Helene Böhlau
Das Recht der Mutter
Helene Böhlau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Buch.

Erstes Kapitel.

Nach einem milden Vorfrühling, der schon alle Knospen und Keime berührt hatte, daß sie feucht in jenem lebendigen rötlichen Braun schimmerten, war ein harter Nachwinter hereingebrochen. Der Märzenwind, der schon so lind gewesen, daß er in kleinen Blumenhäuptchen gespielt, daß er den zarten weichen Veilchenduft von den Hecken hergeweht hatte, war umgeschlagen, und die Härte und Schärfe, die auch versteckt in seinem wärmsten Hauche liegt, hatte die Oberhand gewonnen und Regen und Schneewolken vor sich hergetrieben.

Auf die ungeduldigen Keime, die die Knospen sprengen wollten, war Schnee gefallen und ihr Eifer wurde abgekühlt; die Veilchen, die sich unter der kalten Decke zusammenduckten, hatten ihren Duft verloren. Die Stare pfiffen kläglich auf höchsten Baumgipfeln ihr Abendlied im Schnee – und dem ersehnten Frühling war ein kurzer Einhalt gethan.

Auf einen Waldweg, der unter jungen Buchen hinführte, war in glitzernden Kristallen der hartkrustige Schnee gefallen, der sich wie ein Eisüberzug um die Zweige gelegt hatte. Die Sonne hatte ihn erweicht und zum Schmelzen gebracht. Dann war wieder mit 246 Sonnenuntergang der eisige Märzwind gekommen, und so war er wieder erhärtet. Nun, um die Mittagsstunde, sprang er von den Zweigen ab und rieselte auf das gefrorene dürre Laub, das leicht mit Schnee gemischt war, und auf den schmalen Weg.

Seit Stunden mochte niemand diesen Weg beschritten haben, keine Fußspur war in das zarte Eisgeflimmer eingedrückt. Es war ein rechter Märzentag, scharf und frisch, für einen sorglosen Menschen ganz angenehm; aber für Tausende und Abertausende, die das Leben bedrückt und geschädigt hat, schwerer erträglich als eine ehrliche Winterkälte. Die schrägfallenden, scharfen, blendenden Sonnenstrahlen, der beißende Wind, die grelle Beleuchtung, alles so erregend und durchdringend.

Der Weg führt über Hügel und durch Thäler, Ausläufer des Thüringerwaldes, durch eine freundliche lichte Gegend.

Jungholz, schlanke Buchenstämme, an die sich hin und wieder Fichtenunterholz schmiegt. Leichtes Auf und Nieder der Wege und Pfade, drüben auf dem Hügel dichter Fichtenwald. Auf dem Wege unter den jungen Buchen hin geht das menschliche Wesen, das dem unberührten Pfad die ersten Fußspuren aufdrückt, ein junges Weib in einen warmen Pelz gehüllt, eine Reisetasche und ein kleines festzusammengeschnürtes Bündel in der Hand. Sie geht langsam. Ihre Gestalt und ihr Gang verraten, wie mühselig ihr das lange Wandern fällt, jetzt, so vereinsamt im eisigen Märzwind, bergauf und ab. Wohin mag sie wollen?

Wohin? Das ist die Frage für ungezählte Unglückliche. Wohin? Da würden sie uns mit ihren trüben gleichgiltigen Augen ansehen, wie aus einem 247 schweren Traum aufgeweckt. Wohin? Ja wohin? Wohin? Wohin denn? Wir wissen's nicht, wir werden getrieben, das besorgt das Elend. – Wohin? Vom Glücke, vom Wohlergehen ab, immer weiter ab von Freunden und solchen Herzen, die uns verstehen, die es gut mit uns meinten, treibt es uns – in die Vereinsamung, die für die Elenden und Verlassenen immer bereit ist. Gott weiß wohin! Fragt das dürre Laub, das der wilde Herbststurm vor sich hertreibt, wohin es will. Es giebt euch genau dieselbe Antwort. Es wird getrieben und läßt sich treiben. O ihr klugen Menschen! Jeder sieht im dichten Nebel, in dem wir leben, nur einen fahlen Schimmer des großen Tanzes, nur einen Schimmer von seinem Nächsten im Auftauchen. Wo welche hintappen, tappt alles nach, weil es wohl der rechte Weg sein muß.

Wo einer niedergetreten wird, tritt alles darauf. Wo im Dunkeln ein Raufen ist, wühlt und rauft jeder mit.

Wo einem die Schlinge um den Hals liegt, zerrt jeder daran. Es wird wohl ein löbliches Werk sein. Nur drauf! Nur mitmachen, daß man nicht von dem Weg abkommt, den alle im Dunkeln strömen, denn was die Mehrzahl thut, das nützt, das ist das Rechte! Nur nicht seitab vom Weg! Nur nichts anders als die andern wollen! –

Vom letzten Zufluchtsort hat sie ein frecher Blick vertrieben, eine freche Frage, die Todesangst, entdeckt zu werden, ihrem Schwager überliefert zu werden, diese nervöse Angst, die ihr Tag und Nacht nicht Ruhe läßt, die sie immer wieder antreibt, aufjagt.

Sie will den Ihren nicht in die Hände fallen!

248 Fort – fort – fort – immer wieder fort! –

So war sie jetzt wieder auf und davon, wie im Fieberwahn.

Sie wollte nach Blankenhain, einem kleinen Nest, von dem sie nicht mehr als den Namen wußte; nur nicht bleiben, wo sie war! – nur das nicht!

Sie hatte sich erst einen Wagen nehmen wollen – aber das kostete zu viel, das war so beschwerlich einzurichten.

Und niemand sollte wissen, wohin sie gegangen, keine Menschenseele.

Und es sollte nicht weit sein. Sie wollte langsam hingehen – immer wie im Fieber – immer in Angst wie ein verfolgtes Wild.

Sie ist jetzt in hohen Fichtenwald getreten.

Da rauschen die Baumwipfel, da ist das Licht nicht so grell, da ist tiefe Einsamkeit wie in einer leeren, kalten Kirche.

Das Grün der alten Tannen nach all dem hellen Licht!

Da sinkt das arme Geschöpf in Verzweiflung hin, als wäre hier ihr Ziel.

Sie kann nicht mehr weiter! Ein Gefühl, das sie erstarren läßt, das ihr das Herz still stehen läßt, ist über sie gekommen.

Sie liegt unter einem Baum, den Kopf auf dem Arm.

In ihren Zügen Verzweiflung und Angst.

Herr Gott – wäre sie nicht gegangen!

Da war es – das Bange – Angstvolle – das Schreckliche.

249 »Mamachen! Mamachen!« schreit sie aus, als wäre ihr ein Todesstoß gegeben.

Aber die verzweifelte, einsame Stimme verklingt, die alten Tannen rauschen vor sich hin, wie in tiefen Gedanken. Die Erde ist kalt und hart, die Lust scharf und durchdringend. – Sie ist allein und hilflos, in der schweren Stunde alles Beistands bar.

Und »Ker!« und »Ker!« jammert die unglückliche Kreatur.

Das Rauschen im Walde wird dumpfer, verhaucht, schwillt wieder an. Ein Vogel pfeift in der kalten Luft sein Lied: pink – pink – pink. –

Da unter ihm auf dem grünen Moos trägt ein junges Weib ein gewaltig Stück des Leidens dieser Welt, das große Leiden des Weibes, und wird wie von einem Meer von Qualen hin- und hergeworfen, von Qualen zerrissen und von Herzensjammer gepackt. Stunden vergehen, langsam, langsam, langsam und seelenerdrückend, wie Ewigkeiten.

Die Qual steigt und steigt, wird unerhört. Das geheimnisvollste Ereignis des Lebens schreitet erbarmungslos über das arme Geschöpf, als wollte es sie zermalmen und vernichten. Der gemarterte Körper zuckt und ringt. Sie hört ihre eigene Stimme, und graust sich vor dieser Stimme – dieser jämmerlichen, gemarterten Stimme.

Die Abendsonne scheint jetzt rosig auf die Fichtenstämme, die Schatten werden länger.

Während sie mit Schmerz und Angst kämpft, zieht durch ihre Seele eine Flut von Bildern – ihr ganzes Leben – ruhige, heitere Bilder aus ihrer Heimat, Erlebnisse mit ihren Eltern, alles so behaglich, so reich, so 250 liebevoll. – Wie diese Bilder weh' thun! Wie vergiftet sie sind! Und dann die schrecklichen Stimmen und Blicke, die sie strafen, die sie in die fremde Welt hinausgejagt haben, die sie noch immer jagen. Diese Blicke, die ihr das Herz, ihr ganzes Wesen mit Schmach beluden, mit so ekelhafter, unerträglicher Schmach.

Sie sieht im Geist die wohlgepflegte Hand ihres Schwagers, die glänzende Manschette und fühlt den Schlag auf ihrer Wange, diesen entehrenden Schlag, den sie bis ans Lebensende fühlen wird.

Sie empfindet den sonderbaren Kontrast zwischen ihrer Schwester und ihrer Lage jetzt so lächerlich grell, so schneidend schmerzhaft.

Da schreit sie wild auf.

Es ist kein Traum, es ist da.

Sie hat ja alles mit erlebt! All diese Sorge – diese Umsicht – dieses Bangen – dieses Helfen – das Hätscheln und Trösten.

Sie faßt die Möglichkeit der Gegenwart nicht mehr.

Die Gedanken verwirren sich ihr. Sie leidet gräßlich.

»Wie ein Tier! – Wie ein Tier!« schreit sie wieder.

Ihr Gesicht ist verzerrt.

– Und die Abendsonnenschatten werden immer länger – das Rauschen der Tannenwipfel wie schlaftrunken. –

Das leise Piepen der Vögel.

Alles neigt sich der Nacht zu.

Die geheimnisvolle Abendstille sinkt auf den Wald nieder und bringt jenes Schweigen, jenen urweltlichen Frieden, der im dichten Tannenwald zur Dämmerstunde 251 wie ein Traum aus der uralten Erde jungen Tagen aufsteigt. Und die Tannen rauschen die gewaltige Melodie dazu.

* * *

In der Waldesdämmerung liegt ein zermartertes, zerrissenes Tier mit irrem, wilden Blick – und was es thut, wie es sich hilft, thut es in dumpfer Raserei.

* * *

»Mein Kindchen! – – – Mein Kindchen – – – Mein armes, armes Kindchen!«

Das ist eine Stimme, eine so unsäglich rührende Stimme, wie aus einer andern Welt; so treu, so übermenschlich gut, so hinsterbend.

Das heißeste erste Liebeswort ist kalt dagegen.

Und das zerrissene, verlassene Geschöpf drückt etwas an ihre Brust, warm angeschmiegt, unter ihrem Pelz ganz eingehüllt – und die armen, zitternden, schwachen Hände halten es, so bang, als sollte es ihr genommen werden.

Sie denkt nicht an die Nacht, die hereinbrechen wird – an nichts – an nichts auf der Welt – nicht was sie thun soll – nicht was sie thun kann, nicht was ihrer in der kalten, dunkeln, einsamen Nacht wartet – nicht an den Tod – an nichts. – Eine unsägliche Schwäche ist über sie gekommen, eine Todesmattigkeit – nichts weiß und sieht sie mehr – wie ein weißer Dunst ist es über sie gefallen, nur das winzige Wesen an ihrer Brust empfindet sie – wärmt sie – jede, auch die leiseste Bewegung von ihm durchströmt sie, wie etwas Ungeahntes, Unwahrscheinliches, – und sie sinkt tiefer, 252 tiefer in den weißen Nebel, der über sie gefallen ist – – – und sie ist so matt, so unaussprechlich matt. Es liegt so schwer auf ihren Augen. Die Augen fallen ihr zu. Aber sie will nicht einschlafen, sie will wachen.

Da liegt sie in der Nacht, der schrecklichen, heiligen Nacht. Da hört sie eben Kers Stimme. – Sie sieht ihn noch nicht – aber sie hört die Stimme! – Sie ist so froh die Stimme zu hören, und jetzt fühlt sie das leise Sichregen an ihrer Brust – da denkt sie – träumt sie. – – Sie weiß, was sie im Arm hält – weiß es nicht – sie hält es auch noch ein wenig fester, es soll ganz warm an der Brust liegen. – Sie hört einen ganz feinen, feinen Atem unter ihrem weichen Pelz. Aber die leuchtende Nacht liegt doch auf ihren Augen – und das ferne Meeresrauschen hört sie auch. Über sich? Liegt sie denn auf dem Meeresgrund? Sind die Wellen so weiß und leuchtend, die über sie hingehen? – Und wie sie sie einschläfern! – so wie nichts auf der Welt – und wie sie ihr schwer auf die Augen drücken – Und jetzt hört sie wieder Kers Stimme – und sie denkt, daß sie ihm alles – alles – alles erzählen will – alles – alles – alles. – – –

Sie hört seine Schritte – nun wird sie ihn sehen – bald. – Sie möchte aufstehen. – Sie will zu ihm gehen. – Sie kann aber nicht. – Ihre Hand hält den Pelz auf der Brust zusammen, damit das Kleine nicht von der kalten Luft getroffen werden kann. – Es bewegt sich jetzt ganz leise. – Sie fühlt so ein winziges Händchen oder ein Füßchen ganz deutlich. – Das durchschauert sie, und wieder wogt es über sie und legt sich ihr zentnerschwer auf das Herz. Sie hört Schritte, ihr sind es Kers Schritte. – Da war es ihr, als wenn sie selbst gerufen hätte – so wie ein Schmerzensschrei war es gewesen. – Sie wollte 253 nach Ker rufen; aber es ging nicht. – Sie rief nicht. – Sie konnte den Namen nicht rufen, die Zunge war ihr so schwer.

Aber die Schritte – die Schritte – immer die Schritte, und jetzt raschelt es um sie herum.

Da hält sie ihr Kindchen enger an sich – und kämpft, sie will die schwere, wogende Decke von den Augen haben – und sie stöhnt dabei leise – das hört sie, als stöhnte eine andere – und endlich – endlich bringt sie die verwirrten Augen auf. – Wie schwer das war! Da sieht sie tiefe Dämmerung um sich her. Den ersten Augenblick scheint es ihr ganz dunkel zu sein, aber nach und nach erkennt sie alles um sich her. Da steht eine Gestalt vor ihr, ein altes Weib mit einem Reisigbündel auf dem Rücken, die Arme eingestemmt. Wie kam denn die her? Und das alte Weib schaut so auf sie hin, so wie auf etwas, was sie gefunden und was sie betrachtet, so wie auf ein Wild etwa. Da fährt es Kristine angstvoll durch den Kopf, daß das Weib wohl wieder gehen könne.

* * *

Kristine hatte die Augen jetzt weit offen – aber sie war so sinnlos, daß sie sich nicht fassen konnte. Sie wollte etwas sagen; aber sie konnte nicht.

Da schlug sie ein ganz klein wenig den Pelz auseinander, und aus der kleinen Lücke im Pelz da zappelten winzige Fingerchen hervor.

Da schüttelte das Weib mürrisch den Kopf und brummte etwas und stand und schaute immer noch, ganz so, als hätte sie ein Wild gefunden, so betrachtend, als 254 wäre, was sie gefunden, nicht ihresgleichen – und Kristine fielen die Augen wieder zu.

Das alte Weib sprach zu sich selbst: »Die müssen wir nun schon mitnehmen – jo – jo – jo – das müssen wir – das müssen wir mitnehmen. Jo – und schlafen – das wär mer jetzt das Rechte.« Damit rüttelte sie Kristine ein wenig. – »Ja schlafen! So viel muß sie nun schon noch Kraft haben wie bis zu mir – so ein paar Schritt – so eine vornehme Dame. Jo – jo – jo!«

Jetzt setzte sie das Reisigbündel ab.

»Gehen Se her –« murmelte das Weib und griff nach dem Bündelchen, das neben Kristinen aufgeknüpft lag.

»Windelchen! Windeln oh jeh!« Da kicherte das alte Weib ganz eigen, ganz sonderbar, als hätte sie bei einem jungen Rehkalb Windeln gefunden – und mit ungeschickten Fingern hielt sie Kristinen allerlei aus dem Bündel hin.

»Nun geht's schon – nun geht's schon, das wickeln wir ums Kind – dann geht's schon, dann geht's schon.« –

Kristine that, wie die Frau sagte, mit übermenschlicher Anstrengung; ganz schwindelnd, im Traum that sie's, aber ohne daß das Kleine aus dem warmen Pelz herausgeschaut hätte. Dann wollte die Alte Kristinen das Kind abnehmen, sie hielt schon ihre Schürze dazu bereit.

Aber Kristine behielt es fest im Arm und schüttelte leise den Kopf.

»Gut, gut – mir auch recht, sie wird schon ihre Not haben mit dem Fortkommen« – sagte die Alte kopfnickend zu sich selbst – »wird sie schon haben – uh – je!«

255 Jetzt zog sie Kristinen an der Hand in die Höhe, die nun wie betäubt und schwankend dastand.

»So – und so ein paar Schrittchen, das macht sich nu schon – das thut sich schon. – Wir sind ja schon da.«

So gingen sie langsam voran.

Die Alte mit ihrem Reisigbündel blieb stehen und sah Kristinen, die hinter ihr her kam, in das totenbleiche, verzerrte Gesicht. »Haben wir denn keine Mutter?«

Sie bekam aber keine Antwort.

»Ist noch nicht wieder bei Verstand,« erläuterte es sich die Alte selbst.

»Nur immer Achtchen geben – jetzt gehen wir so, halten Sie sich so an mein Bündel an – thut sich schon – thut sich schon – gleich sin mer da, nur immer langsam – langsam – langsam – sachtchen – nur immer sachtchen.

»So, da hätten wir wieder ein Wickelkind mehr auf Erden« – murmelte die Alte – »mir ist's recht, wenn's ihm auch recht ist. – Nur immer zu. – Unsereins würde sich besinnen, noch einmal zu kommen. – Nicht um ein paar hundert Mark thut's unsereins.

»Ist mer erscht unterm Rasen, da weiß mer, was mer hat – jo – jo.«

Die Alte nickte vor sich hin und murmelte:

»Sachtchen – sachtchen – nur immer sachtchen,« und murmelte weiter:

»Und gar so unter die vornehmen Leute neingeraten, wenn's einen nicht wollen – uh je! – uh je! Was werden die nun mit dem Kind angeben? Ja, wenn sie's wegblasen könnten! – dann schon – dann schon.«

»Eh, was weiß ich? Die vornehmen Leute! Daß 256 Gott erbarm! Oben hui, unten pfui. – Nur immer grinsen, und fein thun, immer schwänzeln –

»Bei uns heißt's, Kind is Kind – Weibsbild is Weibsbild – wenn's sonst brav is, wenn's keine von den Menschern is – und sich nichts zu schulden hat kommen lassen – und wenn's ihr Kind gut durchbringt – auch gut – auch gut – und wann's alt is, hat es seine Stütze, eine eheliche oder eine uneheliche,« da lachte das alte Weib vor sich hin, »wann's nur eine hat. Es is nich gut, daß der Mensch allein is – wie so ein alter Strunk im Winter – oh jeh, oh jeh, oh jeh!« seufzte sie tief.

»Was wird denn Rotplätz aber sagen?«

Die Alte blieb stehen. – »Jetzt is er schon daheim, der wird gucken – ei du mein Gott – wird der gucken! Gelle ja?

»Mein Bett trägt er mir gleich in die Kammer. – In der Küche, das is nichts, die Hühner – das is nichts.« –

So summte und brummte die Alte ihre Gedanken laut weiter, wußte es selbst nicht, und Kristine hörte und sah nichts, die Alte zog sie mit sich fort.

»Langsam – ganz langsam. – Sachtchen, nur sachtchen,« brummte die Alte, »na noch ein paar Schrittchen – das thut sich schon – immer sachtchen, sachtchen!

»Thee den mach ich ihr, so lang der Rotplätz das Bett aufstellt – Erdbeerblattthee – das wär'sch. – Die kann lache – Erdbeerblattthee – der wird's schmecke.

»Die Kleie in der Kammer, die thut kei Menschen was, die soll der Rotplätz mir ja liege lasse, – der 257 Tausendsakrementer – das Fenster soll er aber verstopfen, und feuern – einfeuern thu ich – das macht das Mannsvolk ewig nich recht – das bringt man dem Mannsvolk nich bei – Rotplätzen schon gar nich. Zahlen thut sie mir schon – mein' schon.« – Die Alte sah prüfend auf Kristine.

»Aber die Treppe, kommt sie denn die Treppe 'nauf? Wohl, wohl, so ein junges Mägen, wohl schon, gelle ja?

»Fürs Kleine da nehmen wir den alten Waschkorb, und Heu und ein Lappen find't sich auch. –

»Sie wird mich schon zahlen – sie wird's schon.

»Zudecken kann sie sich gleich mit ihrem Pelz.

»Na, da wären wir ja, – – richtig, Rotplätz hat schon Licht – das schon – dann is er auch daheim, – na, der muß mir gleich daran, der wird den Kindern jetzt das Abendbrot kochen.«

In der tiefen Dämmerung, keine fünfzig Schritt von dem Fleck, auf dem die Alte das Mädchen gefunden, sah man ein einstöckiges, einsames Haus mit hohem Dach und hohen Fenstern, auf das sie zugingen, ein ganz einsames Haus, es mochte ein alter Landsitz sein; aber selbst in der Dämmerung machte es einen verlassenen, verfallenen Eindruck; ganz am Waldrand stand es, und ein breiter Weg mit uralten Kirschbäumen bepflanzt führte auf das Haus zu, und im Erdgeschoß war ein erleuchtetes Fenster zu sehen; die Hälfte der Scheiben war aber mit Brettern vernagelt.

Und wie die Alte vor sich hingemurmelt hatte, so geschah alles. Rotplätz wunderte sich – Rotplätz trug das Bett aus der Küche in die Kammer, in der die Kleie lag.

258 Rotplätz war ein langer, knochiger Mensch in einer kurzen Jacke und lehmfarbenen Hosen. Er hatte ein freundliches Gesicht und schob den Kopf vor wie eine Schildkröte und machte keine Bewegung, ohne daß zwei kleine Buben hinter ihm drein waren.

Kristine lehnte mit dem Kindchen in der kleinen kalten Küche, auf der Bank am Ofen, ohne sich zu regen, ganz stumpf; und um sie her wirtschafteten die Alte und Rotplätz.

In der Nebenstube arbeiteten sie an einem eisernen Öfchen, man hörte sie pusten und blasen und murmeln und hörte das Feuer prasseln, und Wasser setzten sie auf.

Und nicht lange dauerte es, da lag Kristine in dem Bett der Alten in einer Stube, die nach Kleie roch; der kleine Ofen glühte; Rotplätz hatte auch ein Nachtlicht, das in einem zerbrochenen Kaffeekännchen still brannte, hingesetzt; ›aus der Fabrik‹ hatte er gesagt und auf das Kännchen gewiesen.

Kristine hatte auch Erdbeerblattthee bekommen – und jetzt lag sie ganz ruhig. Die Wände des Zimmers, das einmal bessere Tage vor langer Zeit gesehen hatte, waren sonderbar bemalt. An einer Wand ein sehr zerkratzter und verschabter, feuerspeiender Berg, der mit seinen Funken und Flammen und einer fürchterlichen Dampfwolke die ganze Höhe und Breite der Wand einnahm, die er seit langer Zeit wohl schmücken mochte; und die anderen Wände waren geziert mit lebensgroßen Jägersleuten, die teils die Hände in Muffen hielten, teils nicht, und denen im Lauf der Zeit übel mitgespielt worden war. Sie hatten Nägel in den Nasen, den Augen, Nägellöcher in der Brust, es fehlten ihnen Arme und 259 Beine, manchen fehlte der Leib, manchen der Kopf – aber im großen und ganzen waren sie doch alle noch da und nahmen sich merkwürdig aus.

Die Alte brömmelte in der Küche vor sich hin, klapperte und wirtschaftete. Sie hatten auch das Kindchen in einem alten Backtrog gebadet. Jetzt schaute die Alte zur Thür herein und sah nach Kristinen, und wie sie die so still fand, da schloß sie leise die Thür. Kristine sah noch eine Weile vor sich hin – und neben ihr aus dem Waschkorb, aus dem Heu, da drang so ein feines, feines, frühlinghaftes, wunderzartes, kleines Stimmchen und diese Tönchen drängten sich ihr ans Herz und durchschauerten ihr Seele und Körper. Die ganze Welt – alles – alles versank, nichts hielt diesen kaum vernehmbaren winzigen Lauten stand. – Alles Leid nicht, alle Todesqual nicht, keine Erinnerung, und bald schlief auch Kristine neben dem Kindchen tief und ruhig.

* * *

Zur Stunde, als Kristine und das Kindchen gebettet waren, das eiserne Öfchen fauchte, die Wipfel der Tannen vor dem alten verlassenen Landhause nächtlich rauschten, das Nachtlicht in der zerbrochenen Kaffeekanne flackerte, und das Kindchen so ruhig und fein in seinem Heubettchen schnaufte und fiebte, und Kristine in tiefen Schlaf gesunken war, der Duft des Erdbeerblätterthees noch zart die kleine schwarze Küche durchzog und im Zimmer sich mit dem Kleiegeruch verband, lebten sie in Jena im Ungewissen über Kristinens Schicksal.

Mathilde Swensen und Frau Professor Majunke waren Frau Ahrensee unerbittlich zur Seite in jedem Augenblick.

260 Die arme, aus dem Glück vertriebene rosige Frau stand ratlos zwischen ihnen und ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter Olga, und wußte nicht ein und nicht aus. Sie war wie ein Vogel, den der Sturmwind aus dem Nest geschleudert hatte. Wohin er sie geschleudert, das war ihr so fremd, so unbegreiflich. Sie hatte nur ihr Nest gekannt, von der ganzen weiten Welt nichts als ihr Nest – und alle, die darin ein- und ausflogen, hatte sie so sehr geliebt und war so glücklich mit ihnen gewesen. Und nun alles fort, – lauter fremde Leute! – Olga – da war auch so etwas fremdes dabei, und was sie zuerst im Glücke bewundert, Olgas Sicherheit in allen Dingen, die Fehlerlosigkeit im Hausstande, die Eleganz, die Vollkommenheit in allen Dingen in der Villa, bei all dem wurde ihr jetzt so bitter weh, es legte sich ihr alles so fremd wie ein eisiger Reif ums Herz. Ihr Heim, ihr guter Mann, ihr armes Kind, von dem sie nicht wußte, wohin es sich gewendet – das war ihre Welt, in der sie scheu in Erinnerung und in Angst und Bangen lebte.

Die ruhige, glückliche Frau Ahrensee, die ihr Lebtag keinen Kummer kannte, die ihrem Hauswesen friedlich und frei und stolz vorgestanden hatte, die nichts schöneres, nichts besseres wußte, als ihre Familie, die hatte so etwas Verängstigtes bekommen, ihre hohe, weiche Gestalt hielt sich nachlässig vorgebeugt, ihr immer hübsch frisiertes blondes, welliges Haar war nur so zur Not gleichgiltig ein wenig zusammengesteckt. Sie erschrak bei jedem Thürgehen, bei jedem Geräusch, errötete wie schuldbewußt, wenn ihr Schwiegersohn sie anredete, grübelte vor sich hin, ohne zu wagen, mit irgend einer Seele offen zu reden und sich auszusprechen, und führte in allem 261 Behagen ein jämmerliches Leben seit dem Tode ihres Mannes und seit dem Tode – Kristinens. Sie wagte selbst nicht anders von ihr zu sprechen, wenn sie mit ihrem Schwiegersohn und Professor Majunkes und Mathilde zusammen war, als von einer Toten – sie wagte es nicht anders; und mit fremden Leuten da mußte sie ganz gleichgiltig von ihr sprechen, von einer Reise, von einer Verwandten, so etwas, sie wußte selbst nicht recht was. Es mußte so sein. In ihrem armen Kopf sah es verwirrt aus, und das Herz wollte ihr vor Jammer oft brechen.

Wie ein furchtbares Urteil, wie ein Todesurteil sah sie es über Kristinen liegen, und kein Mensch konnte dies Urteil ändern; es lag nun einmal unerbittlich auf ihr. Sie brauchte nur die Blicke, unter deren Bann sie lebte, sich zu vergegenwärtigen, – da war kein Erbarmen, da war kein Abweichen von dem, was sie wollten, da war alles ehern und unbeugsam. Ja, und all diese Blicke, die das Todesurteil in sich trugen, konnten lächeln, ganz unschuldig und höflich lächeln, mit fremden Menschen lächeln, konnten so harmlos blicken. Kristine war aus dem Kreise der Lebenden gestrichen, war ausgewischt, sie blickten schon über sie hinweg. – Annuschka war nach Finnland zurückgeschickt. Man hatte von ihr befürchtet, daß sie in ihrer wilden Aufregung, in ihrer wütenden Sehnsucht nach Kristine alles verraten könnte.

Sie hatte nachts vor Frau Ahrensees Bett gelegen, und Frau Ahrensee hatte sie heiß schluchzen hören, so in die Kissen hinein, so versteckt, Nacht für Nacht. Sie weinte auch, wie man nur über eine Tote weinen kann.

»Zu Kind müssen Frau gehen; wo sein Kind?« hatte sie Frau Ahrensee in jeder Nacht zugeflüstert. »Bald 262 müssen Frau gehen zu unser armes Kind; mich mitgehen!«

Annuschka hatte Frau Ahrensee tief erregt durch ihr nächtliches Schluchzen und durch jedes Wort, was sie da sprach.

Annuschka hatte an ihr gezerrt, wie an einer Pflanze, die sie aus dem Boden reißen wollte. Ja, Annuschka begriff nicht, wie die Menschen ganz wie Pflanzen festgewachsen sind, von Menschenfurcht, und von Vorurteilen und von Angewöhnungen, von Gesetzen und Sitten und Meinungen fester gehalten werden, als die Pflanze vom Erdreich. Annuschka begriff das nicht. Sie sah Frau Ahrensee völlig frei umhergehen und begriff nicht, wie sie bleiben konnte. Sie brauchte ja nur zu laufen, dann wäre sie da, wo sie sein sollte.

»Warum Frau nicht gehen? Warum Frau nicht gehen?« hatte sie wie zu einer Verrückten Nacht für Nacht gejammert, und hatte ihr die Hände geküßt und immer wieder geküßt, und hatte den tollen Kopf geschüttelt und wütend geschluchzt, so fassungslos, so unsinnig, daß man sie nicht länger behalten konnte. Sie hätte das ganze Haus rebellisch gemacht.

Und der Abschied von Annuschka, wie war der Frau Ahrensee bitter schwer geworden. Sie erschrak fast vor sich selbst, wie heftig sie an der unsinnigen Annuschka hing, an einem so weit unter ihr stehenden Wesen –; aber es war, wie es war: Annuschka stand ihrer Seele jetzt näher, als alle miteinander – und war ihr nun auch genommen. Und als Annuschka so stumpf und starr mit ihrer Reisebegleitung, die sich für sie gefunden hatte, fortgeschafft wurde, da schnürte es Frau Ahrensee die Kehle zu. Nur Mathilde jetzt nicht sehen, dachte sie damals, Mathilde, die Annuschka nie leiden konnte, und 263 die es für notwendig gehalten hatte, Annuschka nach Hause zu schicken.

Frau Ahrensee wurde von ihren Angehörigen mit außerordentlicher, gewissermaßen weihevoller Achtung behandelt, so etwa, als hätten sie unter sich eine Märtyrerin und Heilige; aber diese Ehrfurcht vor ihrem großen Schmerz, diese Achtung und diese Weihe beengten ihr das Herz wie dicke Weihrauchnebel. Es legte sich alles wie schwere Fesseln auf sie. Und diese Ordnung, diese vollendete Lebensführung, die Eleganz, die Vortrefflichkeit, Vornehmheit ihrer Umgebung, die alles erstickte und erdrückte, die mit jedem Opfer, mit jeder Lüge erhalten, um keinen Preis getrübt werden durfte, die zu erhalten jeder zu lächeln, jeder harmlos zu sein bemüht war, – wie sie das alles fürchtete!

* * *

Und mit der Zeit, da sickerte ein Gerücht durch bis in die Villa mit allem Komfort der Neuzeit, wo man Kristine zu suchen habe, erst ganz ungewiß, unglaublich, doch nahm es mehr und mehr Gestalt an. Und als eine Schickung Gottes konnte man es ansehen, daß dies Gerücht gerade in die Villa sickerte und nirgends anders hin.

Durch die ausgezeichnete Amme kam es auf, die aus der Gegend war, in der sich Kristinens jammervollste Zeit abgespielt hatte.

Frau Ahrensee erfuhr von diesem Gerüchte, seinem Auftauchen, seinem Deutlicherwerden nichts, alles spielte sich zwischen dem Professor, Frau Professor Majunke und Mathilden ab.

* * *

264 An einem Abend ging es bei Professor Majunkes höchst lebhaft zu, so lebhaft, daß es selbst Frau Majunke hätte zu bunt werden können, wenn es nicht eben Frau Majunke gewesen wäre. Die Kinder waren Gott Lob schon zu Bette gebracht, aber lärmten noch gehörig und vergnügten sich auf ihre Art; sie spuckten heute aus den Betten nach bestimmten Zielen, die aber bei der schwachen Beleuchtung der russigen Lampe nicht leicht zu treffen waren, so daß eine arge Munitionsverschwendung stattfand. Einmal sollte Bimm Bimm das Ziel sein, das dauerte aber nicht lange. Bimm Bimm mißfiel dieser Posten, und er als Ziel spuckte wütend wieder zurück, woraus ein gewaltiger Skandal entstand.

Diesen Hauptskandal zu schlichten, stürzte Frau Professor Majunke herein; aber da heute die letzte Probe eines Polterabendscherzes stattfinden sollte, war sie schon im Kostüm, und zwar im Phantasiekostüm einer wahrsagenden Zigeunerin.

Frau Professor Majunke hatte aber die Wirkung bei ihrem Eintritt nicht berechnet.

Und diese Wirkung war: zuerst lautlose Stille, dann aber brach etwas selbst bei Professor Majunkes nicht Gewohntes aus, ein Entzücken, ein Geschrei, ein Wüten der Begeisterung. Alles war auf den nackten Beinen, alles umringte die verwandelte Mutter mit Tönen, die nichts Menschliches mehr hatten; die Majunkeschen Kinder waren außer sich.

Sie wußten ja, daß die Mutter eine Vorstellung geben würde; aber sie hatten sich nicht übermäßig dafür interessiert – und jetzt mit einemmal diese Erscheinung! Heller Tafft mit Flittern, das brachte die Gemüter in die unglaublichste Verfassung. Es reichten wirklich alle 265 Jubeltöne für diese Verfassung nicht aus. Die überreizten, gespindelten, schlecht genährten, überangestrengten Naturen hatten durchaus keinen Widerstand; wenn irgend etwas Überraschendes sie traf, so gerieten sie in Zuckungen und Verrenkungen, schlugen Purzelbäume, standen Kopf aus Nervosität, waren wie elektrisch überladen und sprühten Funken.

Worte wirkten jetzt durchaus nichts, so wenig, wie bei Verrückten. Das wußte das Ehepaar Professor Majunke sehr wohl. Deshalb rief auch Frau Majunke in ihrer Bedrängnis: »Papachen! Papachen!«

Und es währte auch durchaus nicht lange, und Herr Majunke erschien mit dem schon oft erprobten Mittel.

Dieses Mittel fuhr zwischen die unglücklichen Apostel, so daß sie in zuckender schlenkernder Hast in die Betten hüpften. Es schellte draußen – es schellte noch einmal. Frau Professor Majunke rief ratlos: »Herr Gott im Himmel, das sind die Damen vom Vorstand schon! Heut' geht's auch wie im Taubenschlag!« Sie suchte und kramte: »Herr Gott des Himmels, wo mag denn mein Regenmantel sein?!« Es schellte noch einmal. Endlich fand sich der Regenmantel, nach dem Frau Professor Majunke ganz verzweifelt umhergesprungen war, er fand sich irgendwo, wo kein Mensch ihn vermutet hatte. Es schellte noch einmal – das viertemal. Frau Professor Majunke wickelte sich in ihren Mantel, öffnete und in der That, es waren die Damen des Vorstandes des Magdalenenvereins zur Hebung der Sittlichkeit. Die monatlichen Vorstandssitzungen wurden seit Jahren bei Frau Professor Majunke abgehalten.

Als Frau Professor Majunke die Damen in das Familienzimmer geführt hatte, machte sich Herr Professor 266 Majunke aus dem Staube, denn es war nun kein Zimmer mehr frei. In seinem Studierzimmer saß jetzt die Flickerin, im langen Zimmer lagen die Apostel, im Familienzimmer arrangierte sich eben die Sitzung.

Die Damen, die jetzt vollzählig erschienen waren, – es hatte noch verschiedene Male geschellt, und Frau Professor Majunke hatte jedesmal in dem Regenmantel geöffnet, – waren ganz aus dem Häuschen, als Frau Professor Majunke mit einigen passenden Worten sich endlich ihres Regenmantels entledigte und sich präsentierte.

»Dieses Frauchen! Dieses Frauchen!« riefen einige ältere Damen ganz überwältigt. »Da sollte man sich ein Beispiel nehmen, was die alles zustande bringt!«

Frau Professor Majunke war heute, wie gesagt, von den verschiedensten Seiten aus allen Ecken und Enden beeinflußt.

Das alte Prokrustes-Bett, die Zeit, meine ich, das für die Begebenheiten bald zu kurz, bald zu lang ist, hatte sich heute wieder in seiner dämonischsten Eigenschaft bei Professor Majunkes unheimlich geltend gemacht; endlich, nach dieser Polterabendprobe, stand den beiden Unzertrennlichen, Frau Professor Majunke und Mathilde, auch noch eine wichtige Aufgabe bevor: Reisevorbereitungen! Sie wollten morgen mit dem frühesten Zuge sich auf den Weg machen, um Kristine aufzusuchen. Zum größten Teil war alles schon vorbereitet, und ein ausgezeichneter Kostplatz für das Kind war auch schon gefunden.

Die Station auf dem Weg zu Kristine, wo man zu Mittag speisen und das Wirtshaus, wo Kaffee getrunken werden sollte, und der Bäcker, von dem Kuchenproviant mitgenommen werden sollte, war vorsorglich bestimmt. Und so war alles gar wohl vorbereitet, – christliche 267 und Nächstenliebe spielten eine große Rolle bei diesen Vorbereitungen – und mit einem Kuß innigen Einverständnisses trennten sich die beiden Gefährtinnen an diesem Abend, an dem Frau Professor Majunke so vielerlei bewältigt und zum guten Ende gebracht hatte. 268

 


 


 << zurück weiter >>