warm wie fremder Atem, streichelnd wie Seidenhaar, und seine Stirne glättete duftig ein Kuß. Ruhe durchrann ihn, die Wogen verrauschten.

»Du gehst die breite Straße des Seins,
Du wähnst zu steigen zu fernem Heil
Und gehst im Kreis!«

Ich will nicht im Kreis! Du Traumgestalt! Du gibst mir Kraft! Ich will nicht hasten, will wachen, will horchen in meine Brust hinein!

Er sann und dachte früherer Zeit, und er dachte schon müde vom ewigen Licht, an die Sonne, die aufgeht, um dem Auge die Welt zu zeigen, die untergeht, um dem Herzen Ruhe zu geben und um wieder – aufzugehen.

Er sann in sich hinein. Um ihn keuchten sie wie in harter Arbeit. Lockte sie nur das Klingen? War's ein Verhängnis oder suchten sie etwas im Goldgeröll?

151 Blasse Gestalten in dunkler Hülle! Das Männervolk unter der Erde, die hatten sich losgerungen von der Natur, hatten verzichtet auf die Schönheit des Lebens, auf die Wunder des Lebens und auf die Gotteswärme, die in den Dingen der Welt zu suchen ist. Verzichtet! – Und hatten sich verkrochen in der Erde, allein, als Gefährten nur ihren großen Verstand, haben sie Unheimlicheres erreicht, als in den Armen des Lebens.

»Geben Sie acht, mein Herr, wir machen alles mit dem Hirn, wir arbeiten, wir schaffen Speise mit dem Hirn, wir führen Krieg mit dem Hirn und wenn wir morden, töten wir nie mit der Hand!«

Doch wie sie in der Einsamkeit der ewig lichten Gänge auf sich lauschten, in sich suchten und aus sich errangen, da waren sie selbstherrlich geworden, und fremd aller Natur erkannten sie sich nicht wieder im Wesen des Weibes. Hart und stolz, wie sie waren, war ihnen das Leben nicht ein wallender Wind von immerklingender Jugend und die Menschheit war ihnen nicht in ein Zwei geschieden, das sich fand, um sich zu verjüngen, um neu zu schaffen und neu zu hoffen, war nicht in ein Zwei geschieden, das sich fand und starb. Für die dunklen Denker war das Leben nicht das dahinfließende Jugendhoffen von Mensch zu Mensch. Ihnen war andere Gnade zuteil geworden – ewiges Altern – ewiges Reifen! – fast bis zur Unsterblichkeit, eh' sie verlöschten.

Starb einer, so war's seine Schuld selbst, falsch gestellte Berechnung!

Und dennoch ist's der Gedanke an das Weib, der ihnen das Leben hält:

Vor undenklicher Zeit, oder war es gestern? da ist eine Frau durch die Erde gelaufen von weißer Schönheit. Alle sahen sie, doch keiner hatte Kraft, sie zu halten, weil sie sich den Gedanken an das Weib selbst vernichtet hatten.

152 Und doch hatte der Gedanke an das Zweifeln Gewalt über die Selbstsüchtigen, und als man im Goldberg Perlen fand, da hieß es, daß Perlenreichtum ungekannte Freude verleihen würde und man dachte an die schöne Frau.

Und noch sprach man von einem quellenden Wasser, das lautlos aus dem Felsgestein springt und lautlos im Gestein verrinnt.

Da brachen Dämme, Energiewellen entluden sich und sie wühlten, wühlten, wühlten mit bleichen blutenden Fingern.

Ein Eichhorn, das im Käfig gefangen, nichts zu knabbern hat, keine Nüsse, keine Kerne, muß sterben. Es nutzt die Zähne nicht ab und die vielen weißen Beinchen in seinem Rachen verwachsen sich so, daß es verhungert.

Wie dem Eichhorn, dem Spielball der Bäume, die Perlenzähnlein wachsen, um gebraucht zu werden, so wachsen den Menschenvögeln die Krallen. Mancher, der das Tagwerk gescheut hatte, unterbricht jetzt sein Arbeiten und saugt ärgerlich und voll Schmerz die Luft durch die Zähne, weil seine langen Nägel knicken und wehtun.

Dem Wanderer verging die Zeit. Erinnerung verblaßte und sein Staunen schwand mit den Tagen. Erinnerung verblaßte, wie ein Keim im Keller. Er fand sich in die neue Art, sie waren ihm nimmer fremd, die Männer mit der gefundenen Kraft des Willens, er fand zu viel Menschliches in ihnen. Er aß mit ihnen, er schlief, wenn sie schliefen, er schlich mit ihnen durch helle Gänge und strahlende Gewölbe; doch begann die Arbeit, dann trennte er sich von den anderen; dann strich er sich über die Stirne mit geschlossenen Augen und träumte von verblichenen Bildern. Und dabei war's ihm oft, als würde seine Stirne geküßt.

153 Der Meister, von dem er gespeist worden war am ersten Tage, der wurde sein Freund. Es war seine Jugend und sein großes Wundern, die dem Wanderer solche Freundschaft gewann.

Der Meister half seinem Verständnis; wie sie alle einheitlich dasselbe taten, zur gleichen Zeit schliefen, aßen und arbeiteten, wie sie leicht zu regieren waren, wie weit sie sich ihren Willen gezähmt hatten. Ja, sie konnten sich selbst »Weiberähnliches« schaffen für kurze Zeit, doch nicht jeder, und dazu mußte es auch dunkel sein. Finsternis aber gab es fast nicht in der Erdenglut. Der Meister sprach von »poetischen Winkeln«.

Noch etwas lernte der Wanderer kennen: Die Andachten, die sein Lehrer leitete.

Jeden zwölften Morgen, wenn das Wecken durch die Gänge wehte, stand man auf und ging ohne Nahrung mit leerem Leib ans Glutgebirge.

Man stieg auf den Gipfel in dichten Haufen, und an der höchsten Spitze mitten im Raum trafen sie sich von allen Seiten, und tausende von bleichen Händen griffen nach dem Seil in der Luft. Atemloses Drängen und Wogen. Wer am höchsten stand, stürzte. Man kletterte aneinander in die Höhe, und ganze Haufen brachen zusammen. Ein lautloses Ringen ohne allen Zweck, das Seil hing hoch. – Der Meister stand da und sprach –Worte! Worte und Worte!

Einmal nach solch einem ringenden Gebet drang der Wanderer weit in die Gänge, weit wie noch nie. Geblendet und müde betrat er einen neuen Seitengang. Doch wie er schritt, nahm das Licht ab. Nur hinter ihm flutete es noch. Die Wände glühten nicht mehr.

In der wonnigen Dunkelheit empfing ihn ein seltener Rausch. Wie er schritt, dehnte er die Arme und streckte sich. Er war jung, sein Blut war jung, und wie er sich 154 streckte und straffte, da fühlte er rund um seinen Leib jeden seiner Muskeln und wie sich die frische Haut darüber spannte.

Die Wände wichen. Der Wanderer war vor einer Höhle und darin war es Nacht, wie es sie nur für geblendete Augen gibt.

Horch! Horch! Gläser klirren – Zecherstimmen – helles, helles Lachen, schwüle, rhythmische Musik und das Knacken von Knöcheln wie bei Sprüngen mit bloßen Füßen.

Er trat ein.

Um ihn, in blinder Finsternis, huschten Wesen und berührten ihn zärtlich.

Schwüle Winde strichen wie offenes Haar. Warme Wesen rissen an seiner Kleidung. – Eins umschlang ihn und drückte ihm glatte Zähne an die Wange. Eins umschlang ihn küssend und preßte ihm den Atem in der Brust.

Da kam's ihm wie Worte des Meisters.

»Und manche – und manche gestalten sich Weiberähnliches.«

»Gott! Fort! Fort! Ihr seid ähnlich! Fort! Hilfe! Ähnlich!«

Fort! Und er trat und stieß und rang mit warmen zärtlichen Leibern und rannte, rannte, bis er im Hellen war.

Hinter ihm lachte es auf.

»Waren das von mir gezeugte Wesen? War solcher Schmutz in mir? Oder der ekle Wurf eines anderen Hirns? Warme Nachtgedanken eines Lustmolchs, die Form gefunden haben, reif geborene Brut – – Da kommt der Meister!«

»Wo waren Sie, Freund? Die ganze Nacht? Kommen Sie nun schnell.«

155 Feierlicher wie sonst kroch der Meister in seinen Alabastersarg, und größer schien die Zahl der Hungrigen. Heut wollte er Götterkost zwingen. Er kauerte und sein eigener Herzschlag rüttelte seinen Leib, bis die Brust nach Luft röchelte, bis er würgte, wie ein gesunkener Schwimmer im Meer.

Wieder dünstete sein Gehirn ein Gebet. Es war der Brudermord. Lebensmord.

»Du Bruderleib schaffest Speise und Trank, Speise und Trank!«

Falsch gestellte Berechnung!

Der Gallert wogte und quallte, wie eine Schnecke mit zertretenem Haus im Todesschmerz, und kam nimmer zur Ruhe. Kam nimmer zu Ruh.

Da schritten sie mit langen, bleichen Säcken daher und fingen den wogenden Gallert und schleiften ihn leise weinend durch die Gänge zum Brunnenschacht.

Als der letzte Sack gefüllt war, lag in der Koje im Glutsarg ein Monokel mit schwarzem Rand und ein Zylinderhut, sonst nichts. – Der Meister hatte sich selbst vergiert. Und die Säcke stellten sie im Kreis, öffneten sie und liefen davon.

Dreißig gelbe Wölkchen mit Dunstschwänzen stiegen auf. Die dreißigfachen Sinne eines Meisters trafen zusammen und schmolzen mit sausendem Geräusch zu einer Kugel, diese entstieg mit langsamem Drehen schachtaufwärts hinein in die Dunkelheit.

Ein Freund war gestorben. – Ein Wanderer wurde traurig. Er aß und trank nicht mehr und ging fort, weit in die Erde hinein. Das ziellose Wandern machte ihn nicht trüber. Vielmehr ging er schneller und schneller, je wilder die Gänge sich teilten und irreführten. Unerwartete Ecken oder Wendungen, oder gar schmale unscheinbare Nebengassen, die freuten sein kindlich Herz, 156 als könnt' er die Hirnwelt hinter sich lassen. Trotz aller Windungen schien ihm der Weg gerade und sicher. Leichten Mutes ließ er sich vom Schicksal treiben. Und jetzt sprang er von Ecke zu Ecke, jetzt drehte er sich um sich selbst, ein lebendiger Kreisel, damit er den Faden der Vergangenheit zersprenge – und dann raste er weiter wie ein Pfeil und prallte mit beiden Händen wieder an eine neue Wand und lachte und drehte sich, und ging weiter.

Wind wehte ihm entgegen. Erst sanft, als er weiter kam, stärker, Wind des Lebens, keine Energie, kein Hunger, kein wehendes Gebet. – Da wußte er sich auf dem rechten Weg. Da kauerte er sich an die Wand und ließ eine Zeitlang vorüberrauschen, lachte, sprang auf und schritt von neuem hinein ins Ungewisse.

Das Licht um ihn war nimmer sinnentrunkene Erdenglut. Es war wie Sonnenschein; da keine Sonne da war, konnte es nur von ihm und seinem freudigen Gesicht kommen. Der Wanderer fühlte, wie er Licht und Freude mit sich trug.

Und sein Reichtum war so groß, daß er sich sehnte, schenken zu können. Schenken, alles verschenken, und doch nicht arm werden – aber er war allein.

So schlich er auf den Zehen um eine neue Ecke. Noch einen Schritt, da stand er wieder in einer Felsenhöhle. Die mußte vorher dunkel gewesen sein und er hatte das Licht mitgebracht.

Von der Felswand stürzte ein breiter, silberner Strom – lautlos – und das Wasser verrann lautlos im Boden, trotz aller Wucht.

An dem Wasser saß ein Mädchen, frisch wie eine Kirschenblüte. Sie hatte in die Quelle gesehen und blickte erschrocken dem Lichte zu. Mit der Schönheit ihrer Augen, die die Wunder von endloser Dunkelheit getrunken hatten.

157 »Dich hab' ich im Traum geschaut, du Schöne!«

»Und ich hab' im Traum an dich gedacht – Sonnenfreund!«

»Auch ich muß oft an dich gedacht haben, doch die Hirnwelt ist ohne Musik und Sonne. Wie kommst du hierher?«

Vor undenklicher Zeit, wie sie schwarz in die Erde wogten, da war ich bei jedem. Und wie sie mächtig wurden und finster, da mußte ich fort und ließ sie mit sich selbst allein. Ich lief durch die Erde hin zur Ewigkeit und hier an der Quelle der Jahre blieb ich.

Der Tau der Ewigkeit legte sich auf meinen Leib und bewahrte mir die Jugend, und wenn Klänge aus dem Wasser stiegen, leuchteten sie mir ins Herz, eh sie forteilten zu den Menschen, um ihnen Sehnsucht zu bringen.

Während sie sprach, hatte er ins Wasser gesehen. Es rann und glitt und war immer dasselbe. Die neuen Wasser waren jünger als die alten, und es deuchte ihm nicht nur, als eile das Leben von Menschen und Ländern an ihm vorüber. – Auch sein Leben kam in schnelles Gleiten.

Er legte den Arm um das Mädchen, und sie setzten sich an die Quelle und ließen gleiten und eilen, und eilten und glitten. Die Klänge, die von Zeit zu Zeit dahinstrichen, sprachen zu ihnen, und in ihm reifte es und wurde ruhig. Seine Seele trank am Urquell alles Seins. – Trank, bis ihr Dürsten gestillt, und bis sie kein unbewußtes Fragen mehr kannte.

Und wieder klang es aus dem Wasser, und der Wind wogte mächtiger zur Höhle hinaus. – Da standen sie auf und gingen mit.

Er sah dem Mädchen ins Auge und küßte ihre Schönheit, dann erschrak er und tastete sich übers Gesicht, doch war er jung geblieben und über seiner Haut lag's wie kühler Tau.

158 Auf den Wegen, die er einst gekommen, schritten sie mit dem Wind; der brachte sie zum Goldberg.

Auf ihrem Weg sahen sie schwarze Gestalten mit bleichen Gesichtern, die drückten sich scheu in die Ritzen der Wände. Einige, es mußten die ältesten gewesen sein, die stiegen in Vertiefungen der Felswand, legten sich auf den Rücken, schoben den Hut über die Augen und stellten sich schlafend. Aber ein Junger, mit noch ganz rundem Gesicht, der wollte nachlaufen und rief: »Menschin, schöne Menschin, geh nicht fort von mir! –« Da rannte er geblendet gegen eine Wand.

Wie sie durch die Windungen der Erde wanderten, hatten sie den Wänden auf lange Zeit die Leuchtkraft genommen, und hinter ihnen drein kroch die Dunkelheit.

Sie standen vor dem leuchtenden Berg und der Wanderer erinnerte sich der Andachten der Lustmolche. Er sah das Seil hängen und blickte dann in die Glut. Und in sein Herz drang all die Hoffnungslosigkeit, die ihn immer an dieser Stelle überkam. Er blickte in die Glut und fühlte ihre Macht.

Da sah ihn das Mädchen traurig an, küßte ihm die Stirne und sprach:

»Wühle nicht!
Räume das Gold zur Seite!«

Da, wie er sich willig bückte, um zu gehorchen, sah er einen leuchtend roten Stein.

Der Wanderer griff danach. Er fühlte noch, wie das zitternde Mädchen sich an ihn klammerte – dann stand er mit ihr auf einer Wiese, und sie beugten sich gerade beide nach einem dunkelroten Blümlein.

Ein Traum schien es ihnen gewesen, ein längst geträumter Traum, der ihre junge Liebe trug.

159 Durch das Leben läuft finster die Selbstsucht. Und es kommt Sonne! Dein enger Kreis wird weiter. Liebe reicht dir die Hand und führt dich aus dem Mittelpunkt einer selbstsüchtigen Welt.

Maria Strom gab das wunderliche Werkchen Heinrich zu lesen, der war betroffen und brachte es der Mutter so liebevoll und tröstend und beruhigend, daß Maria durchfühlte, wie besorgt der gute Junge um seinen jüngeren Bruder war.

»Ich kenne doch unseren Ottomar,« sagte er. »Der will eben nicht. – Wir anderen wollen alle, wir wollen alle, was wir müssen, und das soll doch so sein. Ottomar muß das auch noch lernen, aber schwer wird's ihm werden. Doch sein Wesen ist schöner wie das der anderen, er zieht auch die Buben und die Mädchen so an sich, wie hängt Stürmer an ihm und die Gudrun, und er gleitet an ihnen vorüber – und doch ist er ein guter Freund; aber immer anders, als die wollen.«

»Aber,« sagte Maria, »zu dir ist er doch immer treu und gut?«

»Zu mir? Das ist selbstverständlich! Aber selbstverständlich ist bei Ottomar eigentlich nichts – und so bin ich eigentlich immer erstaunt, daß ich mich so auf ihn verlassen kann.«

»Sag mir,« fragte Maria zögernd, »wie kommt er zu dem weiberähnlichen Wesen in dieser Geschichte?«

»Da hab nur keine Sorge, Mutterl, der weiß, was er nicht weiß, der Ottomar ist so ein Bub mit seinen siebzehn Jahren, sauber wie ein Apfel, ich weiß nicht, wie ich dir sonst sagen soll, sei nur ganz ruhig.« 160

 


 << zurück weiter >>