Helene Böhlau
Der gewürzige Hund
Helene Böhlau

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Nahe bei Weimar liegt das lustige Jena, mitten in steil abfallenden Bergen und Hängen eingebettet. Zu jener Zeit war es ein heimisches Nest. Haus an Haus eng an die hohe Hauptkirche angedrängt. Manche Häuser trugen Türmchen, die wie lauschende Ohren sich aufgestellt hatten. Die ganze Stadt bildete ein wildes Gehock von Dächern und spitzen Giebeln, wenn man von einem der heiteren Berge auf sie niederblickte. Und die ganze Häuserherde war hübsch mit Mauern und Türmen und Toren verwahrt, damit keines der Häuser entkäme.

Aber es gab doch vorwitzige, die sich an die äußere Stadtmauer lehnten und in die Freiheit blickten. Manche waren in die Mauer eingeklemmt und schauten zur Saale hinab, und vor sich hatten sie schöne, langgestreckte Gärten, die bis zum Flusse führten. Da war ein recht hübsches, noch stattliches Haus nach damaligen Begriffen, ein Haus mit Erdgeschoß, erstem und zweitem Stock, und hatte 110 gemütsgrüne Fensterläden, wie man diese Farbe damals nannte. Diesem Hause schräg gegenüber, frei in der Landschaft, in einem weiten Bogen, den die Saale beschrieb, stand ein uraltes herrschaftliches Landhaus in einem Park.

Alte, mächtige Linden breiteten sich auf weitem Rasen aus. Und das grüne Schindeldach des Hauses schimmerte durch die Kronen und Zweige, wenn man am Garten vorüberging.

In dem Hause aber mit den gemütsgrünen Fensterläden wohnten zwei verwandte Familien. Im oberen Stock der Herr Professor Gutjahr mit Frau, Tochter und Sohn. Im zweiten Stock der Stiefbruder des Professors mit fünf Töchtern, die alle unverheiratet waren.

Das Erdgeschoß stand leer.

Darin aber hatte noch vor kurzem eine nun verstorbene Schwester der beiden Brüder gelebt, eine stille alte Jungfer, die nichts hinterlassen hatte als lauter Angedenken, zerrissene Schleier, uralte Kleider von Mutter und Urgroßmutter, Vater und Großvater, alte Bücher, alte Fetzen, Almanache und Erbauungsschriften und ganze Stöße von Briefen verstorbener Leute.

111 Die beiden Familien aber, die Verwandten der alten Dame, saßen jetzt in tiefer Dämmerung unten im Garten am Flusse und brannten ein Johannisfeuer. Denn es war Johannisnacht, und da sollten all die vielen Angedenken der guten Alten in Flammen aufgehen.

Da flogen Jugendschleier und vertrocknete Kränze in Funken gen Himmel. Allerlei altes Gerümpel knackte und sprühte. Leichte Festkleider verbrannten zu Asche, und die frohen und die traurigen Briefe, die armen Liebesbriefe, all die netten, süßen Koseworte und Fadheiten waren endgültig von den Flammen fortgeleckt und führten nun kein Scheinleben mehr auf Erden.

Die fünf Töchter des alten Doktors Gutjahr wohnten der Verbrennung der wunderlichen Kleinodien und Angedenken ihrer Tante gar teilnehmend bei.

Diese Mädchen hatten alle etwas von Vögeln an sich – etwas Zwitscherndes, Flatterndes.

Die Gutjahrs saßen bei ihrem Feuer, das die Erinnerungen an Generationen verzehrte, um einen runden Gartentisch, auf dem ein Windlicht flackerte, und lasen alle noch einmal in den Briefen, die sie schon gründlich miteinander durchgeschaut, und 112 daraus sie das Wertvollste zurückbehalten hatten, damit es noch ein Weilchen wieder vergessen liegen konnte, bis auch sie dahingingen und ihre Angedenken verbrannt würden. Jeder fand immer wieder etwas Neues vorzulesen, und man lachte trotz aller Vergänglichkeit, die hier zutage trat.

Der Vater der fünf unverheirateten Töchter hatte einen prächtigen Kopf, lebendige, geistreiche Züge, dunkle Augen und silberweiße Locken. Die Tochter des viel jüngeren Stiefbruders Gutjahr war noch eine frische junge Menschenblume, die zwischen den welken, zerflatterten Mädchen fast wehmütig anzuschauen war. Doch wie all diese zarten alten Jungfern in den verstaubten Liebesbriefen ihrer Vorfahren lasen, hatten sie etwas so Frommes wie fünf Heilige. Und die Liebe und Fürsorge, mit der sie ihren alten Vater umgaben, mit der sie jedem Wort und jeder Bewegung lauschten, ließ sie so warm und liebreich erscheinen, daß ihre Altjungferschaft ihnen zu einem Reiz wurde. Wie barmherzige Schwestern waren sie, denen man kein Alter und kein Schicksal ansieht. Sie gingen auf den Humor des alten Vaters mit Verständnis ein, hatten familienhaft drollige Ausdrücke untereinander, 113 erzählten mit Entzücken von einem Spaziergang und faßten alles, wovon sie sprachen, mit inniger Schwärmerei auf. Die Älteste aber, ein schönäugiges, früh gealtertes Wesen, dünn und zart wie die andern, mochte in übersinnlichen Angelegenheiten die Wortführerin sein. Sie deutete, was ihnen in den Gassen und auf ihren Spaziergängen aufgefallen war, und machte alles zum Gleichnis.

Es war ihr an diesem Tage ein Lamm begegnet, das man zur Schlachtbank führte; davon schien ihre Seele entflammt, daß gerade sie das heilige Symbol gesehen. Sie hatte einer göttlich mystischen Handlung beigewohnt und wußte auf eine überraschende Weise davon zu reden. Man sah ihre schönen Augen leuchten und die kleine zarte Gestalt voll seligster Betrachtung fast hinschwinden.

Das Feuer, das die Angedenken verzehrte, war fleißig geschürt von einem rotbackigen, festen Jungen, der mit seiner Schwester in diesem Altersnest blühend aufgewachsen war. Er hatte sich eine mächtige Frauenhaube aufgestülpt und jubelte über jede Feuergarbe, die gen Himmel fuhr, breitete die zarten Schals und Flatterlumpen im Flammenschein noch einmal aus, hielt sie zur Schau hin und rief: »Da 114 guck, das wär' etwas für euch! Das sollte Engele zum Tanz anziehn.« Oder: »Das Buch muß gescheit sein, da hat keins 'neingeschaut,« oder: »Pfui Deifel, was ist denn das?« Und zwischen dem Feuerknistern und Krachen und Funkensprühen las sich die Familie immer wieder aus den sorglich aufgespeicherten Briefen vor: »Meiner liebwerten Demoiselle Braut! Ganz in Devotion küsse ich die herzliebe teure Hand, und wenn Demoiselle nichts dagegen haben und hochdero gnädigste Frau Mutter nicht scheel darüber sehen, gestatte ich mir, dieses mit einem blutroten Karneol gezierte Ringlein an dero süßen Finger zu schieben.« Das las eine der fünf heiligen Jungfern und sagte: »Schade, es zu verbrennen,« und schob das Liebesbriefchen in ihren Rocksack; und es war anzunehmen, daß dies wohl der erste und einzige Liebesbrief war, den sie einschob. Denn an ein Nest mit fünf Töchtern eines armen Doktors wagte sich so leicht keiner.

Mit einemmal jubelte der Junge laut auf:

»Da guckt! Jetzt schüren die Roggenbachs drüben ihr Feuer. Die werden keine alten Hauben und alten Dreck verbrennen, die nicht! Da hat der Diener ganz kolossale Scheiter aufgerichtet, ich 115 hab's gesehn, und Reisig ist aufgebaut, ganz gräflich, und die schönen Mädchen stehen . . . hört Ihr sie singen?«

Ein froher Chor heller Frauenstimmen hob sich über die Baumkronen im Nachbargarten, und eine Feuersäule lohte auf.

»Du Deifel,« brummte der Junge, »das is fein! Gut, daß sie nich sehen, was mir brennen!«

»Wir brennen«, sagte der Vater der fünf heiligen Jungfern, »die Kleinodien und Herrlichkeiten des Lebens, die jenen, denen sie einst gehörten, um viel nicht feil gewesen wären. Da können die Roggenbachs gar nicht heranreichen mit ihren Scheitern, gerade so wenig, wie ich meine alten Töchter gegen die schönen blonden der Roggenbachs vertauschen möchte. Gerade so wenig möchte ich unser Feuer mit dene ihrem Feuer vertauschen.«

Aber nicht nur der Junge schaute sehnsüchtig zum Feuer der Roggenbachs hinüber, auch Engele Gutjahr, seine Schwester.

Die stand ganz versunken und blickte auf die mächtige Feuersäule, die hinter den hohen, blühenden Linden aufstieg, und hörte auf den vollen Gesang der jungen Stimmen.

116 Sie selbst war ein frisches Geschöpf mit schönen, dunklen Augen, wie ihre alten Kusinen sie auch hatten. Sie war aber stärker gebaut, hatte einen heißen, lebendigen Ausdruck, einen etwas trotzigen, kindlichen Mund.

Es waren zu viel Alte um sie her. Sie hätte auch lachen und jubeln mögen wie die Roggenbachs drüben, statt verstaubte Liebesbriefe, Hauben und altes Gerümpel mit den Kusinen zu verbrennen und in Liebesbriefen zu lesen, die einst Gott weiß wer geschrieben.

Sie trug ein rotes Tuch um den Hals geschlungen; das sah nach Sehnsucht und Lebensglut aus.

Eine von den zarten alten Mädchen sagte: »Schaut Engele an mit ihrem roten Tuch!«

Alle sahen auf das Mädchen. Da kehrte sie sich trotzig um.

»Engele, Bengele!« Der Vater der fünf zarten Heiligen drohte mit dem Finger. Engele aber war traurig.

Der Volksmund nannte das Haus, in dem sie geboren war, und in dem sie lebte, den Jungfernturm, wegen der vielen unverheirateten Gutjahrs, und sie, der junge Trieb unter den alten Blättern, 117 fühlte sich matt, als fehlte ihr der Widerstand gegen das vielfältige Alter. Sie hatte nun ihr Lebtag gesehn, wie die Kusinen herumschusselten in ihrem verträumten Hauswesen, wie nie etwas der Rede wert geschehen war. Sie wußte, keine ihrer Kusinen war je von einem Mann begehrt oder geküßt. Sie schliefen in kahlen, reizlosen Käffterchen, in die nie eines Menschen Auge blickte; wenn eine von ihnen krank war, lag sie wie vergessen. Sie hatten nichts Rechtes zu tun, und was sie taten, taten sie alle miteinander und verdarben es deshalb. Die Kusinen gingen des Tags zweimal spazieren, jede für sich allein. Da huschten sie dahin, da flatterten sie dorthin in ihren Schals und aufbauschenden Beduinen, da kamen sie nach Hause, und jede hatte im Frühjahr ein »Vögelchen« gehört, jede ihr Vögelchen, das sie keiner verriet, das sie immer von neuem aufsuchte.

»Da hab' ich Dir e Rotkehlechen entdeckt,« prahlte Röschen, die Älteste. »Da singt Dir e Amselchen,« fiel Lili ein, »tü-tü-tü i-u-i.« Der Vater lachte dann und sagte: »Das Amselchen, wett' ich, wird meine Amsel sein. Tü-tü-tü i-u-i macht nur die meine.«

118 So gingen sie immer auf Vogelwegen und hatten die größten Seligkeiten und Wonnen, die Engele ängstigten.

Einmütig waren sie ganz in der Liebe zu ihrem Vater. Engele liebte auch den ihren; aber dennoch drängte sich zwischen sie und ihre Liebe die ganze Welt. Sie wollte Unendliches erleben, wollte Gott weiß was tun, war aller Unruhe voll.

Sie steckte fast immer daheim. Die Mutter war eifrig und tat lieber alles selbst, als daß sie der Tochter die Arbeit gab.

Und wie stark fühlte Engele sich und wohlgemut! Im Garten grub sie gern, das war etwas für sie, das tat sie mit Lust; aber sonst hatte sie viel Langeweile.

Jetzt knisterte das Feuer hell auf. Da waren wieder Briefe und alte Bänder hineingeflogen und altes Zeug.

Bei Roggenbachs flammte das Feuer auch auf, und sie lachten so hell und stark und fröhlich. Und von allen Bergen leuchteten jetzt die Johannisfeuer, und ferne Musik erklang.

Engele dachte, daß sie auch ein Erlebnis gehabt habe, als sie noch ein Schulkind war, ein Erlebnis, 119 wie niemand sonst in ihrer Bekanntschaft, und es erschien ihr wie ein Symbol oder ein Traum.

Sie hatte einen Freund gefunden, einen alten, merkwürdigen Mann, einen Astronomen, der hier ganz einsam in seinem hohen Hause lebte, auf dessen Dach er sich eine Sternwarte hatte bauen lassen. Im Städtchen selbst kannte ihn ein jeder. Man sah ihn vorsichtig einhergehen, als wenn er dem Boden unter seinen Füßen nicht recht traute. Wer mit ihm in Berührung kam, war von seiner Liebenswürdigkeit entzückt. Doch alle sahen ihn mit einem gewissen Mitleid an.

Engele war einmal von ihm angetroffen, als sie verlänglich durch das Schlüsselloch des Mauerpförtchens blickte, das in seinen geheimnisvollen Garten führte.

Wie eine wunderbare Erfüllung stiller Wünsche war es ihr erschienen, als er in Wahrheit vor ihr stand und sie freundlich anredete, das Pförtchen aufschloß und sie in den altmodischen, verwachsenen Garten einließ.

»Komm,« hatte er ihr gesagt, »ich will Dir etwas zeigen, mein Kind, was Du noch nie gesehen hast.«

120 Sie war von ihm durch das ganze stille Haus die Treppen in die Höhe geführt worden. Zuoberst wurde die Treppe eng und gewunden, und der frische Abendwind war ihnen entgegengeweht.

Wunderlich, daß es in dem fremden, stillen Hause mit dem fremden, alten Manne ihr gar nicht bange geworden war. Aber es war von diesem alten Menschen eine stille Freudigkeit ausgegangen.

Die enge Treppe hatte auf eine kleine Plattform geführt. Der schöne Hausberg lag langgestreckt vor ihnen. Die feine Mondsichel stand silbern am Himmel, und vor ihnen erhob sich ein blinkendes und schimmerndes astronomisches Fernrohr. Der alte Herr hatte daran gerückt und dann gesagt: »Nun halt' Dich ruhig und schau hinein, da siehst Du den Saturn mit seinem Ring.« Und den sah sie dann auch auf tiefschwarzem Grund, wie er im Raume schwebte; so zierlich und greifbar stand er vor ihr mit seinem Ring. Sie war ganz stumm und still gewesen, als sie so in die Geheimnisse des Himmels hineingeblickt. Ein Schauer hatte sie durchfahren. Dann hatte der alte Herr das herrliche Fernrohr noch auf die Mondsichel gerichtet und das Kind ein strahlendes, mächtiges Kleinod mit 121 schimmernden, großen Perlen besetzt, ein Wunder sondergleichen erblicken lassen.

Im Erdgeschoß war das Reich seiner zwei alten Dienerinnen, die mußten damals Engele begrüßen.

»Die beiden kannten mich schon in meiner Jugend und hätten nicht gemeint, daß ich mir ein kleines Mädchen von der Straße heraufholen müßte, um ein liebes Kind einmal in meinem einsamen Hause zu haben,« hatte der alte neue Freund gesagt, und dann noch: »Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt.« So hatte er Engele wieder auf die Straße geführt – und sie hatte einen guten, getreuen Freund bekommen.

Die ältlichen Kusinen aber waren damals ganz außer dem Häuschen gewesen, als sie alles gehört hatten.

»Ach, un wie er Klavier spielt!« hatte Röschen gerufen. »Wenn man abends an seinem Garten auf und nieder geht, ist mir's oft, als ob die Engel drinnen musizierten.«

»Ne aber! Das weißt Du auch, da geht Röschen auch?« Das war Katinka gewesen. »Ne aber, ne gucke, un Geige spielt er auch manchmal. Das klingt euch, als sänge eine Seele in der hohen Seligkeit.« Un da 122 waren sie alle fünfe, ohne voneinander zu wissen, auf dem stillen Weg zwischen Gärten in ihren bauschigen Beduinen und flatternden Longschals auf- und abgehuscht. Jede hatte da ihre besondere Stunde gehabt, ihren besonderen Tag, wo sie ihn belauschte und glaubte, sie alleine hüte dieses Geheimnis.

Der alte Doktor mit dem silbernen Wolkenhaar und den blitzenden, braunen Augen, die wie in der Jugend leuchteten, hatte ganz verschmitzt gelächelt, und es war darauf zu wetten, daß auch er seinen Tag und seine Stunde hatte, an dem er dem einsamen Musikanten zu Gefallen ging.

Engele aber war in das Geheimnis eingedrungen.

Der Herr, das Haus und die alten Dienerinnen waren ihr miteinander zu einer Art Heimat geworden. Sie hörte des Herrn Klavier- und Geigenspiel, sie schauten in die Sterne, und er erklärte ihr die Geheimnisse und unfaßbaren Verhältnisse des Raumes und seiner Welten. Sie kannte jeden Winkel im Haus. Diese Freundschaft aber hatte ihr eine Ausnahmestellung bei den Ihrigen gegeben, eine Reife und Sicherheit, ein Wissen und Schauen, 123 das über ihre Jahre und die Bildung der Mädchen in der kleinen Stadt ging, was alles sie aber auch vereinsamte und sehnsüchtig stimmte. »Leben, Leben!« dachte sie. »Herrlich und voller Wunder ist die Welt!«

 

Kurze Zeit nach jener Johannisnacht, in der Engele sich das ganze Begebnis und die jahrelange Freundschaft mit dem guten Astronomen so recht von Herzen vorgestellt hatte, starb der einsame Mann.

Das Haus stand vollends leer, nur in einer stillen Stube, die zum Garten hinausging, lebten die alten Dienerinnen. Die fünf heiligen Jungfrauen waren mit zum Begräbnis gegangen, auch der Doktor.

Man trug einen geliebten Freund von ihnen allen zu Grabe. Der alte Astronom hatte dankbare Zuhörer gehabt, und es wurden Tränen vergossen aus Augen, die er nicht kannte. Auch viele Arme kamen, denen er Gutes getan, und Engele war fassungslos vor Schmerz. Ihr schien nicht nur ein geliebter Mensch versunken zu sein, sondern mit ihm eine ganze, schöne, reiche Welt.

124 Aber nicht nur die fünf heiligen Jungfrauen geleiteten den Einsamen zu Grabe. Nein, es standen wie schöne frohe Engel vier herrliche, große, blonde Mädchen in weißen Kleidern und ein großer, blonder Junge mit um das Grab, eine schwarz gekleidete stattliche Frau und ein sehr vornehm aussehender Mann, der sich ein wenig vorgebeugt hielt. Es mochte dies mehr die Art seines Wesens sein, die ihn zu dieser Haltung veranlaßte; denn er war noch nicht alt.

Das waren die Roggenbachs, die in der Johannisnacht ihr gräflich stolzes Feuer entzündet hatten, und deren Gesang Engele so sehnsüchtig gestimmt hatte. Ihr alter Freund war ein weitläufiger Verwandter von Roggenbachs, ohne viel Verkehr mit diesen gepflegt zu haben. Er war zu sehr an seine Einsamkeit gewöhnt gewesen. Ihr war aber öfters von ihm versprochen worden, sie zu seinen Verwandten zu bringen. Nun schien sein Tod sie noch zusammenführen zu wollen.

»Sind Sie das liebe Engele, das unser guter Vetter uns immer bringen wollte, den wir so sehr vermissen werden, trotzdem wir uns wenig sahen? Aber er gehörte zu den Menschen, die einem das 125 Leben reich machen, wenn man nur denkt, sie sind da.«

Das sagte die Gräfin warm und natürlich, so daß Engele voll Vertrauen zu ihr aufblickte. Die Gräfin stellte sie ihren Kindern vor, und die großen Mädchen schauten gutmütig und treuherzig auf sie.

Sie wurde auf das liebevollste eingeladen, die fünf zarten Jungfrauen wurden begrüßt. Man lernte sich endlich kennen, trotzdem man so viele Jahre einander unbekannt in naher Nachbarschaft gelebt hatte.

 

Das Erdgeschoß, in dem Tante Gutjahr gewohnt hatte, deren Angedenken in der Johannisnacht verbrannt worden waren, stand leer. Denn es war für die Familie so eine Sache, fremde Leute einziehen zu sehen und mit diesen den Garten zu teilen. Die gediegenen Möbel blieben wie zu Lebzeiten der Verstorbenen in den Wohnräumen. Die Fenster wurden täglich geöffnet, die duftende Sommerluft strömte ein, und es war im Erdgeschoß wie in einer Kirche.

Da kam eines Tages der Advokat Gundelwein zu Gutjahrs. Ihm war der Tod der alten 126 Jungfrau bekannt. Es war ihm auch bekannt, daß die hübsche, sonnige Gartenwohnung leer stand. Denn er wußte alles, was im Umkreis von zwei, drei Meilen in und um Weimar vorging, und er vermochte Gutjahrs, die Wohnung für eine unbestimmte Zeit an ein junges freiherrliches Ehepaar zu vermieten, dem es in Weimar nicht recht behagte. Ihre Reisekutsche habe er in Verwahrung in der eigenen Scheuer. So wurde er mit den Gutjahrs handelseinig und hatte somit seine Mieter, über die er sich so sehr gefreut, verloren. Der Freiherr war seit seinem Besuch bei Goethe so schwermütig und launenhaft, daß Herrn Gundelwein die kleine Freifrau erbarmte; und er gab ihr vollkommen recht, daß es jetzt nicht der Augenblick sei, um wieder in die Einsamkeit heimzureisen. So war der gutmütige Herr Gundelwein auf Jena verfallen. Da gab's Professoren, Vorlesungen und alle möglichen Leute, die Herr Gundelwein kannte.

Es war beschlossene Sache: in den allernächsten Tagen sollte das junge Paar bei Gutjahrs in das Erdgeschoß ziehen. Und Frau Gutjahr sagte: »Seht Ihr, wie gut, daß Ihr mir gefolgt habt, und daß wir die Angedenken der lieben Tante am Johannistag 127 verbrannt haben, war doch das einzig Richtige. Wie hätten wir jetzt Ordnung machen können! Nun sind die Kommoden und Schränke leer, und alles geht in schönster Ruhe vor sich.«

 

In der Zeit der allerherrlichsten Pracht des Gartens, der sich bis an die Saale hinstreckte, zog das junge Paar bei Gutjahrs ein. Sie kamen in einem weimarischen Mietswagen angefahren, Hans saß mit auf dem Bock, die Arme verschränkt, denn mit seiner Kutscherherrlichkeit war es vorderhand vorbei. Er war Diener, Hausbursch, Köchin, alles in einer Person geworden. Gott weiß, wie lange die alte Reisekutsche in der Scheuer des Herrn Gundelwein wieder Ruh haben mochte! Diese Mieterin wenigstens hatte der gute Advokat sich zum Troste zurückbehalten.

Hinter jedem Vorhängchen guckte bei Gutjahrs jemand vorsichtig am Fenster, als das junge Paar mit Herrn Gundelwein der Kutsche entstieg.

»Ne, wie reizend, wie allerliebst, wie fein, wie'n Elfchen!« In allen Tonarten gaben die fünf heiligen Jungfern ihre Meinung hinter den Gardinen des großen Wohnzimmers zum besten.

128 In dem Stock über ihnen stand Engele mit großen Augen und schaute auf die Koffer und die Fremden.

Die Mutter empfing ihre Mieter freundlich.

Herr Gundelwein war besonders beweglich, lief dahin und dorthin, schleppte dies und jenes. »Das ist ja, das ist ja«, rief er fortwährend, »ganz allerliebst! Sehen Sie nur, verehrter Baron, sehen Sie nur, hochgeschätzte Baronin, das aber hat Ihr gehorsamster Diener gut gemacht!«

Ja, und es war gut. Nur fort aus diesem Weimar, das Myrtel von ganzer Seele haßte! Sie warf einen Blick auf den Garten, der in Sommerblumenfülle prangte. Sie sog den balsamischen Duft ein, der ihr nach den Gerüchen der Wünschengasse ganz köstlich erschien. Der Freiherr schaute auch wieder ein wenig freier um sich, aber die Falte zwischen Nasenflügel und Mundwinkel war scharf gezogen und gab ihm einen mißmutigen, kränklichen Ausdruck.

Engele hörte, wie die Mutter sagte und auf den Garten wies:

»Da unten die große Sommerlaube, die der unsern gegenüber liegt, ist nur für die Herrschaften 129 bestimmt. Da haben sie einen hübschen Blick auf die Saale und die Berge.«

Die kleine Freifrau ging mit Herrn Gundelwein aus und besorgte allerlei zum Abendbrot, wollte Tee, Brot und Butter kaufen und Thüringer Wurst, und der Advokat stand ihr getreulich bei, denn er war in Jena genau so bewandert wie in Weimar.

Unterwegs begegneten sie Mathias Heinloth, der hier eine Schreiberstelle am Magistrat innehatte. Er war als Student zu keinem Examen gekommen und war vor allem Dichter.

Bis jetzt hatte Myrtel noch nicht viel mehr als »Prost–Pröstchen« von ihm gehört; aber Herr Gundelwein sagte, daß er ein sehr feiner Kerl sei.

Er bewegte seine Hände so nachlässig. Ja, an dem Abend, als Myrtels Ehemann verzweifelt von Goethe gekommen war, da war Mathias Heinloth auch gesprächig gewesen. Myrtel hatte nicht viel davon verstanden, denn ihr Herz war an diesem Abend so schwer, wie es eigentlich heute auch noch war.

Sie hatte aber gehört, wie er etwas vom »großen 130 Tier« in Weimar sagte, das auf allen Keimen liegt; damit hatte er Goethe gemeint. Seine Hände waren dabei herumgeflattert, trotzdem sie weich und dick waren; sie saßen so locker in den Gelenken. Er hatte gesprochen, als spräche er mit den Worten der Heiligen Schrift; aber es war alles Unsinn gewesen. Es tat ihr in der Seele weh, daß dies dumme Zeug bei ihnen geredet wurde, ohne daß Gabi dazwischenfuhr. Der hatte aber ganz teilnahmslos und versunken dabei gesessen.

Und diese ganzen Tage war es ihr nicht aus dem Sinn gekommen:

»O weh, mein Liebster gehört zu denen, die müde sind, nicht zu den Tapferen, Wachen, die vorwärts schreiten!«

Die arme kleine Myrtel kaufte ohne Lust, was man zu des Lebens Notdurft und Nahrung braucht, und hörte, wie Mathias Heinloth sie damit unterhielt, daß er gewaltig auf die Deutschen schimpfte, diese Mückenseiher, diese Spießbürger, die sich ihres Daseins schämen, ihrer Sprache, ihrer Kleider und Bärte, ihrer Weiber, kurz ihres Daseins. Reif wären sie, sagte er, zum Verschlucken. Sie wären ein Bissen, der den Franzosen gewiß nicht schwer 131 im Magen liegen würde, denn ehe sie nur hinunterkämen, würden sie schon französisches Fleisch und Blut geworden sein.

»Nun aber Goethe?« fragte die kleine Freifrau ein wenig schelmisch. »Dieser Bissen möchte wohl für die Franzosen zu stark sein.«

»Den wollen sie gar nicht,« sagte Mathias Heinloth und schaute auf ein Fläschchen mit Rum, das die zarte Hausfrau soeben in einem Kolonialladen nebst einer Tüte Zucker einkaufte.

»Ja, ja,« sagte er, »mit so etwas muß der Deutsche versetzt werden, so etwas fehlt ihm im Blute. Der liebe Herrgott hat irgend was, als er die Deutschen braute, vergessen. Was? Darüber sind sich die Gelehrten nicht einig. Salz? das haben sie; aber Sprit, Spiritus und Wein für die Genies! Damit kann man wenigstens den Fehler korrigieren. Hält freilich nicht lange vor, muß immer wieder aufgegossen werden.«

»Geh,« sagte der Advokat Gundelwein, »das versteht so eine feine kleine Freifrau nicht.«

»So,« sagte Mathias Heinloth, als interessierte ihn dies sehr.

Es blieb Myrtel nichts übrig, als Herrn 132 Gundelwein und Mathias Heinloth zum Abendessen aufzufordern, so ungern sie es tat.

Es wurde aber mit ungeheuchelter Freude angenommen, so daß sie den beiden nicht recht böse sein konnte, daß diese am ersten Abend sich gleich wieder bei ihnen breit machten.

Als Myrtel in das Haus hineingegangen war, schlug Mathias Heinloth dem Advokaten auf die Schulter und sagte:

»Herrgott noch einmal, gibt es etwas Süßeres als dieses einzige Kind, Myrtel? So hingerissen hat mich noch kein Weib auf Erden, und nur durch ihr sanftes Dasein. Deifel, Deifel, da bin ich eingegangen, alle Seligkeiten der Erde blicken aus diesen Augen und liegen in diesen süßen gebundenen Gliedern, nur daß mich dies alles nichts angeht! Verflucht! Diese Seligkeiten aufzulösen, freizumachen, Herrgott noch einmal!«

»Du bist wohl ganz verrückt,« sagte Herr Gundelwein. »Ich hab' sie in den Armen gehalten, wie sie weinte – und ich sage Dir, ein zierliches, allerliebstes Holzpüppchen!«

»Holzpüppchen? Weil Du'n Hanswurscht bist! Die, sage ich, kann zu Fleisch und Blut und zu den 133 wahnsinnigst heiligsten Offenbarungen des Lebens werden, wenn – wenn sie nicht ekstatische Wege geht. Lehre Du mich ein solches Weib kennen! Und wenn mich tausendfach ein Goethe vor den Bauch getreten hätte, und wenn sie mir jedesmal, was ich schrieb, alles höflichst zurücksandten: Hier stehe ich und komme daher wie noch emal e Poet!«

Damit reckte er sich und streckte sich und streckte sein Bäuchlein vor und preßte die Schulterknochen zusammen, daß sein Rock im Rücken wie eine Watteaufalte zusammenschlug. Er ahnte oder ahnte nicht, wie drollig er war, aber er meinte es ungeheuer ernst.

So hatte die kleine Freifrau einen sehr lebendigen Anbeter gewonnen.

 

Im Hause des Freiherrn Schenk von Geyern ließen es sich von diesem Tage an gar manche wunderliche Herren wohl sein. Myrtel nannte sie die Genies. Und die Genies kamen oft und saßen mit dem freiherrlichen Paar in der Sommerlaube, die der Laube der Gutjahrs gegenüberlag, und bei Regenwetter im netten großen Wohnzimmer der verstorbenen Tante.

134 Der schöne, mit künstlicher Lasterhaftigkeit gezierte Baron Blonberg fand sich auch häufig ein. Er kultivierte seine Blässe neben seinem Studium, das er außerordentlich ausdehnte, genoß dazu den Eindruck, den er auf seine Mitmenschen machte, war Napoleonschwärmer und hatte eine große Neigung zum Katholizismus. Er war eng mit Mathias Heinloth befreundet, den er sich gewissermaßen zu seiner Folie erwählt hatte.

Zu diesen beiden gehörten mit großer Treue Joseph Schätzler und Richard Stiefel. Alle junge oder ältere Musensöhne, die nebenbei der Dichterei in die Arme gefallen waren.

Es war eine ganze kleine Dichterschule, in die der Freiherr mit aufgenommen wurde, und deren Mäzen und Enthusiast Alf Gundelwein war.

So kamen und gingen im Jungfernturm von jetzt an allerlei interessante junge Männer, wie derartige noch nie seit Menschengedenken dieses Haus betreten hatten.

In der Wohnung des Freiherrn wurde alles besprochen, was nur besprochen werden konnte. Napoleon, Goethe, Philosophie, Naturwissenschaften, Politik, von der sich in dieser Zeit genug sagen ließ, 135 aber wenig gesagt wurde. Napoleon drängte unüberwindlich und unaufhaltsam vorwärts, und über Deutschland lag tiefster Druck. An Stoff zum Plaudern fehlte es nicht.

So oft als tunlich kam Herr Gundelwein in der schwerfälligen, unbequemen, langen Postkutsche von Weimar herübergerumpelt und goß seinen Enthusiasmus über seine Freunde aus.

Er hatte zu oft die einzelnen Teile, wenn es ihnen nicht zum besten erging, kräftig ernährt und es ihnen für die Nacht in seinem eigenen Hause, mit eigenen Händen, wie es das freiherrliche Paar mit angesehen hatte, behaglich gemacht.

Ueber alle Gedanken und Einfälle, die sich etwa gestalteten, wenn die Dichter abends beieinander saßen, wurde sonderbarerweise sorgfältig Buch geführt, das hatte Mathias Heinloth in einer guten Stunde so eingerichtet. Die Gedanken waren somit zum Gemeingut geworden. Ein jeder durfte sich ihrer bedienen. Von keinem Einfall wurde der Urheber eingetragen.

Heinloth und Baron Blonberg waren außerordentlich für den Gedanken eingenommen, in dieser Zeit des Druckes, der Haltlosigkeit und Schwachheit, 136 in der diese beiden Türme Goethe und Napoleon ragten, Gruppen zu bilden, fest aneinandergefügte Gruppen. Gegen den Turm Goethe sollten seine Intelligenzen sich aneinanderschließen, Beeren, die sich zu einer Traube gestalteten. Ach, sie wollten eine Traube sein, die von den Männern, welche nach Kanaan ausgezogen waren, schwerlich geschleppt worden wäre, sie wollten sich zu einer einzigen Persönlichkeit kristallisieren. Die Schleusen sollten sich öffnen, die einen »Ichsee« vom andern trennten. Zusammen wollten sie strömen. Ein Ich sollte werden! Ein Ich mit den köstlichsten Gaben, mit einem Reichtum persönlicher Eigenschaften. Ihre Talente sollten erstarken, im Vertrauen sondergleichen zueinander, ein Miteinanderschaffen und -dichten. Eine Sprengung des Ichs zum Besten der Idee Leben und Sichentwickeln des einzelnen zum Wohle aller. Die Gruppe, die diese miteinander darstellen wollten, sollte »der Ichsee« heißen oder »die Traube« oder einfach »das Ich«.

 

Und da saßen diese Männer, denen es allen nicht zum besten ging, und träumten und gestalteten ihre Gruppe aus.

137 Myrtel war es oft zumute, als befände sie sich unter Kindern. Eifrig, lebhaft und ausgelassen ging es zu. Niemand kam so recht zu sich selbst. Myrtel sah ihren Gatten nicht arbeiten. Seine Stimmung aber besserte sich.

Sie lasen sich gegenseitig ihre Werke vor und behandelten den Dichter jedesmal mit Weihe und Ehrerbietung. Der Freiherr blieb in dieser Beziehung bisher vollkommen zurückhaltend. Er las nie seine eigenen Werke, war aber ein aufmerksamer, liebenswürdiger Zuhörer. Die andern schienen längst wie ineinander verfilzt gewesen zu sein, ehe sie den Freiherrn kennen lernten.

Mathias Heinloth aber schien der fruchtbarste Gedanken- und Einfallsmensch zu sein. Daher ließ er es sich nicht nehmen und machte an alles, was er für das Hirn der Allgemeinheit zur Welt brachte, ein Schwänzchen.

Aber wiederum war alles, was von Mathias Heinloth stammte, durchaus nicht abgeklärter Natur und oft recht unverschämt und kollerig, so daß es auch meist wieder an ihn zurückfiel.

Sehr gesucht waren Baron Blonbergs Aussprüche über die Weiber und das Leben in 138 Großstädten, das sie alle nicht kannten, ganz besonders aber Andeutungen geheimnisvoller Art, die von den lasterhaft geschwungenen Lippen des Barons kamen.

Joseph Schätzlers Geistesprodukte nannten die Glieder der Gruppe »Sauerkraut«; was aber sehr beliebt und als nützlich angesehen wurde. Dann waren noch einige Jünglinge, die öfter etwas zum besten gaben, was man »aus dem Schmusgrund« titulierte. Das hatte auch seine Verwendung. Richard Stiefel wurde zum wissenschaftlichen Halt der Gruppe, denn er gab zumeist gelehrte Brocken und allerlei Kenntnisse. »Aus dem kuriösen Antiquarius« nannte man dieses.

Der Freiherr Schenk von Geyern aber wurde als das romantische Prinzip bezeichnet.

Wenn alle Schleusen geöffnet waren, so flossen und strömten die Gedankenwellen nur so, daß es manchmal schien, als wollte die Gruppe »Ichsee« aus den Ufern treten. Es waren, wie man in Weimar sagt, »gewiefte« Leute, und keiner schien auf den Kopf gefallen zu sein. Sie konnten schon durch ihr Ineinanderfließen eine Persönlichkeit zusammenbringen, die alle Achtung verdiente.

139 Die kleine Freifrau Myrtel war natürlich von diesem geistigen Zusammenfluß ausgeschlossen. Doch spukte sie in allen Köpfen, sie, das einzige weibliche Wesen in dieser Dichterschule, und sie wurde beachtet, studiert und betrachtet, mehr als ihr lieb war.

Mathias Heinloth hockte zuweist wie ein Hund ihr zu Füßen und sagte, daß er nur so leben könne. Er war auch wie ihr Schatten. Wenn sie, aus der Kristallkaraffe der verstorbenen Tante, der Gruppe in die feinen, geschliffenen Gläschen einen leichten Wein eingoß, ging er hinter ihr drein, als wäre sie zarter wie das zarteste Glas und er immer bereit, sie in den Armen aufzufangen. Myrtel war auch die Ursache, daß die Zusammenkünfte des »Ichsees«, wie die Gruppe schließlich genannt wurde, nicht allzu geräuschvoll ausfielen.

Die Genies machten ihr viel Müh' und ermüdeten sie sehr, denn ihre Versammlungen dehnten sie bis tief in die Nacht aus, und Myrtel war müde und ihr Herz sorgenschwer. Denn dieses Theater, das hier in ihrem Hause spielte, war das Rechte nicht, das fühlte sie. Ihres Mannes Wollen war ernst und lag tief in seiner innersten Seele.

140 Sie wußte, er war ein Dichter. Sie glaubte an ihn, und sie war dem großen Goethe gram, daß er diesem tiefen, wahren, armen Menschen nicht die Hand gereicht, nach der ihn so sehr verlangt hatte. Es fehlte ihrem Manne irgend eine Kraft, die ihm Festigkeit des Wollens gegeben hätte.

Diese guten törichten Jungen, mit denen er jetzt seine Abende verbrachte, wollten das, was sie wollten, ehrlich aus der Tiefe ihres deutschen Gemütes, so sonderbar ihr alles erschien.

 

Weshalb liest Du ihnen nie etwas von Dir?« fragte Myrtel, als sie mit ihrem Eheliebsten eines Abends ohne Gäste beieinander saßen, süß-traulich und etwas schwermütig wie oft daheim im alten Traumhaus. Sehnsuchtsvoll, ganz Heimweh war Myrtel.

»Weshalb soll ich denn lesen? Siehst Du nicht, wie zufrieden sie sind, daß ich's nicht tue?«

»Ach, geh,« meinte Myrtel, »nein, die täten sich freuen. Ich hab' doch auch gesehn, Du hast wieder ein bissel gearbeitet.«

»Für Kinderchen, da die Alten nichts von mir wissen wollen.«

141 »Da lies es mir,« bat Myrtel leise.

»Weißt Du, Myrtel, es ist doch so: Nur das ist Kunstwerk, was Fleisch und Blut, das böse Haus zerbricht und die verborgene Seele freimacht – und wenn es das kleinste, das ärmste Werk wäre, muß es ein Erlösungswerk sein.«

»Ja,« sagte Myrtel eifrig, »ja, glaub' mir, ich weiß, was Du willst. Geh, hol's halt!«

Und der Freiherr ging langsam und zögernd an den Schreibtisch und nahm ein paar Blätter aus dem Schubfach.

»Und siehe, ein Engel Gottes steht vor Euch,«

so heißt es.«

»Is wahr?« sagte Myrtel froh.

»In der Wünschengasse zu Weimar«, begann der Freiherr.

»Ach, in der Wünschengasse,« wiederholte Myrtel leise.

»Da stand ein kleines, müdes Haus. Alle andern hatten sich längst gereckt und gestreckt, trugen hohe Schieferdächer oder waren mit Ziegeln gedeckt, hatten hübsche hohe Fenster mit vielen blanken Scheiben. Ansehnliche Leute gingen in den 142 hübschen Häusern ein und aus, berühmte Leute, wohlhabende und hochgeachtete.

Die Wünschengasse war mit der Zeit sehr vornehm geworden, und niemand würde an ihre einstige bescheidene Vergangenheit sich mehr erinnert haben, wenn nicht das schindelgedeckte Häuschen gewesen wäre. Das hockte klein und bucklig zwischen zwei hohen Mauern. Das moosige Dach war ihm wie eine Mütze über die Augen gerutscht. Es schien zu schlafen.

Ein bescheidener Rauch wie von einer Tabakpfeife kam um die Mittagszeit aus seinem Schornstein. Und durch das kleine Fenster mit den vier Scheiben schimmerte am Abend das dämmerige Licht einer schlanken Talgkerze, durch die das dünne Döchtlein der Armut gezogen war.

Aber wie in einem Vogelkäfig zwitscherte es im Haus Sommer und Winter, als hielte sich die wohlhäbige Wünschengasse in der hockigen Hütte Lerchen und Zeisige, allerhand liebliche Vögel zu ihrer Unterhaltung und Kurzweil.

Die alten Nachbarinnen, die dem Häuschen gegenüber wohnten, brummten sich nach der Art alter weltfremder Leute oft mürrisch zu: ›Eine Witib und 143 zwei elendige Bälger!‹ Es roch bei den alten Nachbarinnen gar oft nach Sauerkraut und Speck und allerhand leckeren Speisen. Jetzt zur Weihnachtszeit dufteten durch das Flockengestöber die warmen Dunstwolken, die aus frischem Weihnachtsgebäck aufstiegen, hinaus in die Gasse. Niemand hatte aber darauf acht gegeben, daß die junge, leichtfüßige Witwe seit geraumer Zeit schon nicht mehr so flink und fröhlich mit ihrem weißen Tuch um den Kopf am Abend, wenn sie von der Arbeit kam, durch die Gasse gelaufen war, und niemandem mochte es aufgefallen sein, daß zwei zarte, leichte Kinder, ein Bübchen und ein Mädchen, ihr nicht mehr lachend und jubelnd entgegengeflogen waren und ihr zwitschernd am Halse hingen, bis alle drei kosend im Häuschen verschwanden.«

»Ach,« flüsterte Myrtel und unterbrach ihn: »Das ist das Brotweibel und ihr Bübel! O – Du! Denen hast Du wohl die Seele erschaut?«

»Paß halt auf,« sagte der Freiherr.

»Die Lerchen und die Zeisige waren still geworden, als wäre die Zeit der Mauser da. Niemand merkte diese Stille. Die ganze Welt war lautloser geworden. Die große Schneeruhe war eingetreten. 144 Die Flocken sanken vom Himmel. Die Schneepolster, die sich über die Straßen der Stadt und über die ganze Gegend breiteten, wurden höher und weicher, die Schritte und die Stimmen lautloser, und die Glocken klangen gedämpft durch die weiche, flockige Schneeluft. Es war die rechte Zeit, um zu vergessen. Alles wurde überschneit und eingeschneit. Ein jegliches vergaß den Sommer, die grünen Bäume, die singenden Vögel, als wäre solche Herrlichkeit nie dagewesen, und ein jeglicher vergaß seinen lieben Nachbar mehr noch als sonst, denn er hörte ihn nicht schreiten oder über die Straße schlurfen. Mit dem vollaubigen Sommer und den Vögeln war auch die kosende flinke Witwe mit ihren zwitschernden Kleinen vergessen. Die Rauchwolke kräuselte sich mittags karg über dem Schornstein; im kleinen, eisernen Ofen brannte das Feuer kläglich, und die junge Witwe saß vor dem breiten Bett, in welchem das zarte, leichte Mädchen im bösen Fieber lag. Der Bub kauerte eng an die Mutter angedrängt oder lag, wenn die Mutter im Hause ein wenig nach dem Rechten schaute, beim Schwesterchen, hielt es umfangen, schwätzte mit ihm und wärmte sich an dem zarten, brennenden Körper. ›Wie Du klopfst,‹ sagte 145 das Bübchen. ›Was klopft nur so in Dir?‹ Da lächelte das kranke Kind und sah den Bruder verständnislos an.

›Schau' nich so,‹ sagte der Bub ängstlich. Spiel' doch – schwätz' doch! Mutter! Mutter!‹ rief er ängstlich.

Da kam das junge Weib atemlos herein, hohlwangig und müde gehetzt von Angst und Arbeit und Ratlosigkeit und von der Sorge, woher das Nötigste nehmen für sich und die Kinder, fast ohne Verdienst.

Die Krankheit schlich dahin, nahm alles mit sich, was das Leben lieblich macht, Kraft, Ruhe und Regelmäßigkeit. Die Nächte wurden zu Tagen, die Zeit dehnte sich und wollte kein Ende nehmen. Als es gar nicht besser wurde und die kalten Hände der Mutter die heiße Stirn des Kindes nicht mehr kühlten und das Kamillentränklein nichts half, da machte sich die Mutter zum alten Doktor auf, der in der Wünschengasse wohnte, und klagte dem ihr Leid. Der kam durch den Schnee gestapft und trat in das niedre, kleine Haus, bückte sich, als er durch die Stubentür ging. ›Hoho!‹ sagte er, ›was ist mir das?‹ als er das Häuflein Unglück sah, die schwache, zarte Mutter, angedrängt an die Kinder. Das kranke 146 Tierlein in der Mitte, die Kühle der beiden Gesunden einsaugend und Wärme gebend. ›Hoho – hoho! – Na, macht Platz, Ihr, daß ich mir den Schelm einmal betrachten kann.‹

Sie rückten auseinander und erschauerten in der Kühle. Das fiebernde Kind lag keuchend und zuckend vor dem Arzt.

›Der Tausend!‹ sagte der und schaute vom Kinde auf die Mutter – und über das alte, wissende Arztangesicht legte sich der unerbittliche Zug, der sich nicht verbergen läßt –, der also zu deuten ist: Beugt Euch, ein Großer ist nahe – er ist schon in der Stube. Die Mutter schaute auf die stummen Lippen des Arztes. Keine Frage – aber ein Röcheln, als wäre sie angeschossen wie ein Wild, rang sich aus ihrer Brust. Und als wäre noch einer im Raum, den nur das kranke Kind erblickte, hub es zu reden an und blickte ins Leere. Und deutlich frug es: ›Werd' ich jetzt zermacht?‹

›Was sagt sie denn?‹ frug der Arzt.

Die Witwe aber hatte verstanden, was ihr Kind frug. Sie kannte die Kindersprache gar wohl – und ihr Kopf sank ihr auf die Arme, die sich am Bettrand stützten.

147 ›Ich möchte ein Weihnachtsgärtchen haben,‹ murmelte das Kind wieder, ›wie sie am Markte stehn, mit Schäfchen und Lichtchen und dem Kindlein und der Mutter – ein Engel oben drauf aus Gold – gell, Mutter, oben der Goldengel?‹ Der Arzt nickte dem Kinde lächelnd zu und sagte zur Mutter, was mit ihm geschehen solle, gab ein paar Trostesworte, wie es sich gehört – und ging wieder hinaus in den Schnee, der so gar viel vergessen läßt. Höflich geleitete den alten Doktor das zitternde junge Weib bis vor die Tür.

Nun aber begann die Seele des abscheidenden Kindes einen sehnsüchtigen Wunschtanz.

Der alte Doktor hatte durch sein Wissen den Tod in die Stube gebannt. Sie fühlten ihn. Sie bückten sich. Aber die Seele des sterbenden Kindes tanzte – wünschte – und tanzte. Sie hatte die Erde lieb und alle Lieblichkeiten der Erde, den Sommer und alle Lieder, die das Kind mit der Mutter gesungen, und die liebe Sonne und auch, was es nicht kannte; alles aber vereinigte sich in dem einen Wunsch: ›Ein Weihnachtsgärtchen, Mutter! Ein Pyramidchen vom Markte – den goldenen Engel! Die wollenen Schäfchen, – das süße Kind, die liebe Mutter – 148 das Josephlein – den goldenen Stern – das weiche Moos – die brennenden Lichter!‹ Alles, was es Schönes auf Erden gab – alles war im Weihnachtsgärtchen. Und solch ein Weihnachtsgärtchen ist auch schön. Gärtchen über Gärtchen, unten das größte mit der heiligen Mutter, dem guten Joseph und den Hirten, und in den obern die weißen Wollschafe, und zuoberst auf dem allerkleinsten konnte gerade noch der schöne Weihnachtsengel im Rauschgoldkleide und der weißen Perücke stehen, und gehalten werden die Gärtchen von mit Moos umkleideten Stäben, und in diesem dichten Moos stecken hölzerne, bunte Kerzenhalter, in denen die zarten Lichter brennen.«

»Ob's solche Gärtle auch in der Wünschengasse gibt?« frug Myrtel. »Schau, das freut mich, daß Du sie auch so lieb hast.« Myrtel schmiegte sich an ihren Liebsten. »Wie's mir so ganz aus dem eigenen Herzen kommt! Ach Du!«

»Ja, solch ein Gärtchen wollte«, fuhr der Freiherr fort, »das sterbende Kind – und bat – und jauchzte – und flehte mit glühender Wunschkraft, als könnte es alle Herrlichkeiten der Welt in diesem Wunsch mit einemmal genießen, als wollte die liebe 149 Seele nicht unbeschenkt von dieser Erde gehn. Die Mutter hörte Stunde auf Stunde das heiße Ringen ihres Kindes mit an; aber wie ein eiserner Reif lag die Armut ihr ums Herz. ›Ja – ja,‹ sagte sie hin und wieder in den leidenschaftlichen Fiebertanz der lieben Seele, ›Du bekommst's schon, Du schon!‹ Die Stimme klang schwer von Tränen und müde von vergeblichem Nachsinnen.

Das Bübchen hörte und hörte. Es schlang seinen Arm um die Schwester und flüsterte ihr ins Ohr. ›Sei stille – gelle – sei stille – Du kriegst's scho – Du scho.‹

Es war in der Abenddämmerung des andern Tags, da machte sich das Bübchen im Zimmer zu tun. Es hatte lange am Ofen gehockt und hatte auf seine kleine Kameradin geblickt, die nach kurzer Ruh immer von neuem nach ihrem Lebensgärtlein verlangte, ihrem Engel, ihrem Stern, ihren Lichtern, ihren Freuden – und immer heißer – immer banger.

Der Bub kramte jetzt still in der Stube umher. Eine alte braune Papiertüte hatte er gefunden und schrieb mit der Mutter Bleistift mühsam und mit viel Nachdenken etwas darauf. Dann schlich er sich 150 mit seiner alten Tüte aus dem Zimmer und lief durch die hohen Schneemauern, die auf beiden Seiten der Straße aufgeschichtet waren, dem Markte zu. Dort an dem Rathaus da standen die Weihnachtsbuden im Schnee mit Pfefferkuchen und Pfeffermännern, und die wohlhäbigen Bäckerinnen standen dicht eingehüllt behaglich darin – und dort waren die Tische mit den Weihnachtspyramiden.

Jetzt stand er davor. Wie ihm das Herz schlug! Wie seine kalten, dünnen Hände die leere Tüte umkrampft hielten! Was wollte er wohl mit diesem braunen Fetzen?

Ach, was er wollte, war so schwer. Er hatte auf die Tüte seinen unschuldigen Namen geschrieben, und daß er in der Wünschengasse wohne. Ein dunkles Gefühl hatte ihn dazu getrieben, so zu tun. Nun aber stand er ratlos.

Er wollte ein kleines Gärtchen ergreifen, seinen Zettel hinlegen und rufen. ›Laßt's mir ein kleines bißchen, ich bring's wieder. Mein Name steht auf dem Zettel!‹ Wie er aber die vielen großen Leute ansah in ihren winterkalten, starren Mänteln und Jacken, mit ihren großen, festen Füßen und rot gefrorenen Gesichtern, ihrem mächtigen Umfang – 151 und in all den Gesichtern und großen Leibern war nichts, was sie auch nur ein wenig mit ihm verbunden hätte – ach, Fremde, Fremde, schauerliche Fremde umgaben ihn! Was half ihm da sein Name auf der Tüte?

Wie war ihm alles daheim bei der lieben Mutter so einfach erschienen! Es gibt nur eine Mutter und ein Heim.«

»Aber ich bin die Deine,« flüsterte Myrtel bang.

Der Freiherr nickte und fuhr fort:

»So stand der Bub frostbebend, müde, angstvoll, und wußte, daß sein Schwesterchen sterben würde, er, der vom Tod nichts geahnt hatte. Er wußte das Leid des Todes, das Leid des Lebens, das Leid der Mutter, die letzte Wunschglut seiner kleinen Schwester – alles, alles wußte das winzige, vor Kälte zitternde Häuflein.

Und da sah er auch ein Gärtchen, ganz nach seinem Sinn, leicht zu fassen und leicht fortzuschleppen. Es stand gerade neben einer großen Stallaterne; auch die Lichter steckten schon in den Haltern. Es war eben nur fortzutragen und anzuzünden. Um das Gärtchen handelte jetzt eine Mutter, und ein kleines Mädchen, so groß etwa wie er, stand und 152 wartete. Schon hielt sie das Gärtchen in den Armen, während die Mutter zahlte.

Da trat er zu dem Kinde und sagte: ›Gib's mir, laß mir's ein bißchen, ich bring' Dir's wieder. Auf der Tüte steht mein Name. Du kriegst's wieder, ich bring's hierher,‹ sagte der Junge fest und finster in seiner Angst – und fort war er damit, und sein Herz schlug wie ein Hammer. Im Halse spürte er es schlagen.

Das Mädchen aber schrie wild auf wie ein Tier. Da gab's ein Raunen und Murmeln, das anschwoll wie Wasserwogen, da gab's ein Schreien, ein Sich-in-Trab-setzen, ein Donnergeräusch von Stimmen.

Da lernte der kleine Bub die Welt kennen, die sich zur Wehr setzt, da lernte er die große Verwandlung der Menschen kennen, die fürchterliche, von der er nichts geahnt hatte.

Menschen, gute Menschen in kalten, starren Wintermänteln, mit großen Leibern und großen Füßen und roten Gesichtern schienen es gewesen zu sein – und nun waren's tobende, polternde Felsen und Teufel, brüllende Riesentiere, die hinter ihm drein waren, um ihn zu zerreißen, zu begraben. Und erhielt sein Lebensgärtchen fest an sich gedrängt.

153 Da lernte er Fäuste, die ihn faßten, kennen, da lernte er Schuld, Verbrechertum, Schmach und die grauenhafte Not der Hilflosen kennen, die Unbarmherzigkeit der Welt und die Gerechtigkeit der Welt.

Und durch all diesen Wust von Grauen und Entsetzen leuchtete ihm mit einemmal ein Gesicht entgegen, das er kannte, das Doktorgesicht, das zuerst den Tod in der Stube gesehen hatte.

Da schluchzte das Kind unter dem harten Griff des Stadtsoldaten auf und rief in Todesangst mitten unter dem Haufen fremder, böser Gesichter und Riesenleiber als kleiner, zitternder, eisiger Mittelpunkt: ›Sag's, daß ich's meinem Schwesterchen nur zeigen wollte!‹

›Hoho!‹ rief der Doktorsmann, ›was ist mir das!‹

›Zeigen wollt' er's nur!‹^ riefen ein paar Stimmen empört, ›so ä Lauser! Lüg' auch noch! Hau ihm eine n'ein!‹ Das sollte der Stadtsoldat tun. Der hielt das winzige, bebende Etwas fest genug beim Wickel.

›Laß mich zu meinem Schwesterchen!‹ schluchzte das Kind.

Da war der Doktor neben ihm und frug es mit menschlicher Stimme. Und dem Kleinen war es, 154 als wichen die fürchterlichen Felsen und Tiere, die über ihn herrumpeln wollten, bei dem Klang der guten Menschenstimme zurück.

Und der alte Doktor nahm das Bübchen bei der Hand. Da war es nicht mehr einsam und antwortete wie ein zahmes, geliebtes Kind auf die Fragen des alten Doktors.

Der lächelte und winkte den Leuten, zu gehen. ›Laßt ihn,‹ sagte er, ›ich kenne die Leute, das Buberl hat nichts Schlechtes tun wollen. Wer hat die Tüte mit seinem Namen?‹ Die hatte der Stadtsoldat ganz ordnungsgemäß.

Bald ging das Bübchen an des Doktors Hand und neben dem Stadtsoldaten, matt vor Schreck, das Gärtchen im Arm, noch zitternd und bebend und schnappend, als stieße es der Bock.

Und die winterkalten, gerechten Leute in den dicken Mänteln und mit den rotgefrorenen Gesichtern schauten den dreien nach, murmelnd und nicht befriedigt. Aber der alte Doktor, den ein jeder im Städtchen kannte, hatte gesprochen, und da war nicht mehr viel zu sagen.

Sie hatten auch gesehn, daß der Doktor dem Stadtsoldaten zehn gute Groschen gegeben hatte, um 155 die Sache bei dem Gärtchenverkäufer in Richtigkeit zu bringen.

›Anbrennen tät ich's gern,‹ bat das Bübchen leise, eindringlich und ängstlich, als sie nahe dem Haus mit kleinem, trübem Lichtschein waren.

Da schmunzelte der Stadtsoldat und sagte in seinen dicken Schnurrbart hinein: ›Nä, was so ä Kind is! – So ä Schlingel. – Da woll'n mer ämol bei Eiren Nachbarschleiten fragen.‹

Und da klingelte der Stadtsoldat, und eine von den alten Jungfern, die sich so lecker ernährten, trat aus der Türe und hielt die brennende Oelfunzel in der Hand.

An dieser trüben Flamme wurden die Lichtchen angesteckt, die das gewaltige Durcheinander, in welches das arme Kind geraten war, fast alle ausgehalten hatten.

Nun glänzte das Gärtchen wie ein Heiligtum, und der kleine Bub strahlte wie ein Engel Gottes, der seine eigene, schwer erlittene Strahlenkrone in den seligen Händen trägt, um vor Gottes Angesicht zu treten. Und so ließ ihn der Doktor und der Stadtsoldat vor sich hergehen, durch den dunkeln Winterabend.

156 Der Doktor öffnete die Tür, da trat der bebende Junge mit dem leuchtenden Erdengarten in die Sterbestube ein und trug dem Kinde die Herrlichkeiten des Lebens zu – und die abscheidende Seele sah in einem einzigen Strahl Erdenfreude und Himmelswonne.

Die Augen des Schwesterchens leuchteten unbeschreiblich von einer Seligkeit, die über allen Freuden der Menschen stand. Ein Jauchzen kam von ihren Lippen. – Dann Stille und Verstummen.

So hatten sich die Kinder der Witwe beide gewandelt, das eine zum Engel entrückt, das andre zum wissenden Gottesmenschen, der ein Engel auf Erden ist, vor dem alle Geheimnisse des Lebens offen liegen, das Leid der Welt, die Verfolgung der Welt, ihre ewige Härte und Grausamkeit, alle Todesangst und Not – und alle Erlösung.

Das junge Weib aber erkannte von beiden Wundern keines und hatte nur heiße, hilflose Tränen.«

So las der Freiherr.

Myrtels Gesicht aber war in den Händen verborgen, sie blieb ganz stille.

»Ach, Myrtel, sag' was! Du machst's ja wie alle, wenn ein armer Dichter vorgelesen hat.«

157 Er nahm scherzend Myrtels Hände ihr vom Gesicht – und sah das liebe Antlitz ganz tränenüberströmt.

»Möcht' kein Kindl,« sagte Myrtel leise. »Ach, mein lieber, lieber gnädiger Gott! Das hast Du geschrieben wie eine gute Mutter, Gabi. Ein Dichter, glaub' ich, muß, wie eine gute Mutter ihr Kind, die Menschen verstehen – und lieben. Ich lieb' Dich auch wie Deine Mutter, was Du leidest, leid' ich tausendfach. Nicht bin ich – ich bin, was Du bist! Dein eignes Herz bin ich. Das wollte Gott so.« Da warf sich Myrtel schluchzend vor dem Stuhl, auf dem sie gesessen, nieder und verbarg ihr Gesicht in den Kissen.

Er beugte sich über sie.

»Rühr' mit net an! All Dein Leid und Weh – und wenn Dich einer net ehrt und liebt, ja – und wenn Du ihm nur fremd bist, ist schon Todesschmerz – und wenn Du siehst und schaust, wie bitterlich diese Welt ist – all das ist in mir und martert mich, als trüg' ich Schuld an all dem Gram auf Erden, der Dich trifft.«

»Aber, Myrtel,« sagte ihr Eheliebster, »so liebt doch keine kleine Frau.« Er wollte lächeln.

158 »Was ist ›eine kleine Frau‹?« sagte Myrtel herb. »Das ist ein dummes Wort für etwas, das niemand kennt und weiß.«

»Myrtel!« rief er bewegt, zog sie zu sich und richtete sie auf. Sie aber sah ihn so leidvoll an, daß er erschrak. Hier schien tiefste Not der Seele zu sein, die ihn wie aus einem Medusenhaupt anstarrte.

Das war seine Myrtel nicht, die er kannte.

»Was erschüttert Dich so?«

»Meine Liebe zu Dir.«

Dann trat etwas wie ein Erwachen in ihre Züge.

»– und daß Du die furchtbare Welt – und die Seligkeit Gottes ein kleines Kindl hast erleben lassen.«

Wunderlich berührte den Freiherrn Myrtels Bewegung – beängstigend fast. Der große Erfolg seiner kleinen Geschichte hatte etwas Gespensterhaftes für ihn – etwas Wesenloses. Eine Traurigkeit unheimlicher Art senkte sich auf ihn nieder, als er Myrtel in seinen Armen hielt, um ihr Mut zuzusprechen. Ihre Liebe schien ihm keine Liebe. Für ihn bedeutungslos. Es war ihm, als liebte er sich nur selbst in ihrer Liebe zu ihm.

159 ›Mann und Weib‹ – dachte er und sprach's gottlob nicht aus – ›sind ein Leib und eine Seele – und eine Einsamkeit.‹

 

Leben,« sagten Myrtels arme Jungen, »Leben erfassen, wo man geht und steht!« –und so waren sie auf die Idee gekommen, den Familienabend, den die Gutjahrs in ihrer Laube jeden Sonntag abhielten, einmal zu belauschen. »Solche Professoren mit Frauen und Töchtern und Muhmen und Basen sollte man zerquitsche und zerquatsche,« sagte Mathias Heinloth. »Nichts Greulicheres als Professoren, Frauen und Töchter! Wir wollen sie in ihrer ganzen Gräßlichkeit ergründen!«

Myrtel verbot es ihnen, aber im höchsten Eifer hörten sie nicht.

Das junge Paar war den Gutjahrs noch nicht näher getreten. Sie hatten sich begrüßt, wenn sie sich im Garten begegneten, aber zu einem Gespräch waren sie mit ihrem Hausherrn noch nicht gekommen.

Nun wurde es Myrtel sehr ängstlich zumute, daß die wilden Dichter irgend etwas Törichtes tun würden; Mathias Heinloth aber kniete vor ihr 160 nieder, hob seine Schwurfinger in die Höhe und beteuerte, daß sie nicht die geringste Sorge zu haben brauchte.

Und somit waren sie eines schönen Abends zur Türe hinaus.

Myrtel aber warf sich in die Arme ihres Liebsten und schluchzte: »Wohin wird unsere Reise uns noch führen?« Wie es auch sei, die wilden Dichter konnten weder ihr noch ihrem Liebsten als das Ziel der sehnsuchtsvollen Reise gelten.

 

Draußen in ihrer Sommerlaube saßen die Gutjahrs wie jeden Sonntag ganz wohlgemut beieinander, hatten sich noch um einige Onkels und Basen vermehrt; denn es war ihr Familienabend.

Die Dichter strichen vorsichtig im Garten umher. Sie sahen das Windlicht in der Laube auf dem runden Tische brennen, erkannten die Gesichter, die fünf zarten, verwelkten der alten Mädchen, das leuchtende des Doktors, dessen Haar wie ein silberweißes Wölkchen über den festlichen Augen lag. Sie sahen das ruhige, professorliche Betragen des jüngeren Stiefbruders, das behagliche Hausfrauengesicht der Professorin Gutjahr und so noch zwei, 161 drei fremde, ältliche, gleichgültige Gesichter; aber mitten zwischen allen leuchtete das junge Antlitz Engeles, das unter allen wie eine wundervolle Blume glühte.

Da schoben die Dichter sich vorsichtig näher.

Jetzt hörten sie Röschen, die älteste der heiligen Jungfern, sprechen. Ihre Stimme klang zart in die Sommernacht hinaus. Sie erzählte, wie sie heute durch die Felder gegangen sei, »so recht bedrückt,« sagte sie, »weil ich für den Vater gekocht habe.« Sie kochten nur für den Vater; sich selbst und die Schwestern verschwiegen sie immer. »Und da ist es einmal wieder, gerade, weil ich es so schön machen wollte, ein rechter Schlangenfraß geworden, und dazu hatte ich die Bestellung eines Patienten in meiner Schusselei vergessen: so war ich betrübt. Wenn man so was selbst verschuldet hat, und es könnt' doch alles so schön sein wie im Himmel« – das sagte sie flatternd und hastig – »und da schlägt Euch mit einmal eine Wachtel und sagt ganz deutlich, so wie ich hier rede: Sei erquickt, sei erquickt! Wie eine Stimme vom Himmel war das Euch! Und ich dachte: Ne gucke! Wie doch Gott gnädig is auf Schritt un Tritt!«

162 Als sie ausgesprochen hatte, wendete sich ihr Vater heiter zu einer andern Tochter und sagte: »Toledo, rette mich vor diesem Priester!«

»So ist sie, mich läßt sie hungern, und sich läßt sie trösten.«

Man lachte.

Das zarte, welke Röschen mit den tiefen Augen, in denen das Licht einer reineren Welt leuchtete. schaute ganz beschämt und verwirrt um sich. Da nickte er der Tochter lächelnd zu: »Na, wir verstehn uns, sei keine Wehmutsspritze, altes Mädchen!«

Da erhob sie sich, ging auf den Vater zu, kniete nieder und flüsterte innig: »Du bist unser guter Vater!«

Der Alte wehrte ab und antwortete mit einer ganz eigenen, liebenswerten Würde: »Ich bin nicht gut, gut ist allein der lebendige Gott.«

Die Dichter waren ganz still und schauten und mucksten nicht. Denn sie waren im Grunde brave Kerle. Der lasterhafte Baron stöhnte ein bißchen.

Die Gutjahrs unterhielten sich nach dieser kleinen Szene aus einer besseren Welt, so gut und frohgemut, so treuherzig im Vollbehagen ihres Daseins. In allem, was die fünf heiligen Jungfern sprachen, 163 war ein tiefes Bewußtsein, daß uns schon hier eine höhere Welt umgibt, daß keiner der lauschenden Dichter in seiner schwarzen Seele einen wilden, überschäumenden, höhnenden Gedanken fassen konnte. Sie standen wie die Lämmer ohne jeden Witz.

Engeles Augen, die denen der verwelkten, geduldigen und übersinnlichen Mädchen glichen, glänzten in voller Jugendträumerei und Kraft. Da geschah etwas: Die Magd kam angesprungen und flüsterte laut, erregt und zischend, wie Mägde zu flüstern pflegen:

»Gleich hinder mir kommen die Herrschaften von driwe.«

Und da kamen sie schon, die vier wundervollen Mädchen in weißen Kleidern. Es wurde in der großen Laube ganz hell, und mit ihnen kam ein schlanker, vornehmer junger Mann.

Die schönen Mädchen begrüßten alle und wurden begrüßt. Engele reichte jeder, wie in stiller Glückseligkeit, die Hand.

»Und nun,« sagte Alma Roggenbach, eines der Mädchen, und wendete sich zu Engele, »da bringen wir unsern Vetter, Felix von Roggenbach« – somit stellten sie ihn vor – »den Erben Ihres guten 164 Freundes, zu Ihnen, damit er Ihnen ein Erbteil seines Onkels gibt. Die alten Dienerinnen haben ihm keine Ruhe gelassen, er mußte es Ihnen sogleich heute geben.«

Engele nahm verwirrt ein Saffianetui aus der Hand des vornehmen Fremden zaghaft entgegen und öffnete es. Da lag eine Perlenschnur mit einem kleinen Miniaturbildchen in Brillanten darin und ein beschriebener Zettel. Die Perlen schimmerten im Kerzenlicht. Das junge, schöne Gesicht Engeles war rot übergossen. »Nein, nein!« rief sie bewegt und erschreckt, »weshalb denn mir das?«

»Lesen Sie,« sagte mit guter, tiefer Stimme eins der blonden Mädchen eifrig, und Engele las: »Die Perlenschnur und das Bild sollen nach meinem Tode Engele Gutjahr übergeben werden, meiner lieben jungen Freundin, die dem Bilde so wunderlich und für meine alten Augen so tief beweglich gleicht.«

»Es ist das Bild seiner Braut,« sagte wieder eine gute, tiefe Stimme.

Engele aber war hilflos all diesem Unerwarteten gegenüber.

Die alten Kusinen küßten und streichelten sie. Sie sahen wie verklärt aus. Die, die sich selbst ganz 165 aufgegeben hatten, ja, die im gewöhnlichen Sinne der Menschen gar nicht gelebt hatten, kannten eine Mitfreude sondergleichen. Sie huschten und flatterten und waren außer sich. Sie sprachen so schnell und hastig, daß es wie Gezwitscher klang.

»Ach,« riefen die guten, tiefen Stimmen der Roggenbachs-Mädchen: »Geben Sie uns Engele noch ein bißchen mit! Wir wollen noch etwas an der Saale hingehen, und sie soll unserm Vetter von seinem Onkel erzählen.«

Das durfte sie.

Rosige Arme und Hände langten nach ihr, blonde Häupter neigten sich, und Engele wurde von vier schönen, weißgekleideten Mädchen geküßt – und entführt. Sie flogen mit ihr in die Dunkelheit hinaus wie große Schwäne.

Man hörte Rauschen und Lachen. So flogen sie mit Engele aus dem Altersnest in die Jugendfreiheit.

Felix von Roggenbach, den Vetter, hatten sie ganz mit ihren weißen, schimmernden Fittichen verdeckt.

Mit dem Perlenschmuck, der von Hand zu Hand ging und mit Brillen beschaut und geprüft wurde, blieben die Alten zurück und schüttelten verwundert 166 die Köpfe. Nur die weltfremden, zarten, schönäugigen Jungfrauen prüften nicht, sondern jubelten und frohlockten wie ein Chor wunderlicher Vögel. Die Mutter Engeles aber hielt das Bild in der Hand und sagte ganz bewegt: »Wahrhaftig, sie gleicht der schönen Miniatur!«

Die Dichter aber standen in ihrem Versteck mäuschenstill und schlichen sich davon.

Sie kamen ganz besäuselt herein zu dem freiherrlichen Paar und waren vollgesogen von Schönheit, Jugend und rührender Weltentsagung, von außerordentlichen Dingen.

Der seine Lasterhaftigkeit so liebevoll pflegte und sich darauf viel zugute tat, hatte den Ausdruck seiner Züge zu pfeffern und zu salzen vergessen und blickte wie ein lieber guter Junge, der sich von ganzem Herzen freut.

Nun erzählten sie und trugen in das Hauptbuch allerhand poetische Dinge ein. »Das muß auch sein,« meinten sie.

Mathias Heinloth aber sagte: »Nun fasse ich heut den Mut, liebe, verehrte, süßeste Freifrau Myrtel, ich will eine kleine winzige Geschichte vorlesen, die mir noch gestern zu schön und gefühlvoll 167 erschien, so etwas gefühlsduselig. aber heute traue ich's mir.«

Und er nahm aus der Brusttasche seines Rockes sein Dichterbuch heraus und las:

»Das hölzerne Madönnchen.« »Nein, sagte er, »Die kleine hölzerne Heilige. Eine Legende.«

 

Vor einer Kapelle am Ende eines Städtleins stand unter einem schützenden Dach und Vorbau eine schlanke zarte Heilige, ganz jung. Ueber dem kleinen Dach, das sie vor Regen und Wind schützen sollte, wölbte sich eine breite Lindenkrone, die die Heilige und ihre Kapelle überschattete, und vor der Heiligen war ein schmaler Betschemel aus Tannenholz.

Wie gut, daß sie die Schlanke, Feine nicht in die Kapelle hineingestellt hatten. In der Kapelle war es dumpf und immer kühl und moderig. Aber unter dem Vorbau mit den hölzernen Säulen und im Rauschen der Linde, da konnte es der Süßen, die ein Meister gar wunderlieblich geschnitzt hatte, sehr wohlig sein. Die Vögel sangen, und es gab immer etwas zu sehen. Wenn auch der Winter mit Schnee 168 und Eis und schwarzen, unfreundlichen Vögeln jedes Jahr unerbittlich kam, so war es draußen doch feiner als drinnen, und sie bekam immer Besuch. Auch durch den Schnee stapften täglich Frauen- und Mädchenfüße, die sich einen schmalspurigen Weg, der immer so fleißig begangen wurde, getreten hatten. Denn im Dorfe und der Umgegend hieß es, die Heilige verstände etwas von Liebessachen und wäre den Liebenden hold. Weshalb das so hieß, wußte niemand, und deshalb glaubten sie es ganz unverbrüchlich.

Und es mochte wohl daher kommen, weil die Heilige unbeschreiblich zart gebildet war. Es ist nicht gemeint, daß eine Heilige nicht schön sein kann, eine fromme Seele bildet auch einen frommen und sanften, lieblichen Körper – aber diese kleine Heilige war anzuschauen wie eine Göttin der Schönheit und Liebe. Wenn man sie ansah, mußte man denken, wie süß ihre Küsse sein müßten, ihre Augen schauten so seltsam wie trunken von Liebe und Liebesträumen, ihre Arme waren geschaffen, den Hals eines geliebten Mannes zu umschlingen, und ihr sanfter, wundervoller Busen schien eine Welle der Sehnsucht und Liebeswonne.

169 Es mußte ein verliebter und weiser Meister die wonnige Frau aus dem feinsten Holze geschnitzt haben, denn man sah nichts, das auf Holz deutete. Man hätte gemeint, aus Elfenbein. Ihr weißes Kleid leuchtete, und um den Hals, wo das Kleid abschloß, war nur eine zarte, goldene Linie zu sehen. Die Falten ihres weißen Gewandes ließen die schönen Glieder ahnungsvoll erschimmern. Ja, man hätte darauf schwören mögen, die stille Heilige wüßte mehr von Liebe, als die herrlichsten Göttinnen je geahnt! Und deshalb war es den Frauen und Mädchen auch gar nicht zu verdenken, wenn sie von weither kamen, um zu ihr zu beten in Liebesnot.

Aber die Heilige wußte in Wahrheit von Liebe so wenig wie ein kleinwinziges Kindlein. Sie hörte die Gebete lächelnd an, und dies Lächeln erschien allen wie süße Gewährung ihres Liebeswunsches und ließ alle voll Trost und Hoffnung heimkehren.

Weshalb die Heilige lächelte, wußte sie aber selbst nicht.

Nach vielen, vielen Jahren, in denen sie in gleicher Schönheit und allen Liebreizes voll hier gestanden und immer neue Gebete um Liebe angehört 170 hatte von immer neuen Frauenlippen, da begann sie endlich einmal zu denken. ›Was ist es denn eigentlich für eine wunderliche Welt, auf der es nichts als Liebe gibt?‹ Sie kannte nur ihre Kapelle, in die sie nie hineingekommen war, ihren Vorbau, ihre Linde, deren Wipfel sie nie gesehn, und eine grüne, weite Wiese.

Neugierig war sie auch, was Liebe sei, und sie wünschte sich auch einmal von irgend solch einem Hans, Peter, Michel, Klaus geliebt zu sehen, wegen deren Liebe die Gebete unaufhaltsam seit unendlichen Jahren zu ihr aufstiegen.

Beim Heumachen auf ihrer Wiese hatte sie hin und wieder gesehen, daß eines ihrer Frauensleute und ein Mannsbild sehr handgreiflich miteinander wurden. Das aber schien ihr mit Liebe nichts zu tun zu haben, deshalb konnten doch die Frauen und Mädchen nicht von weither zu ihr laufen, mit ihren langen Liebesgebeten.

So beschloß sie, der Sache einmal auf den Grund zu kommen. Denn wer zu denken beginnt, der wird auch neugierig und bekommt Leben.

Es war eine schöne Vollmondnacht im Juni. Da fühlte sie, daß sie konnte, was sie wollte. Ein 171 Herzlein begann ihr in der Brust zu schlugen: Ticktack, ticktack.

›Was klopft denn so?‹ Und da dachte sie wieder.

Durch ihre Füße und Hände und alle Glieder rann es so lieblich, als durchströme sie ein köstlicher Quell.

Ihr Kleid hing nicht mehr steif an ihr herab, sondern der sanfte Sommerwind wehte es wie einen Schleier um sie her.

Da glitt sie aus ihrer Nische, in der sie seit Menschengedenken gestanden, und lief zu dem Vorbau hinaus und sah den Gipfel der blühenden Linde und sog den Duft ein und hörte eine Nachtigall schlagen. Da ward ihr's zum ersten Male, als dehnte sich eine Seele in ihrem Leibe so schmerzlich süß. Und sie sagte: ›Eia, eia!‹ Und da konnte sie reden.

Nun ging sie den schmalen, weiten Pfad, den sie immer die Frauen und Mädchen hatte heraufkommen sehen, und ein Jubel sondergleichen bewegte ihr Seele und Körper. Wie hatte sie nur so lange, lange, ohne zu fühlen und zu leben, vor der Kapelle stehen können!

172 Da sah sie die Stadt vor sich liegen, hohe Mauern, Türme, Tore – und sie erschrak. Wie groß war das, wie schrecklich!

Ein Tor lag vor ihr, sie stand und schaute es an. Hochragend erschien es ihr und finster. Da sie aber von einem verschlossenen Tor nichts wußte und nicht ahnte, daß man nicht hindurchgehen konnte, ging sie hindurch wie durch ein Frühlingswölkchen; und da war sie in der engen Straße. Hohe Häuser, hohe Türme. Aber sie dachte schelmisch: ›Ihr seid nicht so schlimm, wie ihr ausseht, leicht seid ihr wie Luft.‹

Musik und Geschrei hörte sie, Gejohl und trunkene Stimmen.

Da sie aber ganz ohne Furcht noch war, trat sie in die große offene Torfahrt ein und sah bei Fackeln und trübem, schwelendem Licht Landsknechte und wilde Weiber tanzen.

Ueber dem offenen Tor ragte ein finsterer Turm, aus dessen einem schmalen, kleinen Fenster ein Lichtschein in die Nacht hinausdrang. Das hatte sie alles wahrgenommen.

Ein Mann mit einem Dudelsack spielte den Tanzenden auf, und in einer Ecke, die hell beleuchtet 173 war, schlachteten ein paar Männer ein blökendes Kalb.

Die kleine Heilige kannte die muntern Kälber und sanften Kühe von ihrer Wiese her. Und mit Entsetzen sah sie zu, wie ein Mann dem zuckenden Kalb, das von den andern schwer gepackt war, die Kehle aufschnitt, daß die Wunde weit auseinander klaffte und das Blut aufspritzend in einen Kübel rann. Das Kalb zuckte, seine Augen blickten voll Grauen, und die Heilige erbebte. Sie hatte von den Weibern nur von Liebe gehört. Was gab es denn außerdem noch auf dieser Erde?

Am Eingang der Torfahrt saßen Bettler und Krüppel in gräßlicher Gestalt.

Zu der Kapelle waren nur leichtfüßige Frauen und Mädchen gekommen im Liebesalter.

Da wurde es der armen Heiligen schwer ums neue Herz, und sie starrte in den Tanz und das Sichdrehen der wilden Mannsbilder und der tollen Weiber.

Da fühlte sie sich von zwei Fäusten gepackt, und ein stachliges Gesicht preßte sich an das ihre, und eine greuliche, trunkene Stimme, die ein erstickender, abscheulicher Atem begleitete, raunte ihr zu: ›Willst 174 Du mein Liebchen sein?‹ Ihre neuen, jungen Sinne verwirrten sich. Da packten sie andere Fäuste, und sie geriet in ein Toben wilder Menschenleiber. Sie waren von ihrer Schönheit entbrannt, und sie glaubte nicht anders, als es würde ihr ergehen wie dem armen Kalbe; aber immer hörte sie ›Liebe, Liebchen, Schatz und Schätzchen‹ um ihre geisterzarten Ohren brausen.

Da war sie durch irgend etwas befreit. Irgendeine der wilden Bestien hatte sie herausgerissen; denn aus Menschenfäusten kann man sich nicht befreien, und weil sie dies erkannt hatte, war es ihr auch nicht möglich es zu tun.

Und nun stand sie vor einem, der sie sich erobert hatte, und entschwand ihm durch die Wand, die sie wieder hindurchließ wie ein Frühlingswölkchen.

Da war sie draußen in ihrer Schönheit und Herrlichkeit, im vollen Mondlicht, und über ihr leuchtete trüb ein Schein aus dem Turmfensterchen.

›Da droben ist's stille,‹ dachte sie, ›da will ich hin.‹

Und sie stieg wie auf einem Pfad hinauf in den Turm, der ihr einer Wolke zu gleichen schien, und trat in eine enge Zelle. Da saß ein ganz 175 gebeugter Mann und hatte seine Hände im dichten, braunen Haar vergraben, und wie sie näher hinblickte, sah sie, daß er Ketten trug wie die Ochsen, die das Heu von der Wiese heimfuhren, Ketten, wie sie auch über den schwer beladenen Wagen gespannt wurden. Da legte sie ihm die Hand auf die Schulter, denn er war eine andere Art Mensch wie die unten, still und regungslos, fast wie sie selbst einst, so unbeweglich.

Da richtete sich ein junges, kühnes Antlitz zu ihr auf, und ein Staunen ging über düstere, dunkle Züge.

Er sprach kein Wort, und sie sahen sich beide stumm an.

›Wo kommst Du her?‹ fragte der Mann ohne Klang in der Stimme.

Wie er sie so anschaute, legte es sich ihr wie eine ungeheure Last aufs Herz, daß ihr der Atem stockte.

›Sage, woher kommst Du?‹ fragte er schwer.

›Durch diese dunkle Wolke,‹ antwortete sie, ›komme ich her,‹ und sie deutete auf die felsenstarke Mauer.

›Wolke? Schöne Wolke!‹

176 ›Sage!‹ fragte sie. ›Sie beteten zu mir um Liebe – ich glaubte, Liebe wäre ein wundervolles Geschenk, und die ganze Erde sei Liebe?‹

›Sie beteten zu Dir?‹ fragte er erregt. ›Sie beteten! Auch ich bete zu Dir, wenn Du ein Engel Gottes bist! Rette mich, laß mich nicht verderben! Morgen wollen sie mir das Leben nehmen. Rette mich, Engel Gottes!‹ Da sank er auf die Knie und verbarg sein Antlitz und schluchzte.

Sie aber stand und zitterte, und das arme, neue Herz schlug ihr zum Zerspringen.

›Ich bin nur eine arme Heilige, weiß selbst nicht recht, wer ich bin. Aber komme mit mir! Weshalb gehst Du nicht?‹

›Herrgott noch einmal!‹ rief er, ›weil ich nicht kann!‹

Und er hielt ihr seine Ketten hin und stürzte mit dem Kopf gegen die Mauer. Sie empfand, daß er hart aufschlug. Da wollte sie durch die dunkle Wolke gehen, um ihn angstvoll mit sich zu ziehen; aber siehe da, für sie war die leichte Wolke auch zum harten Felsgestein geworden.

Und der Mann vor ihr mit den kühnen, jungen, todesbangen Zügen schien so nahe ihrem Herzen, 177 als wäre er eins mit ihr, und sie wußte, daß sie ihn liebte. Sie glaubte, nun käme das hohe Geschenk Gottes, das alle von ihr selbst erfleht hatten, und das würde ihn und sie nun erlösen.

Aber nichts geschah.

›Weshalb‹, schrie er auf, ›schickte mir Gott einen Engel, der nichts kann!‹

Und er schluchzte, daß es das Herz einer Mutter zerrissen hätte.

Die arme Heilige aber sank zu ihm nieder und mischte ihre ersten Tränen mit den seinen.

Und es war ihr, als wenn alle Wonnen und alles Weh der Welt aus ihr flössen. Er neigte sich zu ihr und umschlang sie, und sie hielten sich aneinandergedrückt und weinten. Und da schien es, als würde sie mit ihm zu einem einzigen, seligen Wesen.

Und er sagte ihr, was er Böses getan, und weshalb er morgen, wenn die Sonne sich hob, sterben müsse.

Da erbarmte sich ihre ganze Seele, und sie liebte ihn um seiner Sünden willen noch mehr.

Ueber sein Gesicht aber ging eine große Seligkeit.

178 ›Sagte ich,‹ rief er in hohen Wonnen, ›Gott schickte mir einen Engel, der nichts kann? O sei mir gnädig ob dieser Lästerung, meiner Sünden größter!‹

Und er legte seinen Kopf in ihren Schoß und rief: ›Du allerhöchste Gnade Gottes! Du Seligkeit ohnegleichen! Du höchste und allerhöchste Liebe! Du Wonne über Tod und Leben! Du Wonne groß wie der Weltenraum!‹ Und schluchzend vor Wonne küßte er sie, und sie tranken sich in höchster Seligkeit, mitten von Tod umfangen. Mit keinem Könige der Erde hätte er getauscht.

Als nun die Stunde seines Todes kam und die Kerkertür geöffnet wurde, ging sie mit ihm an seiner Seite, und keine Macht der Welt konnte sie von ihm trennen.

Er sah ihr in die Augen voll Seligkeit, vertrauender Liebe übervoll, als der Henker den Todesstreich tat.

Da hob sich die Sonne.

Siehe, da erkannte das Volk die Heilige aus der stillen Kapelle unter der Linde, die den Sünder getröstet hatte. Da faßte sie alle ein Grauen, sie sanken in die Knie und starrten auf das Wunder.

179 Die Heilige aber sahen sie dem Wiesenpfad zu durch ihre Reihen gehen, die Augen erstorben. Das Herz schlug nicht mehr, die süße Quelle, die ihr durch die Glieder so lieblich rann, hörte zu spielen auf.

›Eia – eia,‹ hatte ihr Mund zu sprechen begonnen und war nun in Wehe von neuem erstarrt.

Und sie hörte als stille Heilige wieder die Gebete um Liebe.

Die Augen aber hatten ihren süßen Blick verloren.

Die Frauen sagten, die Heilige blicke so drohend und aller Schmerzen voll, daß sie nicht mehr wagten, ihr von Liebessachen zu reden.

Nur die kamen zu ihr, deren Herz um der Liebe willen gebrochen war. Und die saßen still zu ihren Füßen, so still wie sie selbst.

Als Mathias Heinloth geendet hatte, ruhten die Blicke aller Dichter auf der kleinen Freifrau Myrtel. Mathias Heinloths Geheimnis war offenbar geworden; aber die andern sahen und spürten ebenso den seltsamen Zauber, der von der zarten Gestalt ausging, und es war, als stünde die Freifrau Myrtel auf einem Altar in ihrem weißen Kleide oder im Vorbau der Kapelle, über der die 180 blühende Linde ihre Krone breitete, und die Dichter lägen in Anbetung der Heiligen zu Füßen.

Freiherr von Blonberg aber ging in den Garten hinaus und pflückte, trotz seiner Lasterhaftigkeit, im Mondschein Zentifolienrosen, die von der Mauer herab bis fast zum Spiegel der Saale blühten. Die flocht und rankte er ineinander, während er den Weg wieder aufwärts ging, und seine beweglichen Hände hatten einen kleinen Kranz zustandegebracht, der zwar nicht sehr fest hielt, aber doch einem Kranze glich.

Die Sommerlaube der Gutjahrs lag im Dunkeln. Der Garten war still und nächtlich.

Und als der Freiherr wieder eintrat, empfand er, daß die Zauberstimmung noch in aller Herzen lebte.

Da ging er auf die liebe Myrtel zu und drückte ihr den rosa Rosenkranz in die Stirne. Da jubelten die Dichter, und ein jeder schritt zu ihr und küßte Frau Myrtel andächtig die Hände.

So waren sie zu einer zarten Heiligen gekommen.

Myrtel aber schenkte ihnen aus der Karaffe der verstorbenen Tante in die feingeschliffenen Gläser 181 Wein ein und lächelte und lehnte sich an die Schulter ihres Herrn Liebsten, der andächtig und im Gefühl, ein wunderschönes Kleinod zu besitzen, ihre Hände in der seinen hielt.

Die Anbetung anderer ist eine große Liebesstärkung; das spürte auch er.

»Nun aber«, sagte Myrtel, als es spät geworden, liebenswürdig und heiter, »nehme ich den schönen Kranz doch ab, und Dank von ganzem Herzen, daß ich ihn bekam. Ein Zentifolienrosenkranz ist etwas so Wundervolles, daß man es sein Lebtag nicht vergißt, wenn man einmal einen tragen durfte.«

Wie sie den Kranz abnahm, sah man auf ihrer hellen Stirn kleine Blutstropfen stehn.

Da hatten die Dichter ihr eine Dornenkrone aufgesetzt, und sie hatte sie lächelnd getragen.

Der ihr den Kranz aufgesetzt, sank ihr zu Füßen, bat um ihr Tüchlein, und als sie ihm das winzige Ding gab, tupfte er ihr die Tropfen sorgsam, wie eine Mutter es einem kleinen Kinde tun würde, von der Stirn.

Ihr Ehegatte aber barg das Haupt seines Weibes an seiner Brust und erzählte den Dichtern das kleine Erlebnis mit dem gewürzigen Hund.

182 »So ist sie: ein wenig Nonne, ein wenig Heldin. Wie sehr sie sich vor dem Hund gefürchtet hat, und wie sehr weh ihr die Dörnchen getan, das weiß allein nur ich, wie zart solch eine einzige Myrtel ist!«

Mathias Heinloth aber schritt drollig-feierlich auf den Freiherrn Gabriel Schenk von Geyern zu und sagte, indem er ihm die Hand aufs Haupt legte. »So, in Gottes Namen, tue danach, mein Sohn!«

Als sich die Dichter zu später Nachtstunde verabschiedet hatten, genoß Myrtel alle Zärtlichkeiten ihres Liebsten; und sie tranken einander in Liebe, wie der arme Sünder und die wunderschöne Heilige einander in Liebe getrunken hatten in Mathias Heinloths Legende. 183

 


 


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