Helene Böhlau
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Helene Böhlau

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V.

Alles war nun schon vorüber, alles Erwarten, unendliche Naivetäten und Thorheiten, ein gut Teil Kämpfe, Enttäuschungen, Braut- und Bräutigamsstimmung. Sie hatten im Mai, zur größten Zufriedenheit der Familie in der Blütenstraße, geheiratet – und nun war es schon Weihnachten, der Sommer war vorüber und mit dieser Wandlung waren allerhand menschliche Wandlungen vorgegangen.

Wie einen Traum hatte sie Verliebtheit, Verlobung und die Hochzeit über sich ergehen lassen. Es hatten ihr Betrachtungen gefehlt, die ein ganz in gesunden Verhältnissen stehendes Mädchen gemacht haben würde, es hatten ihr auch die süßbräutlichen dämmerhaften Gefühle gefehlt. Sie hatte bisher eine Sehnsucht nach Liebe kaum empfunden. Ihre Seele war immer ausgefüllt 129 gewesen, so ganz und voll ausgefüllt. Diese »Liebesgeschichte«, wie sie sich in ihren Gedanken ausdrückte, war eigentlich etwas Unnötiges. Sie fand kaum Platz in ihr.

Während der ganzen Zeit ihrer Verlobung war sie einen Druck, der über ihrem Gemüt lag, nie ganz losgeworden, so einen etwas bangen Druck, wie sie ihn früher wohl ähnlich nach einem übereilten Kauf empfunden hatte. Dies Gefühl war ihr bekannt genug, denn so lange sie denken konnte, war jedesmal, sowie sie Geld hatte, etwas gekauft worden, für das sie eigentlich keine Verwendung fand.

Während der Zeit ihrer Verlobung hatte sie auch öfter einen Traum gehabt, den sie hin und wieder träumte, immer, wenn ein Besitz sie bedrückte: Räume voll Sachen, voll lauter Sachen und Lumpen. Alles vollgepfropft, von oben bis unten – beängstigende Massen, und alles ihr gehörig, und sie sollte es unterbringen und ordnen. Die Sachen quollen und quollen und wurden mehr und mehr. Sie wußte sich nicht zu raten und zu helfen. Die Lumpenmassen wuchsen um sie her und verbauten ihr Licht und Luft, es wurde enger und enger, sie erdrückten sie.

130 Das war ein Traum, der die kleine Tagesempfindung ins riesenhafte verzerrte. Und sie erwachte nach diesem Traum immer seelenbedrückt und erschüttert von einem unbestimmten Grauen. Es fiel ihr auf, daß sie diesen Traum während ihrer Verlobungszeit öfters hatte; aber sie dachte nicht darüber nach. Sie war eben noch gar nicht dahingekommen, über das Leben nachzudenken. Es kam, wie es ihr schien, alles von selbst, und machte sich alles von selbst, es lebte sich von selbst. Ihre Gedanken gehörten alle ihrer Kunst; da waren sie geschäftig wie die Ameisen, da bauten und bohrten sie und arbeiteten und kämpften. – Um das Leben? Hatte sie diese Verlobung erstrebt? Nie! Und sie hatte sich gemacht.

Es waren alle möglichen Annehmlichkeiten gekommen. Olly war mit einemmal wie in eine leichtere heitere Luft versetzt. Blumen – überall Blumen für sie. – Jedermann war mit ihr, als wäre sie neugeboren, ganz anders als mit der unverlobten Olly. Man hörte mehr auf sie. Auf ihre Wünsche wurde Rücksicht genommen, so wie früher, wenn sie ihren Namenstag hatte. Und er? Daß ein Mensch so ununterbrochen gut 131 und glückselig sein konnte, so ein Mensch mit einer Glatze! – und wegen ihr! – Großer Gott, wegen ihr?

Sie träumte das Leben. Es war noch kein Leben aus Fleisch und Blut. Während der ganzen Verlobungszeit blieb sie bei ihren festen Arbeitsstunden und duldete auch nicht, daß Gastelmeier früher aus seinem Atelier kam, um ganz still und artig hinter ihrem Stuhl zu sitzen und ihr bei der Arbeit zuzuschauen. Sie wollte das nicht.

»Keine Eingriffe, nein, nein, keine Eingriffe in mein Recht!« sagte sie ihm dann lachend. »Du weißt es ja – die Bedingung: wir heiraten einander – du weißt doch unter welcher Bedingung?« Dann sah sie fragend und gespannt auf ihn. »Daß ich bei dir arbeiten darf?«

Sie wollte ihre Antwort.

Und er schloß sie in seine Arme und bedeckte sie mit Küssen. »Freilich, freilich, mein Schatz,« sagte er und dachte wohlgelaunt und leichten Herzens: »Laß nur erst einmal alles kommen, was kommen wird.«

Er dachte an ihr erstes Kindchen und sah ein Bild vor sich, so unbeschreiblich entzückend für 132 ihn, daß er das Mädchen gar nicht aus den Armen ließ. Er sah im Geiste, wie warm, wie mütterlich diese jungen, dunkeln Augen einmal glänzen würden. Er wollte ein Heim haben, ein Heim, so warm, so sicher – so ganz nach seinem Sinn. Er wollte sie verpflanzen, dieses blumenhafte Wesen. Sie sollte gedeihen in einer besseren Luft, in gesunden Verhältnissen, bei ihm, im Schutz seiner Liebe.

Er wollte sie einer verzehrenden Zukunft entreißen. Er dachte: ›Wenn ich sie nicht heiratete – was würde wohl aus ihr? Fände sich einer, der den Mut hätte, sich mit diesen Leuten, dem Mädel zulieb, zu verschwägern? Und wenn sich keiner fände, würde wirklich diese Kunst sie beglücken können, diese wütende Kunst, wie sie sie auffaßt, die keinen Frieden und kein Genügen kennt? Und wenn die Arbeit mit dem Erfolg in keinem Einklang stünde? Würdest du die Kraft haben, armes Geschöpfchen?‹ dachte er zärtlich, ›und Entbehrung und ewige Kargheit?‹

Er hielt sie immer noch an seinem Herzen und streichelte ihr, ganz gerührt über sich und sie und alles, den krausen Kopf. O, sie sollte es 133 gut haben und er wollte es gut haben. Die zu Hause sollten wahrlich nicht recht behalten mit ihrer Unzufriedenheit. Wenn ihm Annele nicht beigestanden hätte, er wäre mit seinem guten Alten wegen dieser Verlobung in Unfrieden gekommen.

So aber war der alte Frieden halbwegs erhalten geblieben.

* * *

Am Hochzeitstag während der Trauungsrede – als ihr der Geistliche mit ernsten, schweren Worten kam, mit Worten, die so schroff und fest wie Felsen standen, so düster und fremd, die sie mit dem heitern, harmlosen Wesen, das die ganze Sache bisher für sie gehabt hatte, gar nicht in Einklang bringen konnte – da war sie innerlich erstarrt vor Schreck und Grauen. Was hatte sie eigentlich gethan? Was für ein furchtbarer Schritt war das? Weshalb hatte man nicht früher mit ihr so gesprochen, als es noch Zeit war? Weshalb nicht? –

Eine unnennbare nervöse Angst hatte sie gepackt. Ihr schwindelte; durch den weißen, duftigen Schleier, der ihr halb übers Gesicht fiel, sah sie wie durch einen weißen Nebel die Gestalten der 134 Hochzeitsgäste, sah ihre Mutter fassungslos in Thränen aufgelöst, so haltlos wie immer; das verblüffte Gesicht Emils – und Erwins Gesicht, dieses kraftlose Gesicht, und Tante Zänglein, die sich immer amüsierte – und die fremden Verwandten.

Kühle Gesichter. – Annele war die einzige, die sie nicht sehen konnte. Da war kein Gesicht, das ihr gesagt hätte: Komm her zu mir, ich will dich erquicken, ich will dir helfen, – keins.

Der Mann neben ihr? Das war ja das Schreckliche! Wie standen sie zu einander? Unzertrennlich! – Er gehörte zu ihr für ewig und sie zu ihm – und noch nie war er ihr so fremd erschienen. Sie erschauerte und zitterte und wollte sich stützen, – aber nicht auf ihn, auf sich selbst – und sie hielt sich fest und krampfhaft mit eigenen Kräften. »Nein, ich will mein eigen sein,« flüsterte sie unhörbar, unbewußt – und er zog sie zu sich heran, weil er mit Schrecken ihre tiefe Blässe gewahrte, und wieder war es die sanfte, liebevolle Art sie zu halten, die ihr dabei Trost gewährte. Aber er hielt sie nun doch als sein Eigentum, so oder so.

Eine unnennbare Furcht hatte sich ihrer 135 bemächtigt, eine Furcht vor allem, was kommen sollte – und ein Zorn darüber, wie man sie hatte hinleben lassen bisher, wahrhaftig ohne ein einziges vernünftiges Wort! Nie den Kern berührt, immer gedankenlos! Und nun kamen diese Gedanken, diese nie berührten Gedanken, diese dunkeln Ahnungen, diese Furcht, dieses Bangen, durch düstere fremde Worte geweckt. Auf Orgeltönen kamen sie heran, schwer, mächtig, erdrückend, in wüstem Durcheinander – und schwollen an wie Wasserwogen, und stiegen ihr bis ans Herz und höher und höher, bis zum Ersticken.

Dann war Stille. – Die Feier war zu Ende, Küsse und Thränen, feierliche, sachgemäße und gerührte Gesichter, ein Weinkrampf der Mama, so ein Durcheinander von unklaren Äußerungen aufgeregter Gefühle – und sie hing am Arm ihres Mannes, der diesen Arm fest an sich gedrückt hielt. Es war alles wie ein wirrer Traum, so bang, so wesenlos.

Sie aber wollte eine Gewißheit, eine einzige Gewißheit in diesem Gefühlsüberschwall, und sie neigte sich zum Ohr des tiefbewegten Mannes und flüsterte ihm erregt zu: »Eins sag mir – 136 nur das eine: Läßt du mich arbeiten? Bleibt's dabei?« Sie fragte so angstvoll.

»Olly,« hatte er ganz erstaunt geflüstert, »Kind. Weißt du jetzt nichts andres; weißt du wirklich jetzt nichts andres?«

»Nein, antworte,« bat sie flehentlich.

»Arbeite,« sagte er, »so viel du willst, weshalb nicht?«

Es war nicht, was sie hören wollte. Das rechte Wort war es nicht. Aber was war das rechte Wort? Sie hätte es selbst nicht gewußt. Sie wollte Lebensklarheit – und Lebensklarheit war ihr nur das eine, ihre Kunst. Ein Weg, den sie gehen konnte, der sie ihrer Kunst näher und näher führte – und was hatte sie gethan! – Hindernisse über Hindernisse sich selbst aufgetürmt, in einem Rausch des Wohlbehagens. Es hatte ihr das »Geliebtsein« wohlgethan. Die herbe Luft um sie her war mit einemmal frühlingsweich geworden; ihr war zu Mute gewesen, als wäre sie durch seine Liebe etwas Besseres geworden, etwas Zarteres, und das alles ohne daß sie selbst diese Liebe recht erwidert hatte. Sie hatte sie geduldet, sie war ihr angenehm.

137 Und nun, welche Verantwortung, welcher Schritt! Wie ein Schleier war es ihr von den Augen gefallen. Dumpf, in Gedanken versunken, saß sie damals neben ihm im Wagen, der sie von der Kirche in die Blütenstraße zu den Gästen zurückführte – dumpf und grübelnd ohne jenes bräutlich-süße Glück, das ihr junger Gatte in ihrem Schweigen vermutete und anbetete.

Die sonderbare Frage nach der Trauung lag ihm aber trotzdem schwer im Sinn. ›Was sollte das sein?‹ dachte er bei sich. ›Weshalb fragte sie gerade das und nichts andres? Was dachte sie sich wohl dabei?‹ Forschend blickte er auf das schöne, bleiche Geschöpf neben sich, das in seinem weißen Kleide, wie es ihm schien, scheu und zaghaft in den Wagenkissen lehnte.

Er selbst hatte ihr den Stoff zu diesem weißen Kleide geschenkt und sie, die kleine Person, hatte ihn sich selbst zugeschnitten, diesen kostbaren Stoff! Und die flinken, verwegenen Hände hatten etwas zu stande gebracht, was so wenig einem ehrbaren steif-jungfräulichen, weiß-atlassenen Brautkleide gleichsah – etwas so wunderlich Reizvolles, etwas so leichtmütig Lebensfrohes, was sich dem 138 jungen Körper wie zu ihm gehörig anschmiegte: weite Ärmel, die im Rücken zurückgenommen waren, die Taille lose wie nur umgesteckt, aber das Ganze von einer reizenden Eleganz und Lebensfreudigkeit – alles, nur kein Brautkleid. Und wie es genäht war! Annele hatte sich darüber etwas ausgelassen. Kein Mensch außer Olly hätte es tragen können. Tante Zänglein hatte sich über den »Lumpen,« als sie es liegen sah, totlachen wollen, wie es Olly aber trug, sagte sie: »Alle Achtung! Aber – aber – aber – aber.« Weiter hatte sich Tante Zänglein über diesen Fall nicht vernehmen lassen. Sie hatte bedeutungsvoll das Näschen kraus gezogen, mit den Äuglein gezwinkert, wie sie es immer that, wenn etwas sie alterierte und zugleich amüsierte.

Später aber hatte sie sich doch nicht enthalten können, ihrem Freund Gastelmeier bei Gelegenheit zu sagen: »Haben Sie sich Olgas Brautkleid angeschaut? Da steht eine ganze Geschichte darin und darum und daran. Lesen Sie nur: – künstlerisch. Wenn's gut geht wird's ein sehr lustiger Haushalt! – und eine Frau, ein Engel 139 von einer Frau, leichtlebig, lieb, voller Einfälle, ganz köstlich! Wenns Ihnen glückt, verliebt, und wie verliebt! Ja, solche Frauen, wenn s' erst erwacht sind, verstehen Sie? Aber, aber – Temperament ist in dem Kleid, sind Sie dem gewachsen? Glückssehnsucht zum Närrischwerden – künstlerisch – das ist das erste. All diese lustigen Dinge miteinander verbrennen die Suppe, und Gott gnade der ganzen Geschichte! – So geht's wenn's lustig geht und Geld da ist; aber der Himmel behüt' Sie, wenn's nicht lustig geht. Wissen Sie, ich habe schon manche Brautkleider gesehen.« Sie zwinkerte mit dem Äugelchen und zog das Näschen kraus. – »Aber so eins!«

Gastelmeier hatte noch nie so ein allerliebstes altes Geschöpfchen gekannt. Er ließ sie immer plaudern, ohne sie ernst zu nehmen. Ihr langer Reisegefährte, der mit ihr nach Italien gehen sollte, um ihr vorzujodeln, nannte sie das alte Nixerl. Das gefiel Gastelmeier.

* * *

Damals, als Olly in ihrem Mädchenstübchen das Brautkleid ablegte, um sich für die 140 Hochzeitsreise anzukleiden, hatte sie die Thüre hinter sich geschlossen. Es war in der Stunde der ersten Mai-Abenddämmerung. Ganz gelassen rückte sie ihren Toilettenspiegel zur Hand, ließ sich auf einen Stuhl davor nieder und nahm langsam Kranz und Schleier aus dem Haar. Ein Spitzenkragen lag reich gefaltet um ihren Hals und ließ den Ansatz dieses schönen Hälschens frei. Sie faltete die Hände ineinander und sah ihr Spiegelbild an. Das Licht war weich und golden.

»Doch ein herrliches Geschöpf!« sagte sie und war im eigenen Anblick ganz versunken. »Schade – das ist's – schade.« Sie träumte und grübelte und sah unverwandt sich selbst im Spiegel an. Sie hatte das früher oft schon gethan und immer in aller Gemächlichkeit, einfach ohne alles Verstecken. Sie liebte ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihre Hände. – Es war ihr das alles sympathisch und sie hatte sich dankbar ihrer Schönheit gefreut. Diese Schönheit war ihr Eigentum. Sie kannte sie und wußte sie zu beurteilen. Wie ein Kunstwerk betrachtete sie sich selbst. Für dieses Gesicht hatte sie in stillen Stunden alles Glück der Erde zusammengeträumt.

141 Ruhm – das war das erste. Wie sie danach dürstete! Wie würden diese Augen blicken, dann, wenn das Große geschehen sein würde, wenn Ruhm und Ehre ihr erst zugefallen waren! Ruhm, das was man Ruhm nennt: von den Menschen gekannt und bewundert zu sein! Den einzigen Lohn für das heiße Streben! Und weshalb nicht? Was waren sie alle, die mit ihr arbeiteten, die mit ihr begonnen hatten, gegen sie! Sie war ihnen allen voraus, weit voraus. Aber man lebt wie im Traum, die Dinge verwandeln sich einem vor den Augen wie im Traum – und wie in einem solchen Traum war es geschehen, daß sie neugierig und leichtsinnig hatte versuchen wollen, wie das Geliebtwerden der armen Seele thut – das Geliebtwerden! Und so war sie dumpf diesem Wunsche gefolgt, Schritt für Schritt, und es war alles in schönster Ordnung vor sich gegangen und doch alles im tiefsten Traum.

Die dumpfen Orgeltöne, die schwerwiegenden Worte brausten ihr immer noch im Kopfe. Die Verantwortung lag auf ihr, die war nicht abzuschütteln – der nüchterne Mann mit der Glatze, den glückstrahlenden Augen, den fidelen 142 Bewegungen, der war nicht mehr von ihr fortzudenken. Sie war nicht mehr allein. Schrecklich! Wie es sie durchrieselte!

Sie schaute unverwandt ihr Spiegelbild an. Wie blaß sie war! Einen gespannten Zug um die Lippen, die Augen so weich und groß, wie nach Hilfe ausschauend. Sie beobachtete diesen Ausdruck wie etwas Fremdes.

Wie unverantwortlich hatte sie gehandelt, wie thöricht! Welche Last hatte sie auf sich genommen, und weshalb?

Es war der Herzenszug nach Zärtlichkeit gewesen, der sie dazu getrieben – auch dumpf – kaum bewußt.

Sie liebte eine süße ruhige Zärtlichkeit. Niemand von den Ihrigen hatte es verstanden, ihr die zu gewähren. Hätte sie jemand zu Hause in der Dämmerstunde an sich gezogen und sie zart geliebkost, wie man ein Kätzchen auf den Schoß nimmt und streichelt, dann wäre das Sonderbare nicht geschehen – vielleicht nicht geschehen, daß des kleinen Mannes weicher Händedruck, das Von-ihm-berührt-werden, als wäre sie ein Heiligtum, ihr das Herz geschmolzen hätte.

143 Aber diese Heiligtumszärtlichkeit hatte sie an ihm während ihres Brautstandes vermißt, diese schützende schirmende Zärtlichkeit. Heiße Küsse, stürmische Liebe, das war es nicht, wonach ihr Herz verlangte, nein, jener weiche Hauch der Zärtlichkeit, der fast geistig ist, der Leib und Seele verklärt, das war es.

»Unbegreiflich!« sagte sie zu sich selbst. Und jetzt sah sie ein Aufleuchten in ihren Augen. Das innere Seelenfeuer, das sie wohl kannte, bei dessen Flackern sie sich glücklich, groß und stark gefühlt hatte. Durch alles und über alles hinaus ans Ziel! Ist die Last des Lebens größer geworden, dann soll es auch die Anstrengung werden, der Kampf auf Leben und Tod.

»Es nützt dir nichts, du guter Mensch,« sagte sie, »daß wir jetzt nicht nach Paris gehen; du willst eine echte rechte Hochzeitsreise, und fürchtest dich, daß eine gewisse Olly . . . . . . Jawohl, wir kennen dich! Das mit Paris versprachst du – und hast's gebrochen, das heißt, du hast's verschoben, du kluger Mensch!« Sie lächelte. »Das hilft dir alles nichts. Nach Paris kommen wir noch, und glaub' ja nicht, 144 daß ich von meinem eigensten Weg abweiche – nein, nein, mein Junge!«

Da stand sie auf und legte langsam Stück für Stück ihres Brautschmuckes ab. Lächelnd sah sie die zusammengeheftete Taille an, die großen weiten Stiche. »Stimmt,« sagte sie, »leichtsinnig zusammengeflickt. Riesig leichtsinnig!« – Sie legte die Taille achtlos beiseite. »Aber schlecht bin ich nicht,« sagte sie nach einer Weile ernst, »was ich thun kann, thue ich. Du weißt nicht, was du dir geheiratet hast, du guter Mensch; aber so schlimm, wie's werden könnte, soll's weiß Gott nicht werden, das schwör' Ich dir, hier mit mir allein schwör' Ich dir das.«

Das sagte sie ernst und rückte ihren Spiegel beiseite, um in dem engen Zimmer mehr Platz zum Ankleiden zu bekommen.

* * *

Wie schon gesagt, feierliche und thörichte Stunden, Stimmungen aller Art, zärtliche und wehmütige Flitterwochenstimmungen, Verdruß und Versöhnung, auch Langeweile und Kummer, alles, was ein junges Paar in der ersten Zeit der Ehe 145 durchzuleben hat, lag mit dem ersten Sommer ihrer Ehe hinter ihnen.

Sie hatten Erlebnisse aller Art hinter sich. Gastelmeier meinte, in sechs Jahren sei bei ihm bisher nicht so viel passiert, wie in den sechs Monaten seit seiner Verheiratung, lächerlich viel!

Auf der Hochzeitsreise hatte er sich vorgestellt, daß er nach Herzenslust bummeln würde und sie mit ihm; er hatte sich aber geirrt. Sie hatte angestrengt gearbeitet von früh bis zum Abend, Tag für Tag, unermüdlich. Sie waren miteinander am Morgen mit ihren Malgerätschaften ausgerückt und er hatte zum erstenmal im Leben Gelegenheit, den bedürfnislosen, unzerreißbaren Fleiß gewisser Frauennaturen zu beobachten, ihr Nicht-rechts-und-links-schauen bei der Arbeit. Freilich, lieber hätte er diese Beobachtung nicht gerade jetzt an seinem eigenen jungen Weibe gemacht, unendlich viel lieber wäre er mit ihr bergauf und bergab vogelfrei in die schöne Welt gezogen; aber da war etwas, das seinen Willen brach, etwas Unbezwingliches. Ein paarmal hatte er es durchgesetzt: sie waren miteinander gewandert, aber es war nicht die rechte Freudigkeit dabei 146 gewesen. Sie war auch nicht besonders gut zu Fuß, ermüdete schnell und schien bei allem, was sie sah, präoccupiert zu sein. Sie genoß die Natur nicht naiv und einfach, verarbeitete im Geiste immer was sie sah und war immer von dem Triebe erregt, wie sie wiedergeben würde, was sie sah. Sie kannte kein Ausspannen, kein Vergessen. Wenn ein Weib sich einer Sache wirklich hingiebt, giebt sie sich grenzenlos hin. Das liegt in der Natur des Weibes: sie giebt sich der Kunst hin, wie sie sich der Liebe hingiebt, auf Tod und Leben!

Er hatte es sich nicht vorstellen können, daß Olly diese Arbeitskraft hatte, und doch, wenn er sah, wie sie vorgeschritten war in ihrer Kunst bei ihrer rührenden Jugend, so mußte er an heiße Arbeitsstunden, an einen heiligen Eifer glauben. Wie hatte er selbst mit zwanzig Jahren sich behaglich an das Studieren gemacht! Was war er mit zwanzig Jahren gewesen, was hatte er gekonnt? Mein Gott, wenn er sich mit Olly verglich! Er hatte arbeiten, aber auch das Leben genießen wollen. Das ganze Leben lag damals vor ihm. Er konnte wie ein Verschwender damit 147 umgehen und hatte es gründlich gethan – und hier bei diesem jungen Weib war ihm zu Mute, als arbeite sie wie ein zum Tode Verurteilter, der ein großes Werk noch zu guter Letzt mit Hangen und Bangen zu stande bringen will. Ja, so war es; er hatte diesen peinigenden Eindruck von ihrer Art zu arbeiten. Dabei war sie liebenswürdig, geduldig, war sein süßes, kleines Weib. Er fühlte sich in keiner Weise enttäuscht. Er hatte ihr nichts vorzuwerfen. – Doch! Sie war ihm gewissermaßen fremd geblieben. Er gewöhnte sich nicht an sie. Sie erregte ihn. Sie war das Weib nicht, das in der Person ihres Mannes aufgeht.

In der ersten Zeit ihrer Ehe sagte er manchmal zu ihr: »Wenn ich dich doch einmal ganz hätte – deine ganze Seele und deine Gedanken! Du bist nicht wie eine verheiratete Frau, sondern wie ein leichtsinniges Mädchen, die im Arme des einen an den andern denkt. Dieser andre ist deine Kunst.«

»Du wußtest es ja,« erwiderte sie ihm darauf. – –

In München hatten sie sich ein Nest eingerichtet, ein Atelier und ein paar Zimmerchen. 148 Sie wollten beide in demselben Atelier arbeiten so lange, bis einmal die Einnahmen reichlicher flössen. Vor der Hochzeit war das Nötigste besorgt worden, aber erst nach ihrer Zurückkunft von der Reise machten sie sich daran, das neue Heim behaglich auszustaffieren. Olly schien dies wirklich Vergnügen zu machen. Sie stöberte alle möglichen Dinge auf, die andre Leute nie finden, zahlte auch nicht unvernünftig, und Gastelmeier war glückselig, wie klug sie sich der Sache annahm; aber eilig geschah alles, sie wirtschaftete von früh bis abends, rannte zu den Antiquaren, es war kein Halten. Es läutete alle Nasenlang, und Dienstmänner brachten etwas angeschleppt; es polterte, hämmerte unaufhörlich, als wäre kein Augenblick Zeit zu verlieren.

»Sag einmal, mein Schatz, weshalb denn so eilig?« fragte Gastelmeier.

»Ja, was meinst du, wieviel Zeit soll ich damit verlieren?« antwortete sie.

Als aber alles soweit fertig schien und Gastelmeier ganz bereit war, nun behaglich aufzuatmen, kam er nicht dazu. Er hatte auf vollkommene Windstille gerechnet und wollte es sich nun in 149 seinen vier Wänden wirklich gemütlich machen; aber, was es nun war, mit diesem »sich gemütlich machen« schien er immer noch warten zu müssen.

Sie hatten noch kein einziges Mal, so lange sie nun daheim waren, etwas wirklich Vernünftiges gegessen. – Während der Wirtschaftstage schien dies Gastelmeier ganz erklärlich, trotzdem er sich nicht gerade wohl dabei befand. Er war in seinem Restaurant, in dem er als Junggeselle gespeist hatte, verwöhnt worden. Man hatte für ihn und einige seiner Kollegen täglich ein bestimmtes Fleischstück auf eine besondere Weise als Vorspeise, wie er es daheim gewöhnt war, zubereitet. Er war etwas Gourmet auf seine Weise und hatte sich mit der Wirtin auf guten Fuß zu setzen gewußt, so daß er wirklich wohlversorgt gewesen und gut gediehen war. Seine Zunge war außerordentlich empfindlich und bei dem geringsten Versehen hatte er sich dort ganz gehörig beklagt. Dieser Mittagstisch, dem er präsidierte, hatte während seines Regiments einen guten Ruf erlangt.

Olly in ihrer Bedürfnislosigkeit hatte die Küchenfrage sehr naiv genommen. Zu Hause 150 war sie auch an nichts besonders Ausgeklügeltes und Wohlzubereitetes gewöhnt. Sie hatten es über so eine Art »Schlangenfraß«, wie sie in München sagen, nie hinausgebracht, eine Art, sich zu nähren, wie sie in den Familien üblich ist, in denen die Frau keinen Sinn für Küche und Haushaltung hat. Die meisten Menschen können bei einem so gleichgiltigen, langweiligen, seelenlosen Sich-voll-füllen-müssen gedeihen; aber junge Männer, die beim Eintritt in die Ehe sich zu solch einer traurigen Ernährungsweise verurteilt sehen, werden mißmutig, ärgerlich, unritterlich, die Lebensfreudigkeit wird ihnen ausgeblasen. Sie haben das bessere Leben in den Restaurants während ihres Junggesellentums kennen gelernt und können vergleichen.

Olly hatte sich eine Köchin gemietet, ohne viel Federlesens zu machen. Sie ahnte gar nicht, welch wichtiges Geschöpf die Köchin im Grunde ist. Die Köchin aber ahnte sehr bald, daß das Schicksal sie wohl gebettet hatte, daß sie Herrin auf ihrem Gebiet war, und daß das kleine Wesen neben ihr im Haushalt nicht viel zu bedeuten hatte.

151 Olly arbeitete von früh bis zum Abend, nachmittags besuchte sie einen Aktkursus, zwischendurch griff sie pflichttreu im Haushalt mit zu, – aber wie im Dunkeln und ganz planlos. Sie versuchte zum Abendessen etwas zu kochen, weil die Köchin um diese Stunde gewöhnlich ihren eigenen Interessen nachging. Sie hatte eine Idee, sie wollte ein Gericht zu stande bringen, das ihr vorschwebte. Da fehlten die Eier. – Mein Gott und die Köchin war nicht da! – Sie kam auf etwas andres, da fehlte das Mehl.

Sie war müde, abgearbeitet. Es hätte alles behaglich für sie besorgt sein müssen, nun mußte sie selbst sorgen. Und sie wußte sich nicht zu helfen, es wirbelte ihr im Kopf; was sie anfaßte war nicht in Ordnung. Sie begann zu kochen mit dem, was sie vorfand, ein Phantasiegericht, das sich zuerst ganz gut anließ, schließlich verkleisterte oder zusammenrann und eine Ähnlichkeit mit Palettenschäbs bekam, der von allen übriggebliebenen Farben, wenn sie auf der Palette zusammengekratzt werden, sich bildet; trotz aller schönen Couleuren, aus denen er besteht, immer ein unerfreuliches, schmutziggraues Gemenge.

152 Ganz so ließen sich ihre Milch-, Fleisch-, Mehl-, Kartoffel- und Gemüsegehäcksel an, die sie in Abwesenheit ihrer leichtsinnigen Köchin bereitete und die sie manchmal in Schreck und Beschämung, nachdem sie traurige Erfahrungen damit gemacht hatte, von der Pfanne ab ins Feuer schob, wo ihr Gericht als trauriger Klumpen verkohlte, während ihr Gatte im Zimmer auf und nieder ging, und sie einen höhnisch prüfenden Blick der Köchin aushalten mußte, der ihr den Mut benahm, die pflichtvergessene Person auszuschelten. Sie sagte dann nur zaghaft im Gefühl ihrer Unsicherheit: »Ach, bitte, wären Sie so gut und liefen schnell zum Metzger, aber bitte recht schnell!« Sie wagte sich dann nicht ins Zimmer hinein, bis irgend etwas Eßbares im Hause war. Und dabei war sie so müde.

Von ihrem dreizehnten Jahre an hatte sie angestrengte Arbeit gekannt. Von dieser Zeit an hatte man sie studieren lassen; ein Freund ihres Vaters, ein bekannter Maler, der das Talent des Kindes entdeckt, hatte sie selbst ausgebildet. So war ihr das Leben des jungen Mädchens völlig fremd geblieben. In ihrem Gefühlsleben 153 war sie Kind geblieben und Künstler geworden, rein und leidenschaftlich.

Das Leben und seine Anforderungen verwirrten sie; sie hatte in nichts einen Überblick, denn sie trug die Dinge, die außerhalb ihrer Kunst standen, nicht mit sich in den Gedanken. Sie sprangen immer wie aus einem Nebel hervor, wenn sie dicht vor ihnen stand, und erschreckten sie. Da war das Mittagessen, das immer herankam, wie ein Schreckgespenst. ›Herr Gott, schon so spät!‹ – Was war geschehen, was nicht geschehen, was hatte sie mit der Köchin ausgemacht, was nicht? Was gab's? Wie hatte sie's gemacht? Was hatte sie alles vergessen? Da war ja noch so gut wie gar nichts! Was nun? Hundert Fragen und jede Frage ein Schreck – und mitten aus der Arbeit herausgerissen! Und ihr Mann? Hatte er nicht schon nach der Uhr gesehen? Weshalb hatte er nichts gesagt? Sie fragte ihn: »Weshalb sagtest du nicht, daß es schon so spät ist?«

»Weil ich das unsinnige Auffahren nicht leiden kann.« Er war böse. Und alles in Unordnung.

Die Wäsche! Das Wirtschaftsbuch, das 154 Zimmerreinigen! Das Geldausgeben! Die Zeiteinteilung! Das Heizen! Die unendlich vielen Mahlzeiten! All' das waren Gespenster, die aus dem Nebel sprangen und sie immer von neuem entsetzten.

Und wie sie sich mühte und quälte! Dabei malte sie ihr erstes Bild nach einem bezahlten Modell, rannte abends in den Aktkursus und war voller Hangen und Bangen, träumte von Ruhm und Glück und ging wie in der Luft vor innerer glückseliger Arbeitserregung. Emil, ihren Bruder, unterrichtete sie auch noch und ließ ihn nicht aus den Augen. Sie war die Peitsche für seine Faulheit und ermüdete nicht und blieb bei Laune und betete, daß es Gott ihr doch erleichtern möchte mit Emil, daß er Eifer und Pflichtgefühl in ihm erwecken möchte, ihm so viel Kraft geben möge, daß wenigstens etwas zustande käme.

Ja, das waren bewegte Zeiten und kein Wunder, daß Gastelmeier nach Ruhe ausschaute.

* * *

Und da war etwas, das in Ollys Seele als unsägliche Bangigkeit aufstieg, das wie eine dunkle 155 Furcht nachts über ihr lag, wie ein geheimnisvolles Grauen, das sie sich aus den Gedanken fortarbeitete am Tag, das sie im Gebet zu ihrem Gott trieb. »Mein Gott, mein Gott! Nein – nein, noch nicht!«

Und heiße Thränen flossen deshalb, heiße, versteckte Thränen. Niemand sollte fragen dürfen. – Schweigen, schweigen. –

Sie arbeitete doppelt angestrengt. – ›Wie ein zum Tode Verurteilter,‹ dachte Gastelmeier wieder. Ja, sie arbeitete in Angst und Bangen. Gastelmeier selbst mußte sich gestehen, vortrefflich, überraschend. Aber er gestand es sich schweren Herzens, halb unwillig, und Olly empfand, daß er nicht mit ihr lebte. Das freilich hatte sie noch nie von einem Menschen verlangt. Ihr Glück, ihr eigentliches Leben lag in der Zukunft. Dann, wenn der Ruhm kam, dann, dann – dann wollte sie leben.

– Aber jetzt – da war nur ein Gedanke und der erdrückte ihr die Seele. Sie fürchtete – glaubte – ahnte und es wurde ihr mehr und mehr zur Gewißheit.

* * *

156 Und es kam ein Abend, da saßen sie miteinander im noch nicht erhellten Zimmer. Das Feuer knisterte im Ofen. Draußen schneite es, und sie hockte zusammengekauert in der Sofaecke. Sie war aus der Stadt gekommen durch Schneegestöber, aus dem Aktkursus. Wie atemlos sie gearbeitet hatte – und wie müde sie war! Kalt, durch und durch kalt, die Füße naß, und sie hatte nicht die Kraft Strümpfe und Schuhe zu wechseln. Sie fühlte sich krank und ganz unter dem Druck einer Bangigkeit, die sie nicht bezwingen konnte. Gastelmeier saß am Fenster.

»Olly, hast du deine Schuhe gewechselt?« fragte er.

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Ich bin so müde,« sagte sie und fing zu weinen an.

Da war er bei ihr. »Was ist denn, mein armes Kind?« fragte er und kniete vor ihr nieder.

Ja, jetzt kniete er, wie sie es sich einmal vorgestellt hatte, und sie sah gerade auf seine Glatze, die im Dämmerlicht glänzte; das kam ihr komisch 157 und öde und langweilig vor – trostlos mit einemmal.

Er faßte ihre Füße an. »Wie naß!« sagte er. »Komm, ich ziehe dir deine Schuhe aus.«

Sie rührte sich nicht und er knöpfte ungeschickt die Stiefelettchen auf, zog ihr die nassen Strümpfe von den Füßen und befühlte die eiskalten Füße. Er rieb sie, holte eine Decke und wickelte die Füßchen hinein. »Komm, leg dich doch bequemer,« sagte er.

Er blieb vor ihr knieen und streichelte sie, und es war, als wenn er sprechen wollte. Er sagte aber nichts und es verging eine Weile, während der es ganz still im Zimmer war, nur das Steinkohlenfeuer knisterte leise. Endlich schien er zu dem, was er sagen wollte, gekommen zu sein. Er bog sich ganz über sie hin, ganz zu ihrem Ohr. »Olly, kleine Frau,« sagte er, »verschweigst du mir etwas – etwas – Olly, etwas?«

Er war sehr bewegt und hielt sie wie damals so liebevoll und zart, als wäre sie ein Heiligtum. Er flüsterte ihr wieder ins Ohr. Da brach ein Thränenstrom aus Ollys Augen, so 158 gewaltsam und heiß und schmerzvoll, und er bekam keine Antwort; ihr ganzer Körper war erschüttert, und er faßte ihre Hände und fragte noch einmal dieselbe Frage und bekam eine stumme Antwort, die ihn ganz verwandelte.

»Olly,« rief er glückselig, »nun wird alles gut!« Er strahlte, wie das gewöhnlich ist bei dem ersten Wunder, und hielt sie in seinen Armen an sich gedrückt, ohne darauf zu achten, daß das Geschöpf, das ihn eben mit einem Kopfnicken so beglückt hatte, sich in Jammer und Angst und Lebensverwirrung Leib und Seele zerquälte.

Wie sollte es werden? Sie fühlte sich so hilflos, so machtlos. Die schweren, erdrückenden Worte am Traualtar brausten ihr wieder wie Orgeltöne durch den Kopf. Es überstieg alles ihre Kräfte. Jetzt schon! – Das Leben drängte sich so übermächtig ein und trieb sie in die Enge, sie aus ihrem Paradies, aus der Luft, in der sie allein leben konnte. Sie sah nur Unglück und Trostlosigkeit, Kampf und Qual – und Gastelmeier war glückselig, schwatzte auf sie ein und war kreuzfidel. Sie wendete sich ab. Er that 159 ihr leid und kam ihr so komisch vor. Er mißfiel ihr. Dann dachte sie wieder: ›Er ist ein armer Mensch.‹

Sie dachte das alles in einer unsinnigen Erregung. Und diese selbe Nacht erkrankte sie schwer. 160

 


 


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