Helene Böhlau
Das Recht der Mutter
Helene Böhlau

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Viertes Kapitel.

Man sprach von Kers Abreise in dem ruhigen Ton, mit dem man von der Abreise eines Gastes spricht, der für wenige Tage vorübergehend im Hause sich aufhält. Kristinen aber war es bei diesen selbstverständlichen Worten, als wäre für sie das Ende gekommen. Sie blickte hilfesuchend zu ihrem Vater, ging zu ihm, schmiegte sich an seine Brust, und hielt ihn angstvoll umschlungen. Da frug er sie lächelnd: »Was ist dir, mein Herz?«

Sie antwortete nicht.

»Wenn du heut' abend Lust hast, komm' ich in dein Zimmer, und du singst mir deine neuen Lieder vor. Gestern wolltest du es, und da haben wir es beide vergessen.«

Kristine nickte ihm zu und lächelte; aber ihr Lächeln verriet, wie tief bewegt sie war.

Ahrensee sah ihr, als sie von ihm gegangen war, sorgenvoll nach. Er dachte: was für ein zartes, bewegliches Herz hat meine kleine Kristel.

»Armes Kind!« und er hörte sie im Geist ihr Kylliki singen.

»Wie sie alles erfaßt! Was hat sie an dem närrischen Lied? Wenn man so ein Engelskind behalten und mitnehmen könnte.«

Fuhks, dem mehr als allen anderen Kristinens 134 Verstummen aufgefallen war, wanderte mit Ker im Garten auf und nieder, bis sie auf Kristine trafen.

Und Ker faßt Kristinens Hand und sagt: »Morgen früh geht das Schiff. Wer weiß, ob wir uns wiedersehn. Sie sollen glücklich werden!«

Kristine sieht ihn traurig fragend an, darauf trennt man sich wieder, und Fuhks schüttelt im Weitergehen den Kopf und wendet sich zu Ker.

»Nun möcht' ich wissen, Ker, was das bedeutet?«

* * *

Am Abend gingen Kristine und ihr Vater miteinander die uns wohlbekannte teppichbelegte Treppe hinab, über deren niedere breite Stufen es sich so behaglich schreiten ließ. In Kristinens Zimmer angelangt, lehnte sich Ahrensee dicht am Flügel in einen Sessel zurück, und Kristine setzte sich. Ohne ein Wort zu reden, fing sie leise zu spielen und noch leiser zu singen an.

»Werde du mir nur kein trauriger Narr, Kristel. Es ist bös, dies ewige Kranksein, ich fühl's, ich werde mürrisch und alt – alt – alt – und da mußt du mir helfen. Ich lebe von deiner Heiterkeit. Was war dir denn heute, mein Kind?«

»Nichts!« rief Kristel lebhaft und flog ihrem Vater um den Hals. – »Nichts – gar nichts,« rief sie noch einmal leidenschaftlich und innig – machte sich von ihm los, so aber, daß ihre Hände noch auf seinen Schultern lagen und blickte ihm in die Augen. Da kam er ihr in Wahrheit krank und abgemagert, leidend und alt – alt vor, daß ein unsagbares Weh sie ergriff. – Seine Bitte, ihm zu helfen, ihn zu erheitern, 135 durchschnitt ihr das Herz. Zum erstenmal erschien ihr ihr Vater, der für sie nichts war, als eben »ihr Vater« und mit niemandem anders vergleichbar, als alternder, kranker, armer Mensch, wie deren ungezählte in der Welt herumlaufen. Das war ihr so über alles Maß bejammernswert, daß sie ihn in die Arme schloß, schützend, wie eine Mutter ihr armes Kind, und als sie wieder sprach, da waren es Worte der zartesten, schmerzlich bewegtesten Liebe, die trösten wollten, die Hoffnung und alles Gute, was das Schicksal bietet, so überreichlich aufdrängten, wie nur ein unschuldiges, junges Menschenherz Worte findet, das noch wähnt, mit seiner Liebe könnte es Berge versetzen und das Schicksal bezwingen. Und Heinrich Ahrensee unterbrach seinen Liebling nicht; er hörte auf ihre süßen Liebes- und Hoffnungsworte, wie ein Schwerkranker den weichen, ersten Frühlingsstürmen lauscht, die an ihm vorüberziehen.

Nicht lange, da gingen sie beide in das Familienzimmer, und beide wußten einmal wieder, was sie aneinander hatten.

* * *

Fuhks war mit seinem Freunde Ker eine Stunde am Abend noch dagewesen, um Abschied zu nehmen.

Ker und Kristine hatten sich die Hand gereicht und stumm Lebewohl gesagt.

Ker hatte ihr eine kleine grünsaffiane Mappe gegeben und ihr gesagt: »Behalten Sie es. Heben Sie mir's auf.«

Und Kristine wußte, das war das hohe Lied der Liebe, und hielt es zaghaft in den Händen.

So kam sie am späten Abend mit weichem Herzen in ihr stilles Zimmer zurück. Alle im Hans waren zur 136 Ruhe gegangen. Die Flügelthür, die von ihrem Zimmer auf die Veranda hinausführte, stand weit geöffnet und die helle Nordlandsnacht drang weich und feucht in den dämmernden heimischen Raum.

Kristine lehnte sich in die offene Thür und schaute hinaus in den Garten. – Derselbe starke Seenebel wie vor wenigen Tagen lag wieder über Wiborg, dem ganzen Lande, den zarten Birken, den beschnittenen Akazienhecken, den mit grauem Moos überwucherten Irrblöcken, den Wachholderbüschen, dem feuchten, duftenden Gras, dem Meere.

Kristine schlug die grüne Mappe mit bebenden Händen auf, blätterte darin und blickte auf die Schriftzüge.

Da wurde es ihr so weit und weh ums Herz. – Er war ihr so nah und so fern zu gleicher Zeit. – Ihre Seele kam ihr so groß, so unendlich vor und erfüllt von einem ungekannten Leben.

Sie preßte die kleine Faust fest auf ihr Herz, als wollte sie es zurückhalten, so zu fühlen.

Ihre Blicke aber suchten in Kers Schriftzügen.

O, wer es mir doch gewähren könnte,
daß du mein Bruder seist,
genährt an der gleichen Mutterbrust;
daß ich dich küssen dürfte,
träf' ich dich draußen,
und niemand höhnte mich darum.
Dann brächt' ich dich, ich führte dich
in meiner Mutter Haus.
Dort füllen Edelfrüchte unsere Hürden,
alte und neue, Geliebter, für dich;
Du lehrtest mich, – ich labte dich
mit dem Safte der Granate
und mit würzigem Wein.
O, wer es mir doch gewähren könnte,
daß du mein Bruder seist.

137 Wie sich ihr das in die Seele drängte! Aufjauchzen und aufweinen hätte sie können! . . .

Sie trat auf die Veranda hinaus, schlang die Arme um eine der Stützen, die das Dach des kleinen Vorbaues trugen und versank so in Träumerei, in ein Meer banger Weltvergessenheit, in das vor ihr schon ungezählte Tausende und Abertausende in schimmernder Nacht gesunken waren, so lange die alte Welt steht. So stand Kristine und blickte mit übervollem Herzen und Thränen in den Augen hinaus in den Nebel. Da schien es ihr, als tauchte eine dunkle Gestalt auf, – und wie ein Wunder war es ihr – sie wußte, daß die Gestalt, die sie ahnte, kannte, bis in die innerste Seele schauervoll empfand, daß diese Gestalt die Augen auf sie gerichtet hatte. Wie Feuer durchrann es sie. Einen Jubelschrei hielten die jungen Lippen zurück.

Kristine, das jungfräuliche Kind, das stark und gesund und froh im Schutze der Kindheit gelebt und noch nicht über diese hinaus gefühlt hatte, – stand jetzt vor dem Geheimnis, das ihr eigenes Herz barg, unvermittelt überrascht dem großen Einen gegenüber, das wir Liebe nennen.

Sie stand und regte sich nicht – und doch, ohne daß sie es wußte, lösten sich ihre Arme von dem Holzwerk, das sie umschlungen hatten, und preßten sich gefaltet ihr aufs Herz. »Herr, mein guter Gott,« flüsterte sie wie unbewußt.

Und jetzt schlug ein Ton an ihr Ohr – ihr Name, ihr eigener unschuldiger Name! Daß er aber jetzt ausgesprochen wurde – und von ihm – das schien ihr wunderbarer als Sonne, Mond und Sterne – und der Jubelton, den vorhin die Lippen noch zurückgehalten, 138 drang ihr aus dem Herzen, wie der erste Ton der aufsteigenden Lerche im Frühjahr. Und da flimmerte es ihr unsäglich vor den Augen – da schien der Nebel zu wogen, und Himmel und Erde und alles, was sie kannte, wußte, wollte, zu verschlingen, zu verbergen – da war es ihr, als wollte eine ganze Welt sich ihr ans Herz drängen. –

Wie im Todesschreck hält sie die Arme vor sich ausgestreckt und fühlt ihre Hände erfaßt und heiße Lippen, die sich darauf pressen, fühlt sich hingezogen und ihr Haar berührt von einer hastigen Hand. Und als sie aufseufzen will im Drange der übergroßen Bewegung, da ist ihr der Mund von Küssen geschlossen.

Es vergehen ihr die Sinne, und wieder versinkt alles, was sie je erlebt, jede Stunde, jede Minute, jede Erinnerung in diesem Augenblick in den tiefen leuchtenden Nebel, der beide umgiebt.

»Meine heilige, – meine weiße Kristine!« ruft Ker außer sich. »Gehörst du mir? Bist du mein? Liebst du mich?«

Er flüstert in Erregung, die ihm die Stimme und die Sinne raubt, die über ihm zusammenschlägt wie die Meereswellen über den Ertrinkenden.

Das junge Geschöpf lächelt wie im Traum, erbebt unter den Küssen.

»Nun küsse mich auch! – küss' mich!«

Und Kristine schlingt die Arme um ihn und küßt ihn lang und innig und voll seligen Vertrauens auf den Mund.

»Nun gehören wir wahrhaftig zu einander. Ich bin dein und du bist mein!« sagt sie.

Er faßt ihren blonden Kopf mit beiden Händen und 139 hält sie im silbernen Nebellicht so von sich ab, wie ein glücklicher Mensch, der etwas köstliches gefunden und dies im Hochgefühl des Besitzes beschaut.

»Was ist so ein Mädchen für ein herrliches Geschöpf!«

So halten sie einander fest umschlungen, und der helle Nebel sinkt dichter und dichter auf die stille Erde herab, verbirgt alles und jedes, und die beiden stehen in dem wogenden Dunste, als ständen sie auf dem Meeresboden, tief unter den Wellen ganz allein und flüsterten.

»Sag' mir,« frägt Kristine, »weißt du, nun muß du mir alles sagen. Weshalb bist du denn so gequält hierher gekommen?«

»Ich bin arm, ganz arm geworden.«

»Nun, was thut das?«

Und nun fließt seine schwere Erregung in ihre Seele über.

Sie hört mit großen, weit offenen Augen von dem Treiben der Menschen, von ihrer Ungerechtigkeit, von ihrem Hasten nach Glück und Wohlleben – und von großem Unrecht.

»Und das alles hat man dir gethan!« ruft sie zitternd und liegt in seinen Armen und ist ganz Begeisterung und Innigkeit.

»Nun bist du aber schon nicht mehr verlassen. Nun helfen wir dir, mein Vater und ich! Nun gehörst du zu uns! Mein Vater ist wahrhaftig gut – und ist auch reich. Du hast nun wieder, was dir gehört.«

»Laß das!« sagt er hart. »Glaubst du, daß ich mich beschimpft in deine Familie eindrängen will? Ich will kämpfen auf Tod und Leben! Dann stehen wir zu einander – dann kommt das Glück!«

140 Ein leiser Seufzer entringt sich dem ganz in Liebe versunkenen Geschöpf.

»Ich steh' dir bei bis zum Tod,« sagt sie leise.

»Du armes, süßes Herz,« flüstert er tief bewegt. »Du lebtest so friedlich. Herr, mein Gott, weshalb muß ich jetzt in Not und Qual stecken! Verzeih mir! Verzeih mir!« ruft er erschüttert und preßt sie an sich. »Du bist mein!«

Und er hebt die weiche, weiße Gestalt auf seinen Arm.

»So trug ich dich schon einmal; deinen Körper, dein Herz, deine Seele, dein ganzes Wesen – so hast du mir's angethan!«

»Oh du! – du!« flüstert sie verwirrt in träumerischer junger Leidenschaft.

Kristinens und Kers Haar ist feucht, an Wangen und Stirn legt sich ihnen der Nebel.

Jetzt bleibt Ker stehen und schöpft tief Atem. Kristine gleitet zur Erde hinab und fragt leise, von diesen Augenblicken ganz verwirrt:

»Wo sind wir nun eigentlich?« und schmiegt sich fest an ihn; befangen, ohne ihn loszulassen, schaut sie um sich.

Eng an einander gepreßt gehen sie, als wollten sie zu einem Körper verschmelzen. In junger großer Leidenschaft suchen sich ihre Hände und krampfen sich selig verzweifelt ineinander. Ihre Blicke suchen sich. Alles drängt zu einander brennend in vollen Flammen – der nahe drohende Abschied – das Entsetzen, sich so bald verlieren zu müssen – das ungeheure, schwindelerregende Glück der Nähe. Diese wogende Seligkeit, die die Sonne tanzen läßt, die Himmel und Erde verschmilzt, die Körper 141 zur Seele und Seele zu Körper gestaltet; die Feuer-Zärtlichkeit, die Berührungen zu leuchtenden Flammen macht!

Zwei, die schwer und jauchzend an dem hochheiligen Wunder tragen, gehen dem in großen Zügen atmenden nächtlichen Meere zu.

Jetzt liegt es vor ihnen, schimmert silbern durch weiße Schleier.

Die Luft jubelt ihnen! Das Wasser jauchzt ihnen! Ihr Blut singt ihnen in den Adern.

Hochheilige Hochnacht der jungen Körper, der jungen Seelen!

Ein dunkler, formloser Fleck liegt auf den Wellen, ganz nah dem Strande, vom Dunst fast ganz verhüllt, vielleicht ein Boot, vielleicht ein angeschwemmter Baumstamm, – Fuhksens Walfisch.

Ker umfaßt das weiße bebende Mädchen.

Die frischen Wellen spülen in weiten Bogen zum flachen Ufer hin.

Er hält Kristine umklammert in wilder, starker Leidenschaft.

Sie sind so göttlich einsam – und haben alles vergessen!

Wasser, Nebel und Nacht sind aus der Welt – und sie selbst – sonst nichts – kein Gesetz – keine Macht.

Sie sind die einzige Macht und ihr Liebe das einzige Gesetz.

Die beiden verwirrten, jungen Geschöpfe hat der weiße Dunst ganz in sich aufgenommen. Kein Auge der Welt folgt ihnen – das Schicksal allein, dem wir nie 142 und nirgends entrinnen und wollten wir uns in den Himmelsräumen und in den Schoß der Erde verbergen.

* * *

Der Fink schlug leise, halb im Traume, sein lebensfrohes pink, pink, pink, dem frühen Tag entgegen und seine Freunde und Nachbarn antworteten. Aber sie erwachten heut alle nicht zu warmem Sonnenschein, es troff ihnen gegen Morgen auf das Gefieder, es troff auf die Tannen und Birken.

Der Nebel, der seit drei Tagen des Nachts über der See gelegen, hatte jetzt Regen gebracht, grauen Landregen, der fein, sprühend, eben niederzusinken begann.

Einmal schien es, als ob die Sonne sich durchkämpfen wollte, es blitzte hin und wieder auf und glänzte in frischem Grün, aber die Wolkenmassen auf der weiten See schoben sich mehr und mehr zusammen.

Unter den Birken und Tannen, nahe am Haus, steht eine weiße Gestalt. Der Regen rieselt auf sie nieder. Sie steht still und unbeweglich und schaut auf das Haus, in dem noch alle in tiefem Schlummer liegen. Jetzt geht sie langsam vorwärts. Groß, offen stehen ihre Augen im bleichen Gesicht, wie ins Leere starrend, wie aus eine Schuld starrend, auf etwas unbegreiflich Geschehenes, – auf etwas Rätselhaftes. Das sind die armen betroffenen Augen des jungen Weibes, die das große Opfer brachte, das sie im Taumel sinnverwirrenden ersten Liebesleides brachte. Das sind die Augen, die so vernichtet blicken – und voll glimmenden Lebens – so umgewandelt. Die paar Stufen 143 zur Veranda steigt die müde Gestalt langsam hinan, geht ebenso gleichmäßig langsam in ihr Zimmer zu ihrem Bett, fällt davor nieder auf die Kniee und sinkt mit dem Kopf auf die Decke. So bleibt sie unbeweglich. Draußen rieselt der Regen stark und gleichmäßig nieder, schwere große Tropfen fallen vom Dach der Veranda, die Thür steht noch immer auf, Regenluft, graues Licht dringt ein, und ein feuchter Morgenwind streicht an der Thüre vorüber. –

Jetzt hebt sie ihren Kopf vom Bett in die Höhe, schaut um sich wie nach einem langen, schweren Schlaf, und ein seltsamer Schmerzenszug hat sich um den jungen Mund gegraben.

Ohne sich zu erheben, auf den Knieen, kehrt sie sich dem Fenster zu, die Hände preßt sie gefaltet auf die Brust und spricht langsam und matt.

»Du bist so gut, mein Gott – Sonne und Mond, die ganze Welt, und die Menschen, und Glück und Leid hast du geschaffen, und Jesus Christus hat sich für uns geopfert. Und alles kannst du, – und nichts ist dir unmöglich. Daß die letzten Stunden ein Traum waren, das bitt' ich von dir – das allein – ganz allein – hörst du, mein Gott!« –

Ihre Stimme zitterte, und Thränen drangen in die groß offenen Augen.

Sie flüsterte leidenschaftlich.

»Und ich vertrau' – ich schwöre dir's – ich verspreche dir's – ich werde nicht ein einziges Mal traurig seinetwegen sein – ich werde es meinem Herzen nicht erlauben – ich schwöre dir's – ich werd' mich nicht sehnen. – Kein Mensch soll's ahnen, ich will froh sein – und alle im Haus froh machen und allen helfen – 144 helfen wie ich kann. Meinem guten, lieben Vater.« – Sie blieb noch lange auf den Knieen liegen und blickte hinauf in den grauen Regenhimmel, in dem sie ihren Gott zu finden glaubte. –

Dann stand sie auf – das Schwere, Langsame in ihren Bewegungen war etwas von ihr gewichen. – Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, richtete sich fest auf: »Kein Schmerz, – kein Hoffen – nichts« – sagte sie ruhig. Darauf ging sie, schloß die Thür, entkleidete sich und legte sich zur Ruhe.

Und matt und müde mußte sie sein, denn bald sanken die Lider zu, und statt des schmerzlich verwirrten Ausdruckes in ihren Zügen trat auf diese Züge ein träumerisch, bräutliches Lächeln, und im Hinsinken zum unbewußten Schlaf kam Glückesausdruck zu Tage, ruhte auf dem schlafenden Gesicht und wurde von keinen Gedanken, keiner Verwirrung mehr verscheucht.

Als sie nach wenigen Stunden erwachte, konnte sie nicht mehr ruhig liegen bleiben, trotz früher Morgenstunde. Sie erhob sich, kleidete sich langsam an. Ihre Bewegungen waren ruhig, so völlig anders, wie an jenem Morgen, als sie an das Fenster trat und den Nebel sah.

* * *

Sie geht die Treppe hinauf, nach dem Familienzimmer, wendet sich im Gehen unversehens um und gewahrt Annuschka, die den Kopf zwischen die ein wenig geöffnete Hausthür gesteckt hat und ihn so genau in die schmale Lücke eingepreßt hält, daß es den Anschein hat, als wolle sie ihn wie eine Nuß zerknacken.

145 Jetzt zieht sie den Kopf ein, schüttelt ihn und sagt zu sich selbst in ihrem vortrefflichen Deutsch, auf das sie stolz ist und das sie mit eitler Vorliebe anwendet:

»Schönes Mensch da steht – fremdes Mensch.« –

Kristinens Hände fahren zum Herzen, sie steht starr und unbeweglich.

Annuschkas Kopf zwängt sich wieder in die enge Thürspalte, zieht sich wieder zurück: »Fremdes Mensch draußen, will was – fremdes Mensch im Regen.«

Jetzt gewahrt Annuschka Kristinen.

»Kind,« ruft sie und winkt ihr, »Kind sehen was fremdes Mensch will – Kind!«

Kristine kommt die Stufen wieder herab, wie im Traum und bleich. –

Annuschka öffnet die Thür, und Kristine tritt hinaus –

Da wandelt eine Gestalt im dichten Regen ihr ganz nah.

Ihr dunkelt's vor den Augen, ein namenloser Schmerz dringt ihr zum Herzen. Die Gestalt kommt auf sie zu. Da hebt Kristine beide Arme in die Höhe – und wie zu Tode getroffen, alles vergessend, ruft sie: »Bleib! bleib!« und stürzt ihm entgegen. – Ein Schreck fährt ihr durch die Glieder – sie starrt die Gestalt an, die jetzt vor ihr steht, ebenso bleich fast wie sie, mit einem eben solch mächtigen Schreck in den Zügen.

Er ist es nicht! – Fuhks ist's, in Kers triefenden Regenmantel gehüllt.

Fuhks hat einen Brief für Kristinen in der Hand; aber er kann die Hand nicht regen.

Und keins kann ein Wort hervorbringen, und beide gehen auseinander.

Kristine rettet sich, von Schmerz und Qual bedrängt, 146 in ihr Zimmer zurück, schließt sich ein und wirft sich auf die Erde.

Und Fuhks geht mit langen Schritten weiter, hinunter zu den Birken, von denen aus man den Strand und das Meer sieht.

Da lehnt er den Kopf an einen nassen Birkenstamm und weint.

In weiter Ferne zieht über dem Meere ein dunkler Streifen Rauch am Horizonte hin – als letzter Gruß.

In Fuhksens Herz drängt sich ein bitteres, bitteres Gefühl ein, etwas wie Haß will sich in diesem Herzen einnisten. Da aber wird's ihm so jämmerlich zu Mute – so angst – so gottverlassen, – daß er dem häßlichen Gaste verzweifelt die Thüre weist.

Welchen Morgen hat er hinter sich, welche bange Nacht! Und wie ist sein Ker abgereist! – bleich – verstört – gehetzt; er wollte nicht – und doch war's nicht anders möglich – und wollte zurückkehren – von Kopenhagen, schwor's und beteuerte es, wollte arbeiten, kämpfen – unmögliches möglich machen, war voller Pläne – voller Hoffnungen – wie im Fieber. Fuhks hat ihm tausendmal versprochen, seine Sache zu führen, und Ker hat darüber gelacht und doch ihm in Hast und Qual immer wieder von neuem alles klar gelegt, in alles eingeweiht und ihn gebeten – gebeten – zu helfen wie er könne. Er hat ihm Geld aufgedrängt für alle Fälle – Fuhks fühlt die Brieftasche seines Freundes, sein Herz schlägt dagegen. Und unser Fuhks sieht jetzt im Geiste das erregte, bleiche Gesicht seines Ker, wie sich dieser über ihn gebeugt hat, als er, Fuhks, schon die Schiffstreppe wieder herabging, und wie Ker ihm einen Brief in die Hand gedrückt 147 – ›gleich – aber gleich‹, hatte er dazu geflüstert und ihm seinen eigenen Regenmantel um die Schultern geworfen. – Und dann war Ker verschwunden – Fuhks hat ihn nicht wiedergesehen – und das Bärenfell, das hat er dem Ker nicht mitgegeben – das Bärenfell lag noch im Walfisch – und der Brief, den hält Fuhks in der Hand auf die Brust gepreßt – er hat ihn nicht abgegeben – hat es nicht gekonnt – und steht immer noch mit dem Kopf an dem nassen Birkenstamm gestützt – und sieht den dunkeln Rauchstreifen am Horizont vergehen.

So enden die schönen Tage auf Erden. 148

 


 


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