Helene Böhlau
Ein Sommerbuch
Helene Böhlau

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Jugend

In dunkler Sommernacht fuhr die alte, gelbe Postkutsche auf der Erfurter Chaussee ihrem Ziele, dem Städtchen Weimar, zu.

Eine laubduftende, schwere, warme Nacht, der Mond schon untergegangen, die knorrigen Obstbäume am Straßenrand wie dunkle, kaum angedeutete Silhouetten, die weitausgedehnten Kornfelder strömen des vergangenen Tages Wärme und Wohlgerüche aus.

In der Postkutsche sind beide schmale Fenster niedergelassen, und ein einziger Passagier, ein junger Mann, atmet den Ledergeruch des alten Rumpelkastens, diesen Reisegeruch jener Tage, der sich zu solcher Stunde mit der weichen, geheimnisvollen, nach Korn duftenden Finsternis mischt.

Aus dem Chausseeeinnehmerhaus blinkt ein trübes Oellämpchen wie ein schläfriges Auge. Der einzige helle Punkt weit und breit. Der Postillion klatscht mit der Peitsche – klatscht wieder und wieder, spuckt aus.

»Die Luder schlafen, – wie gewehniglich.« Er hat sich vom Bock geschwungen und macht sich am Halfter der Pferde zu schaffen.

So ein feuchter, dumpfer, zärtlicher Klatsch durch die Dunkelheit. Er hat dem Handpferd das weiche Maul geklopft. Die zarten, mächtigen Lippen schlappen feucht gegen die Trense. Durch das ganze Tier geht ein freudiger Ruck der Genugtuung.

Darauf eine Erschütterung der alten Kutsche. Der Postillion ist wieder aufgesprungen, flucht noch einmal über die verschlafenen Luder – und fort geht's, hart und rasselnd; und ein junger Schwärmer wird so der alten, wunderlichen Stadt zugeführt.

Der Postillion denkt bei sich: ›Gewiß och wieder eener von denen, die nich alle werden. Du meine Gite! Was hat denn der dervon, wenn er och en bar Mal an Herrn von Gethes Haus vorbeimarschieren dhut, oder auch, wenn's Glicke gut ist und wenn'r 'reinkimmt! Jesses ne!

Wenn ich Herr von Gethe wär', ich dächte mir: Blost mir in' Aermel! Hab' ich 'n mehr als zwee Beene, daß 'r so ahngenärrscht kommt?

Nä, mir werd's ibel, wenn ich denke, mich wullten's alle zu sehen krieche, die Narrn. Der drinn tät och besser, sei Gerschtel firs Studium ahnzuwenden statt von Gettungen rein zu machen, oder woher er kimmt. Na, wenn's en freit, mir gann's wurscht sein.«

Damit gab er seinen beiden Braunen ein Aufmunterungswichslein und vorüber rasselte es am Galgenberg, der dazumal sein Warnungszeichen noch trug.

Drin in der düsteren Kutsche schlug ein frisches, kühnes Herz, ein Herz voller Schwärmerei, wie jetzt keine mehr schlagen. Jetzt brennen die jungen Herzen, die wirklich brennen, Anthrazitkohle, ein konzentriertes, bestausgenutztes Brennen, in spitzer, scharfer, blauer Flamme.

Damals aber brannten die jungen Herzen Holzfeuerung, da knisterten Kienäste, da prasselte viel unnütz feuchter Saft in Feuergarben, und dunkler, schwermütiger Rauch schwelte.

Es war ein lustiges, träumerisches, verschwenderisches Brennen.

Ja, ein kleiner Ueberrest von solchen flammenden Holzstößen hat sich in unserer Zeit noch in Backfischherzen hinübergerettet.

Da knistern noch hin und wieder rührende Flämmchen für irgendein Idol.

Aber was ist das armselige Knistern gegen die Feuersbrunst in jener Postkalesche.

Vorgebeugt, die Hand in die Haare vergraben, saß jetzt der junge Mensch.

Seine Nasenflügel weiteten sich, es war, als witterte er Goethe, je näher er Weimar kam.

Er wallfahrte wie zu einem Gott.

Und wenn er sich hätte durchbetteln müssen, einmal in seinem Leben mußte er in Goethes Nähe sein. Da er verstand, den Augenblick zu nützen, hatte das erste Geld, das als rundes, freies Sümmchen seine Hand berührte, ihn reisefertig gemacht.

Und nun war er da!

Vor dem Erfurter Tor, am Chausseehäuschen, wurden seine Papiere beim Schein einer Laterne, in der zwei jungfräuliche Talgkerzen brannten, begutachtet. Seinen Namen trug er in ein Fremdenbuch ein und wurde dann unbeanstandet mitsamt der alten Rumpelpost eingelassen.

Der Postillion blies liebevoll und falsch: »Muß i denn – muß i denn zum Städtli hinaus – Städtli hinaus«. Was geht das einen alten Postillion an, ob er hinaus- oder hineinfährt. Völlig »wurscht« ist ihm das.

Er fuhr seinen jungen Passagier bis vor den Russischen Hof, weil der doch einmal am Wege zur Post lag.

Und somit stand der Schwärmer alsobald auf heiligem Boden.

»Da missen Se schellen, wenn Se n'ein wollen! – aber dichtig – hären Se, die hären och nich!« rief der Postillion. »Und auf Ihren Kuffert geben Se Owachtchen! Seit mir gar so viel bedeitende Leite ins Nest kriechen, wäre mir Weltstadt.«

Damit rumpelte er weiter und nahm sein Stücklein wieder auf, denn er mußte blasend in den Posthof einfahren.

Der junge Mann aber stand in schweigender Nacht mitten in Goethes Stadt.

Ihm war zumute, als wäre er in einen geheimnisvollen Tempel geraten, in dem ein Gott leibhaftig seinen Wohnsitz genommen hatte.

Endlich läutete er, und ein verschlafener Hausbursche nahm sich seiner verschlafen und »sachtchen« an.

Es war ein echter und rechter Hausbursche mit Zipfelmütze und Laterne, kräftigen Stallgeruch um sich verbreitend.

»Da sin Se mit der letzten Post rein? – Ja – is'n schone nach zwelfe?« fragte er bedächtig. »Da wollen Se wohl ä Zimmerchen?«

Und er bekam ein Zimmerchen, ein Riesenzimmer, in dem drei weißüberzogene Betten wie Nippsachen verschwanden.

»Se brauchen doch nischt weiter,« fragte der Hausknecht – und zwar ohne Fragezeichen; zündete eine Talgkerze, die in einem Messingleuchter stand, bedächtig an seiner Laterne an. Die Lichtputzschere fiel dabei polternd zur Erde.

»Daß dich der Deiwel!« gähnte er und suchte schlaftrunken ihrer wieder habhaft zu werden.

»Da sin Se wohl zum Feste rein?«

»Zu welchem Fest?«

»In Diefurth unten.«

»Nein.« Da wußte der Fremde nichts davon. »Was ist da los? Kann man dahin?«

»Fremde von Distinktion schon.«

»Wieso?«

»Was jetzt so hier durchkommt un sich hier aufhält, wenn's nicht Handlungsreisende sin, sind's allemal welche von Distinktion. Was soll denn eens hier duhn?«

Dieser Rede dunkler Sinn wurde dem Fremden nicht sofort klar, wie er es wohl auch dem Hausknecht nicht war, denn was der sich unter »Fremde von Distinktion« dachte, Gott weiß es. Seiner Erfahrung nach vielleicht Genies, und was von durchreisenden Genies zu halten war, das wußte er eben seiner Erfahrung nach: Unbezahlte Rechnungen, keine Trinkgelder, Scherereien aller Art, zweifelhafte Leibröcke, nicht salonfähiges Schuhwerk.

Ja, man erzählte sich im Russischen Hof, daß ›Geheimderat« Bertuch jährlich eine gewisse Summe, vom Hof aus, zu verausgaben habe, einzig dazu bestimmt, die Toilettendefekte der durchreisenden Genies zu kaschieren. Da gab's Geschichten, es brauchte nur einer im Russischen Hof und im Elefanten nachzufragen.

Prüfend schaute der Hausknecht, bei der jetzt glänzenden Beleuchtung der Laterne und der Talgkerze, noch einmal auf die Toilettenverhältnisse des Fremden und kam zu der Ueberzeugung, daß dieser kein Genie sei.

»Befehlen der Herr noch was zum Nachtessen?« geruhte er aus diesem Grunde zu fragen.

Der Fremde bestellte sich eine Flasche Wein, was auf den Hausknecht wieder einen günstigen Eindruck machte.

Ein Genie hätte sich einen Grog bestellt.

»Sag Er mal, mein Lieber,« fragte der junge Mann und hielt die schlürfende Bedienung im Hinausgehen auf, »wie ist das mit dem Feste?«

»Na, da kommen Se schone hin, wenn Se wollen – i worum nich? Da geht morgen alles, was Beine hat und nur irgend was is.«

»Und Herr von Goethe?«

»Der allemal. Wo wäre der nich derbei? Auffihren dhun se ä Sticke von ihm. Was wees ichn, was immer lus is. Fragen Se nur beim Wirt, der verschafft Ihnen ä Bullet so sicher wie's Amen in der Kerche. Gegen Zugereiste sin mer in Weimer immer artig.«

Der junge Fremde, als der Hausknecht ihm den Wein gebracht und Gute Nacht gewünscht hatte, öffnete weit ein Fenster, goß sein Glas bis an den Rand voll und trank es dem zu, dessen Nähe er hier spürte.

Dann schaute er angestrengt in die Dunkelheit hinaus. Alte Linden, die einen Weg oder einen Wassergraben beschatteten, ein kurzer, breiter Turm, allerlei Unbestimmtes, das aufdämmerte, trügerische Formen und tiefe Stille.

Ein Uhr schlug es jetzt mit traulichem Schlag. Der Nachtwächter machte die Runde und sang sein Lied.

Ob derselbe auch vor Goethes Haus singt?

Der junge Fremde hörte andächtig zu.

Rührung, als wäre er in seiner eigenen Heimat nach langem Umherirren angelangt, überkam ihn. Es wurde ihm so sonderbar zumute, als er dachte, daß der große Mann keine Ahnung hatte, was für ein treuer Freund ihm hier angekommen war, und daß er wohl nie etwas davon erfahren würde.

Das schmerzvoll einsame Gefühl einer unglücklichen Liebe stieg in ihm auf.

Er war gekommen, einen Gott anzubeten, einen Begriff – und fühlte hier die Nähe des Menschen auf sich wirken, des Menschen, von dem er ein Echo für seine Begeisterung wollte.

Mit einem Mal kam er sich so unnütz in dem dunkeln, alten Städtchen vor; seine Reise erschien ihm lächerlich, was ihm zwingend gewesen war, zerfiel zu nichts. Ja, er mußte ihn sehen und sprechen – das war's! – das mußte sein! Und aufgeregt ging er im Zimmer auf und ab.

Doch höchst eigentümlich, daß er gerade zu diesem Feste kommen mußte!

Seine Phantasie machte die tollsten Sprünge – und er ging schlafen als Goethes ganz unentbehrlicher Freund, als der, den der große Mann längst gesucht und endlich gefunden. Er tat dem Verehrten die wichtigsten Dienste, siedelte ganz nach Weimar über und war der glücklichste Mensch.

*

Ein wunderbar sonniger Sommertag brach an. Der Student war mit dem Frühsten munter, und es währte nicht lange, da durchwanderte er die engen, winkligen Sträßchen Weimars.

An dem großen, gußeisernen Brunnen stand er und starrte auf die lange Reihe schlichter Fenster, hinter denen der Große lebte.

Zufällig erfuhr er, daß Herr von Goethe sein Gartenhaus unten am Stern schon bezogen habe. Er ging sofort dahin und sah sich die Augen halb aus.

Sonnenfrieden über den hohen Baumwipfeln, dem weißen Häuschen mit seiner hohen, grauen Schindelmütze, weite Wiesen, Vogelgezwitscher.

Die Wiesenblumen stehn in voller Pracht.

Es ist nichts Lieblicheres zu denken als dieser grüne, weiche Friede. Nirgends ein Haus. Kein Geräusch – keine Menschenseele.

Hier verbringt also dieser Glücklichste seine Sommertage! Eine Einsamkeit, die er in wenigen Augenblicken mit der reizvollsten Geselligkeit vertauschen kann.

Ihn lieben die Götter! Das steht fest, und zwar alle ganz einmütig.

Und so weise, diese stillen Erdenwinkel zu finden – zu halten und zu genießen!

Von hier aus strahlte also das Begeisternde über ganz Deutschland, von hier ging es aus, das frische, starke Leben, das sich in Tausende steifer und schlafender Alltagsherzen ergoß und sie lebendig schlagen ließ.

Ja, wahrhaftig, so ein Student vergibt sich nichts, wenn er hier auf- und niederrennt in mächtiger Begeisterung.

*

Als er wieder in seinen Russischen Hof sonnedurchwärmt zurückkehrte, hatte der Wirt ihm bereits ein Billett vom Hofamt zur Aufführung in Tieffurth holen lassen.

Mit welcher Weihe, Vorsicht und Eleganz kleidete er sich am Nachmittag an, wie ein Bräutigam.

Und stattlich und schön sah er aus, das mußte er selbst zugestehen. Er war mit sich zufrieden, – ein Fremder von Distinktion.

So machte er sich gegen Abend auf, nach Tieffurth zu wandern. Der Wirt wollte ihn bereden, ein Fuhrwerk zu nehmen, der Gast aber wollte gehen, den heiligen Boden berühren und auf Schritt und Tritt hoffen, daß ihm etwas Intimes, Entscheidendes begegne.

»Fehlen können Sie nicht; wo alles hinrennt, laufen Sie mit,« sagte der Wirt, als er seinen Gast bis vor die Haustür begleitete.

»Sehen Sie dort, mein Herr, dort die geputzten Frauenzimmer, denen gehen Sie nur getrost nach, dann sind Sie sicher nicht irregegangen.«

Ein ganzer Schwarm junges Volk! Das lachte und schwatzte, flatterte in hellsten, lustigsten Farben wie ein wandelndes Blumenbeet, Eifer, Lebenslust, Ausgelassenheit.

Ah, denen war's wohl!

Solche lustigen Vögel wohnten auch in dem engen, grauen Nest.

An solches Nebenvolk hatte unser guter Junge noch gar nicht gedacht.

Für ihn thronte hier Goethe, der Gottmensch, daß sich irgend etwas anderes hier noch breit machen konnte! –

Und wie es sich breit machte, nahm die ganze Straße ein, eine an die andere gedrängt, eine ganze Kette lustig flatternder Fähnchen, blumengeschmückter Häupter und nickender Hüte – und Lachen und Kichern ohne Ende.

Das waren im Grund ganz annehmbare Führer.

Er beeilte sich, sie nicht aus dem Auge zu verlieren.

Welch schöne, schattige Allee, in die sie jetzt einbogen.

O, sie wußten ihren Weg.

Hinter ihnen, vor ihnen wanderte buntes Volk; aber zwischen ihnen und dem Studenten war ein freier Raum.

Er hielt sich tapfer ihnen nah, wenn auch in gemessener Entfernung.

Da war eine unter den jungen Frauenzimmern, die lachte, wie er noch nie lachen gehört hatte.

Das war ein Lachen!

Und wenn sie damit anhub, flog ein ganzer Chor von Lachstimmen mit der ihren auf, wie ein Schwarm weißer, sonnebeschienener Tauben.

So lustig waren sie hier in diesem Nest, da mußte eine gute, leichte Luft sein.

Hier mußte sich's leben lassen.

Es war nicht nur das Lachen, das ihm das fremde, kleiderumflatterte Ding merkwürdig machte, nein sie war eben ganz Lachen – da war kein Blutstropfen, der nicht mitkicherte.

Bald hing sie der einen am Hals, bald der andern. Da hatte sie etwas zu tuscheln, da gab sie einen Schubbs als Antwort. Jetzt nahm sie den Hut ab, da flogen die lebendigsten, blonden Locken im Sommerwind, – so volle, runde, leichte Locken.

Sie war gegen die anderen Frauenzimmer wie nicht bekleidet. Ihre Körperformen drangen mutwillig durch alle Falten hindurch, ließen sich gar nicht verbergen. Es war so etwas Lustiges, Bewegliches in ihnen.

Sie war es auch, die den Fremden zuerst bemerkte.

Er verstand, wie sie sagte: »Da steigt uns einer nach!« und darauf das köstliche Lachen, als wollte sie sich in Lachen auflösen.

Sie schien eine lose Bemerkung geflüstert zu haben.

Den ganzen Schwarm brachte sie in Aufregung.

Und nicht lange währte es, da schaute sie sich um und wieder um.

Die Mädchen verlangsamten ihr Tempo, als sollte er an ihnen vorübergehen. Und er ging auf diesen Vorschlag ein, benutzte aber sein Recht als Fremder, zog den Hut und fragte die geputzten Frauenzimmer nach dem Tieffurther Weg.

Das bewegliche Mädchen erwiderte ihm: »Da sind Sie ja ganz recht. O, – als ob Sie den Weg nicht wüßten. Wir haben Sie längst gesehn, mein Herr.«

Er versicherte aber, daß er völlig fremd hier sei.

»Ihr müßt's wissen,« wandte sie sich an ihre Begleiterinnen, »ob der Herr hierher gehört oder nicht. Ich bin selbst fremd hier.«

»Nein, sie hatten ihn noch nie gesehen,« kam es schüchtern bestätigend von manchen Lippen.

»Na also, wenn's so ist, wie Sie sagen, da gehen Sie nur, wo wir gehen. Wir kommen schon an.«

So war er also mitgenommen.

Unterwegs hielt er sich zu dem schönen Geschöpf. Die andern waren mehr oder weniger von jetzt an wie auf den Mund geschlagen, sehr ehrbar und steif.

Ein adrett gekleidetes Demoisellchen sagte: »Ich bin nur begierig, wo wir auf Frau Rätin Tiburtius und die andern ältern Damen treffen.«

Die junge Schönheit, die das gehört hatte, wendete sich zu dem Studenten. »Nicht wahr, Sie fressen uns nicht, auch wenn wir ohne alte Schachteln sind?«

»Aber Lorchen!«

»Jawohl, ihr kommt nie aus dem Steckkissen raus. Sind wir nit Manns genug? Alte Weiber kann i nit leiden, wenn's einen immer auf der Nasen sitzen.«

Der Student stellte sich auf das wohlerzogenste vor.

»Hoffentlich tanzen Sie?« fragte das schöne, lebhafte Mädchen.

»Zur Not, Demoiselle.«

»Ach was, wenn man tanzt, tanzt man nit zur Not!«

Sie war Fränkin, das verriet sich gleich.

»Aus Koburg?« fragte er.

»Ja, nit wahr? Und wie alt sinds? Sinds verehelicht oder ledig? – Wie auf dem Paßbureau? Ich weit nit, daß die Leut hier gar so schwerblütig sind.«

»Lorchen!« sagte wieder eine Kameradin flüsternd ermahnend.

»Ja, steifleinen sind hier die Leut! Wissens, gestern ist mir der Herr von Goeth nachgestiegen – der Oberbonz – der merkte auch, da läuft was nicht Weimarsches.«

»Goethe! – Nein!« rief der Student außer sich.

»Na, als ob nit? Freilich und wie! Gestiegen ist er wie noch mal 'n Kavalier. Zu kurze Beine hat er gehabt, – das hatt' ich gleich weg!«

Im Eifer des Gesprächs hatte sich Lorchen in die Arme des Studenten eingehenkt und hatte es so kindlich, reizend und lebhaft getan, als müßte es so sein. Eine ihrer Kameradinnen sagte zur andern: »Kokette Trine, die!« –

Die Erwähnung der kurzen Beine gab dem Studenten einen Stich ins Herz. So einem Frauenzimmer ist nichts heilig.

»Aber Demoiselle,« sagte er verweisend.

»Der, wenn nit zu kurze Beine hat und nit zu eingebildet ist, will ich Matz heißen. Kurzbeiniges Mannsvolk ist mir nu ma zuwider. Und wenn eins schreiben kann wie zwanzig Schulmeister zusammengenommen.«

»Na, und wenn ich denke, wie der abgeschleckt werden würd, wenn alles schlecken dürft, was wollt! Nein, der könnt schon um ein Busserl vor mir auf der Erde rutschen – nit um die Welt! So'n Aff!«

Der Student hatte einen solchen Aerger über die dumme Gans, daß er sie am liebsten abgeschüttelt hätte; – aber wie er so auf sie niedersah, stieg es ihm glutheiß zu Herzen. Da wogte und vibrierte alles in und um das herrliche Persönchen. Das Leben jagte sich nur so in ihr. Die Augen hatten einen Glanz, als wären sie an ganz andere Sonne gewohnt. Ihre Schritte tanzten, der feuchte Mund glänzte und lächelte, und die junge Brust hob und senkte sich so lustig, so in süßer Harmonie. Um dies ganze Geschöpf war ein fremdes, sonniges, warmes Klima für sich, das sie von allen andern absonderte. Sie mochte tun, was sie wollte, sie tat es wie in einer eignen Atmosphäre.

Nein, so etwas war dem braven Studenten aus gutem Haus wahrlich noch nicht über den Weg gelaufen.

Unwillkürlich hielt er den warmen, lebendurchströmten Arm fester an sich gepreßt.

»Drückens nit so!« sagte sie schelmisch.

Die meisten der jungen Frauenzimmer schauten schon mißbilligend auf sie.

Das mochte heute abend gut werden. Die würde alles an sich reißen.

»Unverschämte Person.«

Die aber kümmerte sich um keine Billigung und keine Mißbilligung, plauderte mit ihrem Studenten und war drolliger Einfälle voll.

Nicht lange währte es, da hatte sie weg, daß er ein Goetheschwärmer war! Das amüsierte sie köstlich.

»Nein, ein Mannsbild fürs andre! Daß i nit lach! Sie verrückter Tropf!«

Und sie lachte und guckte ihm so schelmisch von unten herauf mitten in die Augen, als wollte sie sagen: ›Da könntest du wohl was Besseres tun.«

*

Als sie in Tieffurth angelangt waren, strömte es von erwartungsvollen Menschen das Ilmufer entlang.

Es dunkelte schon. Und bei völliger Dunkelheit sollte die Aufführung beginnen.

Man sprach von einem wirklichen Kahn auf der Ilm und von einer kleinen Freitreppe, die zum Wasser hinunterführt.

Heutigen Tags sind diese paar Stufen noch zu sehen. Von einem chinesischen Tempel mit kleinen Glöckchen, der Tempel mit Wachstuch überzogen, von da aus sollten die Herrschaften das Schauspiel betrachten.

Der Tieffurther Park mit seinen hohen, herrlichen Bäumen, der plaudernden Ilm, den weiten Wiesen, den bunten, heitern Menschen machte auf unsern Studenten einen entzückenden Eindruck.

Vom Schlosse her sanfte Musik.

Und so in Goethes Nähe mit dem schönen Mädchen am Arm! Mit dem Mädchen, das sich gestern in Goethes Augen widergespiegelt hatte, das, wenn sie wirklich wahr gesprochen hatte, vom Goethe bemerkt war, das ihn entzückt hatte.

Ja, eigentlich weshalb denn nicht, war sie denn nicht entzückend?

Und sie hatte ihn – Goethen vorgezogen? Toller, unsinniger Gedanke! Und dieser Gedanke packt ihn, benebelt ihn. Welch ein sonderbares Schicksal!

Er ging mit seiner heitern Schönen die Ilm entlang, aus dem Bereich der Masse. Und ging, ohne zu denken, daß er ging. Er fühlte sie; – ihr wunderbares, lebendiges Klima erwärmte, verschönte, belebte auch ihn.

Das einzige, was er empfand, war – sie bald – bald zu küssen! Er wollte sie nur ganz von lästigen Spähern abtrennen, und so gingen sie und gingen ins Unbewußte hinein.

Sie an ihn fest angedrängt.

Ja, er durfte wagen, sie zu küssen! – und er küßte sie so ganz einfach, ohne ein Wort zu sagen, als kennten sie sich schon lange.

Sie trank seine Küsse – ja, sie trank sie durstig.

»Ich weiß nit,« sagte sie, »du bist so ganz mein Gusto – so ganz was ich will; gleich gefielst du mir.

Und morgen reis' ich, du gehörst Gott weiß wohin – – und ich, Gott weiß wohin. Frag nit nach mir. Küß mich halt. Ich möchte so gern grundselig heut sein!«

Ja – und er küßte sie. Die weichen, lebendigen Locken schlangen sich ihm um die Hände.

Der Mond schien, die Ilm rauschte. Sie waren weit, weit vom Festplatz entfernt. Zarter Gesang, eine wundervoll singende Frauenstimme, gedämpfte Musik, fernes Aufleuchten und Flimmern.

»Jetzt spielen sie,« sagte sie lustig und dennoch wie hinsterbend vor Wonne.

Die Ilm glitzerte ihnen zu Füßen.

»Die, mit ihrem dummen Kahn,« begann das schöne, liebestrunkene Geschöpf wieder – »solche Kindereien – Nicht, du? und einen Tempel aus Wachstuch! Weißt du, so am Wasser, wie hier, bin ich aufgewachsen; auf unserm Gut. An der Schulstub, in der wir beim Hauslehrer lernen mußten, floß solch ein Wässerlein vorbei.

Die ganzen Sommertage lebten wir darin. Naß kamen wir durchs Fenster in die Stub, wenn der Lehrer zum zwanzigstenmal gerufen hatte, ein ganzes Rudel Mädels und Buben.

Triefend standen wir um den Tisch.

Die ganze Stube schwamm.

Er schlug nach uns. Wir lachten.

Ach, weißt du, das war schön!«

Sie dehnte sich in seinen Armen bei dieser Erinnerung. Ja, das hatte ihr gefallen, das war so ganz ihr Gusto gewesen, wie es schien.

»Dann kamen böse Zeiten,« sagte sie träumerisch.

Mit einem Mal aber war ein ganz übersprudelndes Leben in sie geraten, als wären irgendwie Lebensschleusen geöffnet worden.

Sie hing an seinem Hals mit einer süßen, wallenden Leidenschaft und sagte flüsternd, mit spitzbübischer Freude an einem tollen Streich: »Gehen mir ins Wasser – weißt? – Laß die Dummen dort mit ihrem eingebildeten Zeug! Das wirkliche Leben ist so schön – – so schön! Und hier das bissel Musik, was herüberklingt, ist besser als die ganze Geschichte.«

Sie zog ihn mit sich fort. »Hier«, flüsterte sie im Laufen, »findet uns keine Menschenseele. Wer käm' auf die weite Wiese gegangen? Jetzt glotzen sie alle. –«

Und wie im Nu waren die flatternden, leichten Kleider abgestreift, nach alter Gewohnheit, kinderhaft leicht. – Und vor ihm stand im nebelhaften, flimmernden Mondlicht, unter dichtem Zweiggewirr – ein leuchtender, süßer, lockenumwallter Körper.

Ihm benahm der plötzliche Anblick den Atem.

Das war wie Zauberei geschehen, und so behende wie eine Eidechs huschte sie das Ufer hinab – und jetzt leuchtete es auf in den Wellen – lockend – silbern – und das süße, unwiderstehliche Lachen erklang.

»Komm, dummer Bub, eil dich.«

Ja, und auch er legte seine Kleider ab, wie im Rausch, wie im Fieber, mit klopfendem Herzen.

Und sie empfing ihn mit einem tollen Sprühregen, schlug mit den leuchtenden Armen in die Wellen und warf ihm das Wasser händevoll ins Gesicht. Dabei immer das köstliche, halbunterdrückte Lachen.

Dazwischen die ferne, singende Frauenstimme, dann Chorgesang und Musik.

»Das tun sie für uns!« lachte sie. »Wenn die das wüßten!«

Sie peitschte ihn mit ihrem Haar, als er sie packte, in die Höhe riß und auf seinen Armen trug.

»Läßt du mich! eklicher Bub!« rief sie und schlug und biß um sich wie eine wilde Katze.

So tobten und rangen sie miteinander in süßer Wut – und wieder ausgelassen wie zwei Schulbuben, und trieben es endlos.

»Nun noch einen nassen Kuß,« flüsterte sie, legte ihr feuchtes Gesicht an das seine und küßte ihn so zierlich wie ein kleines Kind. Dann in ein paar Sätzen war sie beim Ufer hinauf zum Platz geeilt, wo ihre Kleider lagen. Wie ein verkörperter Lichtstrahl im Mondenschein leuchtend, schüttelte sie sich, schüttelte ihre Locken und im Nu war sie in ihren Gewändern; dann stand sie und wartete auf ihn, erbat sich sein Taschentuch, um ihr feuchtes Haar zu trocknen, trocknete und rieb, steckte die luftigen Locken zierlich auf; und stand bald wieder da in ihrem fraulichen Reiz, das festlich gekleidete, junge Mädchen.

Für ihn war es beschwerlicher, wieder in sein Kleidergehäuse zu kommen. Das dichte Buschwerk machte es ihm nicht leichter. Zu guter Letzt wollte die hohe kunstvolle Krawatte nicht sitzen, und er kam nicht so recht vollendet in der Erscheinung zur zierlichen wartenden Nixe zurück.

Sie hing sich in den Arm ihres hingerissenen, betäubten Begleiters ein, nestelte an ihrem Oehrchen und drückte ihm etwas in die Hand.

»Das behalte zu meinem Gedenken.« Das sprach sie würdig wie der Priester beim Abendmahl, schlang noch einmal den Arm um ihn und küßte ihn mit hinsterbender Leidenschaft.

»Du hast mir gleich so gut gefallen,« wiederholte sie noch einmal und sagte das so einfach.

»Wann sehen wir uns wieder, Lorchen?« fragte er außer sich.

»Nie. – Nein gewiß, nie. Ich reise noch heut in der Früh.« Da lachte sie über den Reim – und weinte dazwischen und lachte wieder.

»Laß dir ein Ringerl davon machen.« Sie tippte ihn auf die verschlossene Hand, in der er das Angedenken hielt.

*

Als sie an den Festplatz kamen, waren alle Lichter gelöscht, – das Schauspiel aus, die Herrschaften zur Tafel gegangen.

Er hatte Goethe zu sehen versäumt!

Und wie er sich dessen inne ward, ganz verblüfft stand, war ihm das feuchte Nixlein schon von der Seite gekommen, entwischt wie ein Zauber – unter einer Gruppe von Leuten verschwunden.

Er lief ihr nach, – er suchte sie – suchte sie bis spät in die Nacht, wie ein Unsinniger. Einmal war es ihm, als sähe er sie auf dem Tanzplatz unter der großen Linde im Gutshof, im Arm eines vornehmen Herrn mit dahinrasen, als er aber näher hinzukam, war sie wieder im Gedräng verschwunden.

*

Abgemattet kam er gegen Morgen in Weimar an, mit wirrem Kopf; trostlos, etwas Köstliches verloren zu haben und Goethe nicht gesehen zu haben.

Und er hatte kein Glück, während seines Aufenthalts in Weimar bekam er ihn auch nicht zu sehen.

Das hatte er verscherzt.

Das Angedenken, das ihm Lorchen hinterlassen hatte, war ein rotes, ovales Muschelstück mit einer Gemme darauf, ein Apollokopf mit Sonnenstrahlenkrone, und er ließ noch in Weimar dieses kleine Pfand zum Ringlein umbilden und trug es sein Lebtag.

 


 


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