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Seit drei Wochen befanden sich Vilma und Felix in Venedig. Getrennt waren sie durch Deutschland gereist, der Doktor ein paar Tage früher als sie, und erst in Luzern waren sie zusammengetroffen.
Dr. Jentsch zog es nach der Lagunenstadt, wo er früher einmal kurze Zeit sich aufgehalten hatte, und die er nun Vilma zeigen wollte. Sie gönnten sich deshalb nur eine Fahrt über den Vierwaldstädtersee und eine Pilatusbesteigung, blieben ein paar Tage in Como und fuhren dann über Mailand direkt nach Venedig.
Dort versuchten sie es zuerst im Hotel Bauer, aber der Aufenthalt an diesem Sammelplatz aller Deutschen wurde schon am nächsten Tage ungemütlich, da die Gefahr, irgend welche Bekannte zu treffen, allzugroß war. Zudem peinigten Vilma die Mücken dort furchtbar. Nach vorsichtigen Umfragen in verschiedenen Hotels und Pensionen, die meist wenig einladend und recht unsauber aussahen, siedelten sie nach dem Lido über, den der frische Seewind von den Bestien reinfegt.
205 Dieser, Venedig vorgelagerte, meilenweit gestreckte schmale Landstreifen, der die Lagune von dem Adriatischen Meere scheidet, wird merkwürdigerweise von den Fremden wenig beachtet. Man speist ihn mit dem Besuch von einer Stunde ab, fährt mit der Pferdebahn – die beiden Pferde, die dafür verwendet werden, sind die einzigen Venedigs und werden als Merkwürdigkeiten gezeigt – quer über den Lido bis zu dem Badeetablissement, das zugleich als Restaurant und Vergnügungslokal dient: für 25 Cent erkauft man sich das Recht, von der großen, auf Holzpfählen weit in das Meer hinausgebauten Terrasse die Badenden beobachten zu dürfen. Männlein und Fräulein im vergnügten Durcheinander. Hiermit glaubt man den ganzen Lido genügend berücksichtigt zu haben und kehrt schleunigst wieder nach Venedig zurück.
Es bietet sich deshalb auch der Spekulation von Hotelbesitzern und Restaurateuren kein Feld. Ein einziges annehmbares kleines Hotel, ein paar bescheidene Osterien, vier oder fünf Villen, die meist leer stehen, das ist alles. Kurzum. die idealste Zufluchtsstätte für ein Liebespaar, das sich vor der Welt verstecken möchte.
Dr. Jentsch hatte in einer Trattoria ein Unterkommen gefunden, ein paar Zimmerchen mit dem Blick auf die Adria. Unten verkaufte man Tomaten, Maccaroni, billigen roten Landwein, es roch beständig nach Petroleum und gesottenem Oel, Gondoliere und 206 Kondukteure der Lagunendampfer führten lebhafte Gespräche, Wirt und Wirtin lagen sich meist in den Haaren. Aber gerade dieser starke Kontrast mit seiner sonstigen Umgebung amüsierte den Doktor.
Vilma dagegen war feudal genug untergebracht worden.
Da erhebt sich, eine Minute von der Dampferstation entfernt und so dicht an die Lagune gerückt, daß nur ein schmaler Gartenstreifen es davon scheidet, ein kleines rotes Haus, die Villa Laguna. Sie ist nicht durch besondere architektonische Feinheiten ausgezeichnet, und die überreichen Deckengemälde sind haarsträubende Leistungen eines Tüncherjünglings, den der Drang nach höherer Bethätigung nicht ruhen ließ. Aber die Zimmer sind gut möbliert und in einer für Italien geradezu märchenhaften Sauberkeit gehalten, und was das beste: die Fenster gehen auf die Lagune, man kann die ganze Riva dei Schiavoni überblicken, mit ihren aneinandergereihten Hotels und Wirtschaften, rechts die Laubmassen der Giardini publici, links die Kirchen von San Giorgio und Maria della Salute. Ist das Wetter recht klar, so kann man sogar die weißrot karrierte Marmorbekleidung des Dogenpalastes erkennen.
Wenn der Doktor seine Korrespondenz erledigte – er ließ sich immer die wichtigsten Briefe und eingehende Berichte, die ihn über den Stand der Klinik auf dem Laufenden erhielten, nachsenden – so brauchte Vilma nichts weiter vorzunehmen als am 207 Fenster zu sitzen, um gut unterhalten zu sein. Alle halbe Stunden kam oder ging der kleine Venetianer Dampfer mit den paar Fremden, Dampfer und Lastschiffe, hin und wieder auch einmal ein gewaltiger Ausländer, eine stolz aufgetakelte Brigg, schoben sich langsam über die Lagune, um vor der Riva vor Anker zu gehen. Dazwischen schwarze Gondeln und Barken, letztere bis zum Sinken beladen mit gewaltigen Bergen von grünen Gurken, gelben und orangefarbigen Riesenkürbissen und brennend roten Tomaten, die in dem Dörfchen Malamocco, dem Obstgarten des Lido, in paradiesischer Fülle reifen.
Für Vilma waren alle Fäden, die sie an die Vergangenheit banden, durchschnitten. Ihre Pension hatte sie gekündigt, ihre Sachen, wie sie es vorbereitet, Martha Ihring zur Aufbewahrung gegeben. Sie hatte keinen Brief an ihre Bekannten geschrieben, nicht einmal Lotte Rienacker, jetzt Frau Oberlehrer Menzel, wußte, wo sie war. Wäre sie in einen anderen Erdteil übergesiedelt, sie hätte nicht mehr verschollen sein können als jetzt.
Auch in ihrem Fühlen hatte sich Vilma vollständig von der Vergangenheit gelöst. Ihr früheres Leben lag hinter ihr, wie etwas fast Vergessenes. Leben war nur dies, diese köstlichen Wochen, jeder Tag ein neues Geschenk der Gnade! Eine Kraft der Leidenschaft, eine bedingungslose Hingabe, von der sie früher keine Ahnung gehabt hatte, erfüllte sie.
Hin und wieder gab es freilich trübe Stunden. 208 Das kam dann wie angeflogen, ein unüberlegtes Wort des Doktors, ein Augenblick, in dem sie ihn gelangweilt glaubte, ein Blick, der sie auf der Straße streifte, irgend etwas, das sie las und zu sich in Beziehung brachte, genügte, damit sie sich selbst in einem ganz andern Lichte sah. Dann fühlte sie sich gedemütigt, zu Boden geschlagen, sie war nichts anderes als die Geliebte eines verheirateten Mannes.
Ein paarmal hatte sie gegen Felix von diesen Stimmungen gesprochen. Das hatte er aber sehr übel aufgenommen, er selbst kannte derartige Bedenken nicht, und war nicht geneigt, sich dadurch die Laune verderben zu lassen. So schwieg sie denn, ja, ihre Liebe zu Felix brachte sie dahin, daß sie sich dieser Gedanken geradezu schämte. Zudem gewöhnte sie sich immer mehr in das eigentümliche Verhältnis hinein.
Im ganzen lebten sie ein köstliches Stillleben zu zweien. Wenn sie nach Venedig hinüber fuhren, so mußte freilich etwas Vorsicht beobachtet werden. Vilma war durch ihre Künstlerfahrten ziemlich bekannt, und mußte darauf gefaßt sein, von Leuten, die ihr selbst ganz fremd waren, wiedererkannt zu werden, und nicht viel besser erging es dem Doktor. So mußten sie sich denn benehmen wie Landsleute, die sich zufällig hier getroffen, aber auch hieran gewöhnten sie sich schnell. Oft spielte Dr. Jentsch diese Rolle so natürlich, daß Vilma darüber ganz böse wurde.
Was sie vornahmen war nicht gerade originell: 209 Sie besuchten zusammen die Kirchen und Sammlungen, fütterten auf dem Markusplatz die Tauben und bestiegen den Campanile. Sie bummelten unter den Prokuratien und bewunderten die Auslagen, machten Entdeckungsreisen in die bösesten Straßen, die zum Teil so eng sind, daß man nicht einmal einen Regenschirm aufspannen kann, und krochen in den Läden der Antiquare umher, um besondere Schätze aufzutreiben. Manchmal speisten sie auch in irgend einer entlegenen Wirtschaft, wo sie sicher sein durften, keinen Deutschen zu treffen, tranken sich in Chianti einen ganz kleinen, liebenswürdigen Rausch, nur eben so viel, um sich ganz als Mann und Frau zu fühlen.
Vilma konnte eine Kleinigkeit italienisch, Felix kein Wort; mit einem wunderlichen Französisch und einem kleinen italienischen Vokabular halfen sie sich durch. Das war dann sehr lustig, und einer suchte es dem andern zuvor zu thun.
Dr. Jentsch war unermüdlich und geradezu stolz auf seine immer gleiche Genußfähigkeit. Vilma dagegen wurde ganz erschöpft durch die Ueberfülle neuer Eindrücke, und sie war es dann auch, die stets zuerst nach »Hause« verlangte.
Sie hatten Glück gehabt, Vilma war die einzige Pensionärin in der Villa Laguna geblieben, hatte ein hübsches Schlafzimmer und einen kleinen Ecksalon mit Balkon für sich, dessen Decken- und Wandmalereien einen südlich blauen Himmel, durch unzählige Schwalben belebt, vorstellten. Diese Tiere 210 in ihren Verkürzungen und Flugbewegungen ähnelten freilich oft dicken schwarzen Käfern und Quallen, aber das lustige Blau der Wände weckte doch die Illusion, im Freien zu sein. Ein Klavier, auf das die Künstlerin nicht verzichten mochte, war aus Venedig hinübergebracht worden; es verstimmte sich zwar in der feuchten Lagunenluft bald, aber Vilma verstand, es mit ihren schmächtigen, und doch so kräftigen Klavierspielerhänden selbst wieder zu stimmen.
Die Wirtin war eine gute, dicke Italienerin, indolent und träge, die nicht einmal ein Wort Französisch verstand, der Padrone dagegen, ein leidlich gebildeter Mann, der sogar deutsch radebrechte. Neugierig waren sie beide nicht; solange ihre Pensionäre regelmäßig zahlten, kümmerten sie deren Privatverhältnisse wenig.
»Ich werde faul wie die Italiener, thue gar nichts und verträume diese köstlichen Tage«, rief Vilma dann wohl, indem sie sich auf der Rohrchaiselongue dehnte, neben der Felix in einem Schaukelstuhle saß.
»Und du bist dabei glücklich, Liebste? Oder nicht? Träumen und faul sein ist ja das Beste, was uns das Leben bieten kann.«
»Das sagst du, Felix, du, der Arbeiter wie kein anderer?« fragte sie erstaunt und beglückt, denn immer peinigte sie die Angst, daß er plötzlich des süßen Müßigganges müde werden möchte.
»Ja Liebe, wer nicht zu ruhen versteht, ist auch kein guter Arbeiter. Aber davon wollen wir nicht 211 reden, komm, ermanne dich, wir wollen unser Nichtsthun jetzt wenigstens an eine andere Stelle verlegen. Es wird kühler, wir gehen zur Adria.«
»Ich bin so faul, Felix, wenn mich nur jemand hintrüge – –«
»Ich stütze und führe dich – auf!« und er streckte ihr beide Hände entgegen, um sie in die Höhe zu ziehen.
Sie stand vor ihm in ihrer ganzen mädchenhaften Schlankheit, und dennoch eine andere als sonst. Die strengen Formen ihres Dantekopfes waren gemildert, das Gesicht rundete sich nach unten leicht ab, die Haut war rosig durchblutet und auf den mächtigen aschblonden Haarmassen spielten goldene Lichter. Sie trug ein elegantes weißes Kleid, einen ganz schlanken Cheviotrock, der sich unten herum wie eine Lilienblüte erweiternd, breit auf dem Boden lag, dazu eine durchsichtige Spitzenbluse, ein Geschenk des Freundes, das sie nur widerstrebend angenommen. Er hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, sie immer in weiß sehen zu wollen, das allein gäbe ihm schon eine stetige Feststimmung, behauptete er.
»Ich bin so faul, Felix!« wiederholte Vilma und reckte die Arme in die Höhe, aber ihre Lippen wölbten sich und die Augen strahlten zärtliche Lockung.
Zur Antwort schloß er sie in die Arme und küßte sie auf den Nacken. Er that dies häufig, ihr schlanker Nacken entzückte ihn immer von neuem. Wie doch die Liebe das Weib verändert, immer ist es dasselbe 212 Wunder, sagte er bei sich, in der eitlen Genugthuung des Mannes, der das Wunder vollbracht hat.
Seitwärts von der Heerstraße, auf verwachsenem Wege erreichten sie den Strand. Fast bekam Vilma wörtlich ihren Willen, getragen zu werden: der Doktor faßte sie fest um die Taille, und führte sie so, halb getragen, vorwärts.
Sie saßen im Sande nieder, eng aneinander gedrückt, in jenem seligen Genügen, das keine Worte nötig hat, halb Faulheit, halb Bewußtsein innern Reichtums. Der Strand lag gelbglänzend im Sonnenschein da, aber aus der blauen Ferne wehte es schon erfrischend kühl herüber. Von weitem erklang das Gelächter der letzten Badenden, ein paar Verkäufer von Muscheln, Korallen, Seepferdchen, die »Muschelmänner« kamen, als sie mit ihrem unheimlich scharfen Blick für Käufer die beiden erschauten, heran. Der Doktor kaufte ihnen, um sie los zu werden, eins jener bekannten mehrreihigen Colliers aus kleinen Perlmuttermuscheln und Glasperlen ab, worauf sie vergnügt wieder umkehrten.
»Lege es mir um«, bat Vilma, indem sie ihm den Nacken entgegenbeugte.
Felix lachte. »Wo denkst du hin?« sagte er gut gelaunt. »Ich werde auch gerade meinen Schatz mit billigem Muschelkram behängen. Für einen solchen Hals gehören sich echte Perlen oder Diamanten. Nun vielleicht später einmal.«
»So gieb es mir zum Andenken, Liebster«, 213 schmeichelte sie. Er aber reckte sich und warf mit weit ausholender Armbewegung das Halsband ins Wasser. »Der bekannte Ring des Polykrates«, sagte er, und war froh, daß er das häßliche Ding wieder los war.
Da nahm sie seine Hand, legte sie an ihre Wange und zog sie dann mit einem leidenschaftlichen Impulse an ihre Lippen. »So viel Glück – so viel Glück«, stammelte sie, »wie kann ich dir dafür danken? Ist's nicht fast zu viel?« Jedesmal wenn er eingestand, glücklich zu sein, fühlte sie heiße Dankbarkeit.
Diese schrankenlose Hingabe, die ihm sonst wohl exaltiert erschienen wäre, rührte ihn, die italienische Idylle hatte die geringe Weichheit seines Wesens ausgebildet und gesteigert.
»Liebste«, sagte er weich, »mein holdes Kind, was ist aus dir geworden?«
»Die Kehrseite meines Wesens ist hervorgekommen, vielleicht ist's auch die Bildseite, mein eigentliches Ich. Es ist so viel, was ich nachzuholen habe, ich will konzentriert genießen in diesem Märchenlande und mit dir. Ist's dir nicht auch so, als wenn hier allerlei geheime Fähigkeiten wach würden, von denen man zuvor nichts geahnt hat? Mir ist's zu Mute, als müßte ich mit einem Male dichten, singen, malen können, alles ohne jede Vorbereitung. So viel Schönheit um uns her, die man fassen und in einem Kunstwerke aufheben möchte.«
»So versuche es doch«, lächelte er.
214 Vilma aber ließ sich nicht unterbrechen. »Allein diese selige Luft, wie die schmeichelt. Sie ist so leicht, als müsse sie einem fliegen machen, wenn man sich so recht voll davon atmete. Und allerlei kleine Gedanken und Empfindungen trägt sie mir zu – heute abend werde ich dir Chopin vorspielen, ich denke so wie noch nie.«
»Und ich werde dir zum Dank dafür morgen den Palazzo Vendramin zeigen, du mußt doch sehen, wo Wagner gestorben ist. Einstweilen kann ich aber nur sagen, daß diese selige Luft mir mehr Hunger als Ideen bringt. Komm, laß uns hinüber fahren« – er sah nach der Uhr – »wir können den Dampfer gerade noch erreichen, wenn wir ein bißchen ausschreiten.«
Eine halbe Stunde später langten sie auf dem Markusplatze an.
Es war noch ziemlich hell, aber in den neuen Prokuratien, die im ersten Stock die gewaltigen Verkaufsräume der Weltfirma Testolini beherbergen, flammte schon das elektrische Licht auf und ließ alle die Herrlichkeiten der Venetianer Industrie, Glaswaren, kunstvolle Holzschnitzereien, prächtige Sammet- und Seidenwebereien als ein lockendes, farbiges Durcheinander aufleuchten. Vor den Cafés war jeder Stuhl besetzt.
Vilma in ihrem eleganten weißen Kleide fiel auf. Sie trug sich sonst in Venedig sehr einfach, aller Luxus blieb den stillen Stunden zu Hause 215 aufbehalten, heute aber hatte sie nicht Zeit gehabt, den Anzug zu wechseln.
Einmal zuckte der Doktor zusammen und blickte gespannt geradeaus, er glaubte Bekannte gesehen zu haben und ging nun mit gelassener Miene einen Schritt von Vilma entfernt. Obgleich sie die Notwendigkeit dieser Vorsicht einsah, fühlte sie sich verletzt, kam sich wie verleugnet vor, und nun war sie es, die unbewußt die Entfernung zwischen sich und dem Freunde noch vergrößerte, die Stirn nachdenklich gesenkt.
Sie hatten ihre Runde um den Platz beendet und standen nun wieder vor der Markuskirche.
Gegen den blauen Italienhimmel, über den sich eben die erste graue Dämpfung des Abends breitete, hob sich das prächtige Bauwerk ab, kein strenges Gotteshaus, das an Buße und Askese gemahnt, sondern ein festlich prunkvoller Bau, halb eine Moschee, halb ein Tempel weltlicher Lust, schimmernd in dem Schmuck seiner farbenprächtigen Mosaiken auf Goldgrund, die Zeit und Verwitterung zu einer sammetweichen Harmonie verschmolzen haben.
Verwischt war angesichts so vieler Schönheit der peinliche Eindruck von vorhin. Beide standen und staunten.
»Laß uns hineingehen«, bat Vilma endlich leise.
Drinnen wogte schon die Abenddämmerung und wischte die blendende Pracht der Marmortäfelungen zu einem unbestimmten, gedämpft goldigem Ton 216 zusammen. Nur über dem Hochaltar lag noch volles Licht, die Goldplatten, mit denen er belegt ist, flimmerten, das Kruzifix und die schweren goldenen Leuchter schimmerten in herausfordernder Pracht durch das Dämmern. Es herrschte jene wunderbare, aus Dämmerung, Weihrauch und dem Duft der Frömmigkeit gemischte Atmosphäre der katholischen Kirchen, die mit ihrem packenden Stimmungszauber die Seelen in die Tiefen der Vernichtung und zur höchsten Seligkeit trägt.
Die Kirche war ziemlich leer, hier und dort die hingesunkene Gestalt einer Beterin, das schwarze Tuch tief in die gesenkte Stirn gezogen, die Kleiderfalten in malerischem Fall ausgebreitet; in einem Nebengange die lange, schwarze Gestalt eines Priesters; und dort ein junges Hochzeitsreisenpaar, das unvermeidliche Anhängsel jeder venetianer Herrlichkeit, scheu aneinandergeschmiegt in der geweihten Stille.
Auch Vilma hatte ihren Arm in den von Felix geschoben, ihr war weich zu Sinne, ihr Fühlen aufgelockert in schmerzlicher Süße, Augenblicksglück und Zukunftsbangen gemischt, und etwas von diesem Gefühl sprang bei dem nahen Beieinander zu dem Geliebten über. Er bemerkte, wie sie dem Pärchen nachsah, und ihre Augen sich dabei im unbewußten Neide feuchteten.
»Meine gute kleine Frau«, sagte er zärtlich, indem er ihren Arm an seine Brust preßte, »sei nicht traurig, alles kann noch gut werden, nur laß mir Zeit.« Es 217 war in ihm keine Klarheit über das, was er versprach, nur der Wunsch, Vilma zu trösten. Zudem war er gerade heute heftiger als je in sie verliebt.
»Ich verlange nichts, als was ich habe«, sagte sie einfach. »Nichts als diese Stunde. Laß uns nichts sprechen, was darüber hinausgeht.«
Das war für den Doktor natürlich das Bequemste. Vilma war wirklich eine Frau, die es verstand, jede Rücksicht zu üben – –
In einem kleinen Restaurant, möglichst weit vom Markusplatz entfernt, speisten sie zu Abend und tranken reichlich Marsala dazu, ohne daß irgend etwas Deutsches sich in ihrer Nähe zeigte. Als sie nach Hause wollten, fand es sich, daß sie sich in dem Netz winzig enger Gäßchen, die sich alle so ähnlich sahen, verlaufen hatten. Vilma suchte alle ihre Brocken Italienisch zusammen, stieß aber nur auf ein kopfschüttelndes Nichtverstehen. Der Doktor dagegen wandte sich einfach an den ersten Begegnenden mit einem fragenden: San Marco? und einer Geste nach den vier Himmelsrichtungen, worauf ihm sofort eine Geste des andern den Weg angab.
Das war nicht neu, sondern verschiedentlich erprobt, aber jedesmal amüsierten sie sich darüber, und jedesmal mußte Vilma die Ueberlegenheit des Freundes rühmen. Dazu war ihr überhaupt jede Gelegenheit recht.
Schließlich fanden sie sich doch zurecht und nahmen sich nun in eine offene Barke – Vilma mochte die 218 verdeckten Gondeln nicht leiden – um aus dem Gewirr der Kanäle hinaus, nach dem Lido hinüber zu kommen.
Der Doktor war sentimental, Vilma froh geworden. »Alles kann noch gut werden«, das Wort klang in ihr nach und wenn sie auch ganz genau wußte, daß sie es nie ausnutzen würde, so freute sie sich dennoch, daß Felix es überhaupt ausgesprochen hatte. Wunderlicher Zwiespalt in einer Weibesseele, nach Freiheit vom Moralzwange zu verlangen, und trotzdem jede Andeutung an die Möglichkeit dieses Zwanges für sich selbst wie eine Verheißung der Erlösung zu begrüßen!
Mit der den venetianer Schiffern eigenen bewundernswürdigen Geschicklichkeit führte der Gondolier sein Fahrzeug um die vielfachen Ecken der Wasserstraßen. Es war ein hübscher, ebenmäßig gewachsener Bursch, der sein Ruder wie spielend handhabte. Sein weiß und rot gestreiftes Hemd und die rote Schärpe brachten, durch die helle Nacht zu fahlen Tönen ausgesogen, einen feinen Farbeneffekt in das Dämmerungsbild.
Jedesmal wenn er das Ruder anstemmte, gab es einen kleinen rhythmischen Ruck, der die Barke um ein gut Teil weiter trieb.
Es roch muddig, von den Balkons flatterte Wäsche, die dort über Nacht trocknen sollte; von den Häuserwänden bröckelte der durch die Feuchtigkeit zermürbte Kalkbelag. Das eben ist ja das Herrliche 219 an Venedig, daß sein Schmutz malerisch, die Verwitterung edel erscheint.
Nach vielfachen Kreuz- und Querfahrten gelangten sie auf die Lagune hinaus.
Es war kein Mondschein, aber eine jener lichten italienischen Nächte, in denen sich das Empfinden zu exaltierter Höhe steigert, wo in die Sicherheit des Besitzes noch ein leiser Ton von Sehnsucht klingt.
Vilma lehnte zurückgesunken in den Sessel, ihr weißes, faltiges Kleid um sich ausgebreitet, Felix hockte zu ihren Füßen. Kleopatra auf ihrer Nilfahrt, Katharina Cornaro, die Gräfin Guiccioli, Byrons holde Freundin – die Vergleiche fielen ihm nur so zu, er war in einem Rausch des Entzückens und zum erstenmal fühlte Vilma sich in ihrer Macht als Weib.
Feucht stieg es aus dem Wasser und hüllte die Barke in einen kühlen, frischen Dunstkreis. Bei jedem Ruderstoß schlug das Wasser leise glucksend an die Bootswände an.
Vilma ließ ihre Hand ins Wasser gleiten, und dort erfaßte sie Felix. Ein Weilchen freuten sie sich gedankenlos daran, wie das Wasser zwischen ihren leicht verschlungenen Fingern hindurchfloß, dann fühlte Vilma, wie einer ihrer Ringe locker wurde und zog die Hand schnell hoch, umfaßte Felix' Kopf und küßte ihn leidenschaftlich, fast bacchantisch. Das riß auch ihn mit fort.
»Vilma, mir ist zu Sinne, als müßte ich etwas ganz Besonderes, Großes thun! Woher kommt es 220 nur, daß wir, gerade wir beide, so ganz unmenschlich glücklich sind?«
»Das kommt wohl daher«, flüsterte sie und ihr Gesicht nahm plötzlich einen rätselhaften Ausdruck an, »weil ich nicht mehr lange zu leben habe und deshalb nicht knausere.«
Das Wort ernüchterte den Doktor vollständig. Zwar hielt er gern Vilmas Gefühlsüberschwung etwas zu gute, doch dies berührte ihn wie eine kokette Phrase. »Du bist nicht klug, mit solchen Dingen solltest Du nicht spielen«, verwies er sie schroff.
»Sei nicht böse – Launen, Stimmungen aus allzureichem Glück heraus. Eine venetianer Nacht bringt das so mit sich«, entschuldigte sie sich demütig, indem sie seine Hand streichelte. Aber sie schauerte dabei fröstelnd zusammen.
»Kleine Närrin, nun sei aber vernünftig«, sagte er, noch halb grollend. »Du wirst dich einfach erkältet haben in der leichten Bluse.«