Helene Böhlau
Der gewürzige Hund
Helene Böhlau

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Das Schicksal webt seinen Teppich aus Hunderttausenden verschlungener Fäden, geheimnisvoll und unter strengen Bewegungen und Gesetzen, wie die sind, die den Lauf der Gestirne regeln und bestimmen.

Die Vorbereitungen zur Reise des Freiherrn Schenk von Geyern haben ihren Einschlag und ihre Ansätze schon im ersten Lebenshauch, den unsere Erde ausatmete, und darüber hinaus in Zeiten und Dunkelheiten, die keines Menschen Hirn zu fassen vermag. Das Gewebe all dieser Gestalten, die sich hier wie im Tanze ineinander schlingen, ließe sich bis zu Ende nie aufdröseln.

Weshalb hatte Felix Roggenbach sich nicht bezwingen können, Engele mit seinem Freund und Myrtel, der zarten Frau, in sein eigenes Haus einzuladen, in sein Erbteil, um sie dort zu bewirten und zu feiern?

246 Er war doch nicht welt- und liebesunkundig und kein schwacher Mensch, der willenlos sich seinen Wünschen fügt.

Er war durch eine harte Schule gegangen, seine Züge waren für sein Alter durcharbeitet und hatten sich eine Reinheit errungen, die das Fesselnde seines Anblicks sein mochte.

Im alten verwachsenen Garten war ein Tisch gedeckt mit dem köstlichen Service seines Onkels. Die alten Dienerinnen hatten unter seinen vorsorglichen Anweisungen alles so behaglich und einladend hergerichtet wie nur möglich. Kuchen, Früchte und Blumen dufteten, und Felix ging auf den mit Buchsbaum eingefaßten Wegen auf und nieder, voll Verlangen, die liebe Gestalt Engeles hier bei sich zu sehen. Sie war ihm so nah, er fühlte sie sich so nah. Sie erschien ihm vereinsamt im Altersnest, als winkten ihr keine Freuden des Lebens, als hätte er für sie zu sorgen. Mit der Perlenkette hing sie heute wunderlich fest an seinem eigenen Wesen. Er staunte – er wehrte ab – nein, nur jetzt eben, heute, vermochte er die schimmernden Perlen nicht von sich zu lösen; bald, ein andermal, wenn es ihm besser deuchte, wollte er sie vorsichtig 247 und zart von sich abstreifen, diese kühlen zarten Perlensträhnen, die doch wahrlich keine Ketten waren.

Er horchte. Durch das Pförtchen sollten sie kommen, das zur Saale auf einen stillen Weg führte, den die heiligen Jungfrauen so oft gegangen waren, um dem einsamen Spiel ihres unbekannten Freundes zu lauschen.

Ihm war es ein so süßer Gedanke, daß Engele durch dieses Pförtchen eintreten würde, als käme sie zu ihm alleine; die andern würde er nicht sehen.

So spielten seine Seele und seine Sinne ein süßes Spiel mit Vorstellungen, die ihm angenehm waren wie die Atemzüge an einem schönen Sommertag.

Da öffnete sich das Pförtchen, und Engele trat ein, zuerst für einen Augenblick allein. Felix Roggenbachs Herz schlug. Es war ein Augenblick! – Dann stand die kleine, geschlagene Freifrau neben Engele und jetzt sein Freund. Noch konnte Felix Roggenbach sich nicht ganz ermannen. Er war unendlich betroffen durch sich selbst, ging seinen Freunden innerlich erregt entgegen und begrüßte sie.

Da brachten die aufmerksamen Alten schon die Kannen mit dem duftenden Kaffee; denn für den 248 Erben ihres seligen Herrn hätten sie ihr Leben gelassen und wären nicht nur pünktlich gewesen.

Bald kam eine schöne, sommerliche Stimmung über die jungen Menschen um den liebevoll geschmückten Tisch im geheimnisvollen Garten.

Engele sah träumerisch auf die Blumen, die sie seit Jahren so wohl kannte, die Malven und Georginen und Zentifolienrosen. Die Levkoien hatten die Alten nach des Astronomen Tod geradeso gepflanzt, als lebe er noch. Es war alles in seinem Sinne geschehen.

Engele sah ihren alten Freund wie leibhaftig auf den Wegen wandeln.

Felix von Roggenbach widmete sich im Gespräch besonders seinem Freunde.

»Siehst Du: Ich will eine Blume offenbaren,« sagte der Freiherr lebendig. »Ich dränge mich ein in sie, ich werde sie selbst. Ich sehe sie nicht mehr. Ich bin sie selbst. Ich selbst aber schwand hin. Ja, ein Hinsterben. Ein Ersterbender muß der Dichter sein, verstehst Du mich, Felix?«

»Ich hör' Dich wie einst im alten Traumhaus!« sagte Felix warm. »Ja, aus solchen Tiefen willst Du Dichter sein! Ich verstehe Dich ganz. Du 249 könntest auch sagen: ›Wie der Tod ist der Dichter – Körperauslöser, Seelenbefreier, Körperhasser.‹«

»Ich freue, freue, freue mich, daß Du den Weg zu mir findest! ›Empfindend bist Du Seele, empfunden Leib,‹ heißt es. Du, Du!« rief der Freiherr. »Ja, wenn einer, dann Du! Aber was ich von Kunst will, und was ich nie erreichen werde, ist etwas so Unaussprechliches, etwas so Erschütterndes. Es wird durch die Dichtkunst nicht mehr eine Welt der Körper sein, der Hüllen, schaurigen Larven, wir werden sie erst von Angesicht zu Angesicht schauen!«

»Was Du willst,« sagte Felix von Roggenbach ernst, »ist groß und rein, und ich erkenne Dich wieder! Du bist Dir gleich geblieben und bist Deinen Weg gegangen; aber ich wollte, Du wärst kein Schenk von Geyern, sondern ein Bauernsohn mit Bauernkräften, und nur Deine Großmutter wäre der Sproß eines Schenk gewesen, ohne daß der Freiherr sich weiter um sein Früchtchen gekümmert hätte. Dann hätten wir jetzt einen Bauernsohn mit so viel Schenk-von-Geyern-Blut, daß Dir Dein Werk zu verwirklichen leichter sein würde.«

»Du meinst Verüberfeinerung eines alten Geschlechts?«

250 »Ja.«

»Du meinst hoffnungslose Schwächlichkeit?«

»Ich meine, einen von so hohen Zielen durchdrungenen Menschen sollte eine Geschichte, wie Du sie mit Goethe hattest, nicht aufhalten. Glaubst Du, Christus hätte sich von seinem Erlösungswerk abbringen lassen, wenn ein Prophet darüber gelächelt hätte?«

Der Freiherr schaute lebendig, wie seit langer Zeit nicht, vor sich hin.

»Ja, wir haben die Kraft, zu erlösen,« sagte er.

Die zarte Myrtel schaute selig auf Felix. Der war es, der ihrem Liebsten wohl tat, zu dem waren sie gereist, nicht zu Goethe. Sie hätte ihm die Hände unter die Füße breiten können.

Er verglich ihren Liebsten mit Christus. Wohl ihr, nun verstand sie erst ihre große Liebe ganz! Wie unermeßlich würde sie Christus geliebt haben, unsern Heiland! Welches Opfer würde da groß genug gewesen sein! Ihr sanfter Körper ist geschlagen worden, ihre Seele ist zutiefst getroffen, aber nicht entehrt. Gar nicht geschändet. Auch ihre Liebe nicht! Tiefes Leid ihres Liebsten war der Schlag, der sie traf. Sie war wie nicht geschlagen, 251 so rein und so gut. Ach, daß sie diesem gesegneten, lieben, klugen Menschen begegnet waren, der ihren Herrn Liebsten so wohl kannte!

Ueber Myrtels Gesicht lag eine große Seligkeit.

Felix sah dieses Leuchten, das von der zarten Frau ausging, und dachte bei sich: »Welch eine liebende Seele!« Ja, eine Frau ist reich an sich ohne alles Wissen und Können.

Und er stellte sich seine eigene Frau vor, ihr schönes Gesicht, ihren zarten Körper, ihr vollkommenes Betragen. Er versenkte sich ganz in diese Vorstellungen, sprach wenig zu Engele gewendet, hielt sich ganz zurück.

Aber wie sie dann alle oben auf der Plattform standen in der Dämmerung und Engele an dem astronomischen Instrument des Onkels richtete und es Felix so stellte, wie er hineinblicken mußte, um den Jupiter mit seinen Monden zu sehen, und er im dunklen Raum die leuchtenden Welten schweben sah, so erdenfern, da war es ihm, als entflöhe er selbst in die unausdenkbare Einsamkeit und Ferne dieser strahlenden Kugeln. Die Erde schwand ihm, mit ihr alles, was ihm auf dieser Erde wertvoll und teuer war, und nur Engele, Engele, Engel! Nur 252 das eine erfüllte ihn unbegreiflich. Sie war ihm wie die Erfüllung seiner unstillbaren Sehnsucht nach dem Vaterlande. Die Fremde hatte keine Kraft mehr gehabt, ihn zu halten. Er war heimgereist, krank an der Lust, Deutschland wiederzusehen, krank an zu viel Fremde, die in ihn eingedrungen war.

Myrtel ging vor dem Abschied mit Felix ein paar Schritte im Garten auf und nieder und sagte: »Verlassen Sie ihn nicht! Ich kann ihm nicht helfen. Alle meine Liebe ist nichts. Liebe ist traurig, traurig.«

Ehe Engele zum Pförtchen hinausging, gab sich ein Augenblick, daß Felix ihr die Hand küßte: »Engel, lieber Engel! Wie lieb bist Du mir.«

Das flüsterte er kaum hörbar in innerster Bewegung.

 

Die schönen Menschen, die Roggenbachs, standen auf ihrer Lebenshöhe. Aber es ist doch eine schwere Sache um einen Lebensabschnitt.

Solch verborgene Mahnung, die nur dumpf zu dem Herzen dringt, bringt die menschliche Natur zum Bewußtsein ihrer schönsten Kräfte. Gleichgültige Blicke und Worte erhöht sie zu liebevollen. Zartheit ist da zu finden, wo früher 253 Unbedachtsamkeit war, das Alltägliche scheint zu verschwinden, und das, wie es auf Erden nicht ist, das ewig Neue, ewig Erfreuliche, scheint hereinzubrechen.

Solche Zeiten sind es, die unsere Vergangenheit uns lieb und heilig machen. Derjenige, der von der wohlverborgenen Wahrheit am häufigsten bei Roggenbachs den Schleier lüftete, der über die nahe Trennung gebreitet lag, war der Onkel.

Er konnte es nie unterlassen, wenn einmal zufällig alle im Zimmer versammelt waren, zu sagen: »Da sind wir ja noch einmal alle beisammen!«. worauf er die nächststehende Nichte in voller Rührung an sein freundliches Herz drückte, seiner Schwester innig die Hand schüttelte, die ganze Reihe der Kinder mit liebevollen Blicken überschaute und so mit einem Male alle in eine wehmütige Stimmung versetzte.

An einem Abend dieser Tage kamen einige Gäste. Alma sang, und Elektrine begleitete sie. Das Klavier hatte seinen Platz in der Mitte des großen Zimmers. Alma stand in einem weißen Kleide hinter Elektrinens Stuhl. Während ihre weiche, volle Stimme durch das Zimmer zu der offenen Tür in den dunklen Garten hinaustönte, schien sich die ganze 254 Weihe ihrer Schönheit, ihres Glückes, ihres Friedens auf sie herabzulassen. Es war ein unbeschreiblicher Anblick, dieses große, junge Mädchen, dem in der Ruhe seines Glückes eine getragene, hoheitsvolle Melodie von den Lippen floß. Sie erschien in dieser Stunde der Inbegriff der Schönheit.

Als sie geendet, eilte der Onkel Friedrich auf sie zu, lag auf den Knien vor ihr, hatte ihre Hände gefaßt, war wieder aufgesprungen, alles mit einer Lebhaftigkeit und Leidenschaft, die man dem Guten kaum zugetraut hätte, und sagte: »Du liebes, gottgesegnetes Kind! Singe noch, mein Herz!«

Sie nickte ihm kaum merklich zu, blätterte in den Noten, flüsterte ein paar Worte mit Elektrine, und wieder schwebten die sanften, vollen Töne durch das Zimmer in die Nacht hinaus.

Eine zarte Gestalt mit vorgebeugtem Kopfe lauschte hingegeben, andächtig. Sie saß neben den jüngsten Schwestern. Auf ihrem Gesicht lag ein träumerischer, glücklicher Ausdruck, ein Verlorensein in Gedanken.

Während des Gesanges trat durch die offene Gartentür Felix ein, setzte sich, ohne daß er eine Störung verursachte, auf einen Sessel nahe der 255 Gartentür und lauschte mit den übrigen. Die Gräfin nickte dem Eingetretenen, als sie ihn nach einer Weile bemerkte, freundlich und erfreut zu, und auch von den Töchtern und Georg erhielt er seine stummen Grüße.

Er war bei seinem Freunde gewesen, der einer Schwermut verfallen zu sein schien, deren Grund Felix nicht sah. Er mußte fast annehmen, daß sie körperlicher Natur sei. Das stimmte ihn sorgenvoll.

Nachdem der Gesang geendet, wurde er von allen Seiten fröhlich begrüßt. Georg hing sich an seinen einen Arm und die jüngste Tochter an den anderen. So wandelten die drei, während die übrigen plauderten und hier und dort im Zimmer verteilt saßen, miteinander auf und nieder.

Georg fiel es auf, daß sein guter Freund nachdenklich war. Er hing sich ihm deshalb noch fester an den Arm, blickte ihn zutraulich an und fragte: »Nun, Felix?«

»Was ist's, mein Junge?«

»Du weißt's schon,« sagte Georg, indem er zärtlich seinen Kopf an Felixens Arm schmiegte.

»Was meinst Du, Georg?«

»Ich denke, daß Du irgend etwas hast,« erwiderte der Knabe.

256 »Sieh' mal einer an, wie klug Du bist,« sagte Felix, schlug seinen Arm um des Knaben Schulter und drückte das Kind an sich.

»Du bleibst doch noch lange bei uns?« fragte Georg. »Du gehst doch nicht bald wieder?«

»Wie kommst Du darauf?«

»Weil mir das von allem, was mir geschehen könnte, am leidsten täte.«

»Es könnte wohl sein, daß ich ginge, daß ich sogar zum letzten Male heute hier wäre,« sagte Felix bewegt.

»Ach, nicht doch! Was fällt Dir ein!« rief Bettina, die bis jetzt, ohne etwas dazwischenzureden, den beiden zugehört hatte. »Das darfst Du nicht.«

»Wir wollen davon schweigen. Vorderhand braucht niemand etwas davon zu erfahren. Hört Ihr?«

»Ja,« sagten die beiden mit niedergeschlagenen Mienen und ließen wie auf Verabredung Felixens Arm los, als müßte er gleich im Augenblick auf und davon.

Er drückte Bettina freundlich die Hand und trat zu seiner Tante, der Gräfin, mit der er längere Zeit sich heiter unterhielt. 257

 

Nach dem Abendessen gingen die Gäste und die jungen Leute in den Garten hinab. Während alle aufbrachen, um hinauszugehen, sprach Felix diesen Abend das erste Wort mit Engele.

»Ich bitte Sie, Engele,« sagte er, »darf ich Sie ein Stück begleiten?«

Sie antwortete, indem sie mit ihm die wenigen Stufen hinabschritt, die zu dem Garten führten. Es war eine jener köstlichen Sommernächte, still, geheimnisvoll atmend und dunkel. Sie gingen miteinander unter den hohen Linden, in deren Kronen die Dunkelheit dicht versank. Man hörte hin und wieder Schritte von den Wandelnden im Garten, aber der Friede der Sommernacht lag ungestört schwer auf den Laubmassen, auf dem wärmedurchströmten Rasen, in den Straßen, auf den Häusern und weithin auf den duftenden Feldern.

Felix war vordem, besorgt und gedankenvoll, stundenlang auf und nieder gewandelt, tief bewußt, daß er einen innigen Anteil an seiner kleinen Freundin genommen habe – vom ersten Sehen an. Er sah sie immer in einer um Hilfe bittenden Zartheit vor sich, nie besonders heiter, nie so, daß er hätte sagen können, daß sie bezaubernd sei, und doch, wie 258 fühlte er sich gefesselt! Es war ihm wohltuend gewesen, als man sie im Scherz seinen Schützling nannte. Er fand sich wahrhaft beglückt, wenn er sie durch einen Gedanken, durch irgendeine Mitteilung belebt hatte, und vergegenwärtigte sich, mit welcher Andacht sie hörte und aufnahm.

Es war ihm, als sähe er ihre Augen mit all den Sorgen, seinen eigenen Sorgen erfüllt, die er für sie und sich empfand, die in ihrer Seele gewiß nicht wohnten. »Nein, gewiß nicht,« dachte er.

Mit dem Entschluß im Herzen, sie nicht wieder zu sehen, hatte er Tage in ernster Beschäftigung verbracht, die auf seine Abreise Bezug hatten, im Ordnen von Briefen, von Büchern. Er hatte die Ueberwachung seines Besitzes und die Erledigung einiger Geschäftsangelegenheiten, die mit der Erbschaft in Verbindung standen, einem Rechtsanwalt übergeben und war bereit, seine Rückreise schon jetzt anzutreten, hatte sein Haus sorgsam bestellt, seine Gedanken überwacht und so eine Woche angestrengt gelebt.

Eine Änderung war in dem Plan seiner Abreise eingetreten. Er konnte Engele nicht in dem Glauben lassen, daß er gedankenlos von ihr gegangen sei.

259 So war er ernst und fest den Abend bei Roggenbachs während des Gesanges eingetreten, und so ging er mit Engele schweigend durch den dunklen Lindengang. Endlich sagte er: »Ich kam, um Abschied zu nehmen, Engele, ich tu's um Deinet- und meinetwillen. Wir würden einander zu lieb bekommen.«

Er lauschte auf eine Erwiderung, auf einen Atemzug des Mädchens, das leise und langsam neben ihm herging. Sie erwiderte nichts. Während er bewegt den Kopf zu ihr hinbeugte, um, trotz der Dunkelheit, eine Lebensäußerung auf ihren Zügen zu lesen, fühlte er ihre Hand leicht auf seinem Arm liegen, und sie sagte:

»Das ist der Abschied für immer!«

Sie blieb stehen und lehnte sich an einen Lindenstamm, ruhig und schweigend. Felix stand vor ihr. Es war, als wenn die Dunkelheit, die in die Kronen der mächtigen Bäume gesunken war und diese aufzulösen schien, auch die sanfte Gestalt mit in sich aufgenommen habe.

Nach einer Weile klang aus dieser tiefen Nacht eine schüchterne Stimme an sein Ohr. Engele fragte kaum hörbar: »Darf ich jetzt noch fragen und sprechen, was ich will?«

260 »Alles,« flüsterte er bewegt, und sie gingen miteinander im Dunkel der Linden entlang.

»Denken Sie böse von mir?«

»Wie sollte ich?«

»Dann seien Sie«, bat sie mit zitternder, hinsterbender Stimme, »jetzt gut, sprechen Sie nicht so gleichgültig und nicht so hart!«

Er nahm ihre Hand in die seinige.

»Wir wollen unter den dunklen Bäumen hervor. Man sieht gar nicht. Kommen Sie.«

Sie bog die tief herabhängenden Zweige einer Linde beiseite und sie standen vor einer weiten Rasenfläche. Nach der Finsternis in dem Lindengang schien es hier fast hell zu sein.

Sie richtete sich mit einemmal gerade auf: »Aber denken Sie doch, Sie haben alles überlegt, wie Sie mit mir sein wollen, wenn wir uns wiedersehen, und haben Entschlüsse gefaßt. Und ich habe gar nichts gedacht.« Hier hielt sie inne und preßte beide Hände auf ihre Brust. »Ich möchte Sie fragen,« sagte sie dann ruhig, ganz einfach und ganz in Freundlichkeit und Liebe zu ihm: »Sage mir, wie Deine Frau ist?«

»Mein liebes Herz,« antwortete Felix bewegt.

261 »Du möchtest mir es nicht sagen,« erwiderte sie. »Dann will ich es sagen. Ich habe heut nacht lange, lange sie mir vorgestellt. Sie sieht vornehm aus, so wie es mir fremd ist; mir war es erst ängstlich, an sie zu denken. Und sie sieht schön neben Dir aus. Sie paßt zu Dir. Sie ist ein ganz klein wenig kalt, so wie Du es auch jetzt mit mir bist, weil sie, wie Du jetzt, es für gut findet, so zu sein.«

Engeles Stimme zitterte; sie war von Tränen belastet.

»So sahst Du sie?« fragte Felix.

»Ja.«

»Sahst Du sie so,« fragte er weiter, »daß es Dir unmöglich war zu denken, daß wir sie kränken könnten?«

»Ja. Ich muß Dir gestehn, daß ich mir nicht denken kann, daß alles so ist, wie es ist – und wenn wir miteinander sprachen, habe ich mir es zuletzt gar nicht mehr vorstellen können. Sonst wäre ich vielleicht anders mit Dir gewesen – vielleicht,« flüsterte sie hastig.

»Wann gehst Du?« fragte sie nach einer Weile, als ob sie Mut faßte.

»Morgen früh.«

262 »Lebe wohl,« sagte sie ruhig und gab ihm die Hand. »Leb' wohl.«

Dann stand er allein und hörte gespannt auf ihre Schritte, bis sie verklungen waren.

Er war fest geblieben. Er hatte sich besiegt. Aber er fühlte sich im tiefsten Herzen verwundet.

Er bog die Zweige wieder zurück und stand in dem dunklen Lindengang, ging wie im Traum langsam vorwärts und ließ sich auf eine Bank nieder.

Hier blieb er sitzen, stützte den Kopf in die Hände und fühlte sich schwer getroffen.

So saß er in dumpfem, drückendem Empfinden.

Nachdem er lange im dunklen, schwülen Lindengang wie ermattet geblieben, machte er sich auf, um in sein eigenes Haus zu gehen. Heute noch wollte er von den Verwandten Abschied nehmen. Er wußte, daß er Engele dort nicht mehr finden würde. Aber als er unter den Linden hervortrat, waren die Lichter im Hause schon alle gelöscht, und es lag in tiefem Dunkel. Das erschreckte ihn. Morgen erst mußte er sich bei Roggenbachs verabschieden – morgen erst.

Der Gedanke legte sich lähmend über ihn. Bei der Ueberwindung, das Ziel zu erreichen, erschien ihm ein Aufenthalt, eine Erschwerung als unerträglich. Er 263 atmete tief auf, stand und blickte zu den dunklen Fenstern; wie lange? Da hörte er leise Schritte in seiner Nähe. Das Herz stockte ihm in einem Strom von Empfindungen, der ihn mit sich fortriß, und er lauschte angestrengt. Er schien sich getäuscht zu haben und lauschte wieder. Da, ehe er sich fassen konnte, fühlte er seine Hände ergriffen.

»Ich wollte Sie noch sehen,« flüsterte ihm eine zitternde Stimme zu, »und ich fürchtete, Sie wären schon fort.«

»Engele!« rief er überwältigt und schloß sie in seine Arme. »Du süßes, unkluges Mädchen!«

Sie ruhte an seiner Brust, ohne Bewegung. Er sah im Dämmerlicht, daß ihre Lippen halb geöffnet waren, wie zu einem Schmerzens- oder Jubellaut; aber er wagte es nicht, diese Lippen zu küssen.

»Du bist ein böses, armes Kind, Du solltest mir folgen,« flüsterte er und bog sich nahe zu ihr herab. »Ich bin Dein Freund und bin klüger als Du.«

Er fühlte, wie die zärtliche Gestalt sich langsam von ihm löste.

Unaufhörlich hatte er die Empfindung gehabt, bei jedem Wort, das er sprach, als wäre er gezwungen, dieses Herz auf das grausamste zu martern. 264 Er wußte kein Wort, das Wohltat sein würde, und vermied jedes, das ihn und sie täuschen und in ein Glücksempfinden stürzen könnte, das ewig zu sein scheint.

Er stand hoch aufgerichtet.

»Gute Nacht,« sagte sie kaum hörbar. »Ich will jetzt gehen.« Sie reichte ihm die Hand.

Da schlang er seinen Arm um das bebende Mädchen, preßte es an sich, neigte sich zu ihr und drückte auf die offenen, erschreckten Lippen einen langen, heißen Kuß.

Sie brach in einen Tränenstrom aus und sagte: »Ich habe Dir den Abschied schwer gemacht.«

»Ich bleibe etwas länger,« antwortete er.

»Ja,« erwiderte es leise aus tiefster Seele.

»Wenn Du gehen mußt, bei unserm nächsten Abschied wird es anders sein. Glaub's mir, es wird dann anders sein.«

»Ich bleibe noch, Engele.«

Sanft und behutsam legte er ihr den Arm wieder um die Schulter. Da hob sie die Hände wie bittend zu ihm empor, ohne zu reden.

»Was willst Du, mein Liebling?« fragte er zärtlich.

265 »Küsse mich nie wieder,« sagte sie leise und befangen.

»Du bist ein braves Kind. Ich aber sehe, wie über dem Leben dreier Menschen von jetzt an ein schweres Schicksal liegt. Wer wird ihm Einhalt tun? Ich weiß es nicht.«

»Mir war, als müßtest Du – als müßtest Du noch ein Weilchen bleiben.«

»Du liebes Geschöpf.«

Sie lächelte ihm zu mit jenem ruhigen, friedlichen Glück in den Zügen, das noch vor kurzem die Roggenbachschen Töchter von ihr unterschieden hatte. Dann ging sie durch die offene Gartentür hinaus in die Dunkelheit.

Und er blieb regungslos stehen, lauschend, mit angehaltenem Atem. Jedes Geräusch, das feinste, ließ ihm das Herz fast stillestehn, solange er ihren leichten Schritt verfolgte. Alle Angst, alle Erregung, die sie nicht empfand, regte sich in seinem Herzen. Er zitterte, daß man das liebe Mädchen entdecken könnte, vergaß Zukunft und alle Bedenken und trug im Augenblick nur Sorge um sie; und als sie längst in Sicherheit war, fühlte er die Unruhe noch in sich wie Fieber.

266 Während er ihren leichten Schritt hörte, erhob sich in seiner Seele ein Bild jener Macht, die wir Liebe nennen – ein Bild mit fremden, starren Zügen; nicht jenes freundliche Bild, das friedlich Liebende zu sehen glauben, er sah Züge, vor denen er bebte, in denen eine furchtbare Tyrannei leuchtete, Züge, die unter ihrer Schönheit Härte, Grausamkeit verbargen, die auf die Menschheit spöttisch zu blicken schienen, deren Spott man für Lächeln hält, deren kalte Grausamkeit und Härte für ein mildes Regiment. Er sah das schwere Schicksal, das wir Liebe nennen.

Noch lange ging er im Garten auf und nieder, ehe er sich entschloß, heimzukehren.

Und alle Verwirrung, alle Klarheit, alle Angst und aller Mut lösten sich zu einem einzigen Gefühl: Er liebte sie.

 

Beim Freiherrn Schenk von Geyern hatten sich die Genies versammelt. Sie saßen in der Sommerlaube. Myrtel war nicht zugegen.

Einem jeden fehlte Myrtel. Sie war allein spazierengegangen, wie der Freiherr sagte. Das tat sie des öfteren. Solch eine Seele wie Myrtel braucht Einsamkeit.

267 Zuerst hatten sie sich in dem behaglichen Wohnzimmer der verstorbenen Tante aufgehalten. Sie hatten debattiert. Lavoisiers Verbrennungstheorie, für die sich Richard Stiefel augenblicklich außerordentlich interessierte, beschäftigte sie. Sie kamen auf Galls Schädellehre zu sprechen, und Mathias Heinloth machte Messungen und hielt Untersuchungen an den Schädeln der Gruppenmitglieder und kam zu vortrefflichen Resultaten. Man hatte wirklich das günstigste Material, um eine große Persönlichkeit zu konstruieren. Dem einen fehlte Phantasie, der andere war hervorragend Egoist, wieder einer war nachweisbar mit großem Ueberblick gesegnet, bei einem andern war diese Eigenschaft verkümmert. Mathias Heinloth war schrankenloser Liebe fähig und sehr phantastisch. Richard Stiefel fehlte dieser Ueberschwang völlig, dieser war mathematisch von hoher Bedeutung. Der Poetenknorpel schien bei dem Freiherrn Schenk von Geyern mächtig entwickelt, aber etwas kompliziert gestaltet.

Große menschliche Eigenschaften der verschiedensten Art gediehen bei allen. Der Baron von Blonberg aber war geradezu Großgrundbesitzer jener Bucht der Gesetzmäßigkeit, des Wohlanstandes 268 und der guten Sitten. Er war gewissermaßen als ein Hafen der beruhigendsten Eigenschaften anzusehen, was alle mit einem Lächeln quittierten. Hingegen hatte Richard Stiefel Hang zu den eigentümlichsten Verirrungen. Kurz, man war mit allem Erdenklichen auf das vortrefflichste versehen, wenn man sich auch augenscheinlich über den Inhalt der Gefäße menschlich oft geirrt hatte, was Richard Stiefel veranlaßte, über den durchaus trügerischen gesunden Menschenverstand, der Sicherheit der Wissenschaft gegenüber, den Stab zu brechen, was Mathias Heinloth aber nicht Wort haben wollte.

»Wir werden sehen,« sagte er nach langem Disputieren, »wer recht hat. Noch ist nichts bewiesen.«

Ein Almanach sollte gegründet werden, das war unter allen Umständen erforderlich.

Wunderlicherweise fehlte nach Galls Theorie der Sinn für Gelderwerb und Wirtschaftlichkeit fast allen. Am ersten war er noch bei Mathias Heinloth entwickelt; aber dies wertvolle goldene Ei lag bei ihm in einem wahren Nest der gegensätzlichsten Eigenschaften. Ueber diesen Fall war große scherzhafte Meinungsverschiedenheit, und es wurde mit 269 Witz und Geist darüber gestritten. Alf Gundelwein war auch dazugekommen. Er kam immer, wenn man es gar nicht vermutete, und war erstaunt, die kleine Freifrau nicht vorzufinden. Die Unterhaltung stockte – die Dämmerung sank.

Oft hatte der Freiherr schon seine Uhr gezogen, oft hatten die Dichter schon auf die tickende Standuhr der verstorbenen Tante geblickt, die gleichmütig die Stunden angab, ob für diesen, ob für jenen.

Da war man hinaus in den Garten gegangen. Jeder war unruhig, und einem jeden war es gar öde zumute ohne Myrtel.

Sie gehörte zwar nicht zum Ichsee, aber wenn sie nicht zugegen, schien die warme Quelle zu fehlen.

 

Die Dämmerung sank tiefer. Hans brachte das Windlicht. Die Unterhaltung kam nicht mehr in Fluß, die Dichter saßen und warteten. Sie warteten mit Ausdauer – stumm. Was sollte man tun?

Der Freiherr, der bleich aussah, ging in den Gartenwegen auf und nieder. Niemand fragte. Ueber allen aber lag Bangigkeit. Es war, als wenn Myrtel gestorben wäre, und sie säßen nach dem Leichenbegängnis beieinander.

270 Hin und wieder sprach einer ein Wort, das von Myrtel handelte. Mathias Heinloth war ganz in sich zusammengesunken. Er sagte nichts.

Der Freiherr aber ging im dunkeln Garten.

»Hat sie einen Lieblingsweg?« fragte Freiherr von Blonberg leise.

»Was wissen wir von Myrtel!« sagte Mathias Heinloth endlich dumpf. »Uns muß genügen, daß sie unter uns ist, das holde Geheimnis!«

Der Freiherr aber schritt und schritt und dachte nur das eine, und immer das eine: daß er Myrtel geschlagen hatte.

Es war seitdem alles wie sonst gewesen, es schien dieser Schlag ein Traum zu sein, Myrtel hatte vor sich selbst und vor ihm alles verleugnet. Sie war über dies Unerhörte hinweggegangen mit einem mitleidigen, wehmütigen Lächeln. Der Schlag war wie ins Bodenlose, Wesenlose gesunken; aber deshalb graute ihm doppelt vor diesem Schlag – und vor sich selbst.

Ja. es war zum ersten Male in seinem ganzen Leben, daß er sich selbst deutlich sah, und er erschrak und entsetzte sich. Wie schleifte er Myrtel mit sich durchs Leben! Er – er – er! und immer er – 271 und seine verfluchte Dichterei! Niemand streckte die Hand danach aus. Er sah seine eigene Mißlaunigkeit. Er fühlte seine eigene gräßliche Last.

 

Immer, wenn er in den Schein des Windlichts trat, sah er die Dichter still oder flüsternd sitzen; aber Mathias Heinloth, der viereckige Mensch, saß bleich da, ganz bewegungslos, als wäre ihm sein Liebstes gestorben.

Und keiner regte sich, und keiner stand auf, um Myrtel zu suchen. Es schien, als wollte niemand sich recht zugestehen, wie sehr Myrtel erwartet wurde.

»Keiner aber«, dachte der Freiherr, »weiß, daß ich die liebe Myrtel geschlagen habe.«

In seines Herzens Angst, wenn Mathias Heinloth allein in der Laube gesessen hätte, wäre er, von der Qual seines ganzen Wesens getrieben, zu ihm hingestürzt und hätte ihm gesagt: »Was meinst Du? Ich – ich habe Eure kleine Heilige geschlagen, mein süßes Weib, deren Liebe ich trank, deren Güte und Zartheit und reine Glut der Liebe nie versiegte. Herr Gott im Himmel,« schluchzte er in seiner Qual in sich hinein, »ich will anders werden, laß mich 272 einen bessern Menschen werden – nur gib sie mir zurück!«

Und wie er in der Erkenntnis und Zerknirschung seiner Seele so weit war, daß er zu denen in der Laube wie zu seinen Richtern hinstürzen wollte, um sich selbst anzuklagen, hatten sie alle leichte Schritte überhört, und Myrtel trat in den hellen Lichtschein.

Sie sagte, daß sie fehlgegangen und nicht wieder heimgefunden habe. Sie war müde.

Stundenlang mußte sie in der Irre umhergelaufen sein, und hatte immer von neuem zu Gott gebetet, er möge ihrem Liebsten Freude geben, möge ihn zum Leben erwecken, möge sie den Weg führen, den sie gehen müsse, um ihn zu erlösen. Amen.

 

Leben kam wieder in die Dichtermänner in der Laube. Jeder wollte Myrtel etwas zuliebe tun. Zu allererst ging man mit Myrtel in das Zimmer zurück, damit sie sich nicht erkälte.

Schweigsam aber blieb Mathias Heinloth. Der mochte wohl in dieser Stunde empfunden haben, daß ernstlich und unabwendbar eine große, tiefe Liebe und Leidenschaft bei ihm eingekehrt war.

273 Myrtel aber erschien ihr Liebster wie umgewandelt, als hätte Gott ihr Gebet erhört.

Und als sie alle gegangen waren und sie müde im Sessel lehnte, sank er ihr zu Füßen, verbarg sein Gesicht in den Falten ihres Kleides und sagte tief erregt:

»Als Du nicht bei mir warst und ich allein und verlassen in der Dunkelheit auf und nieder ging, fürchtend, was ich Dir nicht aussprechen kann, und alle ahnten, als wärest Du hingeschwunden, da sah ich alles, wie es war. Da erwachte ich aus dem Schlaf meines Lebens und sah mit Entsetzen, wie das wundervolle Dasein verfloß, und ich hatte keinen eigentlichen Teil daran. Ich sah meine Selbstsucht, meine Tatlosigkeit, meinen Mißmut, alle Torheit, alles, weil ich glaubte, Myrtel, Du wärst mir verloren! Und, Myrtel, süße, heilige Liebste und Frau! ich schwöre Dir, was in dieser Stunde erwachte, soll lebendig bleiben. Diese große Lebensstunde soll mich umgewandelt haben!«

Myrtel aber neigte den Kopf tief zu ihm hinab, und er fühlte ihre Tränen auf seine Hände tropfen.

»Myrtel, ist das die Freude der Engel über einen Sünder, der Buße tut?«

274 Sie küßte ihn auf die Stirn und lächelte unter Tränen.

Wie aber war in diesen letzten Stunden ihr Gebet gewesen, als sie angstvoll in der Irre ging? Gott möge sie den Weg führen, den sie gehen müsse, um ihren Liebsten zu erlösen. Amen.

Da erschien es ihr plötzlich wie durch grelle Erleuchtung, als hätte er sie schon den Weg geführt, und sie stände vor einem gräßlichen Abgrund, in den sie hilflos und rettungslos hinabstarrte, und der sie mit schauervoller Lust und Gewalt zu sich hinzog.

Da schrie Myrtel wild auf, riß sich von ihrem Liebsten los, warf sich auf die Knie und verbarg das Gesicht in ihre Hände: »All das – weil ich zum erstenmal nicht bei Dir war! Nie mit mir! Nie mit mir!« Ein Schluchzen schüttelte sie.

Zum erstenmal im Leben erschien Myrtel ihm unbegreiflich, zum ersten Male sah er sie fassungslos sich gehen lassen. Also das konnte sie.

Aergerlich war er, daß sie so sonderbar seine große Lebensstunde auffaßte. Das hatte er wahrlich nicht erwartet, behielt aber seine Fassung und ließ sich durch Myrtels Unsinnigkeit nicht aus seiner Bahn bringen, sondern war gut und hilfreich zu ihr. 275 Er mußte den widerlichen Schlag gutmachen. Keinerlei nervöse Ueberreizung packte ihn; er blieb vollkommen Herr seiner selbst.

 

Am andern Tag, einem wundervollen, hellen Spätseptembermorgen, als das freiherrliche Paar beim Frühstück in der Laube saß, erschien Felix von Roggenbach. Lebhaft begrüßte er seinen Freund und Myrtel. Er konnte im Gruß seine Liebe und Freundschaft geben, denn er brachte immer eine Bestätigung seiner Zuneigung mit sich.

Heute warf er sich in einen Stuhl, breitete beide Arme aus und rief: »Welch ein Land! Ihr steckt in Aesthetik, in Gott weiß was! Roggenbachs bereiten nichts als Hochzeit vor, als wäre diese Hochzeit das Ende der Welt überhaupt, Frohbergs sprechen abends, damit nichts Ernstes an sie herankommt und ihnen die Nachtruhe stört, von Tieren und Philosophie, Knebel ist vielleicht der einzige, der dunkel in die Zukunft blickt, von all den wolkenkuckucksheimischen Leuten hier.

Alles übrige wuzelt wissenschaftlich, professorlich, ästhetisch und dabei ein bissel ungewaschen in Jena herum. Sie machen's wie die Waldtiere, die, 276 wenn ein Kriegswetter heraufzieht, sich nicht dran kehren. Der Fink baut sein Nest und pfeift, Dachs und Maulwurf wühlt, und der Fuchs treibt's, wie er's immer trieb, politisiert nicht mehr wie hier die Professoren, doch hat er bessere Witterung, glaub' ich. Auch die Raben sollen nicht ohne vorschauende Politik sein, wenn sich's um Schlacht und Kriegsgreuel handelt.«

»Krieg?« fragte der Freiherr.

»Jawohl! Hier ist man vielleicht weit vom Schuß!«

»Im Ernst,« sagte Freiherr Schenk von Geyern, »Du glaubst an einen Krieg zwischen Frankreich und Preußen? Nimmermehr. Weshalb sollte Preußen jetzt eine Entscheidung der Waffen suchen?«

»Suchen? Nein,« sagte Felix von Roggenbach. »In Gotha denkt man schon weniger erbaulich wie hier über alle Zustände. In England sieht man klarer; je weiter entfernt, je größer der Ueberblick. Im schlimmsten Falle wird einmal das linke Rheinufer der Schauplatz kriegerischer Unruhen, damit beruhigt man sich hier, ein ganz bequemer Gedanke. Was geht, zum Teufel, das linke Rheinufer die Leute an!

277 Gestern kam Baron von Rosen aus Gotha, Almas Verlobter, und ich soll Euch von Graf und Gräfin Roggenbach als meine nächsten Freunde zur Hochzeit bitten. Ich tue es hiermit. Die Hochzeit werden sie ja, so Gott will, noch unter Dach bringen.«

Myrtel schaute, ohne ein Wort zu finden.

»Nun seien Sie nicht bange, liebe, gnädige Frau,« sagte Felix von Roggenbach, »ich bin vorerst der einzige hier, der so unkenhaft quakt. Mich hat ein Brief aus England von meiner Botschaft stutzig gemacht. Damit ist noch nicht alles gesagt und getan. Vorderhand feiern wir Hochzeit, sind fidel, stören den Frieden Roggenbachs nicht und behalten die sonderbare Nachricht still für uns. Ein schönerer Herbsttag ist nicht zu denken! Alles ist friedvoll und ruhig, und der Augenblick ist Lebenssicherheit, daran muß man sich halten, wie es auch sei! Aber was hat Deine Myrtel, ist es der Schreck, der sie so bleich macht?«

»Glaubst Du, Myrtel ist eine Heldin?«

»Sie muß wohl eine sein,« antwortete Myrtel wunderlich ernst.

Stumm saß man sich gegenüber.

Myrtel hatte eine bange, schwere Nacht 278 durchlebt. Der Weg, den sie geführt zu werden glaubte, ging bis zu jenem Abgrund, der sie verwirrend angezogen. Erst die hellen Morgenstunden hatten ihr Schlaf gebracht.

Der Freiherr, erregt von Kriegsgedanken, erhob sich und ging in der großen Laube auf und nieder.

Niemand fand ein Wort, das die Kraft hatte, so drohend Ungeheures, das nun in den drei Seelen stand, in eine Form zu fassen.

»Da hat es mich zur rechten Stunde hergetrieben,« sagte Felix endlich warm und schaute sinnend vor sich hin. »Nun wird mein Traumland Leben und wahrhaftig auch Blut bekommen! – und ich werde eingeheimst – einge – heimst. – Von Heim kommt das – wie eine Garbe eingeheimst.« Er machte eine heranholende Gebärde. »Jetzt können wir uns reinbaden vom Einzelschicksal. Das wird uns allen guttun. Heraus aus der Enge! – aus der Tüftelei! der Tüftelei! Wir werden neue Menschen werden. Leb' wohl!«

 

An diesem Tag saßen die Genies wieder einmal im Jungfernturm versammelt, gewissermaßen um das Wiedererscheinen Myrtels zu feiern.

279 Einer nach dem andern war mit der gleichgültigsten Miene von der Welt eingetreten, denn sie wußten, daß sie nicht jeden Tag erscheinen durften.

Einen Vorwand hatten sie auch alle.

Stiefel kam besorgt seines Regenschirms wegen, Freiherr von Blonberg hatte eine wichtige Eintragung im Zentralhirn zu machen, Schätzler brachte erfreuliche politische Nachrichten aus dem Schmusgrund, die mit den ernsten Neuigkeiten Felix Roggenbachs nicht die geringste Aehnlichkeit hatten, nur Mathias Heinloth machte keine Umschweife.

Wie sie nun so friedlich beieinander saßen und es sich in Myrtels Nähe wohl sein ließen, die wie immer freundlich und von einer lieblichen Heiterkeit wie ein blinkender Stern war, meldete der brave Hans Mamsell Vulpius an.

Die kleine tanzende, sumsende Welt, die das große Gestirn Goethe umquirlte, die diesem zugehörig war, brachte einen Eindruck mit sich wie der Pfau in Indien, der die Nähe des Königstigers kündet.

Der Freiherr Schenk von Geyern wurde bleich, doch faßte er sich, raffte sich zusammen. Sein Schwur von gestern lag ihm noch im Blute.

280 Myrtel schaute angstvoll auf ihren Herrn Liebsten, ob sie die bittere Stunde bei Goethe in seinen Zügen wieder drohend wie ein Gespenst auftauchen sehen würde. Aber nein, er blieb gelassen, trotz seiner Blässe.

Der Ichsee aber schlug Wellen des Erstaunens. Mathias Heinloth machte ein kurioses Gesicht. Er hatte immer ein etwas schlechtes Gewissen; denn er wühlte in Weimar und Jena nicht übel um den Turm Goethe.

Da trat das rote Wunder ein, im roten, indisch seidenen Lieblingskleide, lächelnd, lachend und alles Lebens voll. In den sanften Ichsee war ein springend lebendiges Nixenweib geplumpst und plätscherte darin, machte Wellen.

»Herrgott, die vier Männer im eisernen Ofen!« lachte sie und blieb erstaunt stehen, nachdem sie Myrtel und den Freiherrn begrüßt hatte. »Den Gundelwein hab' ich mit Müh' und Not abgeschüttelt. Ich wollte einmal ohne weimersche Fresse sein. Erschrecken Sie nicht vor dem abscheulichen Wort – das is weimersch.« Damit schüttelte sie nochmals Myrtels zarte Hand und reichte ihre andre dem Freiherrn und schaute lebensprühend und voller Güte auf beide.

281 »Nein, ich mußte nach Ihnen sehen.« Das war alles so lebendig und warm, als wäre der Sommer in Person ins Zimmer gekommen. Sie brachte auch frischgepflückte Aepfel und Reineclauden aus Goethes Garten mit, in einer großen Tasche, und schüttete diese über den Tisch aus, daß die Hälfte der Früchte zur Erde rollte. Alles bückte sich.

Mamsell Vulpius aber lachte und rief: »So komme auch ich zu Reverenzen wie eine Königin.«

Myrtel hielt einen roten, schönen Frühapfel in der Hand.

»Ach,« sagte sie, »solche werden jetzt auch bei uns reif sein.«

Vor ihren Augen stand ein großer Baum, der, jährlich fast, gute Ernte brachte an duftenden Sommeräpfeln. Myrtel war ganz entrückt, ihr war's, als hätte sie den Apfel in ihrer Hand in der sehnsüchtig geliebten Heimat gepflückt. Ihre Augen standen voll Tränen.

Aber Mamsell Vulpius, das fröhliche, schöne, festliche Weib, war so freundlich, so gutartig, so voller Wärme, pries den Freiherrn wegen seines vortrefflichen Aussehens und sagte: »So lob' ich mir's. So lob' ich mir's!«

282 Mamsell Vulpius nahm alle mit sich hinunter ins Paradies, unter die hohen Linden an der Saale. Da gab's in einem kleinen Wirtshausgarten Musik – Zigeunermusik, eine außerordentliche Seltenheit.

»Das ist so mein Gusto,« sagte sie, »da werd' ich lebendig, so was geht mir über alle andre Musik, die macht Champagner aus jedem Blutstropfen! Bei so was bin ich immer zu haben.«

Unterwegs begegnete man natürlich Herrn Gundelwein.

Mamsell Vulpius rief auf ihre derbe, frohe Art: »Sagt' ich's nicht! Aber kommen Sie nur, Herr Gundelwein!«

Myrtel ging neben Mathias Heinloth und Goethes Freundin neben dem Freiherrn, die übrigen nahmen miteinander fürlieb. Das wurde ein Abend voll Mondschein, durchwebt von perlender Musik, Plaudern und Lachen. Mamsell Vulpius schickte den Freiherrn Blonberg in einen Nachbargarten, um Blumen zu holen, und er brachte viel Rosen, Reseda, brennende Liebe und Jungfer im Grünen. Das alles duftete bald in einem hohen Glase, gefüllt mit frischem Wasser. Dazu funkelte Wein in den Gläsern, und die Saale rauschte, und alle plauderten 283 lebendig, wenn sie nicht gerade auf die wunderschöne Musik horchten. Das hatte Mamsell Vulpius an sich, trübselig saß niemand bei ihr. Diese Person blühte und duftete wie ein Pfingstrosenbusch. Das empfand der Freiherr nicht zum ersten Male.

»Na, wissen Sie noch, wie Sie in der Küche saßen, mein Lieber?« Sie reichte ihm ihr Glas zum Anstoßen, und beider Gläser klangen ineinander.

»Nein, davon mußte ich mich überzeugen, ich mußte Sie wieder hoch aufgerichtet sehn. Ein zerknicktes Mannsbild ist auf die Länge ein Unding. Ganz einfach ist die Geschichte. Mein Geheimderat ist von den fremden Leuten ganz fürchterlich gelangweilt – und schließlich eine wildfremde Bestie in einem Käfig zum Angucken ist er nicht. Ach was, ich könnte Ihnen die ganze Geschichte noch einmal erzählen wie damals; aber das braucht's nicht, gottlob. Sie brauchen keinen Trost mehr!«

Myrtel sah, wie ihres Herrn Liebsten Stirne heiter blieb – keine Wolke war darauf zu sehen. Er hatte seines Schwures nicht vergessen, ein andrer Mensch zu werden.

»Doch ohne mich – doch ohne mich – nie mit mir,« klang's schwer in Myrtels Seele nach.

284 »Ja,« sagte der Freiherr, und seine Augen leuchteten jugendfroh. »Es wird die Zeit kommen, wo auch er mich hört. Aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes! wird es dann heißen!«

Ein Schreck rieselte durch Myrtels Blut. Wollte Gott sie fortweisen? Zeigte er ihr so den Weg? »Ich lähme ihn, ich laste auf ihm, als er mich hingeschwunden glaubte, erwachte sein Mut!«

Mathias Heinloth sprach anbetungsvoll mit der lieben Myrtel, und sie antwortete ihm freundlich.

Die heiße Musik der dunkeläugigen Männer wogte in aller Blut. »Tanzen wir eins,« sagte Goethes Geliebte und erhob sich und trat auf das Podium unter der hohen Linde, auf welchem die Musiker saßen, ließ diese beiseiterücken, um mehr Platz zum Tanzen zu schaffen. »Und nun einen Walzer!« rief sie, »als spielten ihn Gottes Engel und Teufel!«

Und so geschah es und das lebensfrohe Weib tanzte mit dem Freiherrn und Myrtel mit Mathias Heinloth, und manches Paar fand sich dazu.

Um den Freiherrn flatterte der zarte, rote Schal der frohen Frau wie ein Banner, und sie neigte sich in Seligkeit, in schöner, reiner Seligkeit, wie ein 285 mächtiger Vogel in der Luft seine Kreise zieht, hoch über allem Treiben der Welt.

Und der Freiherr spürte alle Gluten des Lebens, als er diese sich drehende Sommerwelt in den Armen hielt, und er wußte das Geheimnis der Liebe zwischen dem großen, ihm so fernen Menschen und dieser Frau.

Myrtel und Mathias Heinloth tanzten im Kreislauf der sich drehenden Gestirne mit. Er, der Dichter in schwindelerregender Seligkeit – Myrtel einem verlöschenden Sterne vergleichbar.

Sie sah das Rote, Flammende sich um ihren Herrn Liebsten bewegen, der mit solcher Ausdauer und Freudigkeit tanzte, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Alles schien vergessen, alle Schmach, alle Hoffnungslosigkeit, die ganze erfolglose Sehnsuchtsreise, die durch den Opalschmuck aufgestiegen war.

Die Dichter blieben an diesem Abend vollzählig im Jungfernturm, als Mamselle Vulpius zu Knebels gegangen war, bei denen sie nächtigte. Die guten Jungen wollten dem Freiherrn und Myrtel Gesellschaft leisten, denn sie waren alle sehr bewegt – und zum ersten Male bekamen sie eine kleine wunderliche Geschichte vom Freiherrn zu hören.

286 Mathias Heinloth hatte ihm keine Ruhe gelassen. Und es half nichts, daß der Freiherr sagte: »'s ist nichts für Euch! Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«

»Lies ihnen die Geschichte von den Beginen,« hatte Myrtel gebeten, »da ist die Sehnsucht darin nach der Zeit, die Du ›Deine Zeit‹ nennst. Die lieben Frauen gefallen mir – und die heilige Magd – so etwas gibt's jetzt nicht.«

Myrtel war aufgestanden und hatte in den Fächern des Sekretärs ernst und bewegt gekramt. Man sah ihr an, daß ihr das Herz schlug. Die Farben auf ihren Wangen wechselten von bleich zu rosig, und wieder erbleichten sie. Sie war in diesem Augenblick ganz Hingabe.

»Lies Du, Myrtel,« hatte der Freiherr gesagt und war aufgestanden und im Zimmer auf und nieder gegangen.

»Eine Lappalie, gar nichts, weniger noch. Myrtel aber hat es gewählt. So soll es sein.« Vor dem Freiherrn aber stand jetzt die widerwärtige Stunde, die er mit Goethe verlebt und Goethe mit ihm. Schwer legte sich die mühselig vergessene Qual auf seine Seele.

287 »Also lies,« hatte er trotzdem kurz gesagt, »es sind ein paar Blätter, und gleich wird's überstanden sein.«

Myrtel entfaltete diese Blätter vor sich auf dem Tisch und las mit bebender Stimme:

 

Das Gastmahl der Beginen

Etliche fürnehme und ehrbare Frauen, die sich der geistlichen Versenkung in Gott ergeben hatten, waren um die Sommerszeit im Klösterlin, so man das Kloster der Beginen nannte, in welches sie sich von der Welt zurückgezogen hatten, gar heimlich und fröhlich bei ihrer Gastgeberin, der hochgemuten Frau Ursula, des Straßburger Ratsherrn Wullenwebers Witib, zu einer Kollation geladen.

Diese Frauen ließen sich auf der ganzen Welt nichts angelegener sein, als nach der überseligen Abgeschiedenheit, wie sie Meister Eckart lehrte, zu trachten.

Sie waren alle schon bei Jahren, hatten ihr Leben gelebt, aber in ihrer von der Welt abgekehrten, doch heiteren Lebensführung war mit diesen Frauen trotz ihrer Beginentracht, den 288 Wollkleidern und grauen Schleiern, gut zu reden, und die kleinen Kollationen und Gastereien dieser weltlichen Nonnen waren, wie männiglich in der Stadt bekannt, wohl berühmt. Auch daß diese Gott und den letzten Dingen zugewendeten Beginen, gleichwie es unter den Dominikanern und Dominikanerinnen üblich, wenn sie etwa zusammenkamen, kleine Fragen vorzulegen pflegten von allen übersinnlichen Dingen, so daß die Gastereien der fürnehmen Frauen so schmackvoll wie auch erhebend und von allerlei frommem Scherz und Tiefsinn belebt waren. Die Frau Ursula aber ward vom hohen Rat, von den Dominikanerinnen, von der Kaufmannschaft und Gott mag wissen von wem noch, um ein Kleinod beneidet – um ihre Magd Katrein.

Gott aber hatte der Gaben allzu verschwenderische Fülle über diese Magd Katrein ausgegossen. So war ihr nicht nur die Gabe zugefallen, die Kreaturen so herzurichten, daß diese dem Gaumen zum Hochgenusse und zum Lobe Gottes wurden, ihr war auch die höhere Gnade zuteil, daß sie Gesichte und Erscheinungen von höchster Weihe hatte, so daß der hochgelobte Meister Eckart die demütige Magd »meine Tochter« nannte.

289 Um der Gesichte willen aber verlangte es den hohen Rat und die Kaufmannschaft mitnichten nach der seltenen Magd.

Meister Eckart, dieser Meister hoch von Namen, hielt Frau Ursula und die kleinen Kollationen für nicht zu gering, um hin und wieder mit den Beginen zu speisen und mit ihnen im Gemach an dem Tische zu sitzen, auf welchem über dem leinenen, duftenden Tuche Hirsche aus getriebenem Silber und Hündlein zwischen den Tellern sprangen und in ihrem hohlen Leibe lieblichen Trank bargen, den die Tiere zur Erheiterung der Gäste gar zierlich in die silbernen Becherlein spien.

Der Meister von hohem Namen, der auch trotz Weisheit und Heiligkeit einer feinen Scherzrede hold war, hatte nicht umhin können, hin und wieder ähnliches wie dieses zu der ehrenwerten und ehrengeachteten Frau Ursula zu reden: »Wohl ist es mir unter Euch, Ihr feinen Frauen. Wahrlich in Euren Adern fließt das Blut rein und helle und seid nicht anzuschauen wie mit Erden untermischet, so trüb und schwer. Das macht, weil eine liebliche und lebendige Sehnsucht nach Gottes Wesenheit in Euch fließet, Euch und Euer Mahl verschönt, so daß es 290 einer heiligen Handlung gleichet, von freundlichen Engeln verrichtet. Die seligste, lichteste Sehnsucht trägt Euch wie auf Flügelpaaren. Nicht brauchet Ihr Seifen und Salben, womit die Weiber ein glattes Fell zingeln, nicht Krokodilenlebern aus fernen, heißen Inseln, nicht Sand vom ägyptischen Meeresstrand, noch Most aus Mesopotamien, noch Asche von der verbrannten Stadt Troja, damit nur endlich ein gut Seifen gemacht werde. Ihr haltet Euch an die Sehnsucht nach Gottes Stille und Einheit. Wandelt Euch zu Geist, gleichwie Christus sich wandelte zu Fleisches Gestalt, um Euch den Weg der Wandlungen zum Geistigen zu führen!«

So waren auch heute die Gott suchenden und ehrengeachteten Frauen bei ihrer Gastgeberin versammelt zu einem seligen und fröhlichen Mahl, welches die Magd und Begine Katrein in Andacht und Versunkenheit vortrefflich bereitet hatte.

Der Teil des Klösterleins, so Frau Ursula und ihre Dienerin und Köchin, die Jungfrau Katrein, bewohnten, hatte ein liebliches Gemach, von dem aus man in den Garten der Beginen schaute, der von Kräutern und Blumen duftete wie die Gewürzbüchse der Königin von Saba.

291 In diesem lieblichen Gemach saßen die Frauen an der Tafel, auf welcher die ergötzlichen silbernen Hirsche und Hündlein sprangen, und verspeisten mit zierlichen, fetttriefenden Fingern die zarten Schenkel und Brüste junger Rebhühner, die wie Kleinodien und heilige Reliquien, mit Mandelkern und zartem Speck, Zibeben und Nägelein besteckt, in einer kostbaren Tunke von feurigem Wein und Kräutern schwammen gleich Thymian und Estragon, Weinraute, Edelraute und Wohlverleih.

Und Katrein, die Jungfrau und gottbegnadete Köchin dieses Gastmahls, das einen Ruch nach allen Kostbarkeiten der Erde hatte, ging mit einer schönen Schale, in der warmes, über Salbei gegossenes Wasser duftete, und einem wohlgestickten Tuche von Herrin zu Herrin und trocknete die Finger und trocknete die von zartem Fett und überfließender Rede triefenden Lefzen der Weiblein.

Die wohlgemute Frau Ursula sprach und hatte ein zartes Stücklein Rebhuhnbrust in einer Backentasche: »Richtet hierauf unter Gottes Beistand Eure beharrliche Andacht! Es isset so mancher vom Rebhuhn und gedenket nicht, daß das liebliche Tierlein im reinen Taue Gottes badet, so daß seine Seele 292 kraftdurchdrungen von der Süße der Geistigkeit ist, die Gott ausgießet wie den Tau über die Kreaturen, die selbst dem Fleische Schmack und Würze gibt.«

So sprach Frau Ursula und rief Frau Mechthildis auf, zu Ehren der göttlichen Alleinheit etwas über das Rebhuhn zu sagen, und diese ließ sich von Jungfrau Katrein die von zartem Fett duftenden Lefzen säubern und redete also: »So mir ist, fleuchet das Rebhuhn in seliger Gemeinschaft, Societas, Geselligkeit zu Gottes Einheit und Stille auf mit starkem Rauschen, vermeidet Adler, Geier und Habicht, und sein graubräunlich Gefieder, so den lieblichen Braten decket, ist so recht ein Kleid der Demut, daß man nicht meinen sollte, daß dies fromme und getreue Tierlein so fürstlich-göttlichen Geschmack der Seele habe.«

Das rundliche Gesicht der Frau Mechthildis lächelte, und sie zog ein Rüßlein des Wohlbehagens, denn es drang ein lieblicher Ruch durch die Türe, der davon Kunde gab, daß das Hausdirnlein weitere Kostbarkeiten der Jungfrau Katrein, die draußen am Feuer warm standen, sorglich bewachte.

»Gar einfach bleibt die geliebte Schwester Mechthildis daran haften, als sei der Braten die Seele des 293 Tierleins, doch hat Gott nicht im Fleische Einheit mit uns,« sagte Frau Ursula.

Da aber blickte Frau Regula auf zu Katrein, der kunstvollen Magd:

»Würdig hast Du, o Katrein, diesen seligen Vöglein, die rauschend gen Himmel fahren, im göttlichen Tau der Reinheit baden, die Schnäblein allnächtlich gen Osten wenden, daß sie beileibe nicht versäumen, vom ersten Strahle getroffen zu werden, eine Bestattung gegeben, die einem Heiligen, der ganz zu Gott geworden, nur Ehre brächte. Die kleinen Leiber der frommen Vögel, denen die Seele entflogen, hast Du, o Katrein, mit hohen Ehren gesalbet, getränkt, zubereitet, wie Gott die Seelen bereitet zu reinem Duft und duftender Holdseligkeit.«

Die Magd und Begine Katrein aber stand und hielt das gestickte Linnentuch achtlos und schaute mit weiten Augen hinaus in den Kräuter- und Blumengarten, als hörte sie nichts, und bebete und zitterte, jene Katrein, von der heilige und fürnehme Männer und Frauen also sprachen, als wären die Gastmähler, die sie bereitete, Gottesdienste und die Speisen Kleinodien, als sei es keine Sünde, hier von den Seligkeiten in Speise und Trank zu reden. 294 Diese herrliche Köchin und Jungfrau aber sank in die Knie, ließ das gestickte zarte Linnen fallen, breitete die Arme in Kreuzesform weit auseinander und sprach:

»Eine jegliche Kreatur ist groß wie Gott, und sei sie klein wie das Vögelein Rebhuhn; denn eine jegliche Kreatur vermag Gott aus dem Herzen zu drängen. Aber wehe, Ihr vermeinet, es gibt einen Gott, dem Ihr so behaglich nachsuchet. Ich aber weiß, wir alle sind Gott, auch Speise und Trank ist Gott.«

Da warf sich die Köchin Katrein, die Meister Eckart seine Tochter nannte, zur Erde nieder und vergrub ihr Angesicht in die Hände und schluchzete gewaltig.

»Alles, was leidet, ist Gott, und alles, was da lebet,« schrie sie fast laut. »Wahrlich, er ist zur Erde gekommen, zersplittert aus der Höhe ewiger Stille gestürzt und steht tausendfach auf und fällt tausendfach wieder und schlachtet sich selbst und isset sich selbst und trinket sich selbst und suchet sich selbst und – wehe – findet sich nicht! O wolle das große, unsagbare Leiden Gottes gestillet werden! Laßt diesen Leidensgott eingehen in die ewige Stille der Abgeschiedenheit, der er entstürzte!«

295 Die wunderliche heilige Magd erschauerte in dem Strom ihrer Tränen und raffte sich auf und rannte zur Türe hinaus.

Die Frauen aber hörten auf der Gasse eine helle, verzweifelte Stimme rufen, die ihnen gewaltig und ganz unerhört in den Ohren klang.

»O wolle das große Leiden Gottes gestillet werden!

O wolle das große Leiden Gottes gestillet werden, der sich in die Kreaturen ergoß, um zu leiden!«

Durch die Türe drang in das Gemach ein Geruch verbrannten Wohlgeschmacks. Da machte Frau Regula ein gar sichtbares Rüßlein des Bedauerns. »Das aber sollte nit sein, daß ein so fürtreffliche Köchin Gesichte hat,« sprach sie wehmütig.

 

Mathias Heinloth war aufgesprungen und schüttelte dem Freiherrn die Hände und schaute warm und wissend. Die anderen murmelten miteinander. Es flog aber kein Wort auf.

Der Freiherr sagte: »Es ist eine Vergeistigung angedeutet, die in jener Zeit alles durchdrang. Die fetttriefenden Lefzen sind nicht so widerlich, wie sie es heute wären oder künftig, denn mit dem zarten 296 Fett fließt Sehnsucht nach den höchsten Dingen über sie hin. Speise und Trank wird zum Kleinod, weil sie Speise und Trank symbolisch wie Christi Leib in sich empfangen.

Und der süße Unsinn, den sie reden, fließt über abgrundtiefes Verlangen der Seele.

Das heilige Abendmahl! – Die Beginen halten ein heiliges Abendmahl, darin liegen die Geheimnisse der Einheit Geistes und des Leibes – Nahrung und seelische höchste Nahrung.«

»Ja, wahrlich so ist es,« sagte Mathias Heinloth feierlich.

»Ja, so ist es,« wiederholte der Freiherr. Darüber ist gesagt von einem hohen Meister: »Aus einer Quelle fließt: sich von eines andern Seele nähren, sich von eines andern Körper nähren. Aus Verlangen und Nahrung ist diese Welt gebildet. Getragen von Sehnsucht werden wir vergeistigt, was auch geschieht, was wir auch tun. Sehnsucht in allem, was wir schaffen! Habt Ihr keine Sehnsucht in Euch – und wenn Ihr die Sehnsucht nicht habt – habt Ihr nicht Sehnsucht nach einer Sehnsucht! Ach, Myrtel, und dabei bin ich selbst ein Klotz, ein Berg ohne Sehnsucht, es sei denn, ich hätte Meister Eckeharts feurigen 297 Abendmahlswein in meinen Adern! Und die Menschen aus dem dreizehnten Jahrhundert, die mit mir glühten, – wo sind die?«

»Ich,« sagte Myrtel leise.

»Du! – ›Mann und Weib aber sind ein Leib und eine Seele und eine Einsamkeit.‹«

Jetzt sprach er's aus. Eine tiefe Stille, als wäre niemand vorhanden. Keiner der Dichter wagte Myrtel anzusehn. War es doch, als fühlten sie mit ihr, als sähen sie Myrtel versinken. Der zarte Hauch »Ich« war wie verlöschend durch den Raum geweht.

 

Bei Roggenbachs wurde der fromme Graf Haug aus Naumburg erwartet. Er hatte eingeladen werden müssen, weil er der Vetter des Grafen Roggenbach war und die Reise von dessen Gut nicht allzu beschwerlich bewerkstelligt werden konnte.

Die ganze Familie war an diesem Nachmittag versammelt, auch die Frohbergs, Baron Rosen und Onkel Hensler. Man saß heiter im Garten an dem großen Tisch, der unter der mächtigen Linde nahe am Haus gedeckt war.

Die Rosinen liefen von einem zum andern, mischten sich unter die Gesellschaft. In ihrer Zierlichkeit und 298 Behendigkeit glaubte man sie überall zu sehen, man hätte meinen können, es liefen ihrer zwanzig umher.

Frau von Frohberg, die sie den Löwen nannten, sagte sehr lebhaft: »Jetzt wird sie nun Schwiegermutter – und sie ist so eine unschuldige Frau.«

Der Löwe blickte ganz wehmütig auf die gute Gräfin Roggenbach.

»Von Mutter zu Schwiegermutter ist's ein böser Fall. Ich werd's ja auch; aber mich geht's nichts an. Ich bleib', was ich bin, die hochachtbare Mutter des Sohns, da gibt's nichts als Achtung. Da gibt's keine Schwiegermutter, über die Witze gerissen werden, das trifft nur die Roggenbacherin.«

»Du sollst mir kommen«, wendete sich Frau von Frohberg an ihren Sohn, »und auch mit einem Worte nur sie antasten, diesen Engel aller Mütter. Ich hör' Dich schon in Deiner grünen Ehemannswürde, wenn sie den Mund auftut, um ihrer Tochter einen vernünftigen Rat zu geben. Ich aber werde Deiner Frau auf dem Nacken knien, werde mich breit machen, werde nörgeln und sie ärgern, wo ich kann. Sie aber wird schweigen und dulden – und sich anständig betragen. Nicht wahr, mein Kind, wenigstens kommt nichts in die Oeffentlichkeit?«

299 Frau von Frohberg nickte Alma zu. »Ich werde leer ausgehen, nach mir kräht kein Hahn, ich kann so frech sein, wie ich will. Kein Witz, kein Geschrei weiß etwas von einer Sohnesmutter. Aber Ihr Mannsbilder, Ihr Schwätzer, Schreier und Lügner habt's so weit gebracht, daß es eine Schmach und Schande ist für eine Tochtermutter, ihren schönen Mutternamen nun zu verunstalten.«

So sprach der Löwe, und alle lachten erheitert, denn diese Frau hatte eine fröhliche Kraft in der Stimme. »Ja, lacht nur! Nichts ist zu lachen.«

Vor dem großen Gartentor fuhr soeben ein mächtiger Reisewagen vor, Koffer und Schachteln bildeten einen gewaltigen Auswuchs. Der Diener sprang vom Bock, ein Diener und ein Zimmermädchen kamen aus dem Haus gelaufen, die ganze Gesellschaft am Teetisch erhob sich. Und aus den Polstern des Wagens lösten sich ein dicker, großer Mann, eine zierliche Frau, ein Töchterchen von etwa zehn Jahren und eine hagere, bedrückte Persönlichkeit männlichen Geschlechts, die nicht erwartet worden war, wie es schien, eine nicht erwähnenswerte Zugabe, aber immerhin ein Mensch und Gast, der der Gräfin sofort die Sorge machte: Wohin damit?

300 Graf Haug war sehr würdig. Seine Begrüßung fiel etwas religiös aus. Gottes Segen und Gottes Allmacht wie auch sein Schutz kamen verschiedene Mal vor, während die Ankommenden von allen Roggenbachs und den behenden, kläffenden Rosinen umringt waren.

Die Roggenbachschen Kinder hatten gelernt: »Du sollst den Namen Deines Gottes nicht unnützlich führen.« Das tat der dicke Graf Haug aber ganz entschieden, denn es war gar nicht anzunehmen, daß er bei der jedesmaligen Nennung seines Schöpfers auch ordentlich bei der Sache war; sonst wäre er unmöglich bei diesen mystischen Anstrengungen so dick geworden, wie er es tatsächlich war.

Tante Haug schien eine sehr lebendige Dame zu sein, die augenblicklich viel zu tun hatte, allen liebevoll ins Gesicht zu sehen.

Die Rosinen aber kläfften, ihre winzigen, strammen Körperlichkeiten schienen zum Zerspringen gespannt Die Angekommenen gefielen ihnen nicht oder regten sie irgendwie auf, denn sie waren eigentlich wohlerzogene kleine Hündchen.

Die bedrückte, unerwähnte Persönlichkeit stand wie ein stiller dunkler Schatten inmitten aller Bewegung.

301 Die gute Gräfin ging auf den vollkommen Vergessenen zu: »Gewiß Agnesens Hauslehrer!«

»Gewiß, gnädigste Gräfin. Kandidat Fröschel.«

»Das ist das kleine, grüne, herzige Fröschel!« rief Agnes.

»Du verzeihst, liebe, verehrte Kusine, daß wir unsern Kandidaten mitgebracht haben. Du brauchst nicht die geringsten Umstände zu machen, er ist mit allem zufrieden.«

Da traf die Dame ein ganz sonderbarer Blick Onkel Henslers. Der trat zu dem jungen Menschen und sagte: »Kommen Sie, junger Asket, und legen Sie einmal Ihre Reisetasche ab!«

Der gute junge Mann wurde dunkelrot, und der lebhafte Onkel nahm ihm die schöne, gestickte Reisetasche aus der Hand und behielt sie selbst und gab sie auch nicht so bald her.

Er war empört.

Graf Haug aber rief nach seinem Kandidaten. Das brachte Leben in den jungen Mann.

Graf Haug hatte mit dem Superintendenten in Jena irgendeine Verabredung, er stand mit den Geistlichen des Landes in regem Verkehr, da er die Predigerstelle in seiner Gemeinde zu vergeben 302 hatte. Gräfin Haug und die kleine Tochter waren auf ihre Zimmer gegangen, um sich nach der Reise etwas zu erfrischen, und der Graf verlangte ein Tintenfaß, um dem Kandidaten einen Brief an den Superintendenten zu diktieren.

Er bat um ein Tintenfaß, wie etwa um eine Tasse Tee, die duftend vor ihm auf dem Tische stand. Alle schauten sich erstaunt an. Die Gräfin, die Töchter, Georg. Graf Roggenbach erhob sich lächelnd und ging im Garten auf und nieder. Er wußte, daß jetzt ein großer Aufruhr entstehen würde.

Jeder fuhr fort, erstaunt und etwas verlegen zu blicken. Eine Schwester fragte die andere nach einem Tintenfaß. Jede gab eine ausweichende Antwort.

»Ich weiß nicht, ob in Mamas Tintenfaß Tinte sein wird,« erwiderte Bettina laut und vernehmlich.

»So, weshalb hast Du mir das nicht gesagt?« fragte die Gräfin und sah die Tochter würdevoll an.

»Ich dachte, daß Du es wüßtest, Mama,« erwiderte Bettina bescheiden.

Die Gräfin ignorierte diese Vermutung.

»Und in Deinem Schreibzeug, ist da nichts?«

»Ich habe gar keins,« sagte Bettina.

»Aber eins von Euch wird doch ein Schreibzeug 303 haben?« fragte die Gräfin und blickte im Kreise ihrer Kinder prüfend umher.

»Die Alma hat eins,« erwiderte Georg, »die hat aber gestern abend die Tinte aus ihrem in meins gegossen.«

»So, wo ist Deins?«

»Meins?« fragte Georg gedehnt. »Das muß im Garten sein.«

»Nun, so geh' und hol' es doch,« sagte die Gräfin, augenscheinlich durch die Hoffnung, daß sich ein Schreibzeug finden würde, erleichtert.

»Ich weiß nicht recht, wo es jetzt gerade sein mag,« erwiderte Georg schüchtern. »Heute habe ich schon lange danach gesucht; ich muß es irgendwo im Grase haben stehen lassen.«

Während dieses traurigen Examens hatte Onkel Hensler auf das gespannteste zugehört.

Ueber seinem Gesicht lag es wie ein Freudeglanz. Er rieb sich wonnetrunken die Hände.

»Nun, was ist Dir wieder?« fragte die Gräfin mit gedämpfter Stimme und verhinderte wahrscheinlich durch ihre Anrede eine ernstliche Torheit ihres Bruders.

»Ich habe meine Freude an Euch, Ihr tut meinem Herzen wohl. So muß es sein. Tinte, 304 Tinte – nicht ein Tröpfchen Tinte darf in einem Hause wie dem Euern sein.«

Die Gräfin achtete wenig auf den Enthusiasmus des Bruders und fragte bedrückt, indem sie sich an ihren Mann, der soeben wieder an den Tisch trat, wendete: »Willst Du denn nicht Dein Tintenfaß unserm Vetter geben?«

»Ihm ja,« sagte der Graf.

Der Herr Superintendent wurde noch zum Abendessen eingeladen, da Graf Haug so großes Verlangen nach ihm trug. Er war gewöhnt, mit einem Pfarrer bei festlichen Gelegenheiten zu Tische zu sitzen; solch ein Mann Gottes war ihm ein Bedürfnis, und da der Superintendent die Töchter trauen sollte, war nichts einfacher wie dieses.

Während der Abendmahlzeit war heute ein Unbehagen, eine Art Unterhaltungsnot zu spüren. Der gewichtige Graf Haug hatte in seinem Benehmen etwas von einem Kirchenfürsten. Es schien religiöser Pomp über seine Persönlichkeit gebreitet zu sein, der vielleicht daher rühren mochte, daß er als reichsunmittelbarer Graf das Recht hatte, seine kleinen hungrigen Pfarrerlein auf seinen Besitzungen an- und abzusetzen. Es war in diesem Mann etwas 305 ganz Gewaltiges zu spüren, dessen Ursprung sich jedoch nicht recht ergründen ließ.

Onkel Friedrich Hensler sah den Grafen Haug während des Abendessens oft mißtrauisch von der Seite an und sagte leise zu Alma, die seine Tischnachbarin war: »Alma, schau' mal, ich wett', daß dieser so reichlich ausgebildete Mann außerordentlich beschränkt ist. Er kommt mir wie ein Hexenverbrenner vor, ein vorsintflutliches Wesen, und ich begreife nicht, wieso Dein Vater einen solchen Vetter haben kann.«

Von der Person des Grafen Haug verbreitete sich Unbehagen und Unterhaltungsnot; auch der Superintendent lastete schwer.

Dieser hatte auch seinem Amte vorgegriffen und schon jetzt einige ernste, salbungsvolle Worte an die Bräute gerichtet, von denen sie beängstigt worden waren. Sie saßen von da an still neben ihren Verlobten.

Bettina war ihr Platz zwischen dem Kandidaten und der kleinen Komtesse Agnes angewiesen worden, und auch diese drei wußten nicht, was sie miteinander beginnen sollten. Es war überhaupt allen fremdverwandtschaftlich zumute. ein Gefühl, das 306 nichts recht Erfreuliches aufkommen läßt. Man duzte sich und wußte nichts zu sagen, man hatte sich geküßt und war sich dennoch fremd geblieben. Man wußte gegenseitig mancherlei voneinander, aber nur Hauptsachen, keine Einzelheiten, keine kleinen Erlebnisse.

Die gute Gräfin hatte ihren Platz neben dem Pfarrer, der als Muster eines Mannes von Welt und eines würdigen Vertreters der Kirche gelten konnte.

Auch neben ihm bei Tisch zu sitzen, mochte recht angenehm sein. Die Augen der Gräfin schweiften oft gedankenvoll über die Reihe ihrer Kinder und blieben schmerzlich auf den beiden Bräuten haften. Die Nähe des Mannes, der das Machtwort sprechen würde, das sie von ihren Töchtern trennen sollte, schien sie zu bedrücken.

Die Gräfin nickte Bettina zustimmend zu, als sie sah, daß diese sich bemühte, den dürftigen Kandidaten etwas zu unterhalten.

»Sie sind wohl schon müde, Herr Fröschel?« fragte Bettina mit Teilnahme.

»Fröschel ist abends immer müde,« erwiderte Agnes statt seiner.

307 »Aber bitte, liebe Komtesse,« begann der Kandidat ergeben. Er hatte sich in dem Tonfall, mit dem er dies sagte, geirrt, da dieser unversehens ergeben statt strenge ausgefallen war.

»Mama sagt auch,« wendete sich Agnes an Bettina, »es wäre hübsch von Fröschel, wenn er sich mehr mit mir beschäftigte.«

»Geben Sie Agnes Unterricht?« fragte Bettina.

»Gewiß,« erwiderte der Kandidat. »Das ist meines Amtes.«

»Das ist aber nicht alles, was Fröschelchen bei uns zu tun hat,« fügte Agnes hinzu. »Jeder braucht ihn. Papa hat ihn nötig zu vielen Dingen, und Mama will von ihm vorgelesen haben. Er ist den ganzen Tag außer Atem. Unser Fröschel ist gut,« sagte die Kleine, bog sich hinter Bettinas Stuhl zu dem Kandidaten hin und zupfte ihn am Rockschoß.

»Aber, liebe Komtesse,« sagte Fröschel ruhig.

Vor dem Teller des Kandidaten war eine mächtige Schüssel voll Reisbrei aufgetragen, duftend, schön weiß, mit Rosinen vermengt, ein wahrhaft imposanter Anblick. Denn diese Schüssel enthielt das Lieblingsgericht der Roggenbachschen Kinder, 308 und ein Lieblingsgericht dieser Kinder hatte in seiner Quantität etwas zu bedeuten.

Als Agnes eben wieder den Kandidaten attackieren wollte, faßte Bettina sie am Arm und sagte: »Das geht hier nicht; sei jetzt ruhig! Aber, Herr Fröschel, darf ich Ihnen nicht ein Glas Wein eingießen?«

Sie ließ sich von Elektrine eine Flasche reichen und wollte eben des Kandidaten Glas füllen, da sagte Agnes: »Fröschelchen trinkt keinen Wein, laß es nur! Mama sagt, daß es nicht gut für ihn ist.«

»Das glaub' ich gar nicht,« wendete sich Bettina an den Kandidaten.

»In der Tat,« erwiderte dieser. »Die gnädigste Gräfin hatte die Güte, mich darauf aufmerksam zu machen, daß es für mich besser sei, keinen Wein zu trinken. Ich trinke nie Wein.«

»Also soll ich Ihnen nicht eingießen?«

»Es wird besser sein, daß Sie es nicht tun,« erwiderte der Kandidat, indem er wohl unbewußt einen langen Blick auf seine Vorgesetzte warf.

Während dieser Szene löste sich die eine Kette des über dem Tisch hängenden Kronleuchters; sechs Wachskerzen brannten, der Kronleuchter hing 309 vollkommen schief, und die Lichter, die nicht beim Fall verlöscht waren, schlug der Pfarrer mit seiner Serviette aus. Man saß im Dunkeln. Die Gräfin befahl dem Diener, die Armleuchter zu holen. Sie kam durchaus nicht aus der Fassung.

Der Graf, dem solche häusliche Unglücksfälle, die bei normalen, ganz gewöhnlichen Menschen vermieden werden, höchst fatal waren, ließ einige Bemerkungen vernehmen.

Der Arme hatte nach dieser Richtung hin viel zu leiden, denn gerade das, was bei anderen Leuten nie geschah, geschah sicher bei Roggenbachs. Kam Besuch, so stand wahrscheinlich im Vorhaus die ganze gewaltige Batterie Roggenbachscher Stiefel und Schuhe aufgepflanzt, oder Georg vergnügte sich in mangelhafter Toilette auf der Treppe, oder Bettina, die zu jeder Tageszeit und überall ein Schläfchen zu halten liebte, lag irgendwo im Salon im schönsten Schlummer, kurz, es war immer und bei jeder Gelegenheit irgend etwas nicht ganz in Ordnung. Die Roggenbachschen Lichter waren anderen Unglücksfällen ausgesetzt als die bei allen übrigen Sterblichen. Die Roggenbachschen Handschuhe waren die heimtückischsten Dinger der Welt; die Familie 310 mußte, wenn sie sich zum Ausgehen rüstete, förmliche Jagden danach veranstalten, um sie aus ihren Schlupflöchern herauszutreiben.

Aber, um zu unserer Gesellschaft im Dunkeln zurückzukehren: es war in dieser Dunkelheit das Thema der vorteilhaftesten Beleuchtungsart aufgekommen. Der Pfarrer ließ seine Weisheit strahlen und gab Auskunft über den siebenarmigen Leuchter der Hebräer.

Als zwei Armleuchter die Gesellschaft wieder ins rechte Licht setzten, schien jemandem die Dunkelheit nicht behagt zu haben, und wunderlicherweise war das der Kandidat. Dieser saß da bald dunkelrot, bald bleich, die Hände gottergeben gefaltet und die Augen niedergeschlagen. Er war von den Umsitzenden wohl der einzige, dem eine merkwürdige Veränderung auf dem Tische nicht aufgefallen zu sein schien, trotzdem sie in seiner nächsten Nähe stattgefunden hatte.

Die Flasche Rotwein, aus der Bettina dem Kandidaten hatte eingießen wollen, und die offen bei ihm auf dem weißen Tischtuch stehen geblieben war, sauber und anständig, wie es einer Flasche geziemt, diese stand durch einen 311 unverständlichen Prozeß mitten in der mächtigen Schüssel voll Reisbrei, ein gut Teil geleert.

Alle bemerkten das; aber sonderbar – niemand tat, als wenn er es bemerkte. Man blickte auf den Kandidaten und von dem Kandidaten auf den Reisbrei, als wenn zwischen beiden ein Zusammenhang sein müßte. Bettina hatte auch gehört, als gluckste etwas aus einer Flasche ganz leise in ein Glas.

Endlich rief Komtesse Agnes vergnügt mit ihrer Silberstimme:

»Ich glaube, das hat Fröschelchen getan!«

Kaum hatte das Kind dies ausgesprochen, so brach ein herzliches, unaufhaltsames Lachen los, das durch den starren, hilflosen Blick des Kandidaten sich nicht besänftigen ließ. Nur das gräflich Haugsche Ehepaar und der Pfarrer blickten ernst und durchbohrten mit vorwurfsvollen Augen den guten Kandidaten.

»Würden Sie die Güte haben und den Diener rufen?« sagte Gräfin Haug zum Kandidaten, »daß er uns von diesem lächerlichen Anblick befreit?«

Der Kandidat erhob sich wankend und ging zur Tür hinaus.

312 Dieses schuldbeladene Wanken des armen Kandidaten besänftigte die Gemüter. Man zwang sich, nicht wieder von neuem mit Lachen herauszubrechen, und es entstand eine tiefe Stille, die von Gräfin Haug mit den Worten unterbrochen wurde:

»Ich muß wegen der Ungeschicklichkeit unseres Kandidaten um Verzeihung bitten. Wir selbst sind auf das äußerste von seinem Charakter durch diese Erfahrung enttäuscht worden. Ich hielt ihn bis jetzt für einen anständigen Menschen.«

»Ja, Mama, er war durstig,« rief das Komteßchen, »und er getraute sich nicht von dem Weine zu nehmen, weil Dir das nicht recht ist. Hier, Bettina hat ihm einschenken wollen.«

Agnes verteidigte ihren Kandidaten.

»Führen die gnädigste Gräfin ein so strenges Regiment?« fragte der Onkel.

»Durchaus nicht streng,« sagte diese leicht erregt. »Wir haben nur einige feststehende Hausregeln, von denen wir nicht gern sehen, wenn sie überschritten werden. Unter anderem ist es bei uns nicht Sitte, daß der Kandidat Wein trinkt. Wir haben dies zum Besten der jungen Leute eingeführt.«

313 »Geiziges Volk,« flüsterte der Onkel Elektrine zu, »und armselig frommes Volk, das dem guten Kerl um seines dummen Streiches willen gleich die Ehre abschneiden will! Das ist so ihre Art. Tut ein guter Kerl eine Lächerlichkeit, gleich ist er drunter durch.«

Der Onkel hatte sich in einen außerordentlichen Aerger hineingeredet.

Agnes starrte mit Tränen in den Augen auf die leere Stelle, die der Reisbrei eingenommen hatte, den der Diener jetzt mit gewichtigem Ernste servierte. Kein Kandidat war zurückgekehrt, und Bettina war von der Seite des vorlauten Kindes verschwunden. Der Onkel stand jetzt auch vom Tische auf. Mit erzürnter Miene schaute er noch einmal auf den Vetter Haug, den Pfarrer und die sparsame Herrin des genäschigen Kandidaten. Die Gräfin blickte ihm lächelnd nach. Sie wußte schon, daß er jetzt einen Streifzug halten würde, um den armen Burschen aufzufinden, und daß er dann unendliche Dinge sagen und tun würde, mit denen kein vernünftiger Mensch einverstanden sein konnte. Sie gedachte ihres Bruders mit den liebevollsten Gefühlen.

314 Der Onkel war inzwischen durch verschiedene Zimmer gegangen, um den armen Burschen aufzufinden. Beim Eintritt in das Musikzimmer gegenüber der offenen Tür, die zum Garten führte, blieb der Onkel stehen. Da saßen vor dem geschlossenen Klavier, den Rücken ihm zugekehrt, der Kandidat und Bettina, der Kandidat mit verzweifelter Gebärde und aufgestütztem Kopf.

»Herr Fröschel,« sagte Bettina mit ganz tränenerstickter Stimme, »das dürfen Sie Ihrer alten Mutter gar nicht sagen.«

»Ach, Komtesse Bettina,« stöhnte der Kandidat, »ich bin der unglücklichste Mensch, ich versichere Sie, ein Mörder ist nicht so verachtet, wie ich es nun bin!«

»Reden Sie doch nicht solche Dinge, Herr Fröschel. Das wird sich alles wieder ganz gut machen.« Bettina legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Haben Sie nur Mut, Herr Fröschel!«

Fröschels Haare, die mit allen Kunstmitteln straff an den Kopf angeklebt und gebürstet waren, hatten sich durch die Gemütsbewegung, in die ihr Besitzer gekommen war, aus ihrem Zwang befreit 315 und starrten in fest zusammenhängenden, dunkeln Büscheln ihm um den Kopf. Neben diesem zackigen dunkeln, von Haarspitzen starrenden Haupt bildete der sonnige, blonde Kopf Bettinas einen wunderlichen Gegensatz.

Der Onkel konnte sich nicht entschließen, sich bemerklich zu machen; ihm war der Anblick zu seltsam. Und hätte Bettina den Kandidaten in ihrer Herzensgüte umarmt und geküßt, um ihn zu trösten, um seinem Herzen damit eine Freude zu machen, der Onkel hätte die Dinge gehen lassen, wie sie gehen wollten, so vertieft war er in den Anblick seiner Nichte und des Kandidaten.

Jetzt brach der Onkel sein Stillschweigen und machte sich bemerkbar.

Der Kandidat fuhr erschreckt und verwirrt auf. Bettina wendete sich langsam, unbefangen um, wie ein zutrauliches junges Tier, das noch keinen Feind und keine erschreckende Ueberraschung kennt. Ueber ihr Gesicht ging ein reizendes Lächeln. »Du hast uns wohl zugehört, Onkel?« sagte sie. »Nicht wahr, Du denkst doch auch wie ich?«

»Natürlich. Aber, junger Fröschel, Hand aufs Herz, haben Sie nicht Lust umzusatteln?«

316 »Da sei Gott vor,« entgegnete der Kandidat erschreckt, wie ein Heiliger, der einer Versuchung unterworfen ist.

»Also nicht?« sagte der Onkel. »Aber sind Sie außerdem ein vernünftiger Mensch?«

»Das hoffe ich.«

»Machen Sie sich etwas aus frommen Leuten, lieben Sie die Frömmigkeit an den Leuten?«

»Wahre Frömmigkeit gewiß,« sagte Fröschel bescheiden.

»Ach was, Frömmigkeit, wahre Frömmigkeit darf man überhaupt nicht bemerken – zum Teufel! Ich gestehe,« fuhr der Onkel heftig auf, »daß mir fromme Leute etwas Fatales sind. Bei Gott,« rief er und rückte Fröschel immer näher auf den Leib, »ich möchte mich, wenn ich Alma und Elektrine wäre, lieber von Ihnen trauen lassen, als oben von dem aufgeblasenen Pfarrer.«

 

An diesem Abend ging durch die dunklen Gänge des Lindengartens, eng aneinandergeschmiegt, ein junges Paar. Sie gingen traumbefangen in dem Zauberkreis, den hingebende Liebe und Leidenschaft um uns legt; in dem wir, solange er uns 317 umschützt, Erlösung und Unschuld finden; und kein Unrecht der Welt Einlaß hat, kein Bedenken, keine Sorge.

Felix sprach wie im Traume, wie im Fieber.

Dann senkte er den Blick in Engeles Augen und flüsterte: »In einer Nacht wie heute; alles totenstill, und mein Engel schleicht mit klopfendem Herzen durch die Straßen.«

Engeles Arme umschlossen ihn zitternd, während er sprach, ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und unverwandt blickte sie vor sich hin.

»Ich weiß,« fuhr er fort, »wie Du bange gehst; wie Du durch eine kleine Tür in einen wunderbaren Garten schlüpfst, in dem die Wege dicht überwachsen sind. Ich weiß, wie Dir alles unaussprechlich erscheint, zwischen Tod und Leben liegend. Wie Du weiter gehst, und wie Du nicht mehr innehalten kannst; und wie Du an eine Tür kommst, die Du nicht zu öffnen wagst, vor der Du eine Zeitlang ganz hinsterbend stehst, und die Tür öffnet sich wie von selbst. Hörst Du mich, mein Liebling, mein süßes Kind?«

Sie gab ein fast unmerkliches Zeichen, daß sie lebte, daß sie hörte.

318 Er flüsterte weiter, die unbestimmten Bilder und Worte schienen sich fester zu gestalten. Seine Fragen forderten Antwort.

So gingen sie einen dunklen Weg im Garten auf und nieder. Ein Flüstern, ein inniges, erregtes Fragen, ein inniges Erwidern, und Engeles Stimme klang darauf sanft und rein, überströmt von tiefer Liebe. Es war, als wenn aus wogendem Nebel, aus unklarem Schimmer der Mond auftaucht.

»Ich werde kommen,« sagte sie, mit Tränen in den Augen. »Wenn wir für immer Abschied nehmen, will ich stärker als das Schicksal sein.«

 

Als Felix erregt und erschüttert in das helle Licht des Saales trat, kam ihm Baron Rosen, Almas Verlobter, entgegen und sagte: »Kommen Sie mit mir! Hier unter diesem Dach möchte ich nicht von dem reden, was unabwendbar ist.« Er hakte sich in Felix' Arm ein. »Kommen Sie hinaus in den Garten!«

»Roggenbach,« sagte er fest und ernst, »der Krieg steht vor der Tür. Meine Nachrichten, die ich heute erhielt, sind unzweifelhaft. Der Krieg ist unvermeidlich geworden. Ich weiß durch den Adjutanten Karl Augusts, daß ein 319 Ultimatum nach Paris gesandt ist mit den Hauptforderungen an Napoleon. Die ungesäumte Räumung Süddeutschlands von französischen Truppen, und daß Frankreich der Bildung eines norddeutschen Bundes kein Hindernis entgegensetzt. Daraufhin kann nur die Kriegserklärung erfolgen. Das wissen Sie selbst, daß Preußen England nicht aufgefordert hat, mit ihm in diplomatische Verhandlungen zu treten, ebensowenig die andern Großmächte. Von den norddeutschen Staaten stellten nur Sachsen und Weimar Truppen zur Verfügung. Preußen steht allein. Wie lang noch wird die Harmlosigkeit sich halten?«

»Preußen«, sagte Felix energisch, »hat Anspruch, daß alle norddeutschen Staaten Truppen stellen. Sie werden sie stellen.«

Rosen antwortete: »Sei nachsichtig, und du wirst das Nachsehen haben – nur Sachsen und Weimar sind mitbeteiligt und verpflichtet. Man fühlt sich, scheint es, außerordentlich stark in Preußen.«

»Ich bin Preuße, bin in Preußen geboren,« rief Felix, »und weiß nun, weshalb es mich in der Fremde nicht mehr ruhen ließ.«

320 »Sie gehören der preußischen Gesandtschaft in London an, haben somit keine Verpflichtung, so wenig wie ich.«

»Verpflichtung! Wer spricht von Verpflichtung? Ich werde mich dem Herzog von Weimar stellen.«

»Wer weiß,« sagte Rosen, »ob Sie's nicht noch näher haben können? Warten Sie's ab, niemand verlangt es von Ihnen. Die Nachrichten sind unzweifelhaft, doch nicht offiziell. Wir werden in einigen Tagen erfahren, wo das Hauptquartier liegen wird. Uebereilen Sie sich fürs erste nicht!«

»Uebereilen!« rief Felix voll Leben und Kraft. »Ich habe mich meinem Vaterland zu stellen! Wie ist es möglich, daß die Mobilmachung Preußens nicht größere Befürchtungen und größeres Aufsehen erregte?«

»Weil man die Mobilmachung für das hielt, was sie auch war, für eine Sicherheitsmaßregel! Doch wurden statt der zweihunderttausend Mann nur etwa hundertunddreißigtausend mobil gemacht – und das alles angesichts Napoleons.«

Felix: »Ob sie es nicht erfassen, daß sie es mit dem furchtbarsten Genie dieser Erde zu tun haben?«

321 Rosen: »Lauter mittelmäßige Leute, die zufrieden und wohlgemut ihr Krönchen tragen.«

Felix war tief erregt, denn in seinem Herzen stand es felsenfest, daß er seine heiße Liebe zu dem Lande seiner Sehnsucht, wenn es sein sollte, mit dem Leben besiegeln wollte. Das war unverbrüchliches Gesetz.

Er schwieg, reichte Rosen die Hand. »Tun Sie nichts Entscheidendes!« rief dieser Felix nach. »Kommende Ereignisse werden uns erreichen, wo wir auch sind, und was wir zu tun beabsichtigen.«

 

Die Uhren schlugen. Engele hörte das Klopfen ihres eigenen Herzens, hörte, wie es den ganzen dunklen, schweigenden Raum, in den sie blickte, als einziger Laut zu erfüllen schien. Die Stufen knarrten unter ihren leichten, vorsichtigen Schritten, der leiseste Ton erschreckte sie. Unüberwindlich erschien es ihr, die Haustür aufzuschließen; doch vorsichtig tat sie es, unmerklich. Welche Zeit sie dazu gebrauchte! Eine gar nicht zu berechnende Zeit voller Todesangst, voller Beben; welches Lauschen und Warten! Und wie fremd war es draußen! Das schienen nicht dieselben Straßen zu sein, die sie 322 so wohl kannte. Geheimnisvolle, gespenstische Wege. Es war, als schwände ihr Vertrautes mehr und mehr vor Augen. Sie fühlte sich ungeahnt frei, wie ein abgeschiedener Geist sich fühlen mag.

Ein seliger Jubel durchdrang sie, ein Jubel, wie sie ihn als Kind gefühlt hatte, so unwiderstehlich, so auflodernd und doch anders. In Seligkeit eilte sie, die Hände auf das Herz gepreßt, ihrem Ziele, ihrem Geschicke entgegen.

Und vor der kleinen Pforte, im Garten traf sie Felix. Sie hatte ihn da nicht erwartet. Sanft, wortlos, ruhig legte er seinen Arm um ihre Schulter; so gut und doch fremd. Es durchbebte sie.

»Engel,« sagte er mit erregter, weicher Stimme. Er führte sie in den Garten ein; dort gingen sie miteinander eng umschlungen. Seine Stimme klang tief bewegt und liebevoll.

Er erschien ihr so umgewandelt, so ganz verändert in seinem Wesen, als lägen nicht Stunden, sondern Jahre zwischen ihrem Abschied und ihrem Wiedersehen.

»Sieh, mein Herz, wir sind umgeben von Riesenmächten, wir sind umgeben von undenkbarer Kraft. Welten rauschen um uns, leuchten von ferne. 323 Und was wir ahnen, ist so groß, so unerschöpflich, so unfaßbar.« Er war vor ihr auf die Knie gesunken und hielt sie fest umschlungen. »Und was uns umgibt, mein Herz, ist von ewiger Kraft durchdrungen. Das Größte wie das Geringste, alles ist sieghaft. Wir selbst erscheinen uns gering, erscheinen uns klein, nicht nennenswert. Es will eines Hauches nur bedürfen, uns aus den Bahnen zu drängen, die uns vorgeschrieben sind; ja es scheint notwendig! Und wie mit unwiderstehlichen Naturgewalten drängt es uns zu unterliegen, und zu leben. Da mit einem Male regt es sich, und mit einem Male durchdringt es uns. Die Atmosphäre scheint Kraft über uns auszugießen. Die Macht, die jene Welten über uns bewegt, dieselbe Macht regt sich in uns. Es ist höchster Schmerz, höchste Qual, wenn das Mächtige einzieht, wenn wir spüren, daß wir Götter sind und über der Natur und ihren Gesetzen stehen. Du süßes Engelskind!« rief er leidenschaftlich, »Du kamst zu mir in Deiner Reinheit, in Deinem himmelssüßen Verlangen! Du in Deiner Unschuld, in Deiner Liebe! – Armes Kind.«

Er schien überwältigt. Die Worte waren ihm wie ein Sturm über die Lippen gegangen. Jetzt 324 stand er vor ihr, hob sie, die wie ermattet und willenlos ihm zusank, auf seine Arme und trug sie durch die dunklen Wege des Gartens. Er küßte ihre Haare, ihr Kleid, ihre Hände, während er sie trug, und flüsterte: »Ich will es Dir himmlisch gut heute machen. Deine Füßchen sollen den Boden nicht berühren!«

Er trat mit ihr in das dunkle Haus. Sie ging, von ihm gestützt, die Treppe hinauf. Er öffnete das erleuchtete Dachstübchen, das sie so wohl kannte, als den Aufenthalt ihres guten, alten Freundes. Da stand ein Tisch mit Früchten und wunderschönen Blumen, einem Reichtum von Blumen. Er mochte den ganzen Garten geplündert haben. Die Blumen lagen auf Tischen, Stühlen und auf dem Boden. Man sah, sie waren in Eile und Hast geordnet und verstreut. Sie waren noch frisch und feucht, wie eben gepflückt. Er setzte sich neben Engele an den Tisch, hielt ihren Kopf eng an sich gepreßt. Dann brach er einen schönen, duftenden Pfirsich in zwei Teile und fütterte sie wie ein kleines Kind, bis ihre Befangenheit wich und sie lächelte.

Er hatte viele Schätze und Merkwürdigkeiten im alten Hause gefunden, holte eins und das andere 325 und zeigte ihr manches Schöne. Jedes Wort, jede Bewegung von ihm war voll einer unbeschreiblichen Zartheit und Liebe. Auf den Knien lag er vor ihr und sprach mit ihr das Liebste, Beste, was er wußte.

»Verzeih' mir, mein teueres Herz,« sagte er, als er eine Weile ruhig und still wieder neben ihr gesessen hatte. »Verzeihe mir tausendfach! Sag', daß ich jetzt gut bin! Sag', daß Du mich verstehst!« Seine Stimme zitterte wie allzuschwer belastet.

Engele brach in Tränen aus, warf sich an seine Brust.

Draußen hatte sich ein Gewittersturm erhoben. Er riß an den Türen, er klirrte an die Scheiben; der Regen schlug dagegen. Durch das stille Haus fuhr der Windzug. Das Rauschen der Bäume im Garten drang ein. Es seufzte, klagte durch das Treppenhaus; ein ferner Donner grollte, und immer heftiger fuhr der Sturm gegen die Fenster. Es war, als wollte die Natur mit ihren Kräften eindringen, als wollte sie mit sich fortreißen, was ihr widerstand.

Er hatte vor Engele gekniet, die im Sessel saß; jetzt riß er das Fenster auf. Der Sturm und Regen drang ein und drohte die Lichter zu löschen. Er 326 führte Engele an das Fenster, hielt sie, wie ihr Schutz gebend, neben sich, und die entfesselten Kräfte zogen brausend an den beiden Menschen vorüber. Sie schauten in das Kämpfen der Elemente hinein und hielten sich umschlungen.

Dann zog noch eine sanfte Stunde durch das Gemach, in der Engele, mit Liebe und Weichheit traumhaft überschüttet, atmete.

Als die Morgendämmerung, der früheste Morgen, hereingebrochen war, öffnete sich ein Gartenpförtchen, und ein Mädchen trat heraus. Kein Auge wachte noch; es war noch tiefe, heilige Stille. Sie blieb in der halbgeöffneten Türe stehen. Ihr Blick fiel nur auf tauiges, erfrischtes Grün, auf einen einsamen Weg und eine stille, graue Mauer, die den Garten umschloß. Von dem leicht mit weißem Gewölk bedeckten Himmel leuchtete noch die große Vollmondscheibe, und von den Wiesen her klang der Gesang einer Lerche.

Die Geheimnisse der frühen Dämmerstunde offenbarten sich. Sie hatte bis dahin nicht gewußt, wie wunderlich fahl das erste Morgenlicht ist. Sie hörte mit Staunen die Lerche singen und blickte auf den Mond, von dem die Dämmerung auszugehen schien. 327 Und die Lerche und der bleiche Mond blieben ihr wie eine große Erfahrung, die außer ihrem Lebenskreise lag, in der Erinnerung unvergeßlich. Das Glück, das in ihr lebte, und von dem niemand wußte, war ihr mit diesem Himmelszeichen eng verbunden. Wie im Traume schwindelnd gewahrte sie alles. »Mein Gott,« flüsterte sie und sank in die Knie. Darauf flog ein ruhiges Lächeln über ihr Gesicht. Das süße Lächeln schwand und kehrte wieder. Sie preßte die Hände fest vor die Augen und träumte – träumte – träumte. Aus der kleinen Brust der Lerche schmetterten auf- und niederwogende Töne. Das Mädchen dachte nicht mehr, aber heiße Tränen drangen ihr in die Augen, wie unendlich fühlte sie sich von Felix getrennt.

Ihre Sinne waren traumbefangen. War das die Lerche, die sang? Es war ihr Herz, ihr eigenes Herz, das sich in die Wolken hinaufschwang, höher, immer höher; jubelnd, klagend, immer höher. War es schmerzliche Gewißheit ewiger Trennung, naher Leiden, oder war es Oede, war es Seligkeit? Was es auch sein mochte, die Lerche schmetterte es in den Himmel hinein. Keine Menschenseele konnte die Bedeutung des wunderbaren Gesanges ahnen; auch 328 dem Mädchen schwand die Bedeutung dessen, was das geflügelte Kleinod dort oben dem Himmel zurief: Glück – Unglück; Nähe – Trennung; Ungewißheit – Gewißheit; ach – unendliches Bedauern – unendlicher Dank – alles war ihr unter süßen, heißen Tränen zu einem einzigen, wogenden Gefühle geworden.

Allmächtiger, es ist Dein Wille – es ist mit Deinem Willen, daß solch ein törichtes Kind sich und alles auf der Welt vergißt! Deshalb verzeihe diesem sich hingebenden Herzen, daß es bittere Tränen weint.

Sorglos ging Engele durch die Straßen, als könnte kein Verrat, kein Schrecken sie berühren. Vor ihr stieg über den Dächern eine Wolke dunklen Rauches kerzengerade zum stillen Himmel auf. »Das ist unser Bäcker.« Sanft befangen schritt sie dann die Treppe zu ihrem Vaterhaus hinauf und warf sich matt zum Schlafen nieder, allmählich von Traum zu Traum gleitend. 329

 


 


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